12. November (Dienstag)
El Salvador galt als eins der gefährlichsten Länder der Welt, es war sogar mal weltweit Spitze, wenn es um die Rate von gewaltsamen Todesfällen pro Einwohner geht. Das ist nicht mehr so, El Salvador ist in dieser Tabelle weit „abgerutscht“. Dass das so ist, ist vor allem einem Mann zu verdanken, Nayib Bukele, dem jetzigen Präsidenten, einem hoch umstrittenen, noch jungen Politiker, der sich als Bürgermeister von San Salvador einen Namen gemacht hatte und dann, 2019, Präsident des Landes wurde. Er sagte der Kriminalität den Kampf an und griff mit harter Hand durch, wobei die Mittel und Wege oft umstritten waren. Aber der Erfolg stellte sich ein, mit dem Ergebnis, dass er bei den Wahlen 2014 als Präsident wiedergewählt wurde.
El Salvador ist klein, hat aber die größte Bevölkerungsdichte in Mittelamerika, 315 Einwohner pro Quadratkilometer. Guatemala hat 157, Honduras 90, Nicaragua 56, Costa Rica 101 und Panama 59. Zum Vergleich: Deutschland hat 238.
El Salvador ist das einzige Land in Mittelamerika, das nur Zugang zum Pazifik, keinen zum Atlantik hat. Von hier, von San Salvador aus, dürfte es höchstens eine Autostunde an die Küste sein.
Bei der Anfahrt über gute Straßen und bei der Fahrt durch das Zentrum hatte man den Eindruck, dass das Land einen relativ hohen Lebensstandard hat.
Der Grenzübertritt erfolgte im Osten, bei El Amatillo. Später ging es über einen Fluss, den Lempa, und über eine Stadt mit dem Namen Berlín.
Hier in El Salvador wird der Dollar gebraucht, ich bekomme also keine Gelegenheit, mich mit einer neuen Währung vertraut zu machen. Der Taxifahrer erzählt, der Dollar habe 2001 den Colón ersetzt, jedenfalls in der Praxis. Das dürfte etwa mit der Zeit zusammenfallen, in dem in Ecuador der Dollar den Sucre ersetzte.
Die Unterkunft ist an einer verkehrsreichen Kreuzung gelegen, lässt aber sonst keine Wünsche offen. Platz für die Kleidung, ein Schreibtisch, eine Kaffeemaschine, ein Nachttischchen mit Leselampe – die Aufzählung könnte endlos weitergehen. Dazu kommt die persönliche Aufmerksamkeit: Kaum war ich da, schon standen ein Teller mit Obst und frisches Trinkwasser da, und die Waschmaschine wurde auch sofort angeworfen. Allerdings musste die zum Trocknen aufgehängte Wäsche reingeholt werden, da es zu regnen anfing. Regen bestimmt auch das Wetter in den nächsten Tagen.
Die Unterkunft hat den Namen Segen. Schon bei der Buchung habe ich mich gefragt, was das wohl zu bedeuten hat, und es stellt sich heraus, es bedeutet – Segen. Es ist Deutsch. Die Vermieterin, Cristina, hat ihre beiden Kinder auf eine deutsche Schule geschickt, mit dem Resultat, dass sie jetzt beide in Deutschland leben, die Tochter im Schwarzwald, der Sohn in der Nähe von Darmstadt.
Ich werde gleich zu einem kleinen Snack eingeladen, einem leckeren Toast mit Hähnchen und Gurken. Auch dabei ist eine weitere Frau, Araceli, die wohl hier aushilft. Auch Cristinas Bruder wohnt hier, und heute soll ein weiterer Gast aus Deutschland kommen.
Die beiden fragen nach meinen Plänen und geben Tipps. Ein Ortswechsel sei auf jeden Fall angebracht, um die Gegend um Santa Ana im Osten kennenzulernen. Suchitoto, nördlich gelegen, sollte ich keinesfalls verpassen. Das sei wie Antigua. Die Playas de Oriente seien viel besser als die berühmteren Playas de Occidente. Auch meine Fragen zu Ruinen und Vulkanen können sie beantworten. Hört sich alles vielversprechend an.
Dass ich mich zu einer Stadtführung angemeldet habe, finden sie gut. Da bekommt man einen Überblick. Das ist übermorgen. Ob ich morgen schon was vorhätte? Nein, noch nicht. Da habe sie jemanden für mich, Jessy, eine gute Freundin, die könne mir ein paar Sachen in der Umgebung zeigen. Ein Anruf genügt, und die Sache ist gebongt. Jessy wird sich mit mir in Kontakt setzen.
13. November (Mittwoch)
Cristina erzählt mir am Morgen, dass auch ihr Bruder, Gerardo, hier lebe. Den habe ich gestern nur am Ende des Flurs kurz gesehen. Ihr Bruder habe einen Schlaganfall erlitten, sagt sie. Er könne sich bewegen, aber mit Einschränkungen, eine Körperhälfte sei fast komplett gelähmt. Als er noch gesund war, hat das ganze Land durchkämmt (sie benutzt dabei peinar genauso wie im Deutschen durchkämmen), um zu untersuchen, was es zu bieten hat. Die Quintessenz: Der Osten wird unterschätzt, müsste stärker gefördert werden.
Dann meldet sich Jessy. Ob ich Lust hätte, ans Meer zu fahren. Eine Freundin habe sie eingeladen. Die habe ein rancho. Es stellt sich heraus, dass damit ein Strandhaus gemeint ist. Ich bräuchte nirgendwo hinzukommen, sie würde mich abholen.
Dann kommt sie vorgefahren. Ihr Auto hat Weihnachtsdekoration außen und Weihnachtsdekoration drinnen, und es läuft eine CD mit Weihnachtsliedern. „Ich mag Weihnachten“, fügt sie überflüssigerweise hinzu.
Ihren Namen spricht sie Yessy, nicht Jessy, aus. Ihre Schwester hat einen ganz konventionellen spanischen Namen. Wie ihre Eltern auf Jessy gekommen seien, will ich wissen. Sie meint, der Name habe ihnen gefallen. Was zu hoffen ist.
Sie hat einen ganz sanften Charakter und ein dünnes Stimmchen, aber fährt wie Fittipaldi. Ab und zu muss ich sie durch einen Warnruf von einem Überholmanöver abhalten. So fahre man hier eben, das sei ganz normal, meint sie. Ja, vielleicht, aber nicht mit mir an Bord.
Sie ist Ärztin, arbeitet in der Gerichtsmedizin, in Santa Tecla, einem Ort, den ich auch aus dem Reiseführer kenne, eine Art gentrifizierter Zwillingsstadt von San Salvador, in der diejenigen wohnen, denen es hier zu eng ist – und die es sich leisten können. Man spricht jetzt manchmal auch von San Salvador Nuevo.
Wir fahren über ein paar große Avenues, dann zickzack durch ein Wohnviertel, dann stehen wir vor ihrem Haus. Schon von draußen hört man drei kläffende und knurrende Hunde, die sich auch nicht beruhigen, als wir reingehen und mich die ganze Zeit verfolgen, was mein Wohlbefinden doch etwas beeinträchtigt.
Das Haus ist ganz schön, aber reparaturbedürftig an verschiedenen Stellen.
Überall liegen Dinge herum, meist Plüschtiere und Weihnachtsdekoration, auch auf den Tischen und Sofas.
Man bekommt einen Einblick in das Leben einer Mittelklassefamilie des Landes. Sie wohnen zu siebt hier. Ihre Tochter und ihr Sohn, beide Architekten, beide fest liiert, aber vorläufig ohne Aussicht auf eine eigene Bleibe, wohnen oben. Unten sind ihr Zimmer und das Zimmer ihres Neffen. Und in einem dritten Zimmer schlafen ihre Schwester und ihr Schwager zusammen mit ihrer zwanzigjährigen Tochter, Universitätsstudentin. Die hat noch nie ein eigenes Zimmer gehabt.
Wir fahren los, Richtung Costa del Sol. Die heißt wirklich so. An einer Tankstelle halten wir und tanken das Auto voll. Der Preis liegt bei ca. 3,50 $. Hier wird wieder in Gallonen gerechnet. Also Literpreis von ungefähr 1 $. Als sie fertig ist, bedankt sie sich bei dem Mann, der sie bedient hat: „Gracias, pajarito“.
In diesem Zusammenhang lerne ich auch das hier gebräuchliche umgangssprachliche Wort für Geld, pisto, das in Spanien ein Gericht bezeichnet.
Wir fahren über eine Schnellstraße, aber bald kommt ein Engpass. Dort gibt es eine Baustelle an einem Erdrutsch. Da ist eine ganze Wand runtergekommen. Oben über dem Abhang schweben Häuser, hoffentlich inzwischen evakuiert.
Jessy weist auf einen Berg in der Ferne. Da oben lebe man gut, es sei schön kühl, und dort gebe es wunderschöne Häuser. Aber es ist nicht mehr so kühl, wie es früher mal war. Warum nicht? Weil im ganzen Land abgeholzt wird, um neuen Wohnraum zu schaffen.
Im Radio läuft Werbung für La Casa del Cucú, einem deutschen Lokal in San Salvador. Un pedazo de Alemania en San Salvador.
Wir machen Halt in Olocuita, berühmt für seine pupusas. Ich erfahre, dass die pupusas s aus Mais oder aus Reis gemacht werde können. Jessy zieht die aus Mais vor. Wir müssen lange warten, bis die pupusas fertig sind. Zwischendurch ist der Küche das Gas ausgegangen.
Wir bestellen einen Melonensaft, der hier, wie alle Säfte, in einem großen, pokalartigen Glas serviert wird, mit Strohhalm. Ich bekomme eins hinter die Ohren, weil ich den Strohhalm falsch ausgepackt habe. Den dürfe man nur in der Mitte berühren, nicht an den Enden. Das mit der Hygiene sei „in diesen Ländern“ nicht so wie bei uns. Jedes Mal, wenn sie en estos países sagt, in diesen Ländern, klingt das etwas abwertend. Und es schwingt Bewunderung für entwickelte Länder mit.
Sie war noch nie in Europa, mag aber Länder, in denen es kalt ist. In El Salvador leidet sie unter der Hitze und dem Verkehr. Von der Natur und den Monumenten spricht sie aber mit viel Begeisterung. Ganz positiv spricht sie von Guatemala. Das scheint ihr das beste unter den mittelamerikanischen Ländern zu sein.
Sie bezeichnet sich selbst als „langweilig“. Sie sei noch nie in einer Diskothek gewesen, möge keine großen Feiern und keine Menschenaufläufe. Ihr Medizinstudium, das acht Jahre dauerte, habe sie voll in Beschlag genommen, und dann kamen die beiden Kinder dazu, nachdem sie sich im Streit von ihrem Mann getrennt hat.
Wir fahren weiter, und sie macht mich auf Kameras an einer Brücke aufmerksam. Geschwindigkeitskontrolle. Höchstgeschwindigkeit: 90 km/h. Bei Überschreitung zahlt man, schätzt sie, 30 $. Überhaupt sind die Preise hier höher, als man erwarten kann.
Wir passieren ein Motel. Das bedeute nicht das, was man meinen könnte, sagt sie. Ein Motel ist hier das, was man bei uns Stundenhotel nennt.
Wir fahren die Schnellstraße entlang. An einer Stelle kommt uns auf dem Seitenstreifen eine Kuh entgegen. Und dann noch eine.
Dann kommen Wasserlachen auf dem Seitenstreifen, und dann steht die ganze Straße unter Wasser. Die entgegenkommenden Autos haben es noch etwas schwerer als wir.
Hier in El Salvador habe ich schon öfter Richtungsschilder gesehen, und jetzt kommt sogar eine Entfernungsangabe: Costa del Sol 2 km.
Wir fahren eine Straße entlang, an der sich ein rancho nach dem anderen befindet, alle großzügig angelegt. Das Meer befindet sich hinter dem rancho.
Dann sind wir da. Ein Wachmann öffnet die Pforte, und wir fahren rein. Es ist eine Anlage mit einer ganzen Reihe von Häusern, alle Bungalows, und einer parkähnlichen Anlage, die alle verbindet.
Vor dem Haus wunderbar gepflegter Rasen, der aber ganz anders aussieht als bei uns. Die Halme sind länger und breiter. Sieht so aus, als dürfe man kaum einen Schritt darauf machen, aber wir parken darauf. Das halte der aus, meint Jessy.
Wir werden begrüßt von Ana Gladys, Jessys Freundin. Die wiederum hat eine wohlhabende Schwester in den USA, die dieses Haus gebaut hat, für die ganze Familie.
Das Haus ist erstaunlich groß, viel größer als Jessys Haus in San Salvador, hier gibt es Schlafplätze für mindestens zwölf Personen. Jedes Schlafzimmer hat ein eigenes Bad.
Das Bild, das sich einem bietet, ist wie aus dem Bilderbuch: Eine große Glasfront, dahinter ein Swimming Pool, eine Hängematte, eine Hecke mit roten Blüten, der gepflegte Rasen und Kokosbäume.
Ana Gladys ist auch Ärztin, Zahnärztin, auch sie arbeitet in der Gerichtsmedizin in Santa Tecla.
Sie kennt Italien, weil sie und ihr Mann eine Reise bei einer Verlosung der Kreditkartenfirma gewonnen haben! Sie haben ein Auto gemietet, haben im Auto geschlafen, um Kosten zu sparen, und sind durch das ganze Land gefahren. Am besten habe ihr Assisi gefallen, besser als Venedig oder Florenz.
Sie hat auch eine Kreuzfahrt in der Ostsee gemacht, auf Einladung ihrer wohlhabenden Schwester. Die hat in den USA Karriere gemacht, den American Dream verwirklicht. Hat als Putzhilfe ohne Englischkenntnisse angefangen. Jetzt hat sie ein Haus in den USA, ein Ferienhaus an der Bucht von San Francisco, ein Haus in San Salvador und das Strandhaus hier.
Faszinierend auch die Geschichte von Ana Gladys‘ Sohn, der inzwischen wieder bei den Eltern wohnt. Er wollte unbedingt zum Studium nach Europa. Hat im Internet eine Ausschreibung für ein Stipendium gefunden an einer privaten Universität, die auf die Initiative von Nelson Mandela zurückgeht. Hat sich beworben und das Stipendium bekommen. Also ist er nach Europa gegangen, nach Armenien! Hat dort Studenten aus allen Ländern kennengelernt und hat aus der Zeit auch noch einen deutschen Freund. Dann ist er nach Ohio gegangen, hat einen weiteren Abschluss gemacht, aber dann hatte er genug vom Ausland und wollte wieder in die alte Heimat zurück.
Wir essen die pupusas und dazu eine Hühnersuppe, die Ana Gladys gekocht hat. Man darf es ja nicht laut sagen, aber die Hühnersuppe schmeckt mir besser als die pupusas.
Ich frage nach ihrer Meinung zu Bukele. Sie halten nicht so viel von ihm. Ja, er habe die Mitglieder der Jugendbanken, der maras, weggesperrt und da Land sicherer gemacht, aber das sei langfristig keine Lösung. Und er wirtschafte auch in die eigene Tasche, wie alle Politiker.
Während Jessy eher pummelig ist, ist Ana Gladys eher athletisch. Gertenschlank ist sie auch nicht gerade, meint aber, ich könne durchaus etwas abnehmen. Bewegung sei wichtig. Sie macht Yoga und Aerobic und geht jeden Morgen, zu ganz früher Stunde, eine Stunde lang spazieren, in San Salvador im Park, hier am Strand entlang. Da sei noch kein Mensch unterwegs. Ob das nicht gefährlich sei, will ich wissen. Nein, überhaupt nicht.
Während die beiden Kaffee trinken, stecke ich die Beine in den Swimming-Pool. Der hat sogar einen Tisch.
Dann gehen wir zum Strand herunter. Der Weg dahin wird überall von blühenden Sträuchern gesäumt, Geld, Weiß, Rot. Das sind Ixora, mit röhrenförmigen Blüten. Sieht für uns irgendwie exotisch aus.
Das Wasser glitzert in der Sonne. Der Sand ist etwas dunkel, aber ganz weich. Es gibt überhaupt keine Steine, und nur ein paar ganz winzige Muscheln. An der Wasserlinie erkennt man den großen Unterschied, den Ebbe und Flut ausmachen.
Das Auge hat hier keinen Anhaltspunkt, kein Land, kein Schiff, keine Boje, kein Schwimmer, nur die Immensität des Meeres.
Wir gehen ein ganzes Stück am Strand entlang. Die Wellen sind nicht so harmlos, wie sie aussehen. Man muss aufpassen, dass man nicht umgeworfen wird.
Auf der einen Seite bescheint die Sonne das Meer, auf der anderen Seite steht der volle Mond blass am Himmel.
Als wir wieder zu Hause sind, beschließen die beiden, zum estero zu fahren. Das scheint so etwas wie eine Lagune zu sein, oder ein Flussdelta. Dort gibt es einen Pier, wo wir uns ganz ans Ende setzen und etwas trinken. Man sitzt praktisch über dem Wasser, in der Dämmerung.
Das ist alles viel größer, als ich es mir vorgestellt habe, Wasser zu allen Seiten, nur am Horizont von Land begrenzt. Das Meer selbst kann man von hier aus nicht sehen.
Wir kommen auf guanacos zu sprechen, in El Salvador das Pendant zu den chapines in Guatemala und den catrachos in Honduras. Warum heißen die Salvadorianer guanacos? Jessy meint, weil sie so neugierig seien, wenn irgendwo etwas passiere, würden sie stehenbleiben und sich das ansehen, eben die wie guanacos. Zum ersten Mal sehe ich die Verbindung zwischen dem Wort, das für mich nichtssagend war, und den Tieren. Einen Moment stehe ich auf dem Schlauch. Wie heißen noch mal guanacos auf Deutsch? Wir gucken im Internet nach: Sie heißen Guanakos!
Als wir aufbrechen, ist es stockdunkel. Wir setzen Ana Gladys ab und fahren Richtung San Salvador. Jessy tut mir leid, sie muss über die unbeleuchteten Straßen ohne Seitenstreifen oder Mittelstreifen. Aber sie sagt, das mache ihr nichts, sie fahre gerne, sie habe immer davon geträumt, den Führerschein zu machen, und jetzt habe sie sogar ein eigenes Auto. Den Führerschein hat sie erst 2009 gemacht.
Sie fährt auch durch den abendlichen Verkehr von San Salvador und setzt mich vor der Haustür ab. Das Ende eines erlebnisreichen Tages.
14. November (Donnerstag)
Cristina bedankt sich für eine Nachricht, die ich ihr geschickt habe. Ich habe ihr gesagt, wie gut es mir hier gefällt.
Sie erzählt von ihren Kindern in Deutschland, beide haben so etwas wie Business Administration studiert, die Tochter hat ihren verpflichtenden Auslandsaufenthalt in El Salvador gemacht, und dabei ist am Ende die Anerkennung des deutschen Abschlusses in El Salvador herausgekommen. Die Tochter lebt in einem kleinen Ort im Schwarzwald und ist mit einem Mann verheiratet, der aus Portugal stammt. Sie arbeitet in einer Werbeagentur, einer modernen Firma, wo Knochenarbeit geleistet und erwartet wird. Der Sohn arbeitet im Ingenieurbereich. Seine älteren Kollegen bedauern das Nachlassen der Standards in Deutschland und den großen Zuzug von Ausländern. Sie sagen das zu ihm, so als wenn er kein Ausländer wäre, und glauben das im dem Moment wahrscheinlich auch.
Cristina selbst ist letztes Jahr drei Monate in Deutschland gewesen, immer abwechselnd, eine Woche hier, eine Woche dort. Anfangs lebten beide Kinder in Frankfurt, und als sie da zu Besuch war, sei ihr als erstes aufgefallen, wie viele Ausländer da waren.
Ihre beiden Kinder hätten ihren Weg gemacht, aber sie würden immer Ausländer bleiben, sagt sie, und gibt mir eine glasklare Analyse der Stärken und Schwächen der deutschen Gesellschaft. Sie sei aber Deutschland auf ewig dankbar, dass es ihren Kindern diese Möglichkeit gegeben habe. Plötzlich wird sie von Rührung überwältigt, und die Tränen beginnen zu laufen. Mit erstickter Stimme sagt sie, sie sei froh, wenn sie dafür hier ein bisschen was wiedergutmachen könne, indem sie Ausländer aufnehme.
Ich mache mich auf den Weg ins Zentrum, frage mich zu einer Bushaltestelle durch. Als ich an einem Zebrastreifen stehe, kommt mir ein Mann mit breitem Lächeln entgegen, gibt mir die Hand und geht weiter.
Die Freundlichkeit hier variiert zwischen minimal freundlich und überbordend freundlich, meistens an einem der beiden extremen Punkte angesiedelt. Oft endet die Frage nach dem Weg mit einem Handschlag, manchmal mit der Frage nach der Herkunft und manchmal mit einem Kommentar zu meinen Spanischkenntnissen.
Das mit dem Bus erweist sich als etwas schwierig: Wo ist die Haltestelle, welche Busse, wenn überhaupt, fahren ins Zentrum? Aber am Ende klappt es. Die Busse sind uralt, aber, soweit man das sehen kann, in einem guten Zustand. Ich reiche dem Fahrer einen Dollar und bekomme noch mehrere Münzen zurück.
Unterwegs zeigt er mir an einer Haltstelle, dass ich hier aussteigen und in welche Richtung ich gehen soll. Nach kurzer Zeit komme ich in eine Fußgängerzone. Hier ist plötzlich alles anders. Man hat dem Kern der Innenstadt in den letzten Jahren einen guten Facelift verpasst.
Um neun Uhr bin ich an der Reiterstatue, dem Treffpunkt für die Stadtführung. Es ist noch genug Zeit für ein kleines Frühstück.
Dann komme ich wieder an den Treffpunkt, aber kein Mensch erscheint zur abgesprochenen Zeit und auch danach nicht.
Auf dem Platz macht eine Frau das, worauf Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren stehen müsste: Sie füttert die Tauben. Die einem dann wild um die Ohren fliegen. Und die Kinder machen das, was alle Kinder der Welt machen: Sie scheuchen die Tauben auf. Das ist eine Universalie, genauso wie die, dass alle Kinder raufklettern müssen, wenn sie ein Mäuerchen sehen und reintreten müssen, wenn sie eine Pfütze sehen.
Während des Wartens habe ich mich hier ein bisschen umsehen können. Der Platz ist groß und irgendwie unorthodox bebaut. An der Stirnseite der prächtige, neoklassische Palacio Nacional, mit Tympanon und kannelierten Säulen und der Landesflagge ganz oben, an einer Querseite des Platzes die stilistisch nicht einzuordnende, zu groß geratene Kathedrale, an der gegenüberliegenden Seite ein hypermodernes schönes Gebäude, die Nationalbibliothek, und an der vierten Seite eine parkähnliche Anlage.
Neben der Bibliothek bunte Buchstaben, die El Salvador bilden. Ich bitte ein Paar, ein Photo von mir zu machen, hinter den Buchstaben stehend. Es stellt sich heraus, dass sie aus Guatemala sind.
Davor verläuft ein leuchtend blau eingefärbter zweispuriger Radweg, und daneben in Fahrradständer. Da steht wirklich ein Rad drin.
Die Reiterstatue im Zentrum stellt Gerardo Barrios dar, nach dem der Platz auch benannt ist. Er scheint ein zweiter Morazán gewesen zu sein, hat auch zusammen mit ihm gekämpft und die zentralamerikanische Einheit gefördert.
Hinter den Gittern, die den Palacio Nacional, den ehemaligen Präsidentenpalast, abschirmen, zwei stehende Figuren, die man schon von weitem sieht. Überraschenderweise stellen sie Kolumbus und Isabel la Católica dar, die hier sogar Madre de las Américas genannt wird, ein seltenes Tribut eines lateinamerikanischen Landes an die alte Kolonialmacht.
Die hohe und breite Fassade der Kathedrale ist praktisch schmucklos, was sie noch etwas erdrückender aussehen lässt. Einzige Ausnahme: Über dem Eingangsportal eine Christusfigur mit der Inschrift: El Salvador del Mundo. Der Namensgeber des Landes.
Innen ist die Kirche eklektisch, keine stilistische Linie zu erkennen, und man muss lange gucken, bis man ein schönes Ausstattungsstück findet. Das sind die runden Leuchter aus Messing, die in regelmäßigen Abständen von der Decke des Langhauses herunterhängen.
Richtig schön ist einzig das Fresko in der Kuppel. An einem Geländer, das rund um die Kuppel läuft, werden volkstümliche Szenen dargestellt, spielende Kinder, ein Wasserträger, ein Paar in innigem Gespräch, Schwarze und Indios. Zwischen ihnen geht ganz friedlich ein Löwe spazieren. Und über ihnen schwebt eine Auferstehungsszene. Es heißt, hier sei auch irgendwo Oscar Romero abgebildet, aber ich kann ihn nicht finden.
In der Kathedrale hängen mehrere Porträts von ihm, eins in dem weißen Ornat des Bischofs, wie ich vermute, eins in dem schwarzen Ornat des Priesters. Auf beiden Bildern wird er von Leuten aus dem Volk begleitet.
Um sein Grabmal zu sehen, muss man in die Krypta gehen. Der Zugang ist außerhalb der Kirche. Sieht eher wie eine große Halle aus als wie eine Krypta.
Am Ostende das Grabmal des inzwischen heiliggesprochenen Bischofs. Es ist eine große liegende Bronzefigur, bewacht an den vier Enden von den vier Evangelisten, die wie Nonnen aussehen. Sie halten Schilde mit ihren Symbolen in der Hand.
Die Figur Oscar Romeros trägt eine Mitra, an der Seite liegt der Bischofsstab. Auf dem Grab ein Rosenzweig als Zeichen seiner Marienverehrung, ein Ölzweig als Zeichen des Friedens und ein Palmzweig als Zeichen seines Martyriums.
Auf der Brust treffen sich zwei Linien, die wie ein Kreuz, aber auch wie ein Fadenkreuz aussehen. An der Schnittstelle ein Stein aus Jade, da, wo ihn die Kugel in der Brust traf. Als das passierte, stand er am Altar und las die Messe.
Hin und wieder finden sich Gruppen von Betenden vor dem Grabmal ein.
Neben dem Grabmal ein Schild, auf dem man aufgefordert wird, nicht die Kerzen und Blumen mitzunehmen.
Oscar Romero war eigentlich ein staubtrocken konservativer Bischof und stand sogar dem Opus Dei nahe. Aber als er das ganze Elend sah, erhob er dann doch die Stimme. Das passte nicht allen.
Ich mache mich auf den Weg und komme zu einem weiteren Platz, La Libertad. Das ist das populäre Gegenstück zu der repräsentativen Plaza Barrios. Hier gibt es Losverkäufer, Zeitungsverkäufer, Schuhputzer (sogar eine Schuhputzerin), Tagträumer, Bettler.
Irgendwo stoße ich auf ein Eisenwarengeschäft, das Ferretería Alemán heißt.
An einer Seite die graue, nichtssagende Fassade der Iglesia El Rosario. Dahin geht es als nächstes.
Man betritt die Kirche durch einen unscheinbaren Nebeneingang, der aber tatsächlich der Haupteingang ist. Hier zahlt man 2 $ Eintritt. Das ist die Kirche aber wirklich wert.
Der Effekt ist sofort da, wenn man die Kirche betritt. An beiden Seiten sind Glasbausteine in Betonblöcke eingelassen, farblich immer abwechselnd, von Gelb über Blau bis fast Weiß. Das hüllt die Kirche in ein fast mystisches Licht.
Die Kirche ist ganz kurz, aber dafür sehr breit. Im Osten eine Wand mit dicken roten Backsteinen und einem Kreuz. Flankiert wird es von zwei Figuren in einer Vitrine, die namensgebende Virgen del Rosario links und San Domingo de Guzmán rechts. Beide halten einen Rosenkranz in den Händen. Die Madonna, mit Krone, wird dabei unterstütz von dem Jesuskind, ebenfalls mit Krone.
Als Pendant auf der anderen Seite zwei weitere Figuren, Santa Rosa de Lima, die erste lateinamerikanische Heilige auf der einen Seite, und San Martín de Porres auf der anderen Seite. Er wird dargestellt mit einem Kind und mit einem Besen in der Hand. Er heißt auch Fray Escoba, ‚Bruder Besen‘, weil er in seinem Kloster als Portier und Aufseher tätig war.
An der Südseite ein experimenteller Kreuzweg, nur aus Betonblöcken und einzelnen Eisenteilen bestehend. Man hat eine 15. Station hinzugefügt, eine Auferstehung, nur aus Eisenstangen und Nägeln bestehend, die aber dennoch ein wunderbares Bild vermittelt.
Leicht übersehen kann man an der Westseite einen „Fries“, auch wieder nur aus Eisenteilen bestehend. Es werden geometrische Figuren abgebildet, aber auch ein Hammer, eine Leiter, ein Winkelmaß, ein Kreuz, eine Sonne. Das sieht alles ganz weltlich aus. Erst langsam dämmert es mir, dass das auch alles was mit der Passion zu tun hat.
Ich gehe wieder auf den Platz und frage mich zum Teatro Nacional durch. Gar nicht so leicht, alle zeigen bei der Frage nach dem Teatro Nacional auf den Palacio Nacional. Am Ende finde ich das Theater auf einem weiteren Platz, von dem man einen ganz ungewöhnlichen Blick auf die Kathedrale hat. Dort fügen sich Häuser an die Kathedrale an, die dazugehören zu scheinen, aber ganz unabhängig sind.
Ich will nach Theaterführungen fragen, aber hier finden gerade Fernsehaufnahmen statt, und der ganze Platz vor dem Theater ist abgeriegelt. Ich versuche, irgendwo eine Lücke zu finden, aber vergebens. Dann fällt mein Blick auf eine elektronische Tafel an der Fassade mit wechselnden Informationen. Da erfahre ich dann, dass die Führungen ausgesetzt sind.
Ich treffe die dumme Entscheidung, zu Fuß nach Hause zu gehen. Das zieht sich hin, die Schritte werden immer kürzer, der Rhythmus immer langsamer, und die Hitze nimmt zu.
Ich muss an der verkehrsreichen Juan Pablo II entlang, mit einem ganz schmalen Bürgersteig. Später kann ich ein Stück parallel dazu durch ein Wohnviertel gehen. Hier ist alles ganz anders. Ich komme an einem wunderbaren Bücherladen vorbei, garagenähnlich, in dem vor den Gittern die Bücher meterhoch übereinandergestapelt sind. Dann sehe ich einen Schneemann, aus Drahtgestell gemacht, aber dem unseren ganz ähnlich sehend. Auch hier ist die Nase eine Möhre. Hinter einem Zaun lugt unter einem riesigen Bananenplatt ein ganzes Bündel grüner Bananen hervor.
Dann komme ich wieder auf die Hauptstraße und gehe an dem Zaun eines größeren Geländes vorbei. Könnte der Botanische Garten sein. Hier hat man Schilder aufgestellt mit Bildern aus dem Kleinen Prinzen, begleitet von den entsprechenden Zitaten, auf Spanisch und auf Nahuatl: Naja se sakamistun, inak ne sakamistun. Shiwi shimawilti nuwan, kilwij nekunenatuktianitzin, Sujsul nimutechtia ninemi – Soy un zorro, dijo el zorro. Ven a jugar conmigo, le propuso el principito . Estoy tan triste. Gibt einem zumindest eine Ahnung vom Wortbildungsmuster des Nahuatl.
Vor dem waghalsigen Überqueren einer Straße sehe ich über einer Unterführung den Slogan einer Bank: El poder de tu dinero lo tenés vos. Wieder das voseo.
Am Ende habe ich es dann doch geschafft und komme zu Hause an, aber der Hunger treibt mich nochmal raus, auf der Suche nach einem Supermarkt. Auf dem Weg dahin sehe ich an der mehrspurigen Avenida Bernal einen älteren und einen jüngeren Mann am Straßenrand sitzen, die inmitten des Lärms, des Gestanks und der Hitze ein paar unscheinbare Dinge aus ihrem Warenangebot an den Mann bringen wollen. Der Kontrast zu den Besitzern der ranchos von gestern könnte größer nicht sein. Dass hier ein Fußgänger vorbeikommt, ist eher unwahrscheinlich. Sie müssen darauf spekulieren, dass die Autos anhalten müssen und schnell durch das Fenster etwas kaufen.
Der Supermarkt ist groß, hier kommt man sich wie in den USA vor. Auch die Regale sind groß. Beim Obst stehe ich etwas unentschlossen vor den Bananen. Die sehen nicht recht koscher aus. Eine Kundin hilft mir: Nein, das hier seien plátanos, Kochbananen, die zum Essen, die bananas, seien da drüben. Nicht genug damit, dass in Spanien die Essbananen plátanos heißen. Dazu kommt noch, dass auch hier der Gebrauch nicht ganz konsistent ist. Ich habe auch schon gehört, dass man hier die Essbananen plátanos nennt.
An der Kasse mache ich dann noch eine kulturübergreifende Erfahrung. Es hat keinen Sinn, die Schlange zu wechseln, die eigene ist immer die langsamste.
15. November (Freitag)
Früh am Morgen spreche ich mit Cristina. Sie ist, obwohl gerade mal 60, schon pensioniert, ich weiß aber nicht, was sie früher gemacht hat. Wie viele Jahre sie denn schon die Vermietung mache, will ich wissen. Seit Februar!
Jessy ist krank, sie hat Hexenschuss. Kann sich aber selbst Spritzen injizieren. Unser geplanter Ausflug am Samstag muss ausfallen. Ich setze alles Mögliche in Bewegung, frage bei Cristina nach, die lässt mir durch einen Freund einen Tagesausflug mit Preisangabe mitteilen, und ich bin gerade dabei, zuzusagen, als eine Nachricht von Jessy kommt. Ihre Freundin Rina habe heute frei, die könne mit mir in ein Museum gehen, das hätte ich doch sowieso vor. Also gut, dann warte ich mal, bis Rina sich meldet.
Rina meldet sich, will mich abholen, kommt aber mit reichlich Verspätung. Sie hat am falschen Ort auf mich gewartet, und das, obwohl ich ihr den Standort geschickt habe. Sie hätte einfach Condominio San Antonio eingegeben und auf alles andere nicht geachtet. Hätte ich sein können.
Was ich denn gerne in San Salvador sehen würde, fragt sie. Ich erwähne ein, zwei Dinge, und sie sagt spontan, gut, dann fahren wir nach Cerén. Ich bin überrascht, aber sehr angetan. Joyas de Cerén steht hoch auf meiner Liste. Und sie kennt es auch noch nicht!
Auch Rina ist Ärztin, Hausärztin, hat sich jetzt aber vorzeitig zur Ruhe gesetzt, weil sie demnächst, 2026, ein Parlamentsmandat antritt. Die Zeit bis dahin hat sie sich freigenommen.
Sie ist bereits gewählt, und zwar genau für den Bezirk, durch den wir jetzt kommen. Was ist denn das für ein Parlament? Das zentralamerikanische Parlament. Das gibt es tatsächlich! Muss so was wie das Pendant zum Europäischen Parlament sein.
Ihre Biographie ist hochdramatisch. Sie war in der Guerrillabewegung aktiv, nicht im militärischen, aber im organisatorischen Bereich. Damit ich es verstehe, erklärt sie mir den Hintergrund. El Salvador sei ein Land, das lange von 14 Familien dominiert war, Großgrundbesitzern, denen das Land quasi „gehörte“. Die erste systematische Auflehnung dagegen gab es 1932, geführt von einem gewissen Augustín Farabundo Martí, dem Gründer der Sozialistischen Partei El Salvadors. Er führte ein Heer von Bauern und Indios an, das gegen das System, vor allem die Herrschaft der Kaffeebarone, aufbegehrte. Die Herrschenden reagierten mit allergrößter Brutalität. Es kam zu einem Massaker, das als La Matanza in die Geschichte eingegangen ist. Jeder, der im geringsten Verdacht stand, gewerkschaftsnah oder Indio zu sein, wurde abgeschlachtet. Es kam zu 30.000 Toten. Martí wurde von einem Erschießungskommando hingerichtet.
Es entwickelten sich verschiedene Untergrundbewegungen, die sich am Ende zusammenschlossen unter dem Dachverband des FMLN, der den Namen Martís in seinem Namen trug. Wie es dann genau weiterging, weiß ich nicht, aber letztlich kam es zum Bürgerkrieg. Der Ermordung Romeros gilt dabei als einer der Auslöser. Das war 1980. Ins gleiche Jahr fällt die Vergewaltigung und Ermordung von vier US-amerikanischen Nonnen, die hier Entwicklungshilfe leisteten. Der Bürgerkrieg dauerte bis 1992, als es ein Friedensabkommen mit der FMLN gab. Die trat dann selbst zu Wahlen an und entwickelte sich zu einer politischen Partei.
Und Rina? Sie ist während des Bürgerkriegs ins Exil gegangen, und zwar nach Schweden. Und spricht Schwedisch. Vad kul! Då kan vi talar svenska!
Sie liebt Schweden, fährt heute noch oft dorthin und sagt, sie sei Schweden bis heute dankbar, dass es sie aufgenommen hat. Warum Schweden? Nur Schweden, Australien und Kanada hätten politisches Asyl angeboten. Ich hätte gedacht, dass man als politisch Verfolgter auch in Deutschland jederzeit Asyl beantragen kann.
Rinas Schwester lebt bis heute in Schweden. Auch zwei Neffen leben in Schweden. Außerdem hat sie eine Tochter in New York und Neffen in Deutschland.
Mit der Pension ist es nicht so toll, aber sie hatte vor ein paar Jahren die gute Idee, einen Teil ihres Hauses in eine Einliegerwohnung zu verwandeln und zu vermieten. Die bringt zusätzliche 600 $ ein.
Wenn sie nach Schweden reist, fliegt sie zuerst von hier nach New York, wo sie bei ihrer Tochter wohnt. Von dort auf Direktflug nach Schweden, wo sie bei ihrer Schwester wohnt. Nicht schlecht. Und sie hat wohl einen Riecher für billige Flüge. Die Preise, die sie für ihre letzten Flüge nennt, sind unschlagbar günstig.
Sie reist aber sonst auch, war vor kurzem in Venezuela und kennt Peru gut. Und schwärmt von Guatemala. Da kam sie immer wieder hin, denn da lebte ihre leibliche Mutter, vom Ehemann getrennt. Sie, Rina, ist dann später, als die Mutter dement wurde, für drei Monate dorthin gezogen und hat die Mutter bis zu deren Tod gepflegt. Ein aufregendes Leben.
Wir machen irgendwo Halt, um einen Kaffee zu trinken, wie sie vorschlägt. Aus dem Kaffee wird dann Hähnchen. Soll mir recht sein.
Um ihr zeigen, dass ich genauso verpeilt bin wie sie, verliere ich dann unser Parkticket. Nach vergeblicher Suche in allen Jackentaschen, Hosentaschen und Rucksacktaschen findet sie es auf dem Tisch, an dem wir gesessen haben.
Weiter geht die Fahrt. Sie erzählt von ihrem Einsatz in dieser Gegend – offenbar ist sie früher schon mal Abgeordnete in diesem Bezirk gewesen – wo sie „Sprechstunde“ im wahrsten Sinne des Wortes geleistet hat. Die Bürger konnten zu ihr kommen, um ihre Anliegen vorzutragen und bekamen gleichzeitig ärztliche Hilfe.
Ein Skandal, der bis heute noch spürbar ist, war die unsachgemäße Entsorgung von Batterien. Als Folge davon gab es haufenweise Bleivergiftungen und sogar Kinder mit Deformationen.
Auf dem Weg sehe ich ein Hinweisschild auf einen Ort mit dem Namen Ateos, und dann überqueren wir, unmittelbar vor Cerén, den Río Sucio. Er heißt wohl so, weil der Schlamm, den er mit sich führt, ihn schmutzig erscheinen lässt. Er ist aber auch hoch kontaminiert. Auf Nahuatl war er der ‚Fluss der Asche‘.
Dann kommen wir nach Cerén. Das Besondere an Joya de Cerén, wie es offiziell heißt: Hier wurde ein Maya-Volk unter der Asche eines Vulkans begraben. Das lag jahrhundertelang verborgen und wurde erst 1976 durch einen Zufall wiederentdeckt. Eine Planierraupe legte Dinge frei, von denen man bald erkannte, dass sie alt sein mussten.
Es gibt ein hier gibt ein Museum und ein Ausgrabungsgelände. Im Museum ist vor allem Keramik zu sehen. Die Gefäße, auch die Gebrauchsgegenstände, sind sehr schön gestaltet, meist mit erdfarbenen Mustern. In einer Schüssel glaubt man, Hieroglyphen zu erkennen, in einer anderen sieht man am Boden noch die Kratzspuren der Fingernägel, die die Esser hinterlassen haben, denn hier wurde mit der Hand gegessen.
Ein besonderes Fundstück ist ein Stein, mit dem das Skelett eines Tieres, einer Ente, verwachsen ist.
Das alles wird erst richtig in Kontext gebracht, als wir über das Ausgrabungsfeld geführt werden, Gott sei Dank komplett unter Planen gelegen, so dass uns der Dauerregen nicht stört.
Man hat hier eine ganz normale Siedlung ausgegraben, kein religiöses oder staatliches Zentrum. Sie bestand aus mehreren kleineren Komplexen, jeweils mit bestimmten Bauten. Die Dächer sind alle eingestürzt, aber die Mauern stehen und oft auch die Zwischenwände. Interessant das Haus der Schamanin, bei der die Ascheschicht die Hauswand stützt.
Wir sehen, wie sich eine Ascheschicht über die andere gelegt hat, insgesamt sind es 14. Der Ausbruch des Vulkans dauerte drei Wochen! Das geschah vor etwa 1400 Jahren, um das Jahr 650.
El Salvador hat insgesamt 242 Vulkane, erfahren wir, von denen noch 36 aktiv sind.
Man hat viele Alltagsgegenstände gefunden, auch Essensreste, und kann die Funktionen der einzelnen Bauten erstaunlich gut bestimmen: ein Wohnhaus, ein Schlafraum, eine Vorratskammer, eine Sauna, das Haus der Schamanin. Sogar eine Abfallgrube hat man gefunden, mit Scherben, Essensresten und sogar einem Hundezahn. Den hat man vermutlich entsorgt, weil sich die Kinder daran hätten schneiden können.
In der Vorratskammer hat man Kakao, Mais, Agave, Chile und Korn gefunden.
Auch Maguey wurde gefunden, aber hier wurde es nicht für die Produktion von Tequila benutzt, sondern für die Produktion von Zwirn.
Ein besonderes Fundstück ist eine Maske aus Hirschgeweih, die aber nicht ausgestellt ist, weil sie zu zerbrechlich ist.
Auch ganz besonders sind Funde aus Jade, denn die gab es hier nicht. Sie resultierten aus dem Handel mit Völkern in Guatemala, die dafür Mais bekamen.
Die Sauna, mit erhitzten Steinen und Kräutern betrieben, war keine Sauna in unserem Sinne, sondern eine rituelle Angelegenheit. Es ging um spirituelle Reinigung.
Das Haus der Schamanin ist als Haus einer höhergestellten Person zu erkennen, unter anderem dadurch, dass es das einzige mit einer celosía ist, einem Gitterfenster, durch das man nach draußen, aber nicht nach drinnen sehen kann, so, wie man sie auch an arabischen Palästen findet. Woher weiß man, dass es sich um eine Frau handelte? Weil in einer Vertiefung vor dem Eingang des Hauses malacates gefunden wurden, kleine rundliche Keramikstücke mit einem Loch in der Mitte, die beim Weben und Spinnen benutzt wurden und mit der weiblichen Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht werden.
Die Besonderheit bei der Architektur von Joya de Cerén ist der Gebrauch von Erde beim Bau der Häuser, da andere Materialien nicht verfügbar waren. Dabei kam besonders eine Technik zum Einsatz, die man bajareque nennt, wohl der Gebrauch von Rohr und Lehm zur Verstärkung der Erde. Es hat sich herausgestellt, dass diese Bauweise besonders resistent gegen Erdbeben ist!
Zum Schluss bleibt noch die Frage der Fragen: Warum hat man keine menschlichen Skelette gefunden? Haben die Menschen sich alle rechtzeitig retten können? Oder ist das jetzige Ausgrabungsfeld nur ein kleiner Teil einer größeren Siedlung, die es noch zu entdecken gilt?
Tolle Frage zum Schluss, aber wir können noch nicht Schluss machen, da es so fürchterlich regnet, dass wir uns alle unter der Plane verstecken. Das gibt Rina Gelegenheit, sich mit unserer Führerin, Julia, zu unterhalten. Deren Traum war es immer gewesen, Archäologie zu studieren, aber dafür hatte sie kein Geld. Dann hat sie irgendwas mit Tourismus studiert und kann jetzt hier ihrer Leidenschaft für Archäologie frönen.
Rina hat die Besichtigung auch gut gefallen, aber sie hat jetzt noch eine lange Fahrt durch das dunkle San Salvador mit verstopften Straßen vor sich. Sie bringt mich aber sicher nach Hause und sagt, sie wolle sich mit Ana Gladys kurzschließen, um zu sehen, ob wir morgen etwas gemeinsam unternehmen können.
16. November (Samstag)
Heute soll es zum Boquerón gehen, dem Hausvulkan San Salvadors. Ana Gladys hat mir die Adresse für den Treffpunkt geschickt, und ich habe sie zur Sicherheit handschriftlich notiert. Ich sage dem Taxifahrer, wohin ich will, und zeige ihm vorsorglich noch die Adresse auf meinem Notizblock. Kein Problem, das kenne er, da könne er mich hinfahren. Kaum sitzen wir, schon fragt er, wie war das noch mal mit der Adresse? Er gibt etwas in sein Handy ein, und los geht die Fahrt. Als wir auf das Ziel zufahren, wird er unsicher, verfährt sich und sucht dann auf dem großen Gelände des Einkaufszentrums nach dem Pollo Campero. Da erscheint tatsächlich ein Schild mit diesem Namen, und kurz daneben Ciudad Merliot, eine andere Angabe aus der Adresse.
Es ist erst halb neun, ich gehe abwechselnd rein in das Einkaufszentrum und dann wieder vor den Eingang. Es wird 9 Uhr, es tut sich nichts. Ich warte noch mal eine Viertelstunde, immer noch nichts. Dann versuche ich es mit einem Anruf, komme aber nicht durch. Dann sehe ich auf der Tür des Pollo Campero, dass es hier gratis Zugang zum Internet gibt. Ich gehe rein und frage. Das Internet funktioniert nicht.
Inzwischen ist es halb zehn. Ich frage einen Wachmann und zeige ihm die Adresse. Ja, dies ist Pollo Campero und dies ist Ciudad Merliot, aber dies ist nicht Las Ramblas. Der Taxifahrer hat mich an den falschen Ort gebracht.
Der Wachmann ruft ein Taxi, und dieser Taxifahrer weiß gut Bescheid. Inzwischen erreiche ich Ana Gladys und sage, dass ich unterwegs bin. Der Taxifahrer setzt mich vor dem Pollo Campero ab. Drinnen ist es rappelvoll, verschiedene Räume, fast alle Tische besetzt. Keine Spur von Ana Gladys. Bin ich etwa wieder im falschen Lokal? Als ich so verloren durch die Reihen gehe, kommt plötzlich eine unbekannte Frau auf mich zu: „Are you looking for someone?“ Es ist Ana Gladys Schwester, die zufällig mit ihrer Familie hier ist, und weiß, dass Ana Gladys gerade zur Toilette gegangen ist.
Dann erscheint sie und führt mich zum Auto, wo Rina bereits wartet.
Wir fahren zu Ana Gladys. Ein schönes Haus mit einem Garten, der zu allen Seiten Pflanzen als Sichtschutz hat. An einer Wand wachsen Minze, Oregano, Rosmarin, alle intensiv duftend.
Als erstes lerne ich das Mädchen kennen, das heute auf die Tochter aufpasst, dann den Sohn, dann den Mann und dann die Tochter. Der Sohn ist der mit der armenischen Vergangenheit. Und er weiß natürlich, wo Ludwig wohnt, sein deutscher Freund. In Speyer. Er ist selbst dort gewesen und hat bei der EM 2020 in einer Kneipe ein Spiel gesehen, das Deutschland gegen Frankreich verloren hat. Die beiden sprechen Englisch miteinander.
Ana Gladys‘ Mann begrüßt mich mit ausgesuchter Höflichkeit. Er spricht langsam und deutlich, und es klingt alles ein bisschen wie ein Vortrag. Er liebt den Konjunktiv. Er scheint immer wieder Strukturen zu suchen, die den Konjunktiv erfordern, vor allem den Konjunktiv Imperfekt.
Und dann kommt die Tochter, klein, etwas verwachsen. Sie sieht wie 12 aus, ist aber 24. Sie hat keine Luftröhre und keine Speiseröhre. Ein Geburtsfehler. Wie Ana Gladys mir später erzählt, muss alle Nahrung zu Brei verarbeitet und künstlich eingeführt werden. Es ist bewegend, wie sie mir später erzählt, wie sie und ihr Mann zunächst mit ihrem Schicksal gehadert, es dann aber angenommen haben. Die Tochter macht einen ganz aufgeweckten Eindruck. Später erzählt mir Ana Gladys, dass sie einen Videokanal betreibt und 2.000 Abonnenten hat. Da können sich andere noch eine Scheibe von abschneiden.
Als wir den Berg rauffahren – wenn ich das richtig verstanden habe, ist das der äußere Hang des Vulkans – kommt die Rede auf einmal auf die Wahl zur Miss Universum. Die fand letztes Jahr hier in El Salvador statt. Da gehörte der Vulkan auch zum Besichtigungsprogramm. Die Wahl hat eine Frau aus Nicaragua gewonnen, aus ganz einfachen Verhältnissen kommend. Sie hat alle beeindruckt.
Any Gladys Mann, Jorge, sagt mit einigem Pathos, hier könne man in den Bergen frühstücken, am Meer zu Mittag essen und in der Stadt zu Abend essen. Diesen Spruch bringt er im Laufe des Tages noch zweimal. An Originalität gewinnt er dabei nicht.
Wir kommen an einer Art Landhotel vorbei, San Cristobal. Dort, sagt Ana Gladys, verbringe sie einmal im Monat zusammen mit Jorge und manchmal auch mit ihrer Tochter eine Nacht. Damit ich das auch richtig verstehe, wiederholt sie das im Laufe der Zeit noch dreimal.
Die Vegetation ist hier besonders üppig. Kein Wunder bei all dem Regen. Oder hat das was mit dem fruchtbaren Vulkanboden zu tun?
Von hier aus sieht man einen zweiten Hügel, den Picacho. Der wurde beim letzten Vulkanausbruch, 1917, gebildet, durch den Auswurf aus dem Vulkankrater. Bei diesem Ausbruch verschwand auch die Lagune im Boquerón. Auf einem Photo in der Ausstellung sieht man noch ein Boot über das Wasser fahren.
Wir lassen das Auto stehen und gehen zu Fuß weiter. Vor dem Eintritt in den eigentlichen Park liegt ein Restaurant mit Aussichtsterrasse. Hier sind wir die einzigen. Wir bestellen Kaffee und pupusas. Die sind hier ausgesprochen lecker, besser als die aus Olocuita.
Bei dem Gespräch schnappe ich ein neues Wort auf, muy yuca. Das bedeutet ‚sehr schwer‘.
Jorge hat als junger Mann fünf Jahre in New York gelebt. Daran hat er viel konkretere Erinnerungen als an all die anderen Jahre davor und danach. Er schwärmt von New York und möchte immer wieder dorthin.
Da gerade von den Wahlen in den USA die Rede gewesen ist und die Möglichkeit diskutiert wird, dass bis zu 100.000 Salvadorianer zurückgeschickt werden, frage ich, wie das denn bei ihm gewesen sei mit der Einwanderung. Er sei auch illegal dagewesen, sagt er. Das ging ohne weiteres. Das Gehalt gab es blank auf die Hand. Ob denn nie jemand nach einer Aufenthaltserlaubnis oder einer Arbeitserlaubnis gefragt habe, will ich wissen. Nein, er habe sogar ein Auto dort gekauft. Alles ließ sich mit seinem Pass aus El Salvador regeln.
Irgendwie kommt die Rede auf die EU. Der deutsche Freund ihres Sohns habe irgendwelche Schwierigkeiten. Da sei doch ein Land aus der EU ausgetreten. Frankreich? Deutschland? Ach ja, England, das war es!
Bei der gemeinsamen Reise nach Italien, erzählt Jorge, habe er die amerikanischen Lokale vermisst. Die Italiener hätten ja keine Ahnung von Fast Food. Immer nur panini. Da könne man ja stundenlang durch die Gegend fahren, ohne auf einen McDonalds zu stoßen.
Bei der Unterhaltung fällt mir auf, dass die anderen sich siezen, mich aber duzen. Leider verpasse ich es, darauf zu achten, ob auch die Eheleute sich untereinander siezen. Das voseo habe ich noch nirgendwo gehört.
Als es in den Park selbst geht, müssen wir Eintritt bezahlen, aber zwei der anderen kommen als Senioren kostenlos rein. Ich werde gefragt, woher ich käme, und da sagt einer der Uniformierten: „Aus Deutschland? Herzlich willkommen in El Salvador!“ Er gibt mir die Hand: „Es ist mir eine Freude, sie kennenzulernen!“. Und als wir uns weiter unterhalten, benutzt er irgendwann das Wort hammerhart. Er war, wie Rina, als politischer Flüchtling im Ausland, in Deutschland. Rina erzählt von ihrem Exil in Schweden, und dann stellt sich heraus, dass er auch in Schweden war, in Malmö. Und auch Schwedisch spricht. Da werfen wir uns zu dritt schwedische sprachliche Brocken zu, an einem Krater mitten in El Salvador! Als wir uns auf den Weg machen, ruft mir der Mann noch hinterher: „Ich wünsche Ihnen eine gute Wanderung!“
Die Wege bei dem Aufstieg zum Kraterrand sind sehr gut angelegt, selbst Rina in ihren Sandalen kommt hier gut rauf. Ja, das habe die neue Regierung gemacht, sagt Ana Gladys, das müsse man ihr lassen, sie fördere den Tourismus.
Am Wegesrand gelbe glockenartige Blumen. Es wird eine Zeitlang überlebt, wie die noch mal hießen. Einer der Wachmänner weiß die Antwort: floripondio. Das Internet sagt mir später, dass sie auf Deutsch Engeltrompete heißt. Rina erzählt, sie habe halluzinogene Wirkung. Schon ein ganz klein bisschen davon könne einen einschläfern. Einem italienische Touristen hier an der Küste hat sie das Leben gekostet.
Wir kommen immer höher, man hat hier drei verschiedene Aussichtsplattformen errichtet, von denen aus man aus immer einem anderen Winkel in den Krater gucken kann. Ganz unten sieht man eine Auslassung im Boden. Dort könnte sich die Lagune befunden haben. Alle Seiten des Kraters sind grün, nur an einer Stelle kommt der Felsen durch.
Ana Gladys sagt, schade dass es heute so neblig ist. Sonst könne man von hier aus die ganze Stadt und an einem klaren Tag sogar bis ans Meer sehen. Damit ich das auch richtig verstehe, wiederholt sie es auf jeder Aussichtsplattform.
Wir gehen zum Auto zurück und bleiben an einem Verkaufstisch stehen. Ich komme etwas eher an und frage die Frau, ob ich ein Photo machen kann. Sie hat Blumen auf dem Tisch und Obst, in kleinen Portionen schön präsentiert: Jocotes, Granatäpfel, Guayaba, Litschis und Brombeeren. So große Brombeeren habe ich noch nie gesehen. Aber Cristina erklärt mir später, die seien schon gegoren.
Wir fahren weiter runter. Plötzlich bleibt Rina stehen. Am Wegesrand steht eine uralte Frau mit zerfurchtem Gesicht. Sie hat mehrere Bündel neben sich stehen. Rina öffnet das Fenster und fragt die Frau, ob sie rauf oder runter wolle. Die Frau ist schwerhörig, aber am Ende versteht sie, was wir wollen. Sie muss rauf, also falsche Richtung. Rina sagt, die Frau sei über 90 und schleppe immer noch jeden Tag ihre Bündel den Berg rauf und runter.
Als ich mich schon auf dem Rückweg nach San Salvador sehe, biegen wir plötzlich ab und fahren eine ganz einsame steile Straße rauf. Wir steigen vor einem Haus aus, und Ana Gladys sagt mir, für den Fall, dass ich meinen könnte, dass dies die Plaza de la Libertad ist: „Esto es el campo.“ Lieber wäre mir, zu wissen, was wir hier machen.
Es stellt sich heraus, dass wir eine weitere Freundin besuchen, Vidalia, und ihren Mann, José. Herzliche Begrüßung durch die beiden. Wir setzen uns erst auf die Terrasse, müssen dann aber vor dem Regen ins Haus flüchten. Es gibt Obstsaft und etwas Gebäck mit Oliven. Die würden aus Spanien importiert, erfahre ich. Ist das erste Mal auf der Reise, dass ich welche sehe. Später gibt es eine Suppe mit Bohnen und Schweinefleisch. Die schmeckt sensationell gut.
Ich beobachte eine kleine sprachliche Marotte bei den anderen, vor allem bei Rina. Sie sagt no, auch wenn sie bestätigen will, was du sagst: „Lo sopa está riquísima. – No, Vidalia es una buena cocinera.“
Vidalia spricht am Anfang besonders deutlich und langsam mit mir, dann merkt sie, dass das nicht nötig ist. Bei ihrem Mann, einem pensionierten Juristen, ist das anders. Er trägt in wohlgesetzten Sentenzen vor, wie auf dem Katheder, sinniert laut nach über das Altwerden, die Bewegung, die Gesellschaft. Am meisten interessiert ihn Rechtsphilosophie, und er nennt einen deutschen Rechtsphilosophen, von dem ich noch nie gehört habe. Er spricht sehr abstrakt, am Anfang bin ich gespannt aufmerksam, aber dann kann ich nicht mehr folgen. Die anderen führen längst ein eigenes Gespräch. Er macht immer weiter, ohne jemals eine Frage an mich zu stellen oder mich sonst irgendwie einzubinden. Irgendwann merkt Rina, was los ist und rettet mich mit irgendeiner Frage zum politischen System in Deutschland.
Ich erzähle von einigen sprachlichen Entdeckungen, die ich gemacht habe im Laufe der Tage, und Vidalia reagiert so, wie das viele tun. Sie erklärt, was die Wörter bedeuten, von denen ich gerade gesagt habe, dass ich sie gelernt habe. Habe mich immer schon gefragt, was für einen Zweck das hat.
Als wir drinnen sitzen, sieht Jorge gebannt auf sein Handy. Barcelona gegen Real Madrid. Was? Die haben doch vor zwei Wochen gerade gegeneinander gespielt. Es ist Frauenfußball. Aber er interessiert sich für alles. Und ist gut im Bilde. Hier verfolge man in erster Linie die spanische und die englische Liga. Er ist Anhänger von Barça und City. Da gibt es noch Verbesserungsbedarf. Spricht aber auch mit Respekt von dem, was Xabi Alonso in Leverkusen bewirkt hat.
Die Rede kommt auf Vidalia und was sie so treibt. Sie baut ihren eigenen Kaffee an und betreibt cabañas. Das sind Ferienhäuser. Meist von Nordamerikanern gemietet. Sie hat das alles hier selbst aufgebaut, Bäume gepflanzt, Wege angelegt, die ganze Anlage geplant. Wie kommen denn ihre Gäste zu ihr? Hat sie irgendeine Internetplattform? Nein, das spreche sich einfach so rum. Die meisten Gäste seien Wiederholungstäter.
Die anderen sprechen mit Hochachtung von ihr, sie aber auch von sich. Sie lebe im Einklang mit der Natur, verstehe etwas von Architektur, bezahle ihre Arbeiter gut. Deren Kinder könnten so zur Universität gehen. Ihr Auftritt erinnert mich an die spanische Redewendung No tiene abuela. Wenn man keine Oma hat, die das tut, muss man sich eben selbst loben.
Sie ist auch politisch engagiert, und es entwickelt sich ein reges politisches Gespräch, ganz facettenreich. José bleibt die ganze Zeit stumm, Ana Gladys schaut auf ihr Handy.
El Salvador, heißt es, sei einst der zweitgrößte Kaffeeproduzent der Welt gewesen. Und was ist dann passiert, will ich wissen. Die Preise würden von einer Handelsgesellschaft bestimmt, die ihren Sitz ausgerechnet in London habe. Die würden die Preise diktieren, und da fiele für den Produzenten selbst wenig ab. Ja, gut, sage ich, aber das erklärt noch nicht, warum El Salvador jetzt nicht mehr so viel Kaffee produziert. Dann kommt die Rede auf den Bürgerkrieg. Jetzt kommen wir der Sache näher. Im Bürgerkrieg wurden viele Kaffeeplantagen von den linken Rebellen zerstört, einfach um die Wirtschaft und die herrschende Oligarchie zu schwächen. Dazu kam eine Plage, spanisch roya, eine Art Getreiderost, der auch den Kaffee schädigt.
In dem Zusammenhang fällt auch der Name Bukele. Von dem halten sie gar nichts. Er sei jetzt auch Kaffeeplantagenbesitzer. Dabei habe er einfach einen Kaffeeplantagenbesitzer enteignet und sich selbst an dessen Stelle gesetzt. In der Innenstadt gebe es Stände, an denen man gratis eine Tasse Kaffee vom Präsidenten kredenzt bekomme.
Langsam wird es Zeit für den Aufbruch. Rina hat noch eine Taufe, Jorge hat heute noch ein Fußballspiel. Er spielt in einer Amateurmannschaft, in einer Liga, in der verschiedene Berufsmannschaften gegeneinander spielen, verkleinertes Spielfeld, 2 x 35 Minuten. Er selbst spielt bei den Ärzten, obwohl er eigentlich bei den Beamten spielen müsste, aber das sehe man nicht so eng. Er spielt im Mittelfeld.
Mein Kopf ist zu, und ich hoffe inständig, dass es jetzt nach Hause geht. Aber wir müssen noch Halt bei San Cristobal machen. Ana Gladys will mir unbedingt das tolle Hotel zeigen, in dem sie übernachten.
Die Zimmer liegen auf einer erhöhten Terrasse, man braucht nicht in das Hotel rein, man hat von außen Zugang zu ihnen. Es wird extra eine Zimmerfrau gerufen, die das Zimmer aufschließen soll. Ich habe meine helle Freude daran, sie dabei zu beobachten, wie sie mit zwei Schlüsseln in zwei Schlössern, mal nach rechts, mal nach links, vergeblich versucht, die Tür zu öffnen. Ich sehe mich selbst an ihrer Stelle stehen. Dann geht die Tür doch auf.
Das Zimmer ist schön, mit einer schönen Aussicht, aber nicht umwerfend schön, und mit keiner umwerfend schönen Aussicht. Ana Gladys zeigt mir mit Stolz jedes Teil, von der Mikrowelle bis zum Fernseher, und betont, wie toll das alles sei. Und dann folgt noch, als Belohnung für mein geduldiges Zuhören, die Information, dass sie jeden Monat einmal mit ihrem Mann und manchmal mit ihrer Tochter hierherkomme.
Wir gehen auf den Innenhof und Ana Gladys sagt mir, ganz ergriffen von ihrer eigenen Ergriffenheit, El Salvador sei ein wunderschönes Land. Und seine Einwohner – fast alle – ganz wunderbare Menschen.
Dann geht es zurück. Auf dem Rückweg frage ich Rina, ob ihr Name eine Abkürzung sei, Caterina oder so. Nein, sagt sie, der Name sei biblisch. Sie habe ihre Mutter kurz vor ihrem Tod einmal gefragt, warum sie diesen Name gewählt habe. Die Mutter hat ihr gesagt, Rina, das sei der Name einer Lehrerin, die ihr in der Grundschule immer etwas zu essen gegeben habe.
Wir setzen die anderen zu Hause ab, und Rina setzt mich dann an unserem morgendlichen Treffpunkt ab. Hier kann ich einkaufen, finde dann aber weit und breit kein Taxi. Ich laufe, inzwischen ziemlich bepackt, im Dauerregen an der vielbefahrenen Straße entlang und dann immer wieder auf den Parkplatz des Einkaufszentrums. Es ist wie verhext. Kein Taxi weit und breit.
Am Ende gehe ich todesmutig über die Straße und treffe dort auf eine offensichtlich wartende junge Frau. Sie sagt, ja, ich könne jeden beliebigen Bus ins Zentrum nehmen und hält den nächsten besten für mich an.
Ich bekomme nur noch einen Stehplatz an der geöffneten Tür. Dem Fahrer, der ziemlich durch die Gegend brettert, gebe ich über die anderen Passagiere hinweg mein Geld, und er gibt das Wechselgeld auf dem gleichen Wege zurück. Die Fahrt kostet 30 Cent. Allmählich komme ich von der Tür weg. Je weiter man kommt, umso stickiger wird es. Das mit der offenen Tür hat schon seinen Sinn. Über mir dröhnt aus den Lautsprechern monotone Hip-Hop-Musik. Eine Frau bietet mir ihren Platz an, aber ich bleibe stehen. Ob wir schon in der Nähe des Zentrums seien? Da muss sie fast lachen. Nee, das dauere noch eine Weile. Später bietet mir eine Frau an, meine Tüten auf ihren Schoß zu nehmen, aber dummerweise nehme ich das Angebot nicht an.
Dann leert sich der Bus, und ich steige auf gut Glück irgendwo aus. In der Ferne sehe ich die Kuppel der Kathedrale. Hier aber wimmelt es nur so von Verkaufsständen. Der Unterschied zwischen den ungepflasterten Straßen hier und denen um die Kathedrale herum ist frappierend.
In der Nähe des Kathedralplatzes organisiert eine junge Frau die Taxidienste, mit Funkverehr. Sie ruft mir ein Taxi. Ich frage nach dem Preis: 6 $. Ist das nicht ein bisschen viel? Ja, normalerweise 5 $, aber durch die Überschwemmungen sei der Verkehr so schlimm, dass sie etwas mehr nehmen müssten. Ob es durch die Überschwemmung ist oder nicht, auf jeden Fall hat der Taxifahrer seine liebe Not und Mühe, sich durchzukämpfen, erst zwischen den Verkaufsständen und den Menschenmassen hindurch, dann über verstopfte Kreuzungen. Er kann sich den einen oder anderen Fluch nicht verkneifen. Setzt mich dann aber vor der Haustür ab.
Dort sind gerade neue Gäste eingetroffen, zwei junge Männer aus Belgien, die in Kanada leben. Für ein oder zwei Kleinigkeiten ist meine Übersetzungshilfe gefragt. Wir kommen ins Gespräch, sie erzählen von Costa Rica und fragen mich nach Honduras.
Cristina sagt, die beiden seien schon mal hier gewesen. Das ist doch immer ein gutes Zeichen, wenn jemand wiederkommt. Das findet sie auch. Wie um zu zeigen, wie verdient das Lob ist, kümmert sie sich dann um mein Obst, wäscht es mit Wasser aus einer extra dafür vorgesehenen Vorrichtung und gibt mir noch ein paar Tipps zur Aufbewahrung.
17. November (Sonntag)
Im Radio höre ich, dass der Dosenöffner erst 60 Jahre nach der Konservendose erfunden wurde. Bis dahin musste man den Konserven mit Axt und Säge zu Leibe rücken.
Die Kanadier haben Frühstück bestellt, und Cristina fragt mich, ob ich mit ihnen frühstücken wolle. Sie finden es hier bei Cristina auch sehr schön, schätzen es vor allem, mal wieder warmes Wasser in der Dusche zu haben.
Sie erzählen von einem Ausflug zu einem Vulkan irgendwo hier im Lande, wo sie die Nacht draußen verbracht haben. Und von einer Fahrt mit einem flugzeugartigen Gefährt über eine ruckelige Straße, bei der sie ganz schön durchgeschüttelt wurden. Den Rückweg haben sie dann hinten auf einem Pick-up sitzend zurückgelegt.
Panama haben sie in acht Stunden besichtigt, zwischen Ankunft aus Montreal und Abflug nach El Salvador. Sie haben direkt am Flughafen ein Tour gebucht und haben sowohl die Stadt als auch den Kanal besichtigt.
Heute gehen sie ins Stadion, El Salvador spielt in der amerikanischen Nations League gegen Montserrat. Das ist ein winziger Staat auf den kleinen Antillen, ein britisches Überseegebiet. Für El Salvador ist es ein wichtiges Spiel. Sie wollen die Tabellenführung festigen und in die Liga A aufsteigen.
Die ganze Nacht hindurch hat es geregnet, gegen Vormittag lässt der Regen etwas nach, aber bei mir springt heute nichts als ein kleiner Spaziergang in der Nachbarschaft heraus. Bei der Gelegenheit will ich kurz ausspionieren, wo sich Nelly befindet, ein Restaurant, das Cristina empfohlen hat. Es stellt sich aber heraus, dass es nicht gerade um die Ecke liegt, wie sie mir gesagt hatte, sondern mehr als drei Kilometer entfernt ist.
Stattdessen lande ich bei Elsy’s, einer Konditorei mit wunderbaren Torten in der Auslage. Die Temperatur ist auf Iglu-Niveau heruntergekühlt, aber das Tortenstück, das ich zu dem Kaffee bekomme, ist ein Gedicht. Beides zusammen für 2,30 $.
18. November (Montag)
Was ist besser, eine Tasse Kaffee oder eine Tasse Tee? Was den ökologischen Fußabdruck betrifft? Eindeutig: eine Tasse Tee. Der Tee braucht weniger Anbaufläche, weniger Wasser, und von den geernteten Teeblättern bleibt mehr übrig als von den geernteten Kaffeebohnen. Dazu kommt, dass man nur ca. 3 Gramm Tee pro Tasse braucht, aber 6 bis 8 Gramm Kaffee. Außerdem ist die Verarbeitung des Kaffees aufwändiger ist als die des Tees. Der Kaffee wird getrocknet, gewaschen, geröstet, gemahlen, der Tee im Wesentlichen nur getrocknet. Der lose Tee ist besser als der Beuteltee, aber da ist der Unterschied nicht so groß. Was mir aber das Wichtigste erscheint: Alle diese Faktoren verblassen gegenüber dem Faktor, der fast alles entscheidet: Das Kochen des Wassers bei der Zubereitung. Das nimmt mehr Energie in Anspruch als alles andere vorher zusammen! Am wenigsten schlägt der Transport zu Buche. Der erfolgt meistens per Schiff, und da spielen ein paar Container Tee oder Kaffee kaum eine Rolle!
Der ungebetene Gast hier heißt Sara, ein tropischer Regensturm. Während es hier „nur“ regnet, sieht es in Honduras viel düsterer aus. Dort hat es Erdrutsche und Überschwemmungen und einstürzende Brücken gegeben. Es scheint allgemein so zu sein, dass El Salvador durch die Berge von Honduras immer noch einigermaßen davonkommt, auch bei Hurrikans, die voll auf Honduras, Cuba und den Süden der USA treffen, aber hier nur sekundäre Wirkung haben.
Die Kanadier fliegen heute zurück. Nur einer von ihnen lebt in Kanada, in Montreal, ist aber erst als erwachsener Mann ausgewandert. Es hat beide Pässe und den Fehler gemacht, hier mit seinem kanadischen Pass eingereist zu sein. Dadurch musste er eine Gebühr bezahlen, mit dem belgischen wäre er gratis reingekommen.
Sie sind beim Fußball gestern ordentlich nass geworden. El Salvador hat gewonnen, 1:0, aber Montserrat habe sich gut geschlagen, sagen sie. Es hat gerade mal 5.000 Einwohner.
Wir unterhalten uns über die alten Zeiten im Fußball und das Sammeln von Panini-Bildern. Ich erinnere mich noch von ganz früher an Paul van Himst, aber das war vor ihrer Zeit. Er spielte für RSC Anderlecht. Das ist der Verein des Kanadiers, der andere hält zu Standard Lüttich. Er versteht erst gar nicht, als ich das sage, dass damit Liège gemeint ist.
Jessy hat heute frei und will mich zur Puerta del Diablo fahren, einer besonderen Steinformation, einem klassischen Ausflugsziel in San Salvador. Aber der Ausflug fällt ins Wasser, im wörtlichen Sinne.
Heute fehlen auch die Straßenkünstler, die man sonst an den Kreuzungen sieht, Jongleure, Stelzenläufer, Autoscheibenputzer.
Jessy schlägt vor, einfach eine Runde im Auto durch die Stadt zu drehen, und das machen wir dann auch. Wir kommen an einem Gymnasium vorbei („eins der besten“), an einer Leichenhalle, an der Plaza Salvador del Mundo, an einer Methodistenkirche, die aussieht wie das Empire State Building in klein, an der Amerikanischen Botschaft („der größten der Welt“), an einem Park, an einem Einkaufszentrum, an noch einem Einkaufszentrum, an noch einem Einkaufszentrum.
Wir kommen an einer Klinik vor, ein ziemlich niedriger Zwillingsbau. Sie erklärt die Bauweise als Resultat der Erfahrung mit Erdbeben, die größere Gebäude zum Einsturz gebracht hätten. Dagegen spricht aber das riesige Gerichtsgebäude, an dem wir später vorbeikommen.
Am liebsten zeigt sie mir, wo es teure Häuser gibt und nennt mit Ehrfurcht die Preise. Mit Haus ist in der Regel ein Einfamilienhaus gemeint, aber auch die Wohnungen in den teuren Wolkenkratzern am Fuße des Vulkans zählen dazu.
Auf dem Rückweg kommen wir auch noch an dem Stadion vorbei, dem Estadio Cuscatlán, schon ganz in der Nähe meiner Wohnung. Das Wort Cuscatlán ist in den letzten Tagen immer wieder aufgetaucht, es scheint eine ältere Stadt zu sein, die jetzt mit San Salvador verwächst. Auch hier gibt es teure Häuser.
Wir gehen essen in dem Lokal einer Kette mit dem Namen San Martín. Sie isst Lasagne, ich esse einen Salat. Dazu gibt es einen Saft, den ich noch nie getrunken habe. Sieht blau-gräulich aus, und die winzigen Samen schwimmen oben im Glas. Die Frucht heißt Chia, wird hier aber chan genannt.
Draußen regnet es weiterhin in Strömen. Das Wetter kann sie sich überhaupt nicht erklären. So eine Regenperiode um diese Zeit, das habe sie noch nie erlebt.
Durch das Fenster fällt mein Blick auf ein Firmenschild außerhalb: Freund. Wir gehen rein, einfach um zu sehen, was das ist. Es ist kein Einkaufszentrum, wie ich vermutet habe, sondern – ein Baumarkt! Mein erster lateinamerikanischer Baumarkt. Die Artikel, alle sehr säuberlich präsentiert, scheinen chinesischer Provenienz zu sein.
Dann fahren wir nach Santa Tecla und an Jessys Arbeitsstelle vorbei, der Gerichtsmedizin. Sie arbeitet seit 22 Jahren dort. Viel verändert habe sich nicht, sagt sie, nur die Protokolle seien umständlicher geworden. Später fahren wir auch noch an dem Gerichtsgebäude vorbei, wo sie als Expertin aussagen muss, wenn die Todesfälle ungeklärt sind.
Sie hat heute Nachtdienst gehabt, bis um 7 Uhr, hat dann ihre demente Mutter, die am Wochenende bei ihr wohnt, zu ihrem Haus gefahren, wo sie während der Woche betreut wird, und hat dann noch das Auto in die Werkstatt bringen müssen. Von Müdigkeit keine Spur, aber vielleicht ist sie nur zu höflich, das zu zeigen.
Sie könne bei der Nachtschicht ganz gut schlafen, müsse aber natürlich immer bereit sein. Heute Nacht habe es nur ein levantamiento gegeben, das muss wohl so Art Leichenschau sein, ein Verkehrsunfalltoter. Sie haben einen Fahrer und einen Sanitäter. Sie selbst begutachtet die Leiche nur, sie braucht sie nicht zu berühren. Sie muss bei ihrem Beruf schlimme Dinge erleben, spricht aber relativ gelassen darüber.
Auf dem Rückweg frage ich noch nach dem Dollar und der Einführung des Dollars als Währung. Ja, erst einmal sei das ein bisschen ein Verlust nationaler Identität. Auch sei es kostenintensiv für den Staat. Ob es unter dem Strich gut oder schlecht ist, will sie nicht sagen, es habe Vor- und Nachteile. Man dann aber noch eine Rechnung auf, die zeigen soll, dass die Einkäufe für den Alltag früher mit dem Colón günstiger waren.
Als ich nach Hause komme, erzählt Cristina, nächste Woche komme ihr Sohn aus Deutschland zu Besuch. Ich verpasse ihn um zwei Tage.
19. November (Dienstag)
Cristina ist ganz aufgelöst. Sie hat Handwerker gehabt, die die Arbeit begonnen, aber nicht abgeschlossen und ihr jetzt gesagt haben, dass sie nicht wiederkommen. Und das, obwohl sie schon einen Vorschuss bekommen haben. Sie hat ein oberes Stockwerk des Hauses gemietet und will dort auch an Reisende vermieten. Das sollte alles bis Dezember fertig werden, denn Dezember ist der beste Monat. Da kommen die ganzen Exil-Salvadorianer nach Hause.
Ihr Sohn kommt eher, denn er hat im Examens-Stress vergessen, sein Studentenvisum zu verlängern und muss jetzt mit einem Schreiben seines Arbeitgebers nach El Salvador kommen, hier 90 Tage bleiben und versuchen, das bei der Deutschen Botschaft zu regeln.
Auf der Suche nach einem Fernbus für die Weiterreise stoße ich auf ein Busunternehmen, das – auf Englisch – damit wirbt, dass es bei ihnen an Bord Fernsehen, verstellbare Sitze und ein WC gibt. Das WC heißt bei ihnen Batroom.
Interessante kulturelle Erfahrung an der Supermarktkasse. Ich lege meine Waren auf das Band, und die Kassiererin fragt: „¿Ticket?“ Was? Ticket? Brauche ich ein Ticket? Hätte ich irgendwo ein Ticket ziehen müssen? Die Kassiererin merkt meine Verwirrung und kassiert einfach. Später erklärt Cristina: Man muss die Frage nach dem Ticket bejahen, wenn man eine besondere Rechnung, z.B. für geschäftliche Zwecke, benötigt!
Heute geht es nach Santa Ana. Auf dem Weg zum Bushahnhof fällt mir auf, dass bei den Autos hier asiatische Fabrikate vorherrschen: Toyota, Nissan, Hyundai, Kia. Dazwischen gelegentlich ein Chevrolet. Deutsche Fabrikate sieht man kaum, französische und italienische auch nicht.
An dem Busbahnhof stehen auf dem ganzen Hof verstreut Dutzende von Bussen, aber man schickt mich sofort zu dem richtigen. Die Fahrt kostet gerade mal 1,30 $.
Punkt 11 Uhr geht es los. Wir fahren eine geschlagene halbe Stunde im Schritttempo. Dann kommt ein Fahrerwechsel. Den nutzen ambulante Verkäufer, um im Gänsemarsch durch den Gang zu eilen und laut rufend ihre Produkte anzubieten.
Dann stehen wir an einer Baustelle, aber danach geht es doch ganz zügig weiter, über eine Landstraße in passablem Zustand. Viel von der Gegend sieht man nicht, da überall die Vorhänge zugezogen sind. Der Himmel ist bewölkt, aber es gibt Wolkenlücken, und es regnet nicht!
Die Fahrt gibt mir Gelegenheit, etwas über El Salvador zu lesen. Als erstes stolpere ich über den Namen Cuscatlán, den Namen der Stadt oder des Stadtteils, durch den wir gestern gekommen sind. Das ist der alte Name des Landes, von Einwanderern aus dem heutigen Mexiko, Azteken und Olmeken, mitgebracht. Er bedeutet ‚Land der Juwelen‘.
Bevor der Kaffee der große Renner war – er machte Anfang des 20. Jahrhunderts 92% des nationalen Einkommens aus – war Indigo der wichtigste Exportartikel. Der geriet durch die Erfindung chemischer Fasern ins Hintertreffen.
Die FMLN, die frühere Guerillabewegung, kam, nachdem sie sich zu einer normalen politischen Partei entwickelt und in den Friedensverhandlungen wichtige Sozialreformen durchgesetzt hatte, 2009 an die Macht. Aber bei den nächsten Wahlen reichte es nur noch zu einer Minderheitsregierung, und dann kamen Korruptionsskandale ans Licht und die Konservativen kamen an die Macht. Es verbreitete sich die Stimmung, dass links und rechts gleich korrupt seien, und das bereitete den Weg für den Populisten Bukele.
Neben mich hat sich ein hagerer, uralter, fast zahnloser Mann mit Ho-Chi-Min-Bart gesetzt. Er bewegt sich auf Krücken. Die hat er an seine Seite gestellt. Seine Enkelin reicht ihm seine Brille, eine Brille mit dicken Gläsern, und er liest in einer Zeitung, schläft aber nach zwei Minuten ein.
Kurz vor dem Ziel wird er wach und spricht mich an. Ich habe höllische Schwierigkeiten, ihn zu verstehen, aber das eine oder andere Detail kommt am Ende doch dabei heraus.
Er kommt aus San Miguel, einer Stadt im Osten des Landes, der zweitgrößten. Er blättert in seiner Zeitung und zeigt am Ende auf eine Seite, wo Bilder von einem Schönheitswettbewerb zu sehen sind. Er zeigt auf die Schönheitskönigin und sagt voller Stolz, die komme aus San Miguel. Immer wieder fällt das Wort Karneval, es scheint jetzt hier Karnevalszeit zu sein.
Ob er hier zu Besuch ist in Santa Ana, frage ich. Nein, er kommt zu einem Gerichtstermin. Irgendwer hat ihn auf der Straße angefahren, und es geht um Schmerzensgeld.
Als er hört, dass ich aus Deutschland komme, sagt er „¿Alemania?“. Und dann, nach einigem Nachdenken: „¡Hitler!“ Und lacht in sich hinein. Hitler, ja das sei ein pícaro gewesen, ein Spitzbube. Aber ihm habe Deutschland zu verdanken, dass es ist, was es heute ist.
Wir steigen, statt an einem Busbahnhof, am Straßenrand aus. Hier ist ganz schön was los. Verkaufsstände, Imbissstände, Autos, Motorräder, alles ziemlich durcheinander. Beim Überqueren der Kreuzung muss man höllisch aufpassen, aber ich richte mich nach den Einheimischen.
Ein Taxifahrer kann mit meiner Adresse nichts anfangen, er will unbedingt den Namen des Hotels wissen. Eine Frau an einer Tankstelle weiß auch nicht Bescheid. Ein Passant rät mir, den Bus zu nehmen und in die Innenstadt zu fahren. Glücklicherweise bin ich leicht bepackt. Ein junger Mann zeigt mir, in welchen Bus ich einsteigen soll, steigt selbst mit ein und deutet, als ich ihn schon längst aus den Augen verloren habe, an, wo ich aussteigen soll.
Kaum bin ich ausgestiegen, schon sehe ich über die Dächer der Häuser hinweg die Spitzen der Türme der Kathedrale. Und auf dem Weg dorthin komme ich zufällig an der 1a Avenida Norte vorbei. Da ist meine Unterkunft.
Ich gehe aber kurz zu dem zentralen Platz mit der Kathedrale. Die ist ganz unamerikanisch, neugotisch, aber so „gut“ gemacht, dass man glaubt, vor einer mittelalterlichen Kirche zu stehen.
An einer Seite des Platzes liegt das Theater, und ein Mann sagt mir sehr freundlich durch die Gitter hindurch, heute sei geschlossen, aber morgen gebe es ab 10 Führungen.
Ich gehe zurück zur 1a Avenida Norte, kann aber auf Gedeih und Verderb die Unterkunft nicht finden, obwohl ich auch die Querstraßen kenne, zwischen denen sie liegt. Die meisten haben keine Ahnung, aber eine junge Frau weiß Bescheid: noch zwei Blöcke weiter. Dann sagt mir ein Mann, da drüben, das weiße und gelbe Haus, da sehe er öfter Reisende ein- und ausgehen. Und er hat recht. Das ist das Haus.
Vor der Tür ein Gitter. Aber man kann durch die Stäbe greifen und das Gitter von innen aufmachen. Dann steht man vor der Tür. Dort ein Gerät mit einem Display, das aber schwarz ist. Nach einigem Hin und Her öffnet sich durch Berühren ein Zahlenfeld. Ich gebe meine Ziffern ein und drücke auf ein Symbol unten links. Nichts. Dann auf ein Symbol unten rechts. Wieder nichts. Plötzlich steht die junge Frau von vorhin neben mir. Ich solle mal beide Symbole gleichzeitig drücken. Auch nichts. Oben an der Wand sei auch eine Klingel. Da müsse doch jemand öffnen. Es tut sich aber nichts. Sie bietet mir sogar an, ihr Telefon zu benutzen, aber ich habe keine Telefonnummer, kann den Vermieter nur über die Plattform erreichen. Gibt es nicht vielleicht irgendwo ein Lokal, wo man Internetzugang hat? Ja, gibt es, das Pollo Campero. Sie begleitet mich dorthin. Sie heißt Ester. Sieht viel jünger aus, aber ist schon 29 und hat bereits einen Universitätsabschluss. Momentan betreibt sie einen Internethandel mit Kleidung, aber demnächst wolle sie in die USA. Ihr Mann lebt bereits da.
Im Pollo Campero funktioniert das Internet tatsächlich, und ich bekomme umgehend Antwort. Ich sei zu früh, sagt der Vermieter, er habe die Verbindung noch nicht freigeschaltet.
Dann klappt es mit dem Zutritt zu der Unterkunft. In meinem Zimmer, sehr bescheiden eingerichtet, liegt ein Schlüssel, aber es gibt keine weitere Information.
Es gibt weitere Zimmer und eine etwas schmuddelig aussehende Küche. Dann erscheint eine Frau mit zwei kleinen Kindern. Sie zeigt mir, wo ich den Internetzugang finde und wie ich die Haustür von innen und von außen verschließen kann. Beim Verschließen von außen muss man die Hand über das Display legen. Wie man von selbst darauf kommen soll, ist mir ein Rätsel.
Ich gehe wieder zum Parque Libertad. So heißt hier der zentrale Platz mit der Kathedrale. Die ist der Nachfolgebau eines früheren Baus, der durch einen Blitz zerstört und dann endgültig abgerissen wurde. Bei dem Neubau ging jeder koloniale Eindruck der Kirche verloren. Das erklärt, dass man sich hier wie in Europa vorkommt. Vielleicht mit der Ausnahme, dass die Kirche weiß gefasst ist.
Die Fassade, mit zwei aufgesetzten, spitz zulaufenden Türmen, hat kein Bildwerk, aber gotische Fenster und einer Rosette. Lisenen mit gotischen Formen rhythmisieren die Fassade und betonen die Vertikale.
Das ist auch innen der erste Eindruck. Der Blick geht automatisch in die Höhe, auch die Seitenschiffe sind sehr hoch, fast in der Form einer Hallenkirche. Die Säulen haben eine ungewöhnliche Farbe, so etwas wie altrosa.
Die Ausstattung ist nichts Besonderes, die Gemälde sind kitschig, und im Westen steht im südlichen Seitenschiff ein Christus mit Dornenkrone mit natürlichem Haar, der gruselig aussieht.
Einzig ganz schön die Figur des Hl. Rochus, der seinen Rock anhebt, um auf seine Pestbeule zu zeigen. Neben ihm der Hund, sein typisches Attribut. Rochus, ursprünglich aus Montpellier stammend, hatte sich in Italien um die Pestkranken gekümmert und war dann selbst erkrankt. Daraufhin zog er sich in einen Wald zurück. Der Hund eines hohen Herrn aus der Stadt spürte, dass was nicht stimmte und brachte ihm jeden Tag ein Stück Brot, das er von dem Tisch seines Herrn gestohlen hatte. Der wunderte sich irgendwann, dass der Hund immer in derselben Richtung verschwand und folgte ihm eines Tages, fand Rochus und nahm ihn bei sich auf.
Dabei lasse ich es im Moment bewenden. Gegen Abend gehe ich noch mal raus, um mich in einem Supermarkt mit dem Nötigsten auszustatten. Als ich herauskomme, ist es stockdunkel, und ich werde mit der Ansicht der hell erleuchteten Kathedrale belohnt.
20. November (Donnerstag)
Auf dem Weg zum Parque Libertad merke ich, warum das mit der Orientierung hier im Zentrum gestern so ein Problem war. Die Straßenschilder stehen nicht längs, sondern quer zu der Straße, die sie bezeichnen!
Am Parque Libertad steht auf der einen Seite die Kathedrale, auf der gegenüberliegenden Seite der neoklassische, gelb gefