15. Oktober (Dienstag)
Guatemala ist, was die Bevölkerung angeht, bei weitem das größte Land Mittelamerikas. Es hat 17 Millionen Einwohner, so viele wie Holland. Dann kommt schon Honduras, dann Nicaragua, dann El Salvador, dann erst Costa Rica und am Ende Panama. Guatemala und Nicaragua haben einheimische Namen, Costa Rica, Honduras und El Salvador haben spanischen Namen, bei Panama bin ich noch auf der Suche.
Die Reise beginnt in Guatemala Stadt. Die wird von den meisten Reisenden ausgelassen, sie gilt als laut, schmutzig, chaotisch, gefährlich. Aber Schmuddelkinder haben bekanntlich ihren Reiz.
Guatemala wurde nach einem Erdbeben in der ehemaligen Hauptstadt, in Antigua, zur neuen Hauptstadt, und so wurden am Flughafen La Aurora gestern auch sofort Transfers nach Antigua angeboten.
Die „Einwanderung“, wie die Passkontrolle in Lateinamerika immer heißt, ging so glatt vonstatten wie nie zuvor. Drei, vier kurze Fragen, Stempel, Unterschrift. Erinnert mich an Mexiko, wo ich zwei Stunden in der Schlange stand und fast den Flug verpasst hätte.
Dafür dauert es hier am Kofferband umso länger, und beim Zoll geht es erst richtig los. Als ich dann in die kleine, erstaunlich leere Abflughalle komme, ist von dem Fahrer nichts zu sehen. Zum Glück kümmert sich eine freundliche Frau am Telefon darum, und dann taucht er auf.
Bei der Ankunft war es noch taghell, der erste Blick traf auf ein Häusermeer und ein Wolkenmeer. Jetzt wird es aber sofort dunkel, stockdunkel. Noch vor 6 Uhr.
Einen richtigen Eindruck von der Stadt bekommt man so nicht, aber man sieht Hochhäuser und Wolkenkratzer zu beiden Seiten der Straßen. Das Straßennetz ist nach römischem, in Lateinamerika weit verbreitetem System schachbrettartig, mit Avenidas und Calles, aber das merkt man bei der Fahrt nicht so richtig. Es geht langsam vorwärts, quälend langsam, und die Müdigkeit fordert ihren Tribut. Besser voran kommen die Motorräder, die sich zwischen den Autos durchdrängeln und immer wieder ganz plötzlich auftauchen.
Als wir uns der Zona 1, dem historischen Zentrum, nähern, verändert sich die Szenerie. Kleinere Häuser und ein paar historische Gebäude kommen zum Vorschein, und als wir gerade an der Kathedrale vorbei sind, sind wir am Ziel. Der freundliche Fahrer steigt mit mir aus, wartet, bis ich meinen Notizblock gefunden und es geschafft habe, die Haustür zu öffnen.
Dann geht es drei Etagen ohne Aufzug hoch, und auch oben klappt das „Aufschließen“ mit dem Code. Geschafft! Nach 8.500 Kilometern ist das Ziel erreicht. Große Erleichterung.
Es ist inzwischen 3 Uhr morgens deutscher Zeit, 19 Uhr abends lokaler Zeit. Das Apartment ist groß, modern, hat eine Wohnküche und sogar Waschmaschine und Trockner. Durch das Schlafzimmerfenster sieht man auf die Kathedrale.
Im Kühlschrank ist eine Flasche Wasser, ein Segen. Die muss bis morgen halten. Zusammen mit ein paar Keksen, die ich im letzten Moment vor der Fahrt zum Flughafen gekauft habe. Und noch eine gute Nachricht: Der Adapter aus Kolumbien passt auch hier!
16. Oktober (Mittwoch)
Am frühen Morgen geht es noch ruhig zu in der Stadt, obwohl auch schon viele Menschen unterwegs sind. Es sind nur ein paar Schritte von der Unterkunft bis zu dem zentralen Platz mit dem Brunnen. Ich bin direkt im Zentrum von Guatemala untergebracht.
Es ist warm, aber bewölkt. Später, wenn die Sonne mal durchbricht, ist es für einige Momente immer wieder mal richtig heiß. Für den Nachmittag sind Schauer und Gewitter angesagt. Aber die bleiben aus.
Mein erstes Anliegen ist der Geldwechsel. Der Fahrer gestern Abend hat mir empfohlen, das in einer Bank zu erledigen. Eine freundliche Polizistin am Rande des Platzes erklärt mir, die Banken seien noch geschlossen. Außerdem benötige man ein Konto, um Geld wechseln zu können. Sie empfiehlt Western Union und weist mir den Weg. Anhaltspunkt: Taco Bell, ein Geschäft. Dort schickt man mich ein paar Häuser weiter die Straße runter.
Über einem Eisentor steht ein kleines Schild mit Western Union, das man leicht übersehen kann. Alles verriegelt und verrammelt. Ich frage zwei Männer, die auf den Bürgersteig stehen. Als sie erfahren, dass ich Geld wechseln will, schließt einer der Männer ein Eisentor auf und lädt mich ein, ihm zu folgen. Ich zögere ein bisschen, aber er lächelt freundlich, und ich gehe mit einem etwas mulmigen Gefühl hinterher. Er selbst geht wieder raus. Ich stehe eine Minute etwas verlassen in der Gegend herum, dann kommt ein Mann und wechselt mir ohne Probleme 100 Dollar. Er inspiziert den Schein kurz, alles in Ordnung. Ich bekomme danach sogar eine Art Kassenzettel: 775 Quetzal. Ob ich da über den Tisch gezogen worden bin? Erst einmal egal. Das kann ich später noch überprüfen.
Die beiden Männer auf dem Bürgersteig lächeln mir freundlich zu, als ich den Daumen hebe und mich auf den Weg mache. Es geht gleich in ein Lokal, an dem ich vorher vorbeigekommen bin. Hier gibt es Frühstück.
Frühstück bedeutet hier Rührei, in allen möglichen Variationen. Ich nehme das erste Beste. Der Kellner ist äußerst freundlich, sehr höflich, an der Grenze zur Unterwürfigkeit. Er spricht gerne Englisch und hält mich natürlich für einen Gringo. Ich kläre ihn auf und wir sprechen halb Spanisch, halb Englisch.
Das Lokal ist ganz schön, in einer alten Fabrikhalle oder so was untergebracht, länglich, hoch, aber schön dekoriert, ohne Kitsch. Ein zweiter Kellner kommt und bringt auch noch eine Kerze in einem schönen eisernen Kerzenständer.
Dann wird mir noch eine Tageszeitung gebracht. Schon auf der Titelseite erfährt man, dass Guatemala in Costa Rica verloren hat, 0:3, und ausgeschieden ist aus der Nations League. Für das Viertelfinale hat sich dafür Surinam qualifiziert.
Im Innenteil erscheint ein Artikel über die Migrationspolitik in den USA. Sowohl Republikaner als auch Demokraten sprechen sich für eine härtere Gangart aus. Das betrifft die Länder Mittelamerikas unmittelbar.
Das ungünstige Klima hat eine Missernte beim Mais verursacht. Das betrifft vor allem Familien, die den Mais für sich selbst anbauen, als Lebensgrundlage. Es handelt sich um den maíz criollo, eine ältere Variante des Mais, die sich im Allgemeinen gut den einheimischen Bedingungen anpasst.
Das Frühstück wird serviert mit warmen Fladen und dem unvermeidlichen schwarzen Bohnen. Dazu dünner schwarzer Kaffee. Am Ende zahle ich 33 Quetzal. Dürfte bei 4 Dollar liegen.
Ich mache mich, den Instruktionen des Kellners folgend, auf den Weg zur Touristeninformation. Die Szenerie wechselt dabei ein bisschen. Es geht vor der Zone 1, dem centro histórico, in die Zone 4, dem centro cívico, mit höheren, neueren Gebäuden, Banken, Regierungssitzen, Unternehmen.
Die Touristeninformation ist in einem Hochhaus untergebracht, in einem modernen Bürogebäude. Eine Frau dort nimmt sich alle Zeit der Welt für mich, erklärt geduldig alles, was ich wissen will und noch viel mehr, so dass mir am Ende der Kopf raucht. Sie kümmert sich auch um meine nächsten beiden Stationen in Guatemala und wie ich dorthin komme.
Was das Geld angeht, gibt sie Entwarnung: alles in Ordnung, gängiger Kurs. Und es gibt eine Bank, bei der man auch ohne Konto Geld wechseln kann, die Banco Industrial.
Meine Adresse habe ich falsch notiert. Richtig lautet sie: 8A Avda. 8-24. Die erste Zahl gibt die Avenida an, die zweite die Calle, die diese Avenida auf dieser Höhe kreuzt, die dritte die Hausnummer.
Ich bekomme verschiedene Broschüren und Stadtpläne mit und am Ende sogar einen bunten Stoffball, auf dem Guatemala steht.
Trotz ihrer Werbung für den Metrobus gehe ich zu Fuß zurück und lasse die Eindrücke auf mich wirken: Eine Frau verkauft Lose, ein Mann Kaugummis, eine junge Frau im kurzen Sommerröckchen schiebt einen Kinderwagen vor sich her, irgendwo geht plötzlich eine Sirene los, ich passiere einen Parkplatz extra für Motorräder, ein Mann, auf einem Mauervorsprung sitzend, bietet seine Dienste als Taxifahrer an, aus den Mauern der Ruine eines Hauses sprießt das Grün, ein kleines Hotel mit einer schönen Fassade auf der anderen Straßenseite. In einem Frisörsalon kann man sich umsonst die Haare schneiden lassen. Hier wird ausgebildet.
Ich bemerke ein kleines Lokal, in dem es Licuado gibt, ein populäres Getränk. Auch hier freundliche Begrüßung. Der Wirt empfiehlt Erdbeere mit Milch. Schmeckt aber ganz anders als Erdbeermilch, wird auch viel kälter serviert, mit vielen kleinen Eisstückchen.
Aus dem Lautsprecher kommt ganz leise Klaviermusik, sonatenhaft, im Adagio, ein wohltuender Kontrast zu den Geräuschen, die von draußen kommen.
Außer mir ist nur noch ein Ehepaar an einem der hübsch dekorierten Tischchen. Als der Mann bezahlt, spricht er mich an. Er ist etwas enttäuscht, dass ich kein Gringo bin. Er hat fünf Jahre in den USA gelebt und spricht gerne Englisch. Da kann ich ihm einen Gefallen tun. Er hat sich hier den Unionisten angeschlossen, dort hat er die Gelegenheit, Englisch zu sprechen.
Weiter geht’s Richtung Heimat. An einer Straßenkreuzung ohne Fußgängerampel frage ich mich, warum alle Autos (und Motorräder natürlich) warten. Keine Ampel zu sehen. Die entdecke ich dann erst auf der anderen Seite der Kreuzung, hoch oben, zwischen Ästen und Stromkabeln.
Die Fußgängerampeln zählen die Sekunden bis der verbleibenden Wartezeit, und da ist Geduld gefragt. An einer Kreuzung dauert es 85 Sekunden.
Schuhputzer haben hier weiterhin eine Klientele. Die Geschäftsleute und Banker tragen weiterhin schwarze Lederschuhe.
Viele sind gut, aber ärmlich gekleidet. Der Unterschied zu Europa ist nicht zu übersehen. Es gibt eine ganze Reihe von Bettlern und von Obdachlosen. Und viele andere sitzen irgendwo am Bürgersteig. Ob sie auf Arbeit warten? Einige scheinen einfach in den Tag hinein zu leben. Ein paar scheinen drogenabhängig zu sein. Alkohol sieht man auf der Straße nirgendwo.
Die meisten Frauen sind klein und untersetzt, auch die Männer sind keine Riesen. Die meisten haben die Physiognomie der Indios, mehr als ich in anderen Ländern gesehen habe, vielleicht mit der Ausnahme vom Süden Mexikos.
Dass die Hauptstadt kein typisches Touristenziel ist, spürt man auf Schritt und Tritt. Ich begegne während des ganzen Tags keinem einzigen Ausländer.
Ich komme wieder Richtung Innenstadt und frage am Palacio Nacional nach den Besichtigungszeiten. Dann will ich in den Mercado Central, gleich in der Nähe. Der ist aber nicht zu sehen. Es stellt sich heraus, dass der unterirdisch ist. Ein Verkäufer an einer Straßenecke gibt mir ungefragt diese Information.
Der Mercado hat drei Ebenen. Oben gibt es Souvenirs. Die Stände sehen alle irgendwie gleich aus. Hier fehlt nur eins: die Kundschaft.
In der mittleren Etage geht es lebendiger zu. Hier gibt es Lebensmittel und Blumen und allerlei Imbissstände. Ungeachtet der frühen Stunde essen viele Einheimische schon das, was bei uns als Mittagessen durchgeht.
An einem Obststand kaufe ich Bananen und eine unbekannte, kleine Frucht, die die freundliche Verkäuferin zum Probieren anbietet. Schmeckt köstlich. Ich muss dreimal nachfragen, bis ich verstehe, wie sie heißt: jocote. Die Haut ist etwas hart, aber das Fruchtfleisch ist richtig lecker, saftig und süß. Erinnert entfernt an Pflaume. Bei den Bananen muss man bei der Bestellung aufpassen. Sie heißen hier bananos, mit plátanos sind die Kochbananen gemeint.
An einem anderen Stand finde ich noch schwarzen Tee. Wird wohl nicht oft nachgefragt. Der Verkäufer sucht selbst unter den dicht auf den Regalen an der Hinterwand gestapelten Paketen. Am Ende wird er fündig. Etwas besorgt sagt er mir, das Ablaufdatum sei Dezember 2024. Kein Problem. Nehme ich.
In der unteren Etage gibt es volkstümliches Kunsthandwerk, meist aus Korb: Hüte, Taschen, Körbe.
Wieder oben kaufe ich in einem kleinen Laden Wasser und Kekse und in einem anderen Bier. Das muss der Verkäufer aus dem Lagerraum hinten an die Theke holen. Dann kaufe ich noch ein Viertel Hähnchen und mache mich auf den Weg nach Hause. Aber ach, ich kann den Eingang nicht finden. Ich bin genau auf der Kreuzung der Achten mit der Achten, aber das Haus ist einfach nicht zu finden. Eine freundliche Polizistin sieht sie die Adresse an und hilft mir. Aber es nützt nichts. Ich gehe in alle Richtungen. Erfolglos. Dann entferne ich mich sogar von der Straßenecke. Kann nicht sein, ich muss in der Nähe der Kathedrale bleiben. Dann plötzlich sehe ich den Eingang. Warum bin ich vorher daran vorbeigelaufen? Weil ich nach Nummer 24 gesucht habe. Die Hausnummer ist aber 14. Habe ich das falsch notiert? Nein, später stellt sich heraus: Die falsche Hausnummer habe ich von der Vermieterin!
Wie hat der Fahrer gestern nur das richtige Haus gefunden? Da fällt mir ein, dass ich ihm den Namen des Hauses genannt habe, La Gloria Kiiper. Den muss er in seinem Routenplaner gefunden haben. Ich erinnere mich noch, wie wir uns über das merkwürdige Wort Kiiper gewundert haben.
Erleichtert, mein Ziel gefunden zu haben, gehe ich die Treppe rauf. An der Tür des Apartments gebe ich den Code ein. Ergebnis: Ich komme nicht rein. Auch beim zweiten und dritten Versuch nicht. Irgendwas ist am Morgen mit dem Verschließen der Tür falsch gelaufen. Die Erklärungen der Vermieterin sind mir bis jetzt noch ein Rätsel.
Ich schicke eine Nachricht und bekomme glücklicherweise bald Antwort: An der gegenüberliegenden Wand ist ein Schlüsselkästchen. Das soll ich mit einem Code aufschließen und den Schlüssel zum Öffnen des Apartments nehmen. Leichter gesagt als getan, aber am Ende gelingt es. Da kommt aber nicht ein Schlüssel zum Vorschein, sondern gleich mehrere. Und die Tür des Apartments hat zwei Schlösser. Nach einigem Probieren öffnet sich am Ende die Tür. Geschafft: Inzwischen ist das Hähnchen kalt und das Bier warm.
17. Oktober (Donnerstag)
Guatemala hat 1,2 Millionen Einwohner und ist damit die größte Stadt Mittelamerikas. Ihr offizieller Name lautet Nueva Guatemala de la Asunción. Der Name Guatemala ist die hispanisierte Version von Quauhtemalan, einem Wort aus dem Nahuatl mit der Bedeutung ‚Ort der vielen Bäume‘. Die Stadt liegt 1.600 Meter über dem Meeresspiegel, im Süden des Landes. Im Norden grenzt es an Mexiko, im Osten an Belize, im Süden an Honduras und an El Salvador. Zur Pazifikküste sind es ungefähr 130 Kilometer, zur Atlantikküste ist es viel weiter.
Wieder bin ich früh auf den Beinen. Es ist ein Wetter für Pullover, dünne Jacken, lange Hosen. So sehen es jedenfalls die Einheimischen. Nur einige wenige mit kurzem Ärmel.
Ich will mir die Biblioteca Nacional ansehen, ganz hier in der Nähe. An der Plaza de la Constitución entsteht Unruhe unter den herrenlosen Hunden, und wildes Bellen und Umherrennen setzt ein. Keiner weiß so richtig, was los ist, die Hunde vermutlich auch nicht. Jetzt reißen sich auch andere Hunde von ihren Herren los und stürzen sich ins Getümmel. Andere wedeln nur wild mit dem Schwanz, halten aber vorsichtshalber Abstand. Dann tritt plötzlich wieder Ruhe ein.
Als die Hunde ruhig sind, wird es wieder laut. Arbeiter reißen Wellblechverschläge vor einer Baustelle ab und die Wellblechplatten klatschen laut auf den Boden.
Vor dem Gebäude der Biblioteca Nacional hat ein moderner Künstler ein modernes Hochrelief angebracht, weißlich, aus Granit und Zement und Gips. Man steht verdutzt davor, alles scheint keinen rechten Sinn zu ergeben. Man glaubt, irgendwo einen Schraubstock zu erkennen, irgendwo anders einen Hobel. Es gibt Formen, die wie Gardinen aussehen und andere, die wie Kieswege aussehen. Irgendwo eine entblößte weibliche Brust. Weiter oben phantastische Wesen, die Menschen oder Tiere darstellen könnten. Über das ganze Relief verteilt sind einzelne Wörter wie muerte oder nada, in ganz unterschiedlichen Buchstaben, und dann identifiziert man einige Sätze wie no tenemos ganas de nada sólo de vivir – wir haben Lust auf gar nichts, nur aufs Leben und los mejores críticos somos los mudos – wir stummen sind die besten kritiker. Wahrscheinlich gibt es hier verdeckte Anspielungen auf die Geschichte Guatemalas, aber mir ist das alles ein Rätsel.
Direkt neben der Bibliothek ein modernes Gebäude mit einer Glasfront, mit Scheiben in Quadraten. Das Gebäude verfällt, die meisten Scheiben sind kaputt. Beim ersten Anblick dachte ich, es handele sich um moderne Kunst, aber das Gebäude verfällt einfach.
Am Rande des Platzes gibt es einen Fahrradverleih. Kleine, grüne Räder, bestimmt ideal für die Innenstadt. Ich frage nach. Die erstaunliche Antwort: Die Räder dürfen nur auf der Sexta Avenida gebraucht werden.
Also mache ich auf der Suche nach einem Lokal zum Frühstücken einen Spaziergang die Sexta hinunter. Das venezianisch aussehende Gebäude mit Bogengängen oben erweist sich als Sitz eines Ministeriums.
Erst jetzt fallen mir die Bäume auf, die hier in regelmäßigen Intervallen stehen, nicht allzu hohe Bäume mit dichtem Laubwerk und glatten Stämmen.
Auf der anderen Straßenseite ein schönes Beispiel für internationales Englisch. Da steht For Men’s.
Wie gestern sind auch wieder Lasträder unterwegs, aber nicht gefahren von fortschrittlich gesinnten Mittelstandseltern mit grünen Neigungen, sondern von Männern, die echte Lasten transportieren.
Ich finde nichts Richtiges und lande wieder in dem Lokal von gestern. Der Wirt erkennt mich noch. Wieder gibt es Rührei. Und Zeitung dazu. Auf der Titelseite heißt es, eine spanische Textilfabrik, Nextil, werde groß in Guatemala investieren. Die Firma hat mächtig expandiert in den letzten Jahren, aber zwei Werke in den USA geschlossen, weil die Produktionskosten zu hoch sind. Guatemala profitiert von seiner Nähe zu den großen Häfen der USA.
Ein Redakteur klagt über die zunehmenden Probleme beim Verkehr, nicht nur dem innerstädtischen. Auch die Straße nach Antigua sei ständig verstopft, beklagt er. Oh je, da muss ich auch noch her. In der Stadt hätten alle Modernisierungen kaum etwas gebracht, zumal die Autofahrer die Wirkung der intelligenten Ampeln torpedierten, indem sie auf die Kreuzung fahren und die dann blockieren. Als Lösung schlägt er vor: Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs, mehr Radwege, Privatisierung und die Einführung einer Maut.
In dem nebenstehenden Artikel ist von der Entwicklung des Goldpreises die Rede, der wieder neue Rekorde erreicht. Dabei ist es von 1982 bis 2002 gerade mal von 304 auf 306 Dollar gestiegen, insgesamt von 1973 bis 2024 aber von 64 Dollar auf 685 Dollar. So richtig zu erklären ist das nicht, und der Autor sagt zu Recht, dass der Goldpreis für die meisten Menschen ohnehin irrelevant sei.
Als ich bezahle, kommen wieder heimlich 3 Quetzal zu der Rechnung hinzu, wie gestern. Der Wirt erklärt mir aber dafür den Weg zur Panadería Berna, von der ich irgendwo gelesen habe. Die muss auf der Sexta sein. Da finde ich sie aber nicht.
Ich gehe zurück und sehe mir die Kathedrale an. Der Haupteingang im Westen ist gesperrt, dort wird restauriert. Jetzt geht es in die Kathedrale durch den Eingang im Süden hinein, über einen großen, leeren Innenhof.
Erst, wenn man drin ist, merkt man, wie groß die Kirche ist. Außen ist der Eindruck durch die Baustelle anders. Die Kirche ist dreischiffig, mit mächtigen Pfeilern, einem Tonnengewölbe, ganz weiß gefasst. Das lange Mittelschiff endet unter der Vierung. Dort steht der Altar. Erst dahinter der Chor.
An den Enden der Seitenschiffe brennen vor einem Altar Kerzen. Die kann man aber nicht hier kaufen, offensichtlich bringen die Leute sie mit. Einer dieser Altäre hat ein Kreuz mit einem Christus mit pechschwarzem Körper.
In einer Seitenkapelle im Süden, selbst fast so groß wie eine Kirche, wird eine Andacht abgehalten. Es wird kräftig gesungen und im Chor gebetet, alle sind sehr textsicher.
Im nördlichen Seitenschiff mehrere vergoldete Holzfiguren von Heiligen, darunter zwei von heiliggesprochenen Königen, Fernando III. von Spanien und Ludwig IX. von Frankreich. Fernando ist das Resultat einer dynastischen Verbindung der Königshäuser von León und Kastilien, seine Thronfolge war ein großer Schritt auf dem Weg zur Bildung eines spanischen Staats. Zu seinen „Verdiensten“ gehören seine Marienfrömmigkeit, die Einführung des Spanischen als offizielle Sprache in Kastilien und die Vertreibung der Mohren aus Jaén, Cordoba und Sevilla. Ludwig wurde schon kurz nach seinem Tod heiliggesprochen. Er wird mit Krone und Zepter dargestellt, aber, wegen seiner Frömmigkeit, auch mit der Dornenkrone. Da auf dem Kopf kein Platz mehr ist, trägt er sie in der Hand. Zu seinen „Verdiensten“ zählen neben seiner Frömmigkeit die Gründung von Hospizen und Hospitälern, die Zeugung von elf Kindern und die Veranstaltung zweier Kreuzzüge.
Ich setze mich noch einen Moment in die Kirchenbank und sehe das lange Mittelschiff hinunter. Außer mir ist, von den Gläubigen in der Seitenkapelle abgesehen, nur eine einzige weitere Person in dem großen Kirchenraum, ein Mann, der in einer der vorderen Reihen sitzt und der entweder kontempliert oder schläft.
Es wird Zeit für die Besichtigung des Palacio Nacional. Hier muss man sich ausweisen und, wenn man Ausländer ist, 40 Quetzal für die Führung blechen. Der Palacio Nacional ist ein riesiges, eklektisches Gebäude, dessen Fassade die ganze Breitseite der Plaza de la Constitución einnimmt.
Wir sind eine kleine Gruppe, darunter zwei Mexikanerinnen und ein Einheimischer, der bei jeder Gelegenheit nachfragt oder kommentiert und dann mitten in der Führung verschwindet. Die Führerin spricht leise und undeutlich, und die Gäste so ähnlich. Zum ersten Mal habe ich richtige Verständnisschwierigkeiten.
Der Palast wurde zunächst als Palacio Presidencial gebaut, heute wird er als Palacio de Cultura genutzt. Das Gebäude wurde von 1939 bis 1943, in erstaunlich kurzer Zeit, errichtet. Im Palast ist an einem Treppenaufgang eine Plakette angebracht mit allen Daten zur Errichtung des Palasts. Er war zwar teuer, mehrere Millionen Quetzal teuer, aber nicht so teuer, wie er hätte sein können, weil einfach die Arbeitskraft billig war. Er wurde von einem Heer von Strafgefangenen gebaut. An den Materialien wurde nicht gespart. Alle Treppengeländer und Paneelen sind aus Teakholz.
Der Palast entstand unter der Ägide des Generals Ubico, eines Diktators mit einem Faible für europäische Architektur. Ubico hatte eine Vorliebe für die Zahl 5, weil sein Nachname aus fünf Buchstaben bestand, sein Vorname, Jorge, ebenfalls, und der seiner Frau, Marta, ebenfalls. Das schlägt sich in der Architektur des Palastes überall nieder. 5 Bögen, 5 Brunnen, 5 Fenster sehen wir in dem ersten Innenhof, in dem wir stehen. Sein Dienstfahrzeug trug die Nummer 5, und ein Marsch Nr. 5 wurde zu seinen Ehren komponiert. Auch soll die Hausnummer des Palasts die 5 sein.
In diesem schönen, quadratischen Innenhof, mit römischen Bögen im ersten, griechischen Säulen im zweiten Geschoss und arabischen Brunnen unten kann man gut den eklektischen Charakter des Baus erkennen. Ebenfalls kann man verstehen, warum der Bau den Spitznamen Guacamolón trägt. Der bezieht sich auf die charakteristische, grünliche Farbe der Wände und Mauern, die der der Avocado, der aguacate ähnelt.
Wir werden durch ein Labyrinth von Räumen geführt, es wimmelt nur so von schimmerndem Messing, glänzendem Holz, gemeißeltem Stein und freskenbemalten Wänden.
Irgendwo sieht man beim Aufstieg eine beschönigende Darstellung der Geschichte Guatemalas und einer Schlacht zwischen den Spaniern und den Maya. Die Spanier beritten, mit Uniformen, Feuerwaffen, Kutten, die Maya mit bloßem Oberkörper, Federschmuck, Lanzen und Jade als Erkennungszeichen für ihren Rang. Interessanterweise kämpfen beide im Zeichen der Sonne, aber die Sonne der Maya, mit gebogenen Strahlen, sieht anders aus als die der Christen, und neben der Sonne der Christen erhebt sich das Kreuz, neben die Sonne der Maya die Schlange.
Im Empfangssaal hängt ein zwei Tonnen schwerer böhmischer Kronleuchter genau in der Mitte des symmetrischen Raumes. Dieser Raum hat ungeplant eine hervorragende Akustik, was Dirigenten vor einer Aufführung überprüfen, indem sie sich vom Balkon an einem Ende des Saals etwas zuflüstern, was auf dem gegenüberliegenden Balkon perfekt verstanden wird. Wir selbst stellen uns an eine markierte Stelle in der Mitte des Raumes und sagen etwas, und unsere Stimmen verbreiten sich durch den ganzen Raum.
Dieser Saal dient diplomatischen Empfängen. Auf der Bühne eine überdimensionale Fahne Guatemalas, mit den beiden hellblauen, angeblich für die beiden Meere stehenden Streifen, die durch einen weißen Streifen in der Mitte getrennt sind. Hier in der Mitte das Wappen Guatemalas: zwei sich kreuzende Bajonette, eingerahmt von zwei Ölzweigen, auf einem Bajonett der Quetzal mit seinem langen Schwanz und in der Mitte eine Schriftrolle: libertad – 15 de septiembre de 1821. Vermutlich der Tag der Erklärung der Unabhängigkeit von Spanien.
In der Banketthalle – hier können theoretisch 160 Gäste gleichzeitig versorgt werden – sind, nicht ohne Ironie angesichts der blutigen Geschichte des Landes und der allgegenwärtigen Korruption, 12 Glasfenster angebracht mit den Allegorien der 12 Tugenden, die einen gerechten Regierenden auszeichnen. In diesem Raum finden Akte statt, in denen der Präsident etwas für Guatemala tut – para y por Guatemala. Das war zum Beispiel der Fall, als die beiden guatemaltekischen Medaillengewinner von den Olympischen Spielen zurückkehrten und hier geehrt wurden.
In den achtziger Jahren wurden diese Glasfenster bei einem Bombenanschlag zerstört, aber der Künstler hatte seinen Studenten an der Escuela de Artes genaue Beschreibungen hinterlassen, wie die Glasfenster gefertigt wurden, so dass diese eine Kopie erstellen konnten. Seitdem arbeiten alle Studenten der Escuela de Artes für ihre Examensarbeit an einem Projekt bei der Restaurierung eines Teils des Palastes.
Am Ende sehen wir noch in einem Innenhof das Symbol für den Friedensschluss, der das Ende des Bürgerkriegs von 1966 bedeutete: zwei linke Hände, die sich berühren (links, weil es vom Herzen kommt) und zwischen sich eine Rose halten. Die Rose wird jeden Tag bei einer Zeremonie durch den Präsidenten durch eine neue ausgetauscht, und die alte wirft man einer Frau aus dem Publikum zu.
Ich hatte mir noch mehr vorgenommen, aber die Müdigkeit überwältigt mich. Ich gehe noch ein bisschen im Zentrum umher, kaufe Ansichtskarten im Mercado Central und dann, an einem überdeckten Stand bei zwei in traditionellen Kleidern gewandeten jungen Frauen, die laut für ihre Produkte werben, einen Becher voller Obst, in mundgerecht zugeschnittenen Stücken, mit Honig. Der gemischte Becher enthält Wassermelone, Ananas, Kiwi, Apfel, Erdbeere, Honigmelone. Am besten schmecken die Ananas und die Wassermelone. Das Ganze gibt es für 10 Quetzal = 1,30 Dollar. Die beiden erlauben mir lächelnd, ein Photo von ihnen und dem farbenfrohen Stand zu machen.
Ich setze mich auf eine Bank und lasse mir das Obst schmecken. Von überall kommen die Rufe der Straßenverkäufer, der ambulanten und der mit festem „Sitz“ irgendwo auf dem Bürgersteig. Ein alter Mann, dessen Geschäft der Austausch von Batterien für Uhren ist, sitzt einfach auf dem Boden.
Vor mir eine Frau, auch traditionell gekleidet, die einfach in der Gegend steht und leise, eher für sich als für andere, aus einem Buch vorliest. Was es damit auf sich hat, ist nicht herauszubekommen. Sie trägt ein knallrotes Kleid, das ihr bis zu den Knöcheln geht, darüber eine wollene graue Jacke und hat einen langen Seidenschal, der bis zur Hüfte herunterhängt, wie einen Turban um den Kopf geschlungen.
18. Oktober (Freitag)
Der Quetzal, die Währung des Landes, hat seinen Namen von dem gleichnamigen Vogel, dem Wappentier Guatemalas. Der Wechselkurs zum Dollar ist seit langem ziemlich stabil, Guatemala hat nicht die Hyperinflation seiner Nachbarländer erlebt.
Ein Quetzal gleicht 100 Escudos, aber die sind aus dem Alltag praktisch verschwunden. Als Münze ist nur noch der 1 Quetzal im Umlauf, aus Messing, mit dem Wappen auf der einen Seite und einem Bild auf der Rückseite, bei denen die Formen des Quetzal und das Wort Paz ineinanderfließen.
Die Geldscheine zeigen auf der Vorderseite Politiker oder Unabhängigkeitskämpfer, lauter Männer, von 5 Quetzal bis 100 Quetzal. Interessant ist ausgerechnet der Schein, den ich bisher noch nicht in der Hand gehalten habe, der zu 200 Quetzal. Dort sind drei bekannte Marimba-Spieler abgebildet. Die Marimba ist ein Tasteninstrument, das mit Holzschlägeln gespielt wird. Hier im Zentrum habe ich schon mehrfach Marimba-Spieler in der Innenstadt gesehen.
Auf der Rückseite der Scheine eine architektonische Szenerie, eine Ernteszene (Kaffeeernte!), eine Schulszene und ein Szene aus einer Versammlung bei der Erklärung der Unabhängigkeit.
Wieder ist es etwas kühl am Morgen, aber im Laufe des Tages wird es immer wärmer, und statt des für den Nachmittag angesagten Gewitters gibt es gerade mal ein paar Tropfen. Es ist bisher der wärmste Tag hier.
Mir ist in den letzten Tagen aufgefallen, dass die Bürgersteige hier relativ gut sind, ohne die Unebenheiten und die Schlaglöcher, die ich von den Ländern in Südamerika in Erinnerung habe.
Die Straßen hier in der Stadt sind alle Einbahnstraßen. Bei dem Schachbrettmuster des Straßensystems kommt man aber schnell wieder in die richtige Richtung.
Diesmal finde ich die Panadería Berna auf Anhieb, aber ach, es riecht zwar gut, aber das Lokal ist voll. Es gibt zwei Schlangen, eine davon an so einer Absperrung entlang, wie man sie auf Flughäfen sieht. Warum zwei Schlangen? Eine Angestellte gibt Auskunft: eine fürs Bestellen, eine fürs Abholen. Man muss also zweimal Schlange stehen. Daraufhin verzichte ich und gehe in der Nähe des Apartments ins Bavaria. Auf der Speisekarte stehen unbekannte Wörter wie Kruh und Hiladas, und ich muss nachfragen. Eins bezeichnet eine Brotsorte, eins bezeichnet Rindfleisch. Was es dann gibt, ist nichts Besonderes, letztlich ein Toastbrot mit Rührei.
Danach gehe ich zur Post. Briefmarken kaufen. Die Post ist untergebracht in einem riesigen Gebäude im Zuckerbäckerstil, mit zwei Flügeln, die durch einen hohen Bogen verbunden werden, den man von weitem sieht. Dieses Gebäude wurde errichtet, nachdem die Erdbeben von 1917 und 1918 das ehemalige Franziskanerkloster zerstört hatten, in dem die Post bis dahin untergebracht war.
Ich gehe rein und erhalte die überraschende Auskunft: Wir können Ihnen zwar Briefmarken verkaufen, aber wir können ihre Karten nicht verschicken. Was? Ja, so sei das, wird mir erklärt, die staatliche Post verschicke nichts ins Ausland, dazu müsse ich zur privaten Post gehen, und die sei in dem anderen Flügel untergebracht, gleich auf der anderen Straßenseite. Aber dort werde erst um 9 geöffnet. Frustriert beschließe ich, die Sache aufzuschieben.
Als ich zurückgehe, lächelt mich ein Mann auf dem Bürgersteig freundlich an. Das ist der vom ersten Tag, der mir gezeigt hat, wo ich Geld umtauschen kann. Ich sage ihm,, alles sei in Ordnung gegangen und erkläre, warum ich anfangs so zögerlich war. Euros könne man hier auch tauschen, sagt er mir.
Ich mache mich auf dem Weg zur Mapa en Relieve, das ich mir unbedingt ansehen will. Es ist zwar ein ganzer Fußmarsch, aber Bewegung tut mir gut. Die Szenerie ändert sich, es geht durch ein ziemlich hässliches, sehr ruhiges Viertel und dann an einer Kreuzung entlang, wo sich auf allen Seiten ein Markt mit dicht aneinander gedrängten Ständen hinzieht. Es ist rappelvoll hier. Ich bin froh, als ich da vorbei bin und dann an eine weitere Kreuzung mit einem Springbrunnen in der Mitte komme. Hier muss es sein. Ich frage einen Mann: „¿El mapa en relieve?“, fragt der, fast entgeistert. Aber das sei doch in Zone 2. Ja, kann schon sein. Aber da sei ich doch völlig falsch, das sei dahinten. Und da schwant mir was: Ich bin zwar die richtige Avenida runtergegangen, aber in die falsche Richtung!
Ich halte ein Taxi an. Es wird ja immer vor Taxis gewarnt, aber die hier machen einen guten Eindruck. Alle sind einheitlich, klein und weiß, und haben das Wort Taxi und eine Nummer auf der Karosserie. Der Fahrer nennt auch einen festen Preis: 50 Quetzal. Soll man feilschen? Ich lasse es, und der Fahrer übersetzt den Preis auch gleich für mich: 6 Dollar. Er ist sehr gesprächig, und wir kommen zügig durch. An einem großen Kreisverkehr, der an einen Park angrenzt, lässt er mich raus.
Der Eintritt ist nicht gratis, wie der Taxifahrer gemeint hat. Einheimische zahlen 5 Quetzal, Ausländer 25. Aber man könne mir gratis eine Führung anbieten. Das machen die Praktikantinnen. Eine junge Frau übernimmt das. Sie sieht noch wie ein Kind aus, hat aber ihr Studium schon beendet, es fehlen nur noch die Praktika. Sie hat Tourismus studiert und möchte in der Gastronomie arbeiten, am liebsten möchte sie im Ausland eine eigene Bar aufmachen, in der sie guatemaltekische Spezialitäten anbietet.
Bevor wir zur eigentlichen Sache kommen, streifen wir einen Park, wo die Bäume wachsen, aus deren Holz die Marimba gebaut wird. Sie heißen árboles de hormiga, ‚Ameisenbäume‘, weil sich in ihrem Innern Ameisen verbergen.
Dann kommen wir zum Mapa en Relieve. Was heute eine Touristenattraktion ist, war einst das Resultat einer Expedition. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts zogen zwei Topographen, begleitet von einem Vermessungsingenieur und zwei Soldaten, aus, um das Land zu erkunden, zu Fuß, auf Booten, auf Eselsrücken. Bis dahin war die Topographie des Landes unbekannt. Die Expedition ging auf die Initiative des Präsidenten zurück. Nach der Rückkehr der Männer baute man innerhalb von anderthalb Jahren diese getreue Abbildung des Landes, im Maßstab 1:10.000. Man verwendete Zement, Ziegelstein und Bimsstein. Guatemala erscheint in Grün, die Nachbarländer in Weiß, die Meere und Seen in Blau. Kurioserweise ist Belize noch in Grün, weil es noch als ein Teil Guatemalas angesehen wurde.
Drei Seen sind abgebildet, von denen der Izabal bei weitem der größte ist, dagegen ist der Atitlán, mein nächstes Reiseziel, gerade mal eine bessere Pfütze. Drei Häfen sind abgebildet und drei Ölplattformen, von denen es heute nur noch eine gibt.
Die Wege sind gelb markiert, und auch die Eisenbahnlinien, die es heute nicht mehr gibt, sind eingezeichnet.
Der Führerin zufolge ist es im Norden kalt, im Süden heiß, in der Mitte, also hier, ist die gemäßigte Zone.
Man sieht deutlich den Unterschied zwischen der Ebene im Norden, an der Grenze zu Mexiko, dem Petén, und dem Gebirge hier. Man könnte glauben, in den Anden zu sein. Aber, was mir meine Führerin nicht anvertraut, man hat das Gebirge im Maßstab 1:2000 gemacht, um es höher erscheinen zu lassen!
Wir steigen noch auf eine Plattform, von der aus man einen besseren Überblick hat. Sie macht ein Photo von mir und verabschiedet sich. Das war eine lohnende Sache, trotz der verkorksten Anreise.
Als ich rausgehe und mich ein bisschen in der Gegend umsehe, spricht mich ein Mann an, ob ich nicht das Baseballstadion besuchen wolle. Das liegt gleicht hier an dem Kreisverkehr. Man unterschätzt immer die Bedeutung, die Baseball in diesen Breiten hat. Habe ich früher schon in der Dominikanischen Republik und in Kuba erlebt.
Ich setze mich unter den Schatten eines Baumes auf eine Bank. Ein streunender Hund, offensichtlich ein Rüde, legt, nachdem er mich beschnuppert und offensichtlich für gut befunden hat, seine Pfoten auf meine Füße. Ich komme mit dem alten Mann neben mir ins Gespräch. Er kennt ganz Mittelamerika. Sein Lieblingsland sei Costa Rica. El Salvador habe sich unter dem neuen Präsidenten sehr verbessert, aber Honduras und Nicaragua seien doch ziemlich rückständige Länder. Guatemala sei in Ordnung, was ihn hier störe, seien die marras. Was ist das? Das sind Bande von jungen Männern, die sich untereinander bekämpfen, aber auch Fremde angreifen. Wenn man von denen angegriffen werde, dürfe man sich keinesfalls wehren. Sonst, und er nimmt eine Geste zur Hilfe und macht mit Daumen und Zeigefinger einen Revolver.
Er verabschiedet sich, und ich gebe das Warten auf. Mit der Bestellung des Uber muss was schiefgelaufen sein. Kam mir heute Morgen schon komisch vor. Ich sehe mich nach einem Taxi um, aber es ist keins zu sehen. Also mache ich mich zu Fuß auf den Weg. Das erste Stück, an einer breiten Straße mit einer Promenade in der Mitte, ist ganz schön, dann komme ich an eine Kreuzung, wo sich Guatemala von einer unangenehmen Seite zeigt. Krachender Verkehr, mit lauter schwarzen Rauch ausstoßenden Zugmaschinen. Und: Wie kommt man hier über die Kreuzung? Es geht links und rechts nicht, jedenfalls nicht ohne Lebensgefahr, dann entdecke ich eine Fußgängerbrücke. Dahinter wird es richtig schön. Ich bin auf der Sexta, aber stadtauswärts in anderer Richtung.
An einem kleinen, hübsch dekorierten Café mit Backsteinwänden drinnen und einem Bogen, unter den man künstliche Blumen gestellt hat, die sich hier aber ganz gut machen, bestelle ich bei einem Mann mit einer bemitleidenswert hellen Stimme einen Kaffee und eine Waffel. An der Wand hängen Photos von ehemaligen Größen der Popmusik: Beatles, Doors und sogar die Archies seligen Angedenkens.
Danach geht es gestärkt weiter. Da ich sowieso gerade am Mercado Central vorbeikomme, gehe ich rein und sorge für Nachschub bei den Ansichtskarten. Die sind wirklich schön. Und, da ich gerade in der Gegend bin, hole ich schnell noch Euros aus dem Apartment. An der Kreuzung gleich bei dem Apartment sehe ich, wie ein Mann eine Ziegenherde über den Zebrastreifen treibt.
Dann geht es gleich zu dem Geldumtausch. Der Weg ist mir inzwischen vertraut. Dort geht wieder alles wie am Schnürchen, ich erinnere mich, welche Prozeduren man in Mexiko oder Kolumbien durchlaufen musste, um Geld umzutauschen. Hier geht alles ohne jede Formalie. Für meine 100 Euros bekomme ich sogar noch etwas mehr als für die 100 Dollars: 860 Quetzal statt 774.
Umso besser. Die Post ist ganz in der Nähe. Jetzt ist auch der andere Flügel geöffnet. Hier sieht es noch palastartiger aus als in dem anderen. Es gibt verschiedene Büros für Briefmarkensammler und Münzsammler. Alles in hohen Büroräumen mit viel schwerem Holz untergebracht. Als ich dran bin, frage ich beschwingt nach Briefmarken für meine Karten. Sie könne mir zwar Briefmarken verkaufen, aber keine Karten verschicken, sagt die Frau hinter dem Schalter. Dieselbe Auskunft wie heute Morgen nebenan. Warum denn nicht. Das ginge leider nicht, aus Guatemala könne man keine Post ins Ausland verschicken. Als sie mein ungläubiges Gesicht sieht, holt sie ein zweisprachiges Blatt hervor, auf dem ausdrücklich das steht, was sie mir gerade gesagt hat. Sie erklärt, es gebe keine Einigung mit den Fluglinien, die die Post transportieren. Im nächsten Jahr soll sich das ändern. Ich frage mich, aber nicht sie, wie das denn wohl mit der Geschäftspost ist und ob auch auf dem Landweg in die Nachbarländer keine Post gebracht wird.
Es bleibt noch Zeit für ein Museum. Ich entscheide mich für das Eisenbahnmuseum, einfach, weil es in Zone 1 liegt. Dabei habe ich aber die Entfernung unterschätzt. Die Füße werden langsam schwerer. Ich frage einen älteren, auffällig gut gekleideten Mann nach dem Weg. Er erklärt ihn, sagt aber, da hinten sie Vorsicht geboten. Erst verstehe ich nicht, was er meint, alles ist wie gehabt, doch dann komme ich in dichtes Menschengedränge an einer unübersehbaren Zahl von Verkaufsständen vorbei. Und plötzlich geht mir ein Licht auf: Ich bin wieder da, wo ich heute Morgen, auf dem Weg zum Mapa de Relieve.
Das Eisenbahnmuseum ist in einem großen Gebäude untergebracht, vielleicht in einem ehemaligen Bahnhof, an der Längsseite eines großen Platzes mit einer Reiterstatue im Zentrum.
Man kann in den Wagen eines Güterzugs und in den Wagen eines Personenzugs steigen und sogar auf eine Lokomotive klettern. Der Güterzug hat die klassischen Fächer für die Post und breite Holzregale, die an dicken Ketten hängen sowie einen eisernen Geldschrank. Im Personenzug gibt es zwei Sitzreihen, eine mit Einzelsitzen, eine mit Doppelsitzen. Und zwischen den Reihen ist reichlich Platz. Die Gepäckfächer sind groß und stabil. Da kann sich man moderner Zug ein Beispiel dran nehmen.
In den Ausstellungsräumen wird anhand von Dioramen, Photos und vor allem Gegenständen: klobige Telefone, alte Schreibmaschinen und Rechenmaschinen, ein Apparat mit Lochkarten, ein großer Foliant, in dem mit gestochener Handschrift Abfahrten und Vorfälle vermerkt sind, Waagen mit Gewichten, Stempel aller Art. Das Büro des Stationsvorstehers und ein Schlafwagen erster Klasse, der wie das Schlafzimmer zu Hause aussieht, sind getreu nachgebildet.
Auch der Bau einer Schiene mit Materialien und Werkzeugen ist naturgetreu nachgebildet, mit einer Draisine, die auf der Schiene steht. In der Nähe ein Lastenträger, der mit einer Schubkarre in gebeugter Stellung einen Karren zieht, auf dem Fässer stehen. Täuschend echt ein Mann der, mit Spezialschuhen mit Eisenhaken ausgerüstet, einen Telefonmasten erklimmt, um die Leitung zu reparieren.
Bei den ausgestellten Uniformmützen spielt die Farbe eine Rolle: Schwarz für den Lokomotivführer, den unumstrittenen Chef, Beige für den Schaffner, Blau für die Aufpasser.
Für die ersten schnellen Züge gab es auch schon eine Black Box, wie man sie von Flugzeugen kennt. Mit der konnte aufgezeichnet werden, mit welcher Geschwindigkeit der Zug unterwegs war, wenn es zu Entgleisungen kam.
Das ist alles interessant, nur fehlt das Eigentliche: Die Geschichte der Eisenbahn des Landes. Wann gab es die ersten Strecken, welche Strecken wurden befahren, mit welchen Zügen und, vor allem, wann und warum wurde der Betrieb eingestellt?
Als ich aus dem Museum komme, bestelle ich in einem Lokal eine Limonade und nehme Wasser mit. Da die Gegend etwas unheimlich ist, frage ich einen Taxifahrer, ob er mich zu meinem Ziel bringen kann, einem Lokal mit den Namen La Cocina de la Señora Pu, im Reiseführer empfohlen. Er sieht sich das auf dem Handy an, meint aber, das liege in der Fußgängerzone, da solle ich besser zu Fuß hingehen. Also zwinge ich mich durch das Gedränge auf dem engen Weg zwischen Verkaufsstand und Häuserwand entlang. Zum ersten Mal habe ich ein etwas mulmiges Gefühl. Ich bewege mich so schnell, wie es eben geht. Und atme auf, als ich wieder auf der Sexta bin.
Im Allgemeinen fühlt man sich sicher, die meisten Leute sind freundlich und hilfsbereit. Zum Gefühl der Sicherheit trägt auch die Präsenz von Polizisten und Soldaten auf den Straßen und von Wachpersonal vor den Banken und Ämtern bei.
Dort kann ich ein Photo von zwei Marimba-Spielern machen, älteren Herren, die hier ihr Konzert geben. Macht Spaß, zuzuhören. Und zu sehen, mit welcher Inbrunst sie spielen.
Da, wo die Señora Pu sein soll, befindet sich ein anderes Lokal, El Chapín. Sieht klein aus, hat aber eine Vielzahl von kleinen Tischen, die fast alle besetzt sind. Lauter Einheimische. Die Qualität des Essens hält sich allerdings in Grenzen.
Als ich wieder ins Zentrum komme, stoße ich unverhofft auf das Portal de la Sexta, eine etwas erhöht gelegte Verlängerung der Sexta auf die Plaza de la Constitución mittels eines modernen Bogengangs. Unten brüllt ein Mann mit missionarischem Anliegen in ein Megaphon. Die Welt ist aus den Fugen, mit der Moral geht es abwärts. Es fallen Wörter wie pecado, matrimonio, salvación und fornicación. Offensichtlich ist es ein flammendes Plädoyer für die Monogamie. Wen will er überzeugen? Warum dieser missionarische Eifer? Was geht wohl in ihm selbst vor?
Auf dem Weg nach Hause besorge ich mir noch ganz im Sinne der gesunden Ernährung eine Tüte Chips und eine Dose Bier.
Bisher bin ich mit meinen 100 Dollar noch ganz gut ausgekommen, aber jetzt ist bald Ebbe im Portemonnaie. Und das, obwohl ich mir das Porto für die Ansichtskarten gespart habe.
19. Oktober (Samstag)
Die drei Teile der Kathedrale, von wo auch immer man sie ansieht, scheinen irgendwie nicht zusammenzupassen: Die Sandsteinfassade, das weiße Langhaus und die Kuppel mit den hellblau glasierten Kacheln.
Die Sonne kommt heute bis zur Mittagszeit gar nicht heraus, dann erscheint sie, um dann wieder zu verschwinden. Dann ein paar Regentropfen. Insgesamt ein etwas grauer Tag mit vielen Wolken.
Ich fahre ins Museum. Von all den Museen, die mir die Frau in der Touristeninformation empfohlen hat, ist das Archäologische Museum das, was „unverzichtbar“ ist.
Ich nehme gleich ein Taxi. Es wird ordentlich kassiert, aber die Fahrt ist auch lang, kilometerlang, fast bis zum Flughafen im Süden der Stadt. Da hätte ich am Flughafen auch genauso gut ein Taxi nehmen können statt des teuren Transfers.
Das Museum ist ein riesiges, in Altrosa und Weiß gefasstes Neorokoko-Gebäude. Auch hier wird ordentlich abkassiert. Vor allem bei den Ausländern.
Die Ausstellung, bei der es ausschließlich um die Maya geht, in hellen Räumen, mit wechselnder Anordnung, mal im Kreis, mal um einen Brunnen herum, mal im Rechteck, mit deutlichen Beschriftungen und viel Platz zwischen den absolut sehenswerten Exponaten, ist vorbildlich angeordnet. Nur fehlt bei den Beschriftungen die Angabe des Materials, und es gibt so gut wie keine Erklärungen. Dafür wiederum habe ich keine Erklärung.
Als Prolog gibt es Pilze zu sehen, Figuren oder Formen mit einem Deckel obendrauf, die wie Pilze aussehen. Hab ich noch nie gesehen. Die Archäologen zerbrechen sich den Kopf darüber, was das wohl bedeuten kann. Sie könnten magische Wirkung gehabt und das Gedeihen der Früchte befördert haben, sie könnten so etwas wie Barhocker gewesen sein, sie könnten phallische Bedeutung haben oder sie könnten als Gussform bei der Produktion der Bälle für das berühmte Ballspiel der Maya gedient haben.
Der Terminus Mesoamerika wurde offensichtlich von einem deutschen Archäologen geprägt. Er ist nicht identisch mit Mittelamerika, bezieht sich eher auf die präkolumbianischen Kulturen in dieser Gegend, grob gesprochen vom Süden Mexikos bis Nicaragua. Erstaunlicherweise gibt es unter den Olmeken, Azteken und Maya eine ganze Reihe von Parallelen: Das Mahlen von Mais mit Asche oder Kalk, der Gebrauch von Werkzeugen aus Obsidian, der Gebrauch von Spiegeln aus Pyrit, der aufwendige Kopfschmuck, das Tragen von Sandalen, Turbanen und Federschmuck und der Gebrauch von blow pipes als Wappen. Dann natürlich die Stufenpyramiden. Offensichtlich gibt es auch Parallelen im Kalender – Jahre von 260 bzw. 365 Tagen, im Zahlensystem, beim Tanz um einen Pfahl herum und dem rituellen Gebrauch von Papier und Gummi.
In der eigentlichen Ausstellung gibt es scharfe Pfeilspitzen aus Obsidian zu sehen, Schmuck aus Jade, Stempel aus Keramik. Die Halskette aus dicken, ovalen Jadeperlen würde auch einer heutigen Frau gut zu Gesicht stehen.
Es gibt auch Halsketten, bei denen die Perlen die Köpfe von Kojoten oder Jaguars nachbilden. Beide Tiere waren den Maya heilig.
Die meisten Exponate stammen aus der klassischen Zeit, und das bedeutet bei den Maya 250-250. Leicht zu merken.
Rätselnd steht man vor einer Kröte mit ausgehöhltem Rücken. Es stellt sich heraus, dass sie als Altar diente. Später sehe ich einen Thron, der dagegen wie ein Altar aussieht, mit Altartisch, Unterbau und Aufsatz, alles verziert.
Wann immer man Darstellungen sieht – ob von Göttern oder von Herrschern – sieht man die gleichen Merkmale: große Nasenlöcher, geöffneter Mund, Zahnlücken, Schlitzaugen, Ohrgehänge, Kopfschmuck, Piercing in der Zunge. Ob das als ideal galt? Oder ob das normal war?
Überraschend die vielen Gefäße, die sich als Urnen erweisen. Oft stark verziert, manchmal mit einem Kopf auf allen vier Seiten. Sehr aufwendig gemacht.
Schön ist die Keramik, immer glänzend, immer in bräunlich-rötlichen Farben. Es gibt Vasen, Schalen, Teller, Schüsseln usw. Vermutlich weniger für den tagtäglichen Gebrauch gemacht. Eher ungewöhnlich ein anthropomorphischer Becher, in Grau, einen menschlichen Fuß und ein hohles Bein darstellend.
Schon von ihrer schieren Größe her beeindruckend die vielen Stelen, teils mit Abbildungen von Kriegern oder Göttern, teils mit Schriftzeichen, Glyphen. Die sind rechteckig, fast quadratisch, alle von derselben Größe. Sie enthalten eine Abbildung und am Rand an einer oder zwei Seiten eine bestimmte Anzahl von Knoten. Die Knoten waren wohl keine Verzierung, sondern Teil des Schriftzeichens. Sie waren Hinweis auf dessen Bedeutung.
Die Glyphen sind immer ganz regelmäßig angeordnet. Ich stehe vor einer Stele mit einer Reihe von 4 waagerecht und 12 senkrecht angeordneten Glyphen. Wie liest man die? Von links nach rechts, von rechts nach links, von oben nach unten, von unten nach oben oder boustrophedon, wie beim Ochsenpflug, wie bei den alten griechischen Schriftzeichen. Bei den Maya ist es offensichtlich so, dass man von links nach rechts und von oben nach unten liest, aber im Zweierpack. Wenn man unten angelangt ist, fängt man oben wieder an. Darauf muss man erst mal kommen.
Ich verabschiede mich aus dieser unwirtlichen Gegend der Stadt und nehme ein Taxi zurück in die Innenstadt. Der Taxifahrer erweist sich als sehr gesprächig, berichtet mir, dass er aus einem Dorf stammt und früher in der Landwirtschaft gearbeitet hat, erzählt mit leuchtenden Augen, was Christus für die Welt getan hat, tut seine Meinung kund, die Spanier seien böse und gibt mir so viele Reisetipps, dass ich noch gut drei Monate in Guatemala bleiben könnte. Von dem Chicken Bus, nach dem ich mich erkundige, weil ich damit morgen an den Lago Atitlán fahren will, weiß er genauso wenig wie der Taxifahrer auf dem Hinweg.
Passend zur Ausstellung über die Maya geht es zum Essen zur Cocina de la Señora Pu, das ich nach einiger Suche endlich finde. Es ist ein kleiner, schön eingerichteter, zur Straße hin offener Raum mit Wänden in leuchtenden Farben, jede Wand anders.
Auf einem Schild steht xaq puaq. Das bedeutet, dass man nur bar bezahlen darf. Was mir fast zum Verhängnis wird, denn die Preise haben es in sich.
Auch die Speisekarte ist dreisprachig. Die Señora Pu empfiehlt ein Hähnchengericht, mit einer Soße aus Schokolade und einer aus Mais. Macht sich sehr schön auf dem Teller, Beige und Braun nebeneinander. Dazu gibt es allerdings nichts weiter außer den unvermeidlichen Maisfladen, kein Gemüse, keine Kartoffeln, nichts. Und die Portion ist auch nicht so beeindruckend. Der Geschmack ist gut, erst wirkt er milder, süßlich, dann nimmt die Schärfe zu.
Der etwas stieselige Junge, der mich bedient hat, kommt mit der Rechnung, einem handgeschriebenen Zettel, auf der mit schmieriger Schrift die Beträge notiert sind. Das Trinkgeld hat er gleich dazu notiert. Ich komme so gerade hin, für ein zweites Bier hätte es nicht mehr gereicht.
Er verschwindet mit dem Geld und kommt nicht zurück mit dem Wechselgeld. Ich bleibe sitzen, auch wenn es nur 5 Quetzal sind. Der Junge und die Señora Pu fangen an zu tuscheln, und dann kommt sie und bringt mir die 5 Quetzal.
Ich lasse mich noch ein bisschen durchs Zentrum treiben und kaufe noch mal Obst bei den jungen Frauen an dem bunten Verkaufstisch. Das ist mein Nachtisch.
Vor den Marimba-Spielern geht eine Frau im traditionellen Kleid auf die Knie und packt aus ihren Taschen aus. Aus einem großen Plastikbehälter gibt sie eine zähflüssige Speise in einen Becher, verschließt ihn mit einer Serviette und gibt ihm einem der Marimba-Spieler. Dann zieht sie zum nächsten Kunden weiter.
Eine junge Frau kommt vorbei, die mit großer Sicherheit in Paket Klopapier auf dem Kopf transportiert. Eine Frau hat eine Schüssel in der Hand, eine auf dem Kopf. Mit der freien Hand sichert sie die Schüssel auf dem Kopf.
Die Verkäufer an den Verkaufsständen haben eine Fliegenpeitsche in der Hand, die sie ständig über ihrer Ware hin und her bewegen.
Mir ist schon öfter aufgefallen, dass an einigen Häusern noch die alten Straßennamen stehen: Calle de la Merced, Calle de los Mercaderes. Auf die treffe ich dann zufällig in einer Beschreibung. Dabei geht es um die 6a und die 12a. So wie die eine die Stadt in Süden und Norden unterteilt, unterteilt die andere die Stadt in Westen und Osten. Meine Unterkunft ist ganz in der Nähe des Schnittpunkts der beiden. Und die 8a ist die, die früher Calle de los Mercaderes hieß. Sie wird auch heute noch ihrem Ruf gerecht. Nirgends sonst wimmelt es so sehr von ambulanten Verkäufern und von Verkäufern mit improvisierten Läden. Und in dem Erdgeschoss der Häuser gibt es nichts als Geschäfte. Kurios, wie sich solche Traditionen manchmal ungewollt fortsetzen.
20. Oktober (Sonntag)
Wenn ich nicht sowieso schon wach wäre, würde der Regen dafür sorgen, aber ich habe Glück, als ich vollbepackt auf die Straße trete, hat der Regen aufgehört.
Ich finde sofort ein Taxi und zeige dem Taxifahrer die Adresse, die mir die Frau von der Touristeninformation gegeben hat. Ja, die kennt er, da fährt der Chicken Bus ab, der aber hier nur unter Transporte Rebuli bekannt ist. Es soll nach Panajachel gehen, an den Lago Atitlán. Panajachel heißt praktischerweise hier überall nur Pana.
Der Fahrer heißt Giovanni, mit zweitem Namen Eric. Das sei französisch, versichert er mir, dass Giovanni italienisch sei, hat er noch nie gehört.
Er ist schon ein paar Stunden im Dienst und wird noch bis zum Abend fahren. Sonntag sei der einträglichste Tag, das müsse man ausnutzen.
Giovanni schwärmt von Guatemala. Hier gebe es alles in Hülle und Fülle. Du könntest da drüben auf dem Bürgersteig etwas säen, und es würde aufgehen. Es sei eine Schande, dass die Menschen so wenig daraus machten, dass es so viel Gewalt, Betrug, Rücksichtslosigkeit gebe.
Aus der leeren Altstadt geht es Richtung Süden. Er schlägt ein paar Haken, wegen der Einbahnstraßen, und wir kommen in ein verlassenes Industrieviertel. Er verlangsamt die Fahrt, um nach der Hausnummer zu gucken. Er setzt mich ab auf dieser einsamen Straße vor einem verschlossenen Eisentor. Hier muss es sein. Man kann durch einen Spalt des Tores gucken und dahinter einen Bus erahnen. Es ist ja noch früh.
Giovanni macht sich auf den Weg, ich verlege mich aufs Warten. Drei Frauen kreuzen die Straße und kommen direkt auf mich zu. Das sind vielleicht auch Passagiere, hoffe ich. Sind sie aber nicht. Ich frage nach den Bussen, und sie sagen, nee, die führen schon seit Jahren nicht mehr hier ab. Ich müsse zum Trébol, Calle 41. Davon habe ich irgendwo auch schon mal was gelesen.
Ich stehe auf der einsamen Straße, und da kommt wie gerufen ein Taxi! Es ist Giovanni. Die Sache war ihm doch wohl etwas merkwürdig vorgekommen.
Wir fahren los, es ist noch eine schöne Strecke zurückzulegen, und er fährt eine Tankstelle an. Bevor er tankt, geht er rein. Ob er erst bezahlen muss? Dann macht er sich an der Zapfsäule zu schaffen. Kommt aber nicht richtig klar. Jemand erscheint, um ihm zu helfen. Er will Benzin tanken, aber das gibt es nicht, es muss Super sein. Während er tankt, fällt mein Blick auf die Preissäule. 30 Quetzal! 30 Quetzal? Das kann doch nicht sein. Das wären ja fast 4 Dollar! Später erklärt er es mir. Es handelt sich nicht um den Preis für einen Liter, sondern für eine Gallone! Vermutlich eine amerikanische Gallone, das wären knapp 4 Liter.
Weiter geht’s. Wir kommen über eine Art Ringstraße, und hier ist schon dichter Verkehr, und das am Sonntagmorgen! Dann sieht man schon weiter unten die ersten der bunten Busse stehen, und bald kommen wir auf einen langgestreckten Platz.
Giovanni hat die Fahrt verlangsamt, um zu gucken, wo er mich absetzen kann, und schon haben wir jemanden am Fenster, der nach unserem Fahrtziel fragt. Pana, ja da seien wir bei ihm richtig. Ich frage, ob es direkt dahin gehe. Nein, sagt er, der erste Direktbus gehe erst um 11.30. Ich müsse da und da umsteigen – die Namen verstehe ich nicht – er würde mich dahin bringen. Für 35 Quetzal. Ist das nicht ein bisschen viel für den Zubringerservice? Ich gucke wohl noch etwas skeptisch, aber Giovanni gibt grünes Licht, und schon hat der Packer meinen Koffer gepackt und läuft Richtung eines blauen Busses. Er versteut ihn ohne allzu große Sanftheit in dem Gepäckfach, und ich kann mir einen Platz aussuchen. Es sind noch wenige Plätze belegt.
Die Busse sind ausrangierte US-amerikanische Schulbusse, farbenfroh bemalt und sehr in die Jahre gekommen. Man sitzt auf einer Bank, wie in der Schule. Die Sitze sind zu allen Seiten ausgefranst, aber bequem. Nur ist wenig Platz für die Beine.
Die Windschutzscheibe ist in der Mitte zerborsten. Das scheint hier der Normalfall zu sein. An der Windschutzscheibe hängt eine Kette. Was das wohl ist? Das erweist sich im Laufe der Fahrt: Es ist die Hupe. Wenn man an der Kette zieht, erklingt eine volltönende Hupe.
Weitere Fahrgäste steigen ein. Auf der Bank neben mir eine Frau, die mich mit einem gewinnenden Lächeln ansieht und fragt, ob ich Spanisch spreche. Sie selbst ist Spanischlehrerin. Und hat eine Freundin in Deutschland. Ich frage, ob ich mich zu ihr setzen darf. Erst habe ich ein etwas schlechtes Gewissen, weil ich ihren Platz einschränke, aber das erübrigt sich im Laufe der Fahrt. Es wird voller und voller. Der Packer hängt an der offenen Beifahrertür und ruft an jeder erdenklichen Stelle Xela. Dahin fährt der Bus. Und immer mehr folgen seinem Ruf. Am Ende haben wir noch einen dritten neben uns sitzen. Da wird es doch etwas ungemütlich. Aber er findet dann irgendwo einen Karton, auf dem er sich in den Gang setzt und dann nur noch eine Pobacke auf unserer Bank hat.
An der Seite ein Schild, das die Höchstzahl der Passagiere mit 27 angibt. Zu Hochzeiten sind wir vermutlich bei knapp 50. Aber das scheint keinen zu stören.
Pausen werden nicht gemacht, und es gibt auch kein WC im Bus. Erstaunlich, wie die Leute das aushalten.
Fahrpläne und feste Haltestellen gibt es nicht. Irgendwo habe ich gelesen, man müsse zwischen 2,5 und 4 Stunden veranschlagen. Am Ende sind es 5. Und das für 146 Kilometer! Das liegt auch daran, dass der Verkehr zäh fließt und wir in einen Stau kommen. Lange geht es gar nicht weiter, dann nur schrittweise. Ein Unfall! Eine Baustelle? Dann stellt sich heraus, dass es ein Erdrutsch ist, auf der anderen Straßenseite, und wir müssen durch das Nadelöhr.
Die ganze Zeit geht es bergauf. Es nieselt die meiste Zeit, dicke Wolken hängen über uns, und der Nebel steigt aus den Tälern auf.
Irgendwann kommt der Packer und kassiert. Ich habe das Geld abgezählt, aber die meisten nicht, und es ist unglaublich, mit welcher Geschwindigkeit er zählt und wechselt. Wenn er gerade kein Wechselgeld hat, bekommt man einen abgerissenen Zettel mit der Summe, die er noch schuldet. Das ganze Prozedere muss immer wieder wiederholt werden, wenn neue Fahrgäste zusteigen. Dabei windet er sich unglaublich beweglich an den Leuten auf dem Gang vorbei. Aber das wahre Kunststück kommt noch. Als kein Platz mehr für Gepäck ist, verstaut er es auf dem Dach. Dann klettert er, bei fahrendem Bus, durch die offene Tür auf das Dach, um die Gepäckstücke wieder runterzuholen, die den Fahrgästen gehören, die demnächst aussteigen.
Inzwischen bin ich mit meiner Nachbarin, Alma ins Gespräch gekommen. So allmählich komme ich dahinter, warum sie auf Reisen ist. Sie ist auf der Rückreise, hat ihren Sohn in der Sierra besucht. Sie ist schon seit Mitternacht unterwegs und hat noch 4 Stunden vor sich. Und die ganze Prozedur am Freitag schon mal. Was Mütter alles tun, um ihre Söhne zu sehen!
Was es denn mit ihrer Freundin in Deutschland auf sich habe, frage ich. Ob die ausgewandert sei, einen Deutschen geheiratet habe. Nein, sagt sie, sie sei eine Deutsche. Sie habe sie in Xela kennengelernt, wo sie wohl zum Spanischlernen war. Xela, das sagt mir gar nichts. Sie ist entsetzt. Xela sei die zweitgrößte Stadt Guatemalas. Später stellt sich heraus, dass Xela die verkürzte Form von Quetzaltenango ist! Sie spricht sehr positiv davon, es sei ein Ort, der authentischer ist als der Lago Atiltán oder Antigua. Der Reiserführer, in dem ich am Abend lese, bestätigt das. Ein gutes Gemisch von Einheimischen und Ausländern.
Wo in Deutschland ihre Freundin wohnt, weiß sie nicht. Diese deutschen Namen seien ja alle so kompliziert. Später sucht sie in ihrem Handy: Löbau. Kenne ich nicht, aber klingt nach Osten. Dann sehe ich, dass in den Angaben ihrer Freundin irgendwo Fachhochschule Zittau steht. Jetzt kann ich es lokalisieren.
Ihre Freundin sie Sozialarbeiterin. Sie arbeite mit Flüchtlingen. Habe ihr aber gesagt, dass das alles in Deutschland etwas aus dem Ruder laufe.
Allmählich verstehe ich auch das mit ihrer Arbeit. Sie kombiniert zwei Arbeite. Sie muss morgen früh um 7.30 ran, in der Schule, und hat heute Nachmittag auch noch eine Stunde. Online. Mit einer in Kalifornien lebenden Israeli!
Sie bessert sich mit dem Online-Unterricht ihr vermutlich karges Gehalt auf. Unterwegs bekommt sie eine Anfrage von einer Frau aus Australien! Sie ist weiter empfohlen worden. Das ist gut, denn online verdient sie mehr als in der Schule. Ich frage, ob sie es noch lange bis zur Rente habe. Rente? Das gebe es hier nicht. Sie arbeitet an einer privaten Schule, und da ist so was nicht vorgesehen. Man arbeitet, solange man kann. Sie will jetzt von dem Geld in der Schule leben und das vom Online-Unterricht zurücklegen, für später. Ich ermutige sie auch, ruhig etwas mehr zu nehmen. Das haben ihr andere wohl auch schon gesagt. Für eine Israeli in Kalifornien und eine Australierin ist es kein so großer Unterschied, wenn sie zwei Dollar mehr bezahlen. Aber für sie ist es ein großer Unterschied.
Der jetzige Präsident habe überhaupt kein Interesse daran, die Erziehung zu fördern. Den könne man vergessen. Es hat früher mal einen Präsidenten gegeben, der auch die Bildung von Kooperativen im Kakao- und Kaffeeanbau fördern wollte. Aber daraus wurde nichts. Das seien zwei wichtige Exportartikel für Guatemala, und der guatemaltekische Kaffee sei sowieso besser als der kolumbianische. Ansonsten exportiere man vor allem Obst.
Außer dem Sohn in der Sierra hat sie noch drei Töchter. Eine verheiratet, mit einem Kind. Die beiden anderen leben noch bei ihr. Eine von denen wolle gar nicht heiraten. Sie wolle lieber Geld sparen und dann verreisen. Das verbreite sich jetzt so langsam bei der jüngeren städtischen Generation. Wohin denn Guatemalteken am liebsten verreisen, will ich wissen. Als erstes Mexiko, dann Honduras, aber am liebsten Brasilien.
Während der ganzen Zeit ist Bewegung im Bus. Es steigen Bettler aus und ein und Verkäufer. Wie die sich durch den Gang zwängen mit ihren Waren und dazu noch kassieren können, ist unglaublich. Ich kaufe uns jeweils eine Tüte Obst. Was sie gerne annimmt.
Dann krame ich meine spanischen Kekse heraus. Gar nicht so einfach bei der Enge. Die findet sie „deliciosas“. Ich verteile auch noch ein paar zur Seite und nach hinten und nach vorne. Niemand sagt nein. Und ich Idiot habe eine ganze Stange von diesen Keksen im Apartment in Guatemala gelassen.
Dann kommt ein Gitarrenspieler. Trotz der ruckeligen Fahrt – die Straßen sind allgemein in einem guten Zustand, aber der in die Jahre gekommene Bus fordert seinen Tribut – spielt er mit traumwandlerischer Sicherheit und singt mit voller Stimme. Das ist alles richtig schön. Aber ach, die Strafe folgt auf dem Fuß: Er hält eine Predigt. Mit der Lautstärke, dem Pathos, der Verve eines evangelikalen Predigers. Als er endlich fertig ist, kommt ein zweiter, und die ganze Prozedur beginnt von vorn.
Ich krame schon mal meine Regenjacke heraus und frage nach dem Regen. Der sei ungewöhnlich für diese Jahreszeit, meint Alma. Im Oktober sei die Regenzeit in der Regel vorbei.
Dann kommen wir nach Los Encuentros, einem Ort mit viel Trubel. Hier muss ich raus und mich von Alma verabschieden.
Der nächste Bus steht schon parat. Dann wiederholt sich die Sache noch mal in Sololá. Erst dann geht es bergab, auf einer kurvenreichen Straße. Als wir auf Panajachel zu fahren, kommt zum ersten Mal der See kurz in Sicht, umgeben von schwarzen Vulkanen.
Pana ist auch ein sehr betriebsamer Ort, hatte ich mir etwas anders vorgestellt. Ich stehe an einem Kirchplatz und warte auf einen Tuk-Tuk. Die sausen hier alle durch die Gegend, sind aber alle besetzt. Und lassen mich im Regen stehen. Dann kommt einer mit einem Passagier und lädt mich ein, mitsamt Koffer. Ich nenne den Namen der Straße, und er sagt: Ach so, am Strand!
Er setzt den anderen Passagier ab und bringt mich dann in die Straße, die die Vermieterin genannt hat. Es ist eine Gasse, und an der reiht sich eine kleine Pension an die andere. Meine ist nicht zu finden. Der Fahrer des Tuk-Tuks bemüht sich, kann aber auch nichts machen. Passanten und ein Mann vor einer Pension wissen auch nicht Bescheid. Straßennamen und Hausnummern gibt es nicht. Ich komme nicht auf die Idee, die Photos von der Unterkunft zu zeigen. Muss ich mir unbedingt für spätere Gelegenheiten merken.
Ich gehe wieder auf die „Hauptstraße“ runter, und da an der Ecke steht ein Mann und spricht mich an. Der weiß Bescheid. Er begleitet mich die Gasse runter und deutet dann auf ein hübsches Haus ganz am Ende. Er selbst arbeitet „im Tourismus“, macht aber keinen Versuch, mir irgendwelche Fahrten oder Dienste anzubieten.
Vor dem Hotel wartet ein kleiner, freundlich lächelnder Mann, der mich schon erwartet. Er lässt mich kurz mit der Vermieterin sprechen und gibt mir dann den Schlüssel zu meinem Zimmer. Ich bin verwöhnt von dem Apartment in Guatemala. Das Zimmer ist winzig klein, hat keinen Schrank, keinen Tisch, keine Haken. Das ist alles etwas unpraktisch, vor allem für die klammen Klamotten.
Ich gehe an den Strand runter und suche zwischen all den Souvenirläden, Lokalen, Imbissständen, Minimärkten den Weg zum Strand. Gar nicht so leicht. Dann kommt der See in Sicht, in Dunst gehüllt. Nicht ganz der Anblick, den man vom Bus aus hatte.
Es ist rappelvoll, und überall wird man vor den Lokalen aufgefordert, reinzukommen. Ich sehe irgendwo, dass Hähnchen auf offenem Feuer gegrillt werden. Genau das Richtige. Und das Ende eines denkwürdigen Reisetags.
21. Oktober (Montag)
Wenn ich nicht sowieso schon wach wäre, würden die Hähne dafür sorgen. Sie bestreiten einen lautstarken Wettbewerb, und er zieht sich über zwei, drei Stunden hin. Als ich später zurückkehre, sind sie immer noch zugange. Au jeden Fall besser als Autolärm.
In der Dusche wird darum gebeten, mit dem Wasser vorsichtig umzugehen. Das fällt schon deshalb leicht, weil es eiskalt rauskommt.
Ich sehe auf den Innenhof, und da steht, unter dem Dach des Umgangs, ein Tisch! Wunderbar! Den kann ich zum Schreiben nehmen. Jetzt sehe ich erst, wie schön der dicht bepflanzte, jetzt von der Sonne bestrahlte Innenhof ist.
Edgar, der freundliche Mann von gestern, ist auch schon auf und fegt das Laub. Er ist ein kleiner Mann mit einer sehr freundlichen, milden Art. Er arbeitet hier, seitdem das Hotel gegründet wurde, wohl nach einem Umbau. Das mit dem Regen schreibt er dem Hurrikan zu, der kürzlich Mittelamerika getroffen hat. Heute werde es aber schön. Damit soll er recht behalten. Jedenfalls bleibt der Dauerregen aus der Wettervorhersage aus.
Als ich mich gesetzt habe, steht auf einmal eine Flasche Wasser neben mir, und kurz darauf folgt ein Becher Kaffee.
Ich mache mich auf den Weg in die Stadt über eine schmale, schnurstracks verlaufende Straße: Pick-ups, Fußgänger, Motorräder, Hunde, Tuk-Tuks, alles reichlich vertreten. Im Zentrum dann eine breite Straße mit großen Geschäften und Werkstätten.
An eine Straßenecke verkaufen zwei Männer Obst. Ich schlage gleich zu. Schmeckt hervorragend. Sie können mir auch gleich den Weg zur Touristeninformation, zum Inguat, erklären. Dort kommt mir der Mann schon auf den Stufen entgegen, als er mich draußen stehen sieht.
Die Beratung ist ganz große Klasse. Alles klar, detailliert, aber nicht zu detailliert, und alles anhand eines Stadtplans erklärt. Sehr zufrieden mache ich mich auf den zur Wechselstube. Der Geldwechsel ist der Nebenerwerbszweig eines Souvenirladens der besseren Art. Hinter der Theke eine junge Frau. Zur Vorsicht frage ich nach dem Wechselkurs. 7,15. Katastrophe, es gibt viel weniger als in Guatemala. Und die Aktien des BVB sind auch gefallen! Ich hätte in Guatemala mehr Geld tauschen sollen.
Trotzdem gehe ich noch in eine etwas schäbige Bar, wo es ganz leckere Pfannkuchen gibt, panqueques. Bloß kein Kaffee dazu, lieber Wasser!
Ich mache mich auf den Weg zum Ufer, zum Landungssteg. Hier fahren die Fähren in alle möglichen Richtungen ab. Meine geht nach Santiago de Atitlán.
Es scheint keine Abfahrtszeiten zu geben, man wartet, bis die Fähre voll ist, und das dauert. Der See ist auch heute etwas triste, aber nicht mehr so diesig wie gestern. Die Berghänge sind dicht bewachsen, ganz grün, und kontrastieren mit den drei Vulkanen.
Dann geht es los. Neben mir sitzen zwei Maya-Frauen in der traditionellen Kleidung, das Oberteil, mit kurzen Ärmeln, sehr schön bestickt mit bunten Blättern, Vögel und Früchten. Neben ihnen sitzt ein Mädchen, westlich gekleidet, das wohl zu ihnen gehört, aber die ganze Zeit schweigt, während die Frauen ununterbrochen sprechen. Ich frage, welche Sprache sie sprechen. Die Sprache heißt Tz’utujil. Auch die Fährleute unterhalten sich auf Tz’utujil. Hinter uns sprechen aber einige Maya-Frauen mit anderen Maya-Frauen Spanisch. Offensichtlich sind die unterschiedlichen Maya-Sprachen nicht untereinander verständlich, jedenfalls nicht alle.
Die Fahrt geht fast schnurstracks gerade aus, vom nördlichen Seeufer zum südlichen Seeufer, und dauert etwa eine halbe Stunde. Als die Hälfte um ist, wird es mir etwas mulmig, dann wird mir richtig übel, mit Bauschmerzen und Magenschmerzen, der Kopf scheint zu platzen und mir wird schwindlig. Ich versuche, einen Punkt unter mir zu fixieren, und es wird etwas besser. Endlich verlangsamt sich die Fahrt, und der Schwindel verschwindet. Noch ganz benommen lasse ich alle über mich klettern und aussteigen. Der Fährmann kommt und sagt, ich könne noch sitzen bleiben, solange ich wolle. Ich könne mich auch hinlegen. Davon mache ich Gebrauch. Er bietet mir sogar an, mir Wasser zu bringen, ganz fürsorglich. Als ich dann auf schwankenden Füßen über den Steg gehe, kommt er mir entgegen und bringt mich zu einer Toilette. Danach geht es mir schlagartig besser.
Ich habe mir ein kleines Dorf vorgestellt, aber das ist ganz und gar nicht der Fall. Santiago ist die größte Stadt am See, mit 26.000 Einwohnern.
Ich gehe die steile, von Souvenirgeschäften gesäumte Straße rauf und werde von dem Fahrer eines Tuk-Tuks angesprochen. Er zählt genau auf, was in der Tour enthalten ist. Und der Preis? 120. Ich mache auf der Stelle kehrt und er geht auf 60 runter. Abgemacht.
Und es lohnt sich. Er ist nicht nur Fahrer, sondern auch Führer. Als erstes geht es rauf zu einem Aussichtspunkt. Der Fahrer, Víctor, erklärt, dies sei der Teil des Sees, den man vom Landungssteg aus nicht sieht. Man meint, der See wäre dort zu Ende, aber er zieht sich noch drei Kilometer weiter raus hinter Santiago. Der See hat eine Tiefe von bis zu 350 Metern! Und es werden vier Fischarten gefangen. Die zählt er auf und betont, welche beiden die leckersten seien.
Dann sehen wir, wieder von einer steilen Straße aus hinunter auf ein Feld mit rechteckigen Betonklötzen, in unterschiedlichen Farben bemalt. Was ist das? Der Friedhof! Direkt neben uns haben wir zwei solcher Klötze, anhand deren er gut erklären kann, wie da von verschiedenen Seiten aus bestattet werden kann. Es passen bis zu sechs Tote in jeden Klotz. Er handelt sich immer um Ganzkörperbestattung.
Dann halten wir vor einem Privathaus und gehen durch einen schmalen Gang in einen abgetrennten, mit einer Art Girlanden an der Decke geschmückten Raum. Hier begegnet man Maximón. Eine kleine, leichtes Schaudern erregende Figur eines Mannes, mit zwei Hüten angetan, mit einer unendlichen Menge von Krawatten und mit einer Zigarre im Mund. Maximón ist einer der wichtigsten Götter der Maya! Jedes Jahr verlässt er seinen gegenwärtigen Aufenthalt und wird woanders untergebracht. Neben ihm, in der Ecke, als Zeichen des typischen Synkretismus der Maya, ein Kreuz mit einem pechschwarzen Christus.
Auf der Weiterfahrt komme ich mit Víctor auch persönlich ins Gespräch. Er wohnt etwas außerhalb der Stadt, ist verheiratet und hat zwei Kinder, eine Tochter und einen Sohn. Die Tochter ist schon 19, er habe früh angefangen und schon mit 18 geheiratet. Früh gefreit hat nie bereut?
Dann kommt von oben ein wunderbarer Blick in die Bucht. Dort unten, in der Ferne, sieht man Frauen im Wasser stehen. An Steinbänken. Was machen sie da? Sie waschen die Wäsche! Nicht, weil sie keine Waschmaschinen hätten, sondern aus Tradition. Und weil es so eben auch unterhaltsamer ist. Waschweiber eben.
Es geht zur Kirche, die – wie auch anders – Santiago heißt. Sie sei sehr alt, erklärt Víctor aus dem 16. Jahrhundert, und habe zwei Erdbeben unbeschadet überstanden. 20 Stufen, die für 20 Tage oder Ähnliches im Maya-Kalender stehen, führen von dem großen Innenhof mit einem schönen Bogengang auf einer Seite, nach oben. Die Kirche ist aber geschlossen, wegen Renovierung.
Wir kommen zum Friedenplatz. Auch hier wird des Endes des Bürgerkriegs gedacht. Ein eingezäunter Bereich, auf dem einige Grabsteine liegen, die wie unsere aussehen. Sie sind aber nur Gedenksteine, hier liegt niemand begraben, Steine, im Gedenken an einige Opfer des Bürgerkriegs errichtet.
Santiago, sagt Víctor, sei ein sicherer Ort. In diesem Zusammenhang fällt immer das Wort tranquilo. Genauso hat es Alma auf der Fahrt mit dem Chicken Bus benutzt. Ich bekomme eine Schätzfrage. Wie viele Polizisten gibt es wohl in Santiago mit seinen 26.000 Einwohnern. Ich versuche mich zu drücken, habe aber keine Chance. 100? Die Antwort stellt ihn offensichtlich zufrieden. Es sind nämlich 10.
Unsere letzte Station ist eine Werkstatt, in der die klassische Kleidung der Maya hergestellt wird. Genauer gesagt, ist es der Ausstellungsraum. Zusammen mit mir ist eine Gruppe guatemaltekischer Besucher aus der Hauptstadt da. Eine junge Frau zeigt uns zunächst die typische Männerkleidung. Wird nur an Sonntagen oder Festtagen getragen. Sie besteht aus einer bollerigen, bestickten weißen Hose und einem roten Hemd. Bei den Frauen gibt es für Rock und Bluse eine Reihe von Grundmustern, aber die Art der Bestickung der Bluse, des huipil, ist individuell. Jedes Stück ist ein Einzelstück.
Dann erfolgt noch die Erklärung weiterer Kleidungsstücke, die dazu getragen wird. Auf wunderbare Weise wird aus ein und demselben Kleidungsstück erst Stola, dann Schal, dann Kopftuch. Und dann kommt noch der berühmte toyocal, ein meterlanges Stoffband, das man über die Schulter schwingen kann, das aber eigentlich um den Kopf gewunden wird, mit unendlich vielen, schnellen Bewegungen, bis es eine Art Turban bildet. Auf der Münze zu 25 Centavos ist eine Frau aus Santiago abgebildet, keine Berühmtheit, sondern eine Frau aus dem Volk. Sie war bei einem Wettbewerb die schnellste beim Binden des toyocal.
Das war die erlebnisreiche Tour durch Santiago mit Víctor. Er setzt mich am Landesteg ab. Aber es dauert noch etwas bis zur Abfahrt. Ich gehe wieder die Straße rauf. Erst jetzt sehe ich, dass man dabei unter einem Bogen hergeht, auf dem Tz’ikin Jaay steht. Das ist der Maya-Name von Santiago. Er bedeutet ‚Haus des Vogels‘.
In einem Minimarkt finde ich Zwieback und Coca-Cola und mache mich wieder auf den Weg zum Landungssteg. Unterwegs treffe ich auf eine alte Frau, die einen Topf auf dem Kopf trägt, ohne ihm festzuhalten. Auch die Bürgersteige und das Kopfsteinpflaster machen ihr nichts aus. Ich frage sie, wie das geht, und sie lüftet im wahrsten Sinne des Wortes das Geheimnis: Darunter trägt sie den toyocal!
Ich steige ins Boot und setze mich diesmal ans Fenster. Im letzten Moment steigt noch eine Frau ein, die wie eine Spanierin klingt und wie eine Deutsche aussieht. Sie hat einen großen Rucksack bei sich und Wanderstöcke. Sie trägt Wanderschuhe, eine Wollmütze, eine Maske, einen Kapuzenpullover und eine getönte Sonnenbrille. Sie hat sicher den Vulkan bestiegen. Unterwegs dreht sie ein Video, wobei sie eine beschriftete Glasplatte vor das Handy hält, vermutlich Aufnahmen für einen Videoauftritt.
Die Rückfahrt verläuft ohne Probleme und wird zu einem sinnlichen Erlebnis. Schwere weiße und schwarze Wolken hängen über uns, lassen aber Platz für blaue Flecken am Himmel. Der Fahrtwind und die Wasserspritzer, die man abbekommt, das heftige Aufprallen des Boots auf den Wellen und der laute Motor vereinen sich mit den Stimmen und dem Gelächter der Passagiere, von deren Gespräche man kein Wort versteht. Vor mir ein Mann mit zwei wunderschönen Kindern, ein Junge und seine ältere Schwester, beide mit großen, schwarzen Augen, pechschwarzem, seiden glänzendem Haar, er kurzgeschoren, sie lang in einen Pferdeschwanz gebunden, beide mit ganz feiner, makelloser Haut. Und als wir auf den Hafen von Pana zukommen, schweben Paraglider vom Himmel.
22. Oktober (Dienstag)
Nachdem gestern im Laufe des Tages nur ein paar Tropfen gefallen waren, gab es am Abend dann doch noch einen tropischen Regenguss, der es in sich hatte, den ich aber geschützt unter dem Dach des Innenhofs beobachten konnte.
Unterwegs noch in einer Apotheke gewesen und die empfohlenen Tabletten bekommen. Die Packung sah furchterregend groß aus, aber die Apothekerin nahm einfach ein Blatt raus und gab es mir. Sehr praktisch!
Und dann zufällig noch auf eine Reiseagentur gestoßen in einem winzigen, fensterlosen, zur Straße hin offenen Raum. Hervorragender Service und freundliche Bedienung, und gleich den Transfer zum nächsten Reiseziel festgemacht. Man wird von Unterkunft zu Unterkunft gebracht, und der Transfer ist viel günstiger als das, was im Internet angeboten wird.
Hab mich schon die ganze Zeit gewundert, dass man hier keine weiteren Gäste sieht. Gestern ist aber einer gekommen, sagt mir Edgar. Ein Wanderer. Er kam um Mitternacht und wollte um 4 schon wieder geweckt werden. Edgar hat ihn dann kurz vor vier geweckt, und eine Viertelstunde später war er schon wieder weg.
Im Laufe der Woche kämen noch drei neue Gäste, erklärt mir Edgar, und nächste Woche sei dann alles voll, insgesamt 12 Zimmer. Die Saison beginnt. Das erklärt die gute touristische Infrastruktur hier und die vielen Läden und Lokale.
Als ich das Grundstück verlasse, grüßt mich eine junge Frau, die laut mit ihren Freunden scherzt, mit den Worten „Hola, Papi.“ Dieser Tage in Guatemala habe ich gehört, wie eine Frau mittleren Alters einen jungen, vermutlich drogenabhängigen Mann freundlich abwies und ihn dabei mit papito ansprach. Das ist unabhängig von Verwandtschaftsverhältnis und Alter einsetzbar.
Dann kommen mir streunende Hunde entgegen. Sie sehen alle irgendwie gleich aus. Auf zehn streunende Hunde kommt schätzungsweise eine streunende Katze.
Auf dem Weg in die Stadt sehe ich das Hotel Las Jacarandas. Das sind die Bäume, die ich auch schon auf vorigen Reisen gesehen habe, am auffälligsten die mit den violetten Blüten. Hier wachsen neben dem Eingang Bäume mit ein paar orangefarbenen Blüten. Dürften aber die gleichen Bäume sein.
Unterwegs sehe ich ein Tuk-Tuk mit dem Namen Regalo de Dios, ‚Gottesgeschenk‘. Danach kommt als Gegenstück eins, das El dólar heißt.
Ich frage mich zur Kirche durch, und als ich davorstehe, geht mir ein Licht auf: Hier war ich schon mal. Hier habe ich auf das Tuk-Tuk zum Hotel gewartet, nach der Ankunft in Pana.
Die Kirche, mit einem großen Vorplatz, stammt von 1567, an der Stelle der entscheidenden Schlacht zwischen Maya und Spaniern von Franziskanern errichtet. Die Fassade, steinsichtig, ist schön, in 5 Bahnen und mit 4 nach oben immer schmaler werdenden Geschossen. Im Obergeschoss Glocken, darunter, in Nischen, ein paar Figuren, und in allen Geschossen mehrere Doppelsäulen. Je mehr man hinsieht, umso mehr entdeckt man, darunter verschiedene Reliefs, die in das Mauerwerk eingelassen sind.
Innen erweist sich die Kirche, einschiffig, mit Balkendecke, als erstaunlich groß, mit einem enormen Langhaus. In jedem Joch hängen grüne Vorhänge von beiden Seiten herunter, und dazwischen immer die gleichen, schön mit Laub gestalteten Leuchter aus Messing in Form einer Krone.
Vorne viel Kitsch, aber nicht überladen. An beiden Seiten brennen Kerzen, wieder in Gläsern, eigens für diesen Zweck bestimmte gerade Gläser mit Heiligenfiguren, aber auch Schnapsgläser und Kognakschwenker.
Auf dem Weg zum Ausgang kommt mir eine Frau entgegen, die auf Knien zum Altar rutscht. Später sehe ich sie auch noch im Rückwärtsgang. Da kommt man sich irgendwie deplatziert vor, wenn man „ganz normal“ durch die Kirche geht.
Auf dem Weg in die Stadt komme ich am Crossroads Café vorbei. Dort sind die Entfernungen zu Städten in aller Welt aufgelistet. Am weitesten ist es nach Abu Dhabi: 14.286 Kilometer. Seoul und Melbourne und Kapstadt sind auch ganz schön weit. Nach Luzern, das ist das nächste an der Heimat, sind es 9.518 Kilometer.
Mein Weg führt mich zur Posada de Don Rodrigo, einem Hotel der Extraklasse, in einer parkähnlichen Anlage gelegen. Das beherbergt eine Ausstellung zu den Maya. Hier wird ordentlich Eintritt genommen, 80 Quetzal. Die Tage am See erweisen sich als teurer als die Tage in der Hauptstadt.
Diese Ausstellung und die Forschungen, die zu ihr geführt haben, sind schon einmal Gegenstand einer Sondersendung der National Geographic gewesen, unter dem Titel La Atlántica Maya. Ausgestellt ist nämlich Keramik, die man aus dem See gerettet hat.
Die Ausstellungsstücke sind sehr schön präsentiert, gut beleuchtet, fast jedes in einer eigenen Vitrine, aber die Beschriftung lässt zu wünschen übrig. Die Erklärungen zur Vulkanologie und zur Geschichte der Maya-Reiche überfordern mich, und die Frage der Fragen wird nur ganz am Rand berührt: Wie kommen die Sachen in den See? Zwei Möglichkeiten werden vorgestellt: Der See war Mülldeponie für nicht mehr gebrauchte Keramik, oder man hat sie aus rituellen Motiven in den See geworfen, versprach sich magische Wirkung davon. Beide Erklärungen klingen etwas an den Haaren herbeigezogen. Und der Titel der Sendung der National Geographic ist dann auch irreführend. Unter Atlantis versteht man doch wohl eine im Wasser untergegangene Stadt.
Zwei interessante Themen tauchen dennoch auf. Erstens, mit der wachsenden Bevölkerung begann man, auch den Kraterrand als Anbaugebiet zu entdecken. Und zweitens, die Städte der Maya waren gar keine. Es waren Orte für die Elite, etwa wie die europäischen Fürstenhöfe, nur von den Gouverneuren und Priestern bewohnt. Die gewöhnlichen Leute lebten, ohne zentrale Organisation, an ihren Feldern.
Und dann gibt es noch etwas über das Verhältnis der Maya-Völker untereinander, durch das ich mich bestätigt fühle in meiner Aversion gegen die simple Unterscheidung Spanier # Maya. Hier, um den See herum, lebten die Tz’utujiles, im Westen und Süden des Sees, und die Cakchiqueles, im Norden und Osten des Sees. Sie sprachen unterschiedliche Sprachen, obwohl beide denselben Ursprung hatten. Die Cakchiqueles hatten sich in einer blutigen Revolte von den Quiché losgelöst und ihr eigenes Reich gegründet. Die Rivalität zwischen den Quiché und den Cakchiqueles gipfelte in einer Reihe grausam geführter Kriege, die das Reich der Quiché schwächten. Die Indios waren weder einig noch friedlich.
Jetzt wird es aber Zeit für die Exponate. Die Vielfalt der Formen ist beachtlich, und die der Funktonen auch: Teller, Schüsseln, Krüge, Vasen, Tassen. Anfangs (sofern die Ausstellung chronologisch ist) sieht man flache Böden, dann bekommen die Gefäße Füße, einige wenige mit den Köpfen von Ungeheuern verziert. Auch Henkel kommen erst später auf. Besonders gefällt mir ein Objekt, das wie ein Erdbeerkörbchen aussieht. Ganz wunderbar ein großes, bauchiges Gefäß, dessen Hals als das Gesicht eines Mannes ausgestaltet ist, mit ganz einfachen Mitteln. Er umfasst seinen Bauch mit ganz schmalen, langen Händen. Sieht gemütlich aus.
Bei zwei Objekten scheint sich Lava-Masse außen festgesetzt zu haben. Wie kommt die daran?
Was war wohl die Funktion dieser Teile? Reine Gebrauchsstücke für den Alltag? Gefäße für rituelle Zwecke? Wenn ich mich an das Archäologische Museum in Guatemala erinnere, könnten sogar Gefäße für die Einäscherung dabei sein.
Dann geht es zur Reserva Natural, mit dem Tuk-Tuk. Die liegt natürlich ein ganzes Stück außerhalb, es geht über eine gewundene Straße und dann über einen langen Schotterweg.
Hier bezahlt man Eintritt und wird sich dann selbst überlassen. Halbwegs guten Wegweisern folgend, geht es in den Park hinein. Der Weg ist schmal und steinig und auf beiden Seiten von dichter, tropischer Vegetation gesäumt. Man ist sofort in einer anderen Welt.
Zuerst geht es zu den Schmetterlingen, zum Mariposero. Schon außerhalb kommen einem einzelne kleine Schmetterlinge entgegen. Die sind vermutlich ausgebüxt. Sobald man drinnen ist, schwirren sie einem vor den Augen und um den Kopf herum, aufgeregt die Flügel schlagend. Es sind Hunderte. Sofort fällt einem auf, wie groß sie sind. Am besten vertreten sind die blau-schwarzen, aber es gibt jede Menge Variation. Die vielen Schmetterlinge im Flug auf ein Photo zu bannen, misslingt auf spektakuläre Weise. Aber einzelne bekommt man gut aufs Photo, entweder, wenn sie wie tot auf dem Boden liegen, um dann plötzlich wieder aufzufliegen, oder wenn sie sich mit ihrem Rüssel an einer Blüte zu schaffen machen. Entweder stehen sie dann ganz still oder sie schlagen mit den Flügeln. Das Ganze ist ein wunderbares Schauspiel.
Dann geht es über verschlungene Wege zum Wasserfall. Erst geht es über eine Holzbrücke, die den Namen Hängebrücke noch nicht verdient hat. Die nächste aber wohl. Sie ist lang und kommt mächtig ins Schwingen. Die zweite auch und die dritte und die vierte auch. Ich habe über dem Abgrund nicht den Mut, das Handy für ein Photo herauszuholen.
Am Ende finde ich auch noch die Plattform, von der aus man die Affen sehen kann, aber die lassen sich nicht blicken.
Wieder mit dem Tuk-Tuk zurück in die Stadt. Der Fahrer lässt mich irgendwo an einer Kreuzung raus und deutet vage in eine Richtung. Da vorne sei die Galerie. Ich laufe mir die Beine krumm, immer um das Gebiet der Kirche herum. Gleich gegenüber muss die Galerie laut Karte liegen. Aber keiner scheint sie zu kennen, die Karte ist nicht genau genug und verzeichnet auch nicht alle Straßennamen, und die Namen der Straßen sind den Leuten auch meistens nicht bekannt. Und mein Handy verweigert seine Mitarbeit.
Am Ende gehe ich in eine etwas schummerig aussehende Bar und bestelle einen Licuado, mit Banane. Schmeckt köstlich und ist gerade das Richtige jetzt. Ich komme mit den Frauen hinter der Theke ins Gespräch, Mutter und Tochter. Die Mutter kommt und sieht sich meine Karte genau an. Dann sagt sie, ja, sie wisse, wo das sei. Sie geht mit mir vor die Tür und zeigt mir den Weg. Als ich meinen Licuado beendet habe, schickt sie aber ihre Tochter mit. Die soll mir den Weg zeigen. Und tatsächlich, wir biegen in eine schmale Seitenstraße ein, und da ist sie, die Galeria Ixchel. Mit einem schön verzierten Tor mit Maya-Motiven. Geschlossen.
Ich gehe zurück und setze mich in ein etwas größeres Lokal, wo ich zunächst der einzige Gast bin. Ich bestelle den Plato típico, mit Schweinelende, Chorizo, Reis, Käse, Knoblauchbrot und den unvermeidlichen Bohnen. Dazwischen tummelt sich ein Stück Melone, und daneben ein Avocado-Dip in einem Salatblatt. Da kann man nicht meckern. Das Bier, das es dazu gibt, kommt in der Flasche, obwohl es Dorada Draft heißt.
23. Oktober (Mittwoch)
Am Morgen ist es stürmisch, und als ich auf die Straße gehe, weht mir der Wind den Sand in die Augen.
Als ich aus dem Zimmer komme, liegt auf einem Stuhl direkt vor der Tür meine Wäsche, gewaschen und gebügelt. Edgar hat ganze Arbeit geleistet.
Um den See herum mangelt es nicht an Heiligen: San Marcos, San Lucas, San Jorge, Santa Catarina, Santa Clara, San Pedro, San Pablo und Santiago, wo ich dieser Tage war. Heute geht es nach San Juan, am westlichen Rand des Sees gelegen.
In der Fähre bin ich umgeben von albernen Latinas, die jedes Selfie und jeden ihrer Kommentare mit Gelächter oder mit Kichern quittieren. Beim Photographieren lehnen sie sich weit aus dem Fenster. Das traue ich mich nicht. Dafür mache ich aber ein Photo, als wir an einem kleinen Ort anlegen und mitten ins Schilf fahren. Besser als jedes Selfie.
In den wenigen Tälern liegen ein paar kleinere Ortschaften, immer in etwas Distanz zum Ufer, steil ansteigend. Am Ufer selbst, sogar den Steilküsten, einzelne Häuser, und sogar a n den steilen Berghängen sieht man einzelne Häuser, teils mit moderner Glasfassade. Dort scheint gar keine Straße hinzuführen.
San Juan ist kleiner und ruhiger als Santiago, aber genauso touristisch. Man geht durch ein Spalier von Verkaufsständen steil die Straße rauf in die Stadt.
Die Tuk-Tuk-Fahrer wollen astronomische Preise für die Tour, und diesmal lasse ich mich über den Tisch ziehen und bezahle 100 Quetzal. Jetzt weiß ich erst, was ich an meinem Víctor in Santiago gehabt habe. Dieser Fahrer, passenderweise Juan, beschränkt sich aufs Fahren, und die Distanzen sind viel kleiner als in Santiago.
Gestern, sagt er, habe er zum BVB gehalten, gegen Real Madrid, denn hier halte man zu Barça, und die spielen heute gegen Bayern.
Zuerst geht es zu den Bienen. In einer Kooperative werden Bienen gezüchtet, Honigprodukte verkauft (darunter Honigbier!) und Führungen angeboten. Der junge Mann, der das macht erklärt alles mit viel Geduld. Auch hier in Amerika ist das Bienensterben ein Thema. Er macht das fest an der Lebenserwartung der Bienen, der Arbeitsbienen. Sie lebten früher sieben Wochen lang, heute nur noch vier Wochen lang.
Die Arbeitsbienen suchen den Nektar und verspeisen ihn. Dann spucken sie ihn wieder aus, und bei der Verdauung ist aus dem Nektar Zucker geworden. Der dient der Ernährung der Bienen. Manchmal lassen sie den Nektar durch den Kopf passieren, und dabei wird durch eine Drüse Kollagen produziert, und dabei entsteht der Gelée Royale, Nahrung für die Königin. Bei der guten Ernährung kann die vier bis fünf Jahre alt werden. Sie muss aber auch hart ran und etwa 1000 Eier pro Tag legen.
Bei den Bienen machen die Weibchen, die Arbeitsbienen, die ganze Arbeit. Anders als bei den Menschen. Und die Männchen sind nur zur Vermehrung da. Auch anders als bei den Menschen. Und es gibt viel zu viele von ihnen. Auch anders als bei den Menschen. Die Königin macht nur von 2% von ihnen Gebrauch.
Dann sehen wir uns Bienenkörbe an. Aus dem Loch des ersten guckt gerade eine hervor. Ich wundere mich, wie klein die ist, aber Oswaldo sagt mir, ich solle mal auf den nächsten Bienenkorb achten. Noch kleiner, höchstens so groß wie eine Mücke. Und ich erfahre, zu meiner Überraschung: Die amerikanischen Bienen haben keinen Stachel.
Dann sehen wir noch ein Bambusrohr. Das ist der bevorzugte natürliche Bienenstock der Bienen. Wenn sie den nicht finden, bauen sie ihren eigenen Stock, und die zwei Materialien, die sie dabei benutzen, sind hier auch ausgestellt: Mist oder Lehm.
Am Schluss kaufe ich noch eine Flasche Honig, dickflüssig, golden, süß. Verkauft wird nur hier an Ort und Stelle. Es gibt sonst keinen Absatzmarkt.
Weiter geht es zu einer anderen Kooperative, einer Baumwollweberei. Die junge Frau, die mir den Prozess zeigt, heißt Elena. Zuerst sehe ich helle und dunkle, bräunliche Baumwolle. Beide fühlen sich weich an. Sie legt sie auf ein Kissen und klopft mit einem doppelarmigen Knüppel auf die ein. So wird die Baumwolle von Fibern befreit.
Dann kommt der Prozess des Färbens. Sie zieht einen Strang Baumwolle durch eine Flüssigkeit, und schon verfärbt sie sich. Wenn man intensivere Farben haben will, muss man das wiederholen oder die Baumwolle in der Flüssigkeit liegen lassen.
Dann kommt die Bananenstaude ins Spiel. Wie das? Die gefärbte Wolle wird in eine Flüssigkeit gelegt, die man aus dem Stamm der Bananenstaude gewonnen hat. Und was ist der Effekt? Das verhindert das Verfärben! Wer wohl auf so was gekommen ist?
Wir stehen vor den vielen Materialien, die für das Färben genutzt werden: Rübe, Möhre, Kamille, Avocado, Zeder, Basilikum und sogar Kohle und viele andere. Die meisten sind pflanzlich, nur für Rot, da werden Tiere gebraucht, Schildläuse, Hunderte und Tausende, aus deren Blut der Farbstoff gewonnen wird, genauso wie bei uns vor der Erfindung der chemischen Fasern. Und dann kommt noch ein Paukenschlag: Bei einer Pflanze ist das Ergebnis davon abhängig, ob bei Vollmond oder nicht geerntet wird: bei Vollmond blau, ohne Vollmond grau!
Dann zeigt sie mir, auf dem Boden kniend, wie aus der Baumwolle mittels einer Spindel Fäden gezogen werden, je nach Umdrehung mehr oder weniger dünne. Das macht sie alles mit großer Leichtigkeit vor. Dann werden die Fäden um ein Holzgerüst gewunden, immer und immer wieder, wobei man höllisch aufpassen muss, dass man sich nicht verzählt. Und schließlich das Weben selbst, wieder auf dem Boden sitzend, mit einem Gurt hinter dem Rücken und mit ruckartigen Bewegungen. Das habe ich schon mal in Mexiko gesehen und auch damals schon nicht verstanden.
Sie ist gerade mal 18 Jahre alt, arbeitet hier in der Kooperative und studiert nebenbei, so was wie Krankenschwester. Wir reden eine Zeitlang aneinander vorbei, als ich frage, wie sie die beiden Dinge miteinander verbindet. Am Ende stellt sich heraus, dass sie nur samstags nach Sololá zum Studieren fährt.
Die Kooperative bekommt viele Produkte von Familien aus der Gegend, die sie bezahlt und gegen einen Anteil an dem Preis vermarktet. Insgesamt sind 40 Familien beteiligt. Das Ganze läuft unabhängig, kein Unternehmen mischt sich da ein. Ich frage, ob auch schon mal an den Export gedacht worden ist. Ja, aber das scheitert an den bürokratischen Hindernissen und den Kosten.
Bei der Schokoladenfabrik, meinem nächsten Ziel, handelt es sich um ein Unternehmen, keine Kooperative. Was man hier besichtigt, ist nur ein Ausstellungsraum. Ich halte zum ersten Mal eine Kakaofrucht in den Händen. Bin erstaunt, wie leicht sie ist. Und wie doll es rappelt, wenn man sie bewegt. Könnte ein Musikinstrument sein. Die Schritte des Herstellungsprozesses, Schälen, Mahlen, Trocknen, Rösten usw. kenne ich von einer anderen Reise. Mir wird aber auch noch Neues geboten, eine Flüssigkeit, die auf dem Kakao beruht. Bei der Destillation entsteht ein Getränk mit 70% Alkoholgehalt. Der wird dann auf 20% reduziert. Ich darf an der Flasche riechen. Riecht nach Schnaps.
Dann gibt es noch ein, zwei Sorten Schokolade zu probieren, unter einer Auswahl von 100% Kakao bis zu weißer Schokolade. Die bekanntlich keine Schokolade ist. Am Schluss kaufe ich mir noch die teuerste Tafel Schokolade meines Lebens, 70% Kakaogehalt. Damit geht der Besuch von San Juan zu Ende.
Beim Warten auf die Fähre fällt mir das häufige Vorkommen von Goldzähnen bei den Einheimischen auf.
Wir machen diesmal eine regelrechte Rundfahrt und legen immer wieder an kleinen Stegen an kleinen Orten an. Wenn man in der Fähre sitzt und auf den Steg blickt, sieht man nur die Füße der Leute, mit Hühneraugen und hochgewachsenen Zehennägeln.
Heute ist mächtiger Seegang, und der Aufprall der Fähre auf die Wellen ist unangenehm hart. Die meisten lachen, aber es ist ein gequältes Lachen. Als wir endlich ankommen, bin ich froh, dass die nächsten Transfers wieder auf dem Landweg erfolgen.
24. Oktober (Donnerstag)
Obwohl der See so touristisch ist, habe ich bisher, den Aufenthalt in der Hauptstadt eingeschlossen, nur ein paarmal sporadisch Englisch gehört, nur einmal ganz kurz Französisch und noch keinmal Deutsch!
Durch einen aufmerksamen Kommentar aus der Heimat werde ich darauf aufmerksam, dass Atitlán kein Wort aus einer Maya-Sprache ist, sondern aus dem Nahuatl kommt. Es bedeutet so etwas wie ‚Zwischen dem Wasser‘, wobei atl, Wasser, auch das Wort ist, das in chocolatl, Schokolade steckt, ‚bitteres Wasser‘.
Mein erster Weg führt mich zur Apotheke. Die Kasse funktioniert nicht, und die Frau hinter der Theke muss die Preise bei ihrer Chefin abfragen. Die kommen dann nicht per Packung, sondern pro Einheit, la unidad, und der Preis der gut abgezählten Tabletten wird dann mit dem Taschenrechner ermittelt.
Dann geht es, schon mit gepacktem Koffer, in das Lokal unten an der Ecke. Da war ich gestern Abend schon. Der Wirt erwartet mich schon.
Mein Blick fällt auf das Haus gegenüber. Erinnert mich an Griechenland. Das Erdgeschoss, ein länglicher, fensterloser Raum, ist schon fertig. Da ist ein Minimarkt drin. Das erste Obergeschoss befindet sich im Rohbau. Der Bau ist zur Straße hin offen, es gibt keinerlei Absicherung, und die Treppe, die ins nächste Geschoss führt, endet kurz vor dem Abgrund. Gestern Abend haben da Kinder gespielt. Das nächste Geschoss besteht bisher nur aus ein paar eisernen Stangen, die senkrecht nach oben ragen.
Als ich mit dem Koffer vor dem Lokal stehe, in Erwartung des Busses, dem ich die Fahrt die Gasse rauf ersparen will, fällt mir auf, wie viele Frauen hier mit dem Motorrad unterwegs sind.
Vor dem Bus kommt ein Herold auf dem Motorrad, der die Namen der einzusammelnden Passagiere ausruft und dann auch gleich dafür sorgt, dass die Koffer auf dem Dach verfrachtet werden-
Dann kommt der Bus. Lauter Bleichgesichter sitzen da drin. Es ist ein Bus für 12 Personen. Ich habe das Glück, dass der Platz neben mir frei bleibt. Noch mehr Glück hat die dicke Amerikanerin vor mir, deren Nachbarplatz ebenfalls frei bleibt. Der letzte Passagier, ein Amerikaner, der gut Spanisch mit einem furchterregenden Akzent spricht, wird auf den Beifahrersitz verfrachtet, Und damit verschwindet auch der Herold auf seinem Motorrad.
Wir werden von einer Frau gefahren. Die macht das gut, ganz souverän. Es wird zwar immer wieder rechts überholt, aber das scheint hier nicht gegen die Regel zu sein.
Es geht über eine gut ausgebaute, zweispurige Straße, in die Berge und den Dunst hinein. Dann fängt es auch noch etwas an zu regnen.
Plötzlich biegen wir ab, und es geht über eine etwas holprige Landstraße. Bequem sitzt man hier nicht, und man weiß nie, wie lange die Fahrt noch dauern wird.
Aber dann kommen niedrige Häuser in Sicht, wir fahren über Kopfsteinpflaster und an Häusern mit Gittern vor den Fenstern vorbei. Wir sind da! Hat insgesamt nur drei Stunden gedauert.
Als erstes entsorgen wir den Ami auf dem Beifahrersitz, und prompt ist wieder ein junger Mann zur Stelle, der sich um die Koffer kümmert. Das ist echt gut organisiert.
Mich setzen sie irgendwo auf der Calzada Santa Lucía ab. Ich sehe nach der Hausnummer, aber in 63 ist eine Bank untergebracht. Den Schlüssel soll ich in der Bar El Churro abholen. Die kennt hier niemand.
Ich gehe in eine Bar und frage den Mann hinter der Theke. Der guckt im Internet nach. Nichts. Dann weißt der auf ein Schild mit dem Passwort fürs WLAN. Ich melde mich an und merke, dass ich mir die falsche Adresse notiert habe, die für den nächsten Aufenthalt. Da geht es in die Bar El Churro.
Hier geht es dagegen durch einen Schönheitssalon, um in die Unterkunft zu gelangen! Dahinter verbergen sich in einem kleinen Innenhof die Zimmer. Die Unterbringung hat diesmal wirklich das Prädikat einfach verdient.
Ich gehe wieder in das Café von vorhin, um mich zu bedanken. Und bestelle einen Kürbiskuchen und einen Kaffee. Wir kommen ins Gespräch. Es stellt sich heraus, dass er Hobbyphotograph ist. Auf einem Regal, das über mehrere Seiten läuft, hat er, in chronologischer Reihenfolge, Kameras aus verschiedenen Jahrzehnten platziert. Eine der ältesten ist eine deutsche, er reicht mir auch eine weitere deutsche, die ist richtig schwer. Er verkauft sogar noch Filme! Ja, da gebe es immer noch Nachfrage, meint er.
Ich gehe durch die Stadt, die alles von einer kleinen, schmucken Kolonialstadt hat. Es ist warm, und es wird immer wärmer. Bisher der wärmste Tag der Reise.
Mein erstes Ziel ist die Touristeninformation. Dort bekomme ich einen Stadtplan und die Adressen der unzähligen Kirchen und Museen, die es hier gibt. Und eine Wegbeschreibung zur Bank. Dort soll ich am besten mein Geld wechseln.
Vorher gehe ich aber noch über den Kathedralplatz. Dort kann man Stadtführer anheuern. Ein Mann, der zwar einen Ausweis hat, aber nicht das Emblem, das er haben sollte, spricht mich an. Er versteht offensichtlich von der Sache was. Er fordert 30 Dollar oder 200 Quetzal, das scheint mir ganz schön heftig, aber hier in Antigua bekommt man sicher nichts nachgeschmissen.
Die Bank ist in einem alten herrschaftlichen Gebäude mit einem schönen Innenhof untergebracht. Beim Geldwechseln geht es sehr formal zu, mit einem von einem Soldaten bewachten Eingang, mit einer Nummer, die man ziehen muss, mit Vorlage des Passes und Überprüfung der Dollarnoten auf Echtheit. Der Wechselkurs ist besser als in Pana, aber schlechter als in Guatemala.
Auf dem Rückweg spricht mich eine Frau an, die gemütlich auf einem Steinvorsprung vor der Kathedrale sitzt. Sie bietet alle möglichen touristischen Dienste an und auch den Verkauf von Souvenirs, muss aber am Ende selbst lachen, als sie sieht, dass sie dabei bei mir auf Granit stößt.
Zum Schluss gehe ich noch in ein Geschäft mit dem verlockenden Namen Dollar City. Scheint eine Kette zu sein. So was wie ein besserer 1-Euro-Laden. Dort kaufe ich noch ein paar Kleinigkeiten und ziehe mich in meine Bude zurück.
25. Oktober (Freitag)
Mein erster Weg führt mich zur Apotheke, und dann geht es gleich ins Zentrum, zum Parque Central, einem schönen, grünen Platz, wo es am Morgen noch ruhig zugeht. Eine Verkäuferin reagiert schnell, als sie sieht, dass sie bei mir mit Englisch nicht ankommt und sagt: „Kaufst du etwas!“
Ich bin etwas unschlüssig, was ich machen soll und gehe noch mal an der Touristeninformation vorbei und dann in eine Buchhandlung mit dem Namen El Tuerto, ‚Der Einäugige‘.
Schließlich frage ich mich zum Museo Casa Santo Domingo durch, am Rande der Innenstadt gelegen. Das soll alleine sieben Museen beherbergen, wobei das Wort Museum mit Vorsicht zu genießen ist. Das „Archäologische Museum“ besteht aus ein paar Ausstellungsstücken, die im ehemaligen Kapitelsaal untergebracht sind, und das „Pharmaziemuseum“ ist eine hier wieder aufgebaute alte Apotheke.
Es ist ein riesiger Komplex, mit offenen Plätzen, langen Korridoren, Kreuzgängen, Sälen. Sogar an dem lärmenden Pausenhof einer Grundschule kommt man vorbei. Anfangs glaubt man, nicht richtig zu sein, denn man betritt das Museum durch ein Hotel, an der Rezeption vorbei, durchs Foyer und am Swimming-Pool vorbei.
Äußerst originell gemacht ist das Präkolumbianische Museum. Dort hat man den Exponaten der Maya modernere Exponate derselben Gattung gegenübergestellt. Einer großen Urne aus Keramik mit der typischen Maya-Fratze vorne drauf hat man zum Beispiel eine ebenso große Urne aus Glas aus dem Frankreich der Napoleonischen Zeit gegenübergestellt. Man sieht auch, wie bestimmte Motive „unsterblich“ sind. Neben einer weiteren Maya-Urne mit Schmetterlingen liegen bunte Schmetterlinge aus Glas.
In einer Maya-Urne, rechteckig, flach, mit Deckel, ist am Boden die Figur einer Gottheit angebracht, mit einem Loch am Nabel. Das Loch repräsentiert den Ausgang des Toten ins Jenseits.
Erstaunlich der ideelle Wert, den viele Tiere im Universum der Maya hatten: Schlangen standen für Wiedergeburt und Verwandlung, Schmetterlinge standen für die Seelen der Krieger, der aus dem Wasser auftauchende Panzer der Schildkröten die Trennung der Erde von der Unterwelt, das Krokodil die Oberfläche der Erde, Karnickel standen für den Mond!
Einige der Museen sind angeordnet um die Reste der ehemaligen Klosterkirche herum. Dort stehen einige Heiligenfiguren aus dem Kloster, farbig gefasste Holzfiguren, darunter eine Maria Magdalena mit einem überwältigend traurigen Gesichtsausdruck. Die Augen, mit pechschwarzen Pupillen, scheinen aus Glas gemacht.
Am Rande der Kirche hat man an einer Felswand eine bizarre Installation angebracht. Auf den Felsvorsprüngen sitzen musizierende Engel, Figuren, die wie Kinderpuppen aussehen, und daneben hängt eine spiralförmige Kette von Glocken. Alle paar Sekunden erklingt ein Glockenschlag, und das Ganze ist unterlegt mit einer leisen, sphärisch klingenden Tonfolge.
Im Kunstmuseum gibt es die Werke eines gewissen Jaime Arimany zu sehen, impressionistisch anmutende Werke verschiedener Gattungen, Stillleben, Porträts, Landschaftsmalerei. Am besten gefällt mir ein Stillleben mit den Zutaten für eine Mahlzeit: Tomaten, mit schwarzen Stellen, ein Teller mit Fischen, mit roten Streifen und sonst silbrig glänzend, ein Baguette mit abgeschnittenen Stücken, Trauben, die auf einem Glasteller liegen und teils herunterhängen. Mitten drin eine Korbflasche mit Wein. Arimany gilt als der Maler des langen Pinselstrichs, de la pincelada larga, und wenn man das einmal gelesen hat, fällt es einem bei jedem Bild auf.
Von ganz anderem Kaliber sind die Bilder eines gewissen Marco Augusto Quiroa, in Stil und Themen. Man sieht zum Beispiel das Bild eines brennenden Hundes, mit scharfen Übergängen zwischen den Formen und eindeutigen Farben. Anders, aber ebenso merkwürdig sind seine Figuren – scheinen in Glas geritzt zu sein – deren Titel wie Vater und Sohn nichts mit dem Dargestellten zu tun zu haben scheinen. Die Figuren sind eine Mischung aus Maya-Gottheit und Roboter.
An der Nahtstelle zwischen den Werken der beiden Maler sind auf einem Vorsprung die Utensilien eines Malers ausgestellt, wie ein Atelier im Kleinformat: Palette, Malkasten, Kittel, Pinsel, die in einer Wasserflasche stecken, ein Zertifikat. Man kann sich fragen, ob das ein Kunstwerk an sich ist.
Ich sehe mir noch die Klosterküche an, zweigeteilt, der Teil mit Tischen und Stühlen, in denen sich das Leben der Bediensteten abspielt, und die Küche selbst, mit Abzugshaube ganz oben in der Decke, dem Kaminofen unten und riesigen Kochgeräten, vor allem Schüsseln aus Kupfer. Der Raumteil, in der die eigentliche Küche ist, hat die Form alter Maya-Behausungen, heißt es. Scheint zehneckig zu sein.
Als ich noch ein bisschen im Freien umherbummele, höre ich plötzlich das Krächzen und dann das Pfeifen eines Vogels direkt über mir. Es ist ein Guacamaya, ein farbenprächtiger Vogel mit langem Schwanz. Von denen hält man hier vier oder fünf Exemplare, alle anders im Federkleid. Sie können nicht ausgewildert werden, da sie in der freien Natur nicht zurechtkämen.
Natürlich sind sie ein beliebtes Photomotiv. Als ich zwei Frauen den Vortritt lasse und „¡Adelante!“ sage, entgegnet die eine mir, wohl in der Annahme, ich wäre ein Gringo, „Oh, Espanish!“
Ich bin etwas unschlüssig, was ich nach dem Museum unternehmen soll. Am Ende mache ich den Versuch, auf den Cerro de la Cruz zu steigen, den Hügel am Rande der Innenstadt mit Aussichtsplattform. Die Straße dorthin geht beständig aufwärts, und die müden Beine wollen nicht so recht mitmachen. Am Straßenrand verkaufen eine Frau und ein Mann Granizado, kommt mir sehr gelegen für eine Pause. Ich bestelle einen mit Zitrone. Der wird hier viel aufwendiger gemacht als in Spanien. Der Mann zertrümmert das Eis mittels eines altertümlichen, mit einer Kurbel betriebenen Apparats. Die Frau erledigt den Rest. Neben das Eis werden an den Rand des Bechers Gurkenscheiben platziert. Dann kommt Salz drauf, dann Erdnüsse, dann kommen geriebene Kürbiskerne darüber, dann noch mal Salz, und erst zum Schluss kommt der Saft der frisch gepressten Zitrone darüber. Ich setze mich auf einen Mauervorsprung und lasse mir die Erfrischung schmecken.
Dann geht es weiter die Straße rauf, und dann kommt der eigentliche Weg zum Hügel hinauf. Ich bin drauf und dran, umzukehren, aber dann gebe ich mir doch einen Ruck und packe die Sache an. Der Anstieg ist ganz sanft, und am Ende bin ich froh, durchgehalten zu haben. Die Aussicht ist schön, wenn auch nicht überwältigend. Oben steht ein Kreuz, und alle, wirklich alle, lassen sich vor dem Kreuz und vor der Brüstung photographieren.
Von der Stadt kann ich noch nicht so viel identifizieren, aber ein knallgelbes Gebäude sticht so heraus, dass man es nicht übersehen kann. Das ist La Merced, ein ehemaliges Nonnenkloster.
In der Ferne kann man wenigstens einen von zwei Vulkanen erkennen, die quasi zur Stadt gehören, den Volcán de Fuego und den Volcán de Agua. Der Gipfel des Vulkans, auf den man blickt, liegt in den Wolken.
Auf dem Weg zurück ins Zentrum will eine Frau, die ich nach dem Weg frage, wissen, woher in komme. Aus Deutschland? Sie arbeitet für Deutsche. Wohl als Haushaltsgehilfin. Ob sie gut behandelt werde, frage ich. Die Antwort kommt etwas zögerlich. Ja, sie wohl, sie arbeite seit 28 Jahren für dasselbe Ehepaar, aber von den anderen höre man andere Dinge. Die Deutschen seien sehr anspruchsvoll, exigentes, und auch bravos.
Sie verabschiedet mich mit einem freundlichen Lächeln, offenkundig froh über die kurze Begegnung. Überhaupt ist das hier das Land des Lächelns. Wenn man sich an jemanden wendet, um nach dem Weg zu fragen, kommt sofort ein Lächeln, noch bevor man gefragt hat. Auch vorbeifahrende Motorradfahrer oder Passanten schenken einem oft ein Lächeln.
Die Freundlichkeit manifestiert sich auch in der Sprache. Kaum mal beschränkt man sich auf ein nacktes Ja oder Nein. Oft hört man etwas altmodisch klingelnde Floskeln wie „Para servirle.“ Als ich in einem Lokal nach dem WC frage, sagt die Kellnerin „Por ahí, caballero.“
Bei den Toiletten gibt es einen weiteren sprachlichen Aspekt zu beachten. Als ich in Guatemala nach der Toilette frage und lavabo gebrauche, sieht mich die Kellnerin verständnislos an und deutet auf ein Waschbecken in der Ecke, keine drei Meter entfernt. Hier sagt man baños, wenn man die Toilette meint. Aber an den Toiletten steht dann Sanitarios.
Auf dem Weg nach Hause komme ich an einem der vielen Lokale vorbei, bei denen die Speisekarte schon am Eingang ausliegt. Ich sehe mir die Speisekarte an und entscheide mich, reinzugehen. Das Lokal heißt Madre Tierra. Kein Lokal der Extraklasse, aber doch eher was für höhere Angestellte. Es sind ausschließlich Einheimische vertreten.
Das Hähnchen, das eigentlich der Protagonist des Gerichts sein sollte, spielt angesichts der vielen Beilagen nur eine mindere Rolle. Und das sind lauter Klassiker: Die Bohnen, als schwarze Masse präsentiert, fehlen nie, ebenso wenig die tortillas, die Maisfladen, warm in einem Körbchen serviert. Auch wieder dabei die gebratenen Bananen, der Reis und die Avocado-Paste. Ein typischeres Gericht kann man sich also kaum vorstellen. Heute schmeckt alles gut, außer dem Hähnchen, das viel zu trocken ist. Das Bier wird mit Strohhalm serviert!
Diesmal gehe ich gegen Abend noch mal raus und erlebe die Stadt in der Dämmerung und dann in der bald eintretenden Dunkelheit. Es ist viel Betrieb überall, viele Touristen sind unterwegs. Antigua ist der meistbesuchte Ort Guatemalas und hat außerdem zahlreiche Sprachschulen. Trotzdem erdrückt der Tourismus die Stadt nicht. Das Leben der Einheimischen geht weiter, und man begegnet ihnen auf Schritt und Tritt. Heute beim Essen war ich der einzige Ausländer in dem Lokal.
Trotz des vielen Betriebs herrscht überhaupt keine Hektik. Stattdessen ist Gelassenheit angesagt.
Am Parque Central überall spielende Kinder zwischen den Souvenirverkäufern, den flanierenden Touristen und den Einheimischen, die auf Bänken oder Mauervorsprüngen oder einfach auf dem Boden sitzen.
Ein kleines Mädchen leckt etwas aus, das in einer Box ist, den Kopf zurückgelehnt. Die Box bedeckt das ganze Gesicht. Erst alles raus ist, gibt es sich zufrieden, und der kleine Kopf kommt hinter der Box hervor.
Eine ganze Seite des großen Parque Central wird von der Kathedrale eingenommen, eine andere vom Rathaus, eine dritte von einem Arkadengang. In der Mitte ein Springbrunnen mit drallen Frauenfiguren, aus deren Brüsten das Wasser spritzt.
Um den Brunnen herum konzentrieren sich die ambulanten Verkäufer, teils mit Tapeziertischen ausgestattet, teils einfach auf dem Boden sitzend. Was es hier alles zu kaufen gibt! Erdnüsse und Mandeln, Portemonnaies und Armreife aus Leder, gehäkelte Wollpuppen mit Knöpfen als Augen, gewebte Tücher und Taschen, hölzerne Brettchen und Schüsseln und ein Schränkchen für Eier, künstliche Blumen, Handyhüllen und Handtaschen, Schirmmützen und T-Shirts mit Guatemala oder Antigua als Aufdruck, Saft und Marmelade aus Quitten! Hoffentlich haben die Verkäufer bei anderen mehr Glück als bei mir!
26. Oktober (Samstag)
Ganz in der Nähe der Unterkunft muss der Busbahnhof sein. Von dort kommen über eine schmale Straße lauter Chicken Buses zum Vorschein. Da sie hier auf der Straße wenden müssen, springt der Packer raus und dirigiert mit lauten Rufen den Fahrer: „¡Aaaaale, aaaale!“
Auf der Calzada de Santa Lucía werden heute Sonnenblumen verkauft, immer im Vierer- oder Fünferpack. Die Verkäufer preisen sie an: „¡Girasoles, Girasoooles!“
Am Straßenrand sind in Reihe und Glied die Motorräder geparkt, wohl an die 50.
Ein Bettler spricht mich mit Padrón an. Ein anderer Bettler sitzt am Straßenrand, auf seine Krücken gestützt. Einen Rollator habe ich bisher noch nicht gesehen.
Wenn man einem Bettler was gibt, antwortet der „Que Dios le bendiga“. Das entspricht grob unserem „Vergelt’s Gott!“
Auf der anderen Seite findet ein Straßenmarkt statt, an festen Ständen unter einem Vordach. Das ist wohl nur was für Einheimische. Die Calzada de Santa Lucía scheint das touristische Antigua von dem der Bürger zu trennen.
Es ist bewölkt, und wieder kommt im Laufe des Tages nur ganz sporadisch die Sonne durch. Das Wetter ist bis jetzt eine Enttäuschung.
Ein Mann mit Barça-Trikot kommt mir entgegen in dem Moment, wo ich das McCafe passiere. Die Gegenwelt zur der der Bettler.
Ich kehre irgendwo zum Frühstück ein. Sofort kommt mir eine junge Kellnerin, stark geschminkt, mit der Speisekarte entgegen und eskortiert mich zum Tisch. Ich sitze kaum, da kommt die nächste junge Kellnerin, stark geschminkt, und bringt Besteck und Decke. Und ehe ich es mir versehe, steht schon eine Tasse Kaffee vor mir, bevor ich die Bestellung aufgegeben habe. Die wird dann von der dritten Kellnerin, stark geschminkt, entgegengenommen.
Das Frühstück, das ich bestelle, heißt Desayuno chapín, also guatemaltekisches Frühstück, denn chapín ist der Spitzname der Guatemalteken, so wie ticas der der Einwohner von Costa Rica, nicas der der Nicaraguaner, catrachos der der Honduraner und guanacos der der Salvadorianer. Die Reise dürfte eine gute Gelegenheit sein, sich das einzuprägen.
Das Frühstück ist von einem Mittagessen kaum zu unterscheiden, wieder sind Wurst, Bohnen, gebratene Bananen vertreten. Dazu gibt es Omelette mit Käsefüllung und Knoblauchtoast.
Am Fernseher läuft im Insert die Bundesligatabelle durch, aber ich verpasse die oberen Ränge. Jedenfalls sehe ich, dass es um den BVB nicht gut bestellt ist. Dann kommt schon die französische Liga, dann die von Mexiko, dann die von Costa Rica.
Im Fernsehen läuft American Football, und ich sehe eine Szene mit einem klassischen Konterangriff, bei dem man auch ins Schwärmen geraten kann, wenn man nichts davon versteht.
Gestern Abend lief in einer Kneipe auf einem Bildschirm Basketball, auf einem anderen Baseball. Man konnte sehen, dass Baseball noch überwiegend eine weiße Sportart ist, beim Basketball waren nur ganz wenige weiße Spieler vertreten.
Ich mache mich auf den Weg und komme an der Jesuitenkirche vorbei. Daran kann man gut die Geschichte Antiguas veranschaulichen. Das entscheidende Jahr war 1773. Da entschloss man sich endgültig, die Hauptstadt von hier, von Santiago de los Caballeros de Guatemala, in einen anderen Ort zu verlegen, nach Nueva Guatemala de la Asunción, der heutigen Hauptstadt des Landes. Diese Stadt, die ehemalige Hauptstadt, wurde bekannt als Antigua Guatemala oder einfach Antigua. 1979 wurde die Stadt in das Welterbe der UNESCO aufgenommen.
Bis zum Umzug in die neue Hauptstadt war Antigua der Sitz der spanischen Capitanía General gewesen, war also so etwas wie der zentrale Verwaltungs- und Regierungsort für ganz Mittelamerika.
Der Auslöser für die Verlegung des Regierungssitzes war ein Erdbeben. Es war nicht das erste, auch nicht das zweite oder das dritte, sondern das vierte des Jahrhunderts, und irgendwann hatte man einfach den Kaffee auf.
Die Erdbeben haben sogar ihren eigenen Namen: Das von 1773 hieß Santa Marta. Davor hatte es 1751 das Erdbeben San Casimiro gegeben, 1717 das Erdbeben San Miguel und 1702 das Erdbeben Santo Domingo. Kirche und Konvent der Jesuiten kamen bei jedem dieser Erdbeben zu Schaden.
Die Jesuiten waren 1582 nach Guatemala gekommen, und die Kirche wurde 1626 vollendet. Schon 1689, kurz vor der Ausweisung der Jesuiten, hatte es schon ein Erdbeben gegeben.
Im 19. Jahrhundert diente das Gelände des Konvents dann dem Trocknen der Kaffeebohnen und später als Mercado Principal. Jetzt beherbergt das Konvent ein Kulturzentrum.
Die Kirche ist eine Ruine, aber von der Fassade ist erstaunlich viel stehen geblieben. Einige der Statuen in den Nischen, Heilige, flankiert von namentlich benannten Engeln – Uriel, Saetiel, Barachiel, Jehudiel – sind stehen geblieben, wenn auch die meisten, aber nicht alle, kopflos.
In einer Ausstellung in dem Konvent sind 12 Lithographien von Dalí ausgestellt. Sie beschäftigen sich auf phantasievolle, teils phantastische Art mit den kulinarischen Kreationen des Restaurants Maxim. Natürlich dürfen die laufenden Uhren nicht fehlen, genauso wenig wie Gala. In einer Abbildung ist ihr Kopf voller Kekse, und mit dem Mund bläst sie eine Glaskugel auf, in der eine dicht gedrängte Szene erscheint, die an Hieronymus Bosch erinnert. In einer anderen Lithographie sieht man ein erbärmlich aussehendes totes Huhn und daneben das Leichentuch Christi.
Bei dem Gang durch den Konvent trifft man auf mehrere Kreuzgänge, teils farblich auffällig gestaltet. Einer davon hat zu zwei Seiten hin hölzerne Bogengänge und zu den anderen beiden Seiten hellblaue Mauern. Man will hier vielleicht betonen, dass es sich um etwas Neues handelt. Und man nicht den Eindruck erwecken will, als handele es sich noch um den Jesuitenkonvent.
Wieder auf der Straße höre ich, wie ein paar Barça-Anhänger eine Kellnerin fragen, ob bei ihr später das Spiel übertragen werde und wann die Bar denn öffne. Es geht nämlich heute gegen Real Madrid. Beim Zuschauen muss man ja den Zeitunterschied beachten. Wenn das Spiel abends ausgetragen wird, ist es hier tagsüber zu sehen. Jedenfalls werden sie später viel Freude daran haben. Barça wird das Spiel 4:0 gewinnen.
Ich komme zum Arco de Santa Catalina, dem beliebtesten Photomotiv von ganz Antigua. Gelb gefasst und von einem Uhrenturm bekrönt überspannt er die gepflasterte Altstadtstraße und gibt den Blick frei auf das dahinter liegende Kloster La Merced. Der Bogen wurde ursprünglich gebaut, damit die in Klausur lebenden Nonnen von einem Teil ihres Klosters in den anderen gelangen konnten, ohne gesehen zu werden.
Hier höre ich zum ersten Mal Deutsch auf der Reise. Zwei hochgewachsene junge Männer zusammen mit einer ebenso hoch gewachsenen Frau.
An der Mauer links kann man durch ein Tor blicken und dort die Wagen und Figuren sehen, die bei den Prozessionen der Karwoche zum Einsatz kommen. Die Semana Santa von Antigua ist eine wichtige Touristenattraktion Antiguas.
Für mich geht es jetzt in das Kloster La Merced. Der Platz um das Kloster herum kann dem Parque Central Konkurrenz machen. Zu den Souvenirs, die hier angeboten werden, gehören Quietschenten und Rosenkränze.
Das Kloster La Merced hat die Erdbeben gut überstanden, es war wohl jünger als die anderen und daher wohl stabiler. Das knallgelbe Gebäude war mir gestern schon von dem Aussichtspunkt auf dem Hügel aufgefallen. Was man von oben nicht sehen kann, das sind die weißen Stuckverzierungen, die sich überall auf den Außenmauern befinden, um die Nischen herum, auf den Pfeilern, an den beiden Glockentürmen. Die machen den Bau noch auffälliger. Vor allem die sich spiralförmig nach oben windenden Stuckverzierungen um die mächtigen Säulen herum sind ein Hingucker.
Die Kirche kann nicht besichtigt werden, da Gottesdienst ist. Das scheint in den Kirchen hier der Normalfall zu sein.
Aber in das Kloster kann man rein. Dort wird damit Werbung gemacht, dass man hier den größten Brunnen Lateinamerikas sehen kann. Ob das stimmt, sei dahingestellt, aber auf jeden Fall könnte der gut eine Sanierung vertragen. Die ursprüngliche Farbfassung in Rosa ist nur noch außen zu sehen.
Auf jeden Fall ein beeindruckender Brunnen, und je genauer man hinsieht, umso schöner wird er. Aus der Brunnenschale oben, auf einer verzierten Säule stehend, läuft das Wasser in die achteckige Brunnenschale unten. Die Brunnenwand wird an vier Seiten von beflügelten Sirenen bewacht. An den anderen vier Seiten waren ursprünglich wohl Engel. Eine interessante Kombination, Sirenen und Engel.
Von hier aus geht es rauf. Vom nächsten Geschoss aus hat sieht man in den Brunnenhof hinunter und erfasst erst so recht die Ausmaße des Brunnens.
Dann geht es aufs Dach. Dort wandelt man zwischen den niedrigen Kuppeln und den Glocken hindurch auf die große Kuppel zu, die von harmlosen, eher putzig aussehenden Löwen bewacht wird. Von hier oben hat man einen schönen Blick in die Stadt hinunter.
Beim Abstieg bitte ich eine junge, europäisch aussehende Frau, ein Photo von mir zu machen. Sie spricht sehr gut Spanisch, ohne markanten Akzent. Es stellt sich heraus, dass sie Französin ist. Aus Paris.
Ich gehe zum Parque Central und mache ein Photo von den Strelitzien, die hier überall blühen. Dann will ich heimlich aus der Distanz ein Photo von einem Hutverkäufer machen, der seine Ware auf dem Kopf trägt, bestimmt zwanzig übereinander gestapelte Hüte, die er mit traumwandlerischer Sicherheit durch die Gegend trägt. Aber er torpediert mein Photo, indem er im entscheidenden Moment immer die Hüte absetzt und sich irgendwo hinstellt.
Mehr Glück habe ich bei der Eisverkäuferin, einem zarten, fünfzehnjährigen Mädchen, assistiert von ihrer kleinen Schwester. Es gibt nur eine Sorte, Mangoeis, aber das macht nichts. Es ist Wassereis und der Geschmack der Frucht hält sich sowieso in Grenzen. Überall hier in Guatemala wird das Eis aus einem kleinen Wägelchen heraus verkauft, das einer Lokomotive gleicht. Man kann an einer festen Stelle bleiben oder mit dem Wägelchen durch die Gegend ziehen. Die beiden lassen sich gerne hinter dem Wägelchen stehend photographieren.
Hier am Parque Central, vermutlich im Rathaus, müsste sich das Museo del Libro Antiguo befinden, aber keiner weiß so richtig Bescheid. Ich versuche es am Eingang zum MUNAG, dem Museo Nacional de Arte de Guatemala. Der junge Mann hat keine Ahnung. Aber wo ich schon einmal hier bin, gehe ich auch gleich rein.
Hier gibt es verschiedene Ausstellungen zu sehen, aber mich interessiert am meisten die moderne Kunst. Als Prolog gibt es aber eine Skulptur aus einem der ältesten Reiche der Maya, einen Jaguar, den Gran Jaguar de Cotzumalguapa. Bis zum 19. Jahrhundert wusste man von diesen verborgenen Schätzen gar nichts, und über die alten Maya-Stätten waren allenfalls Gerüchte im Umlauf.
Der Jaguar wird stehend dargestellt, mit ausgefahrenen Pranken, geöffnetem Maul, heraushängender Zunge und einer Art „Krawatte“, wie sie oft in den Skulpturen der klassischen Periode verwendet wird. Die Genitalien des Jaguars sind überproportional groß, was als Symbol der Fruchtbarkeit verstanden wird.
In die Ausstellung gelangt man durch einen kleinen, schönen Innenhof mit Brunnen. Wenn man eins hier sehen kann, dann ist es die große Vielfalt der modernen Kunst. In einer Schautafel heißt es, die moderne Kunst zeichne sich aus durch die Einbeziehung des Betrachters. Die moderne Kunst verfüge über Verfahren, die das Publikum herausfordern oder sogar provozieren. Das sei das Neue an der modernen Kunst und gleichzeitig das einigende Band für die verschiedenen Ausgestaltungen.
Ich sehe mir einfach ein paar Werke an, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ein Gemälde sieht nach abstrakten Formen aus, mit einem wuscheligen dunklen Mittelteil und verschiedenen weißen und gelben Flecken. Sieht etwas nach Kleckserei aus. Aber wenn man länger hinguckt, glaubt man, Landschaften zu erkennen, Felsen, einen See, einen Vogel.
Ein Gemälde zeigt eine Frau mit rotem Kopftuch, das ihr bis auf die Schulter reicht. Wenn man sich das Bild genau ansieht, merkt man, dass es nur aus geometrischen Formen besteht, meist Dreiecken. Das gilt für die Gesichtszüge, das Kopftuch und die Schultern. Und trotzdem kann man sich das Bild ansehen, ohne überhaupt die geometrischen Formen wahrzunehmen.
Sehr schön eine Figur, die aus Holz zu sein scheint, aber aus Gips ist. Sie zeigt eine halb liegende, dicke Frau mit überdimensional großen Oberschenkeln und Oberarmen. Sie hat die Augen geschlossen und den Kopf auf einen ihrer Arme gestützt. Die Figur heißt La Siesta. Mit minimalistischen Mitteln sind sowohl der Körper der Frau als auch die Atmosphäre eingefangen. Die Frau schläft offensichtlich tief und fest und genießt die Erholung.
Auch minimalistisch, aber in eine andere, gesellschaftskritische Richtung weisend, ist ein Trinkbecher von McDonalds mit Strohhalm. Er ist vergoldet.
Dann kommt ein Bild, auf dem deutlich Mann und Pferd zu erkennen sind, aber die modernen Formen geben kein realistisches Bild ab, und man fragt sich, was hier dargestellt ist: ein mittelalterlicher Ritter, ein Torero, ein Zentaur?
Dann kommt noch die Büste eines Mannes, auch wie Holz aussehend, aber aus Gips hergestellt. Der Dargestellte ist nicht benannt, es ist kein Heiliger, kein Politiker, kein Krieger, kein Held. Die Formen sind wieder ganz einfach, minimalistisch – ein langes Kinn, nur ganz leicht geöffnete Augen, ein Schnurrbart – aber die Ausdruckskraft ist stark. Man spürt Nachdenklichkeit, Sorge, Innerlichkeit, Skepsis, vielleicht Kummer, aber keine Niedergeschlagenheit.
Man kann durch die anderen Ausstellungsräume nach oben gehen und hat von dem überdachten Balkon da oben einen schönen Blick auf den grünen Platz unten und das bunte Treiben.
Beim Ausgang aus dem Museum frage ich im Souvenirladen noch mal nach dem Museo del Libro Antiguo. Die junge Frau hier weiß Bescheid. Das Museum habe sich tatsächlich hier am Platz befunden, habe aber vor ein paar Monaten seine Pforten geschlossen, auf absehbare Zeit. Das guatemaltekische Kultusministerium weiß davon noch nichts. Auf dessen Website ist das Museum weiterhin vertreten, mit Öffnungszeiten und Eintrittspreisen.
Ich gehe zur Kathedrale, aber die kann nicht besucht werden. Gottesdienst. Stattdessen mache ich mich zu einer weiteren Ruine auf, der Iglesia de Nuestra Señora del Carmen. Die Wirklichkeit bestätigt, was die Bilder versprechen. Dass sich diese Fassade, majestätisch, mit ursprünglich 24 dicken, verzierten, in Zweierpackungen auf die beiden Stockwerke verteilt, in großen Zügen erhalten hat, grenzt an ein Wunder. Die Kirche selbst scheint die Erdbeben nicht überstanden zu haben.
Auf dem Rückweg beobachte ich eine Frau, die den Müll nach Dosen durchsucht. Mittels einer langen Zange sieht sie die Dosen heraus und zerquetscht sie dann mit dem Fuß. Ich spreche sie an und erfahre, dass sie das nicht aus eigenen Stücken tut, sondern als Angestellte der Stadtverwaltung. Es ist wohl eine primitive Form von Mülltrennung.
Auf dem Weg zurück fällt mein Blick in einen Hauseingang. Dahinter ein hallenartiger Raum mit etwas, was nach einem Schnellimbiss aussieht. Pizza. Ich gucke kurz rein und frage, ob man auch hier essen könne. Ja, natürlich. Die junge Frau geht mir voran und führt mich, völlig überraschend, in einen verwunschenen Garten mit einem Becken in der Mitte, die Plätze unter einem begrünten Laubengang. Vegetation der üppigsten Art, Farne, Gräser, Palmen, Bananenstauden. Eine hängt voller Bananen, grün, dick, ganz dicht gedrängt.
Ich genieße die Atmosphäre und bekomme eine schmackhafte Pizza. Am Nachbartisch knutscht eine Frau in falsch verstandener Tierliebe ihren Pudel ab.
Wenn man hier bar bezahlen will, heißt es en efectivo, nicht al contado. Als die Rechnung kommt, sehe ich sie mir mal genauer an und merke einen Rechenfehler. Zu meinen Ungunsten. Der Kellner korrigiert, verliert aber weiter kein Wort darüber.
Wieder im Zentrum sehe ich, auf dem Bürgersteig sitzend, eine erbärmlich aussehende, ausgemergelte alte Frau, an eine Häuserwand gelehnt, mit ganz dünnen Ärmchen und Beinchen und eingefallener Haut. Mich überkommt ein menschliches Rühren und ich frage sie, ob ich ihr ein Käsebrot kaufen kann. Lieber was Süßes, sagt sie mit dünner Stimme. Lässt sich machen, in der Nähe sehe ich einen Schnellimbiss, in dem es jede Menge Variation an Donuts gibt.
27.Oktober (Sonntag)
Durch reinen Zufall habe ich erfahren, dass es in Venezuela eine Stadt mit dem Namen Pregonero gibt, ganz im Westen des Landes gelegen, hart an der Grenze zu Kolumbien. Im Internet werden die umstrittenen Gründungsumstände diskutiert, aber zum Ursprung des Namens erfährt man nichts.
Den frühen Morgen verbringe ich mit dem Ausfüllen eines Formulars für die Weiterreise, elektronisch. Manchmal werden Daten angefordert, die ich gerade nicht zur Hand habe manchmal welche, die ich gar nicht kenne. Irgendwie boxe ich mich durch, obwohl das Wischen bei der Festlegung von Daten risikobehaftet ist und alle vorherigen Eintragungen wieder verschwinden lassen kann. Am Ende des Formulars bekomme ich Daumen hoch, aber ich erhalte keine Bestätigung, weder per Mail noch per SMS.
Ich gehe wie gewohnt auf die Straße durch den Schönheitssalon, der aber heute geschlossen hat, ganz anders als die Friseursalons, an denen ich dann vorbeikomme.
Das Wetter nähert sich langsam der Wettervorhersage an und wird immer schlechter.
Mir ist in den letzten Tagen aufgefallen, dass es hier, anders als in Guatemala und am Lago Atitlán, gar keine Obstverkäufer gibt. Und da sehe ich heute einen auf dem Weg zur Touristeninformation. Aber die Auswahl fällt knapper aus, man bekommt viel weniger, und die Präsentation ist auch nicht so schön.
Bei der Touristeninformation frage ich zur Sicherheit noch mal nach dem Museo del Libro Antiguo. Der Mann hinter der Theke bestätigt: Geschlossen. Als ich nach dem Grund frage, beginnt er, auf die Regierung zu schimpfen, vor allem die vorige. Für die Schließung des Museums gebe es keinen vernünftigen Grund, und sie wurde auch nicht gut kommuniziert. Jetzt heißt es, das Museum solle irgendwann an einem anderen Ort wieder eröffnet werden, aber keiner weiß wann und wo. Und der alte Standort sei doch ideal gewesen, genau da, wo sich die erste Druckerei Guatemalas befunden habe.
Ich frage nach Santo Domingo del Cerro. Das empfiehlt er mir sehr. Wie viel denn wohl ein Tu-Tuk dahin koste, will ich wissen. Das könne er mir nicht sagen, sicher würden sie von mir mehr nehmen als von ihm.
Ich gehe durch die Straßen und schaue mich nach einem Tuk-Tuk um, und plötzlich bin ich wieder zu Hause, durch die Hintertür heimgekommen, sozusagen. Da nutze ich die Gelegenheit und gehe gleich in die Cafegrafía, die Bar des netten Mannes vom Tag der Ankunft. Er erkennt mich sofort wieder.
Ich bestelle ein Sandwich und bekomme einen Toast. Soll mir recht sein. Es wird eine sehr scharfe Soße dazu gereicht.
Vor mir steht in einer gläsernen Vase eine künstliche Blume. Die Vase ist bis zum Rand gefüllt mit alten Filmrollen. Und auf der Toilette hängen dekorativ Filmrollen an der Wand, aus denen die Filme hinauslaufen und eine Art Vorhang bilden.
Da ich schon einmal in der Gegend bin, gehe ich einmal über den Mercado Principal, an den fest installierten, von einem Vordach geschützten Läden an der Mauer entlang. Hier gibt es wirklich alles, vom Brautkleid bis zum Fahrrad. Dabei ist Fahrrad ganz wörtlich zu verstehen. Hier werden nämlich die einzelnen Räder eines Fahrrads zum Verkauf angeboten.
Eine gelangweilte oder ermüdete Verkäuferin hat sich eine Kleiderpuppe geschnappt und sie sich auf den Schoß gelegt. Auf der stützt sie sich auf. Es ist eine männliche Kleiderpuppe, mit Shorts bekleidet.
Ein kleiner alter Mann tanzt mit grazilen Bewegungen zu einer Musik, die irgendwo aus dem Lautsprecher kommt.
An der Straße stehen die wartenden Tuk-Tuks Schlange, und ich frage den ersten nach dem Preis. 30 Quetzal. Ich mache mich auf den Weg und überlege mir, die Bewegung tue mir bestimmt gut, aber dann halte ich ein weiteres Tuk-Tuk an. 100 Quetzal. Sie versuchen es eben. Der nächste sagt 60 und geht dann sofort auf 50 runter, als ich weitergehe.
Völlig unerwartet findet sich eine andere Lösung. An der Rezeption des Hotels der Casa Museo Santo Domingo, wo ich am ersten Tag war, erklärt man mir, etwas weiter oben fahre vom Parkplatz aus jede Stunde ein Hotelbus hinauf. Ich sei aber kein Hotelgast, sage ich. Macht nichts. Ob ich denn die Fahrkarte im Bus kaufen könne. Nicht nötig. Geht alles auf Koste des Hotels.
Tatsächlich erscheint dann der Bus und fährt uns über die Kopfsteinpflasterstraße, mit dichtem Grün zu beiden Seiten, in langen Windungen den Berg hinauf. Das ist an sich ein Erlebnis. Zwischendurch wird immer mal kurz der Blick in die Ebene frei.
Das ganze Gelände ist großzügig und gepflegt angelegt, mit exotischen Bäumen und Sträuchern, überdachten Gängen und Skulpturen an jeder Wegwindung. Es gibt hier eine ganze Reihe von Museen darunter eins für Johannes Paul II.), aber mich interessiert nur eins: Das Museo Miguel Angel Asturias. Das Wort Museum ist vielleicht ein bisschen hoch gepokert, es ist nur ein einziger Ausstellungsraum, aber es lohnt sich.
Das Museum zeichnet das Bild eines engagierten Bürgers, eines originellen Schriftstellers und eines sympathischen Mannes. Ausgestellt ist ein Exemplar seines bekanntesten Buchs, El señor presidente, einer kaum verhüllten Attacke auf lateinamerikanische Diktaturen. Das Buch konnte wegen seiner politischen Implikationen 14 Jahre lang nicht erscheinen und erschien dann zuerst in Mexiko. Das passt zu dem, was ich bisher von Miguel Angel Asturias wusste – ohne jemals auch nur eine Zeile von ihm gelesen zu haben.
Die Ausstellung erweitert den Blick. Asturias hat nicht nur Romane, sondern auch Kurzgeschichten und Gedichte geschrieben und Anthologien herausgegeben. Sein Werk wird dem magischen Realismus zugeschrieben. Er präsentiert reale Elemente der lateinamerikanischen Wirklichkeit, aber auf eine Art und Weise, dass sie unwirklich erscheinen.
Verschiedene Wirklichkeiten, die Wirklichkeit, wie sie vom Erzähler, die Wirklichkeit, wie sie vom Protagonisten und die Wirklichkeit, wie sie vom Leser wahrgenommen wird, vermischen sich und treten in Konkurrenz zueinander.
Besonderes Gewicht wird hier auf die Sprache gelegt, die mehr ist als Mittel zur Übermittlung von Bedeutung. Sie zeichnet sich aus durch Wiederholungen und Rhythmisierung, wie in diesem Satz: „Los toros toronegros, los toros torobravos, los toros torotumbos, los torostorostoros.“
Ausgestellt sind hier, außer dem Exemplar von El señor presidente, zwei weitere Romane, El papa verde und Viento fuerte, und ein zusammen mit Pablo Neruda verfasstes Werk mit dem kuriosen Titel Comiendo en Hungría. Daneben eine Anthologie mit dem Titel Leyendas de Guatemala. Das Thema der Maya-Kultur war ihm von jungen Jahren an ein Anliegen. Asturias war gelernter Jurist und widmete sich schon in seiner Abschlussarbeit, El problema social del indio, diesem Thema.
Asturias lebte lange in Paris, wurde dann aber Parlamentsabgeordneter in Guatemala und schließlich Botschafter in Argentinien. Er kehrte nach Guatemala zurück, wanderte dann aber, nach dem Sturz des Präsidenten, mit seiner argentinischen Ehefrau nach Argentinien aus.
Er starb in London, 1974, wurde aber auf eigenen Wunsch in Paris beerdigt, auf dem Pere Lachaise, unter einer Maya-Stele, ganz in der Nähe von Chopin und der Familie von Victor Hugo.
In der Ausstellung sieht man ein paar persönliche Gegenstände wie das letzte Portemonnaie, das er bei sich trug, mit französischen und guatemaltekischen Münzen. Das waren noch Escudos, muss noch vor der Einführung des Quetzal gewesen sein.
Außerdem ausgestellt ist ein Zeitungsartikel, der die Veröffentlichung einer Schallplatte ankündigt, auf der Lieder mit seinen Texten zu hören sind. Dann ein Porträt von ihm, modern, das die Gesichtszüge und den etwas traurigen Gesichtsausdruck gut wiedergibt, und Briefe an seine Mutter, in deutlich lesbarer Schrift, mit niedrigen, aber langgezogenen Buchstaben.
Und schließlich ist da der Frack, den er bei der Verleihung des Nobelpreises trug, sowie eine Kopie der Urkunde. Das war 1967.
Nach dem Museum gehe ich noch über das Gelände, in der Hoffnung, einen Blick ins Tal und auf die Vulkane zu erwischen. Vergeblich. Dafür sehe ich einen Baum, am dessen Zweigen unzählige Avocados hängen. Und gleich am Eingang, an einer Laube, die wunderbaren, teils geschlossenen, teils geöffneten Blüten einer gelb-roten Blume, die wie an Fäden aufgehängt vom Dach herunterbaumeln.
Auf dem Rückweg bin ich ganz alleine in dem Bus und komme mit dem Fahrer insGespräch. Wie oft er diese Strecke wohl am Tage fahre. An die vierzig Mal, sagt er. Heute sei er von 5 Uhr morgens bis 7 Uhr abends im Dienst.
Er korrigiert meinen Eindruck, Antigua habe sich noch trotz des Tourismus seine Eigenständigkeit bewahrt, sei ein Ort für die Einheimischen. Nein, im Zentrum wohne keiner mehr, alle seien an die Peripherie gezogen, und selbst dort hätten die Preise für Lebensmittel und Wohnraum zugenommen. Lissabon lässt grüßen.
Ich lande in einem Lokal mit einem unscheinbaren Eingang, das aber drei Etagen hat. Ich bekomme einen Platz ganz oben auf einer überdachten Terrasse.
An der Wand der Treppe nach unten hängen Bildchen mit allen möglichen Zitaten und Witzen. Dabei stoße ich auf eins, bei dem es um den Unterschied zwischen ves und vez geht, für Spanier kein Problem, wohl aber für Lateinamerikaner: Si no sabes la diferencia entre ves y vez es porque siempre ves televisión y rara vez abres un libro. ¿Ahora lo ves? O lo repito otra vez?
Außer mir sind hier an drei langen Tischen drei Familien mit Kindern vertreten. Es geht erstaunlich ruhig und unaufgeregt zu. Kein bisschen Quengelei.
Einer der Väter trägt die Baseballkappe falsch herum, mit dem Schirm nach hinten. Gibt es wirklich immer noch Leute, die das für originell halten? Das war es vielleicht 1951, als Holden Caulfield es sich in The Catcher in the Rye zum Markenzeichen machte. Die Tochter des Vaters hier macht es besser. Sie trägt ihre Kappe richtig rum.
Ein Mann setzt sich, als er das Lokal verlässt, einen großen modernen Motorradhelm auf. Die sind hier durchaus verbreitet, aber die meisten fahren ganz ohne Helm, auch die Mütter mit ihren Kindern auf dem Rücksitz, die die Hände um die Mama gewunden haben.
Auf dem Rückweg komme ich an einem kleinen Schmuckladen vorbei. Auf einem Plakat wird für die Herstellung und den Verkauf von Ringen für verschiedene Gelegenheiten geworben, angefangen von der Graduierung über die Hochzeit bis zur Verlobung (die über der Hochzeit steht!): Graduación – Matrimonio – Compromiso. Ganz oben aber Quince Años. Der 15. Geburtstag. Der wichtigste Tag im Leben einer Latina, weit über dem Hochzeitstag rangierend.
Ich gehe noch in einen ganz kleinen Laden, bei dem vor lauter Regalen die Theke und den Verkäufer nicht sieht. Nachdem ich bezahlt habe, darf ich noch ein Photo von dem Regal hinter der Theke machen. Da ist alles ganz säuberlich und ordentlich angeordnet. Die Flaschen stehen in Reih und Glied.
Als ich am Abend noch mal rausgehe, ist es mir in der Dunkelheit erst etwas mulmig. Aber es gibt keinen Grund dafür.
Hier, auf der Calzada de Santa Lucía, ist es laut, und zwar nicht nur wegen der Motorradroller. Jetzt höre ich zum ersten Mal die Vögel in den Bäumen auf dem Mittelstreifen. Sie machen einen Heidenlärm, halb kreischend, halb pfeifend. Es müssten papageienartige Vögel sein, aber zu sehen bekommt man sie kaum. Aber die Äste bewegen sich.
Als ich auf La Merced zugehe, explodiert plötzlich ein Böller neben mir, keine zwei Meter entfernt, und lässt mich zusammenzucken. Ich habe das Böllern schon in Pana abends immer gehört, aber nur aus der Distanz der Unterkunft. Hier erlebe ich es jetzt hautnah.
Als ich weitergeh, kommen mir Messdiener entgegen, rotgewandet. Sie führen eine Prozession an. Nach ihnen kommen etwas blasiert aussehende Teenager in Anzügen, Mädchen auf der einen, Jungen auf der anderen Straßenseite. Dann Trommler und Flötisten, dann Priester und Diakone in weißen Messgewändern, dann Weihrauch schwingende Messdiener, dann eine Blaskapelle (mit einer sehr profanen Melodie) und dann der Altar, der von mindestens 20 Männern schwankend, Schritt für Schritt fortschreitend, getragen wird. Am Rande der Prozession auffallend viele Mütter mit ihren Babys, in große Wolltücher gehüllt, auf dem Arm. Wahrscheinlich geht es um die Segnung der Babys.
28. Oktober (Montag)
Im Internet stoße ich auf eine noch aktuelle Seite aus einer Tageszeitung. Dort ist von Protesten die Rede, die hier kürzlich stattgefunden haben. Taxifahrer und Tuk-Tuk-Fahrer haben sich, im wahrsten Sinne des Wortes, quergestellt. Sie haben von allen vier Seiten die Zufahrt – und den Zugang – zur Innenstadt blockiert. Damit protestierten sie gegen die Verkehrspläne der Stadt. Denen zufolge soll die Innenstadt verkehrsfrei werden. Es sollen Elektrobusse eingeführt werden. Die Taxifahrer und Tuk-Tuk-Fahrer sehen ihre Geschäfte beeinträchtigt.
Im Reiseführer erfahre ich etwas über den Hintergrund zu dem langen Bürgerkrieg. Nach einem Präsidenten, der das Gesundheits- und Sozialsystem Guatemalas modernisierte und einem weiteren, der sich um bessere Arbeitsbedingungen und um das Schicksal der Eingeborenen kümmerte und eine Landreform in Angriff nahm, wurde es der CIA zu bunt. Mit ihrer Hilfe gelang zwei ehemaligen Generalen ein Staatsstreich (1954), der Präsident wurde abgesetzt, alle Reformen gestoppt. Gewalt und Unterdrückung prägten die Zeit. Das wiederum bedingte das Aufkommen verschiedener linker Guerilla-Gruppen. Vier verschiedene Guerilla-Organisationen schlossen sich zur URNG zusammen. Die Reaktion des Staates war unbarmherzig. In 400 Dörfern wurden Säuberungsaktionen durchgeführt, zahllose Menschen wurden, im Namen der „Stabilisierung“, gefoltert und massakriert, 100.000 flohen nach Mexiko. Insgesamt kamen ca. 200.000 Menschen im Laufe der Gewalttätigkeiten zu Tode. Irgendwann zogen sich die Amerikaner zurück, und eine liberale Regierung kam an die Macht. Der gelang schließlich 1996 der Friedensschluss mit der URNG. Aber, auch wenn die Gewalt zu Ende kam, die Probleme blieben: Armut, Korruption, Analphabetismus, schlechte medizinische Versorgung.
Die weitaus meisten Guatemalteken, heißt es, lebten in Ein-Zimmer-Wohnungen oder Häusern, aus Backstein oder Zement oder in den traditionellen bajarreques, mit Dach aus Stroh oder Wellblech, mit nicht gepflasterten Fußböden, einfachen Betten, einem Kamin und ein paar Töpfen. Von all dem bekommt man als Reisender nichts mit. Man registriert lediglich die Bettler und Obdachlosen in den Städten.
Die Wettervorhersage ist für jeden Tag gleich: morgens Sonne, dann Regen, dann Gewitter. Auch in den nächsten 16 Tagen soll sich daran nichts ändern. Glücklicherweise richtet sich das Wetter nicht danach, aber einen richtigen Sonnentag hat es bisher noch nicht gegeben.
Jetzt am Morgen sind in den Bäumen der Calzada de Santa Lucía tatsächlich keine Vögel zu sehen oder zu hören. Es scheinen Nachtschwärmer zu sein.
Diesmal ist keine Messe, und man kann in die Kathedrale rein. Erst ist man ziemlich verwirrt. Man kommt in einen, gemessen an den Ausmaßen der Kathedrale, kleinen Kirchenraum, mit viel Gold und Glanz, der quer zum Eingang liegt, also genordet scheint. Parallel dazu ein Gang, von dem man nicht so recht weiß, was es damit auf sich hat, und dann steht man wieder auf der Straße. Jetzt merke ich, dass ich die Kathedrale die ganzen Tage über durch einen anderen Eingang hätte besichtigen können.
Dann kommt eine Sperre, man zahlt Eintritt und betritt die Ruine der Kathedrale. Ein überwältigender Eindruck. Vielleicht kommen die Ausmaße der Kirche noch mehr zur Geltung, weil Dach und Vierungskuppeln fehlen und die Fenster offen sind.
Die dicken, quadratischen Pfeiler mit Vorlagen auf allen vier Seiten sind alle stehen geblieben, auch die meisten Außenmauern und erstaunlicherweise auch die meisten Pfeiler. Durch die Fenster hindurch und zwischen den Bögen hindurch hat man einen freien Blick auf den Himmel.
Die mächtigen Pfeiler, viereckig mit Vorlagen zu allen vier Seiten, aus Backstein, aber verputzt, haben vielleicht dazu beigetragen, dass nicht alles zusammengebrochen ist.
In der Vierung ist sogar das Stuckwerk in den Eckzwickeln erhalten, mit den Figuren von vier Engeln, jeweils über einem Heiligen.
Im Originalzustand ist nichts, alles ist ramponiert, brüchig, zerschlagen, und in einem Seitenschiff liegen riesige Bauteile herum, eins über dem anderen, so als wäre das Erdbeben gerade erst passiert.
Die Kathedrale, aus dem 17. Jahrhundert, fünfschiffig, mit 18 Seitenkapellen, jede mit ihrer eigenen Kuppel, galt als eine der prächtigsten des spanischen Kolonialreichs, und das kann man auch heute noch nachempfinden.
Nach der Besichtigung mache ich mich auf den Weg zur Bank vom ersten Tag. Unterwegs komme ich an einem Wohnhaus vorbei, dessen Name mit Keramikbuchstaben an der Fassade steht: Casa Blanca. Kurz darauf eine Bar mit dem Namen ni fu ni fa.
Bei der Bank geht es wieder sehr formell zu. Polizist am Eingang, der fragt, was man wolle. Dann draußen warten. Dann drinnen Platz nehmen. Dann, nach den Anweisungen des Wachpersonals, immer einen Stuhl weiterrutschen, wenn jemand fertig ist. Dann Passkontrolle, Formular, Überprüfung des Gelds auf Echtheit, Quittungen, Unterschriften, Stempel. Das dauert so lange, dass ich Zeit habe, zu bemerken, dass die Frau hinter dem Schalter ihre Augenbrauen ausgezupft hat. Wenn ich mir überlege, wie der Geldwechsel in Guatemala über die Bühne ging!
Diesmal habe ich Zeit, mir das Gebäude anzusehen, ein Art Stadtpalast aus der Kolonialzeit, in der Nähe des Parque Central und in der Nähe der Straße nach Guatemala gelegen. Der Palast, mit schönem Innenhof mit Umgang in beiden Geschossen und einem Brunnen im Zentrum, stammt aus dem 16. Jahrhundert, ist also noch älter als die Kathedrale. Warum das Gebäude El Jaulón heißt, verstehe ich auch mit Hilfe des Wörterbuchs nicht, obwohl es hier erklärt wird. Scheint etwas mit den Fenstern im oberen Stockwerk zu tun zu haben.
Ich gehe noch mal zum Parque Central. Das Gebäude, das ich leichtfertig als Rathaus bezeichnet habe, ist gar nicht das Rathaus, sondern der (ehemalige) Sitz der Capitanía General. Das Rathaus ist gegenüber, nimmt nur die Hälfte einer der Seiten ein, hat aber auch Arkaden in beiden Stockwerken.
Bei der Capitanía General gucke ich mir die Bögen noch mal genau an. Es sind insgesamt 50, pro Stockwerk 25, 3 in der Mitte, 11 zu beiden Seiten. Die 3 in der Mitte sind etwas breiter, und darüber befindet sich ein Aufbau mit Wappen und Krone. Irgendetwas stimmt mit den beiden Geschossen nicht, ist mir immer schon so vorgekommen. Die Arkaden oben wirken breiter. Aber sie stimmen genau mit denen im Erdgeschoss überein. Der optische Eindruck wird dadurch erreicht, dass der obere Arkadengang niedriger ist und die Pfeiler oben dicker sind.
Ich gehe etwas zurück, um ein Photo aus der Ferne zu machen, denn der Berg, den man über dem Dach des Gebäudes sieht, scheint einer der Vulkane zu sein. Wieder liegt sein Gipfel in Wolken.
Neben mir macht ein Taxifahrer gerade sein Auto sauber. Ich frage ihn, und er verweist mich an einen Kollegen. Der hört sich mein Anliegen an. Wir tauschen Telefonnummern aus, und er sagt mir zu, mich kurz vor 3 am Morgen abzuholen. Keine große Distanz, aber sicher ist sicher. Er lässt sich das gut bezahlen, aber immerhin muss er dafür früh aus dem Bett.
Ich gehe noch ein bisschen über den Parque Central mit seinen Bäumen und Blumen, seinem Springbrunnen, seinem bunten Treiben. Da ich die Hutverkäufer sowieso nie mit den Hüten auf dem Kopf erwische, bitte ich einen von ihnen, ein Photo machen zu dürfen, gegen eine kleine Entschädigung. Er sagt, ja klar, das sei Übungssache, es sei nicht so leicht, das Gleichgewicht zu halten, vor allem, wenn es windig ist. Unter dem Hutstapel trägt er eine Schirmmütze. Er will wissen, woher ich komme. Ich lasse ihn raten: Argentinien? Knapp daneben.
Auf dem Rückweg kaufe ich in einem Minimarkt noch Kekse und Wasser. Am Ausgang steht Hale an der Tür. Das kenne ich auch als Jale. Was ist eigentlich der Unterschied? Das Internet kennt die Antwort: Hale ist formaler, Jale umgangssprachlicher. In Spanien wird in diesem Zusammenhang weder das eine noch das andere gebraucht, sondern Empuje.
Die Reise nach Guatemala geht dem Ende entgegen. Es hat, obwohl ich nur einen kleinen Ausschnitt gesehen habe, eigentlich nur der Kaffee gefehlt. Aber es hat sich auf jeden Fall ein Fenster in ein unbekanntes Land geöffnet.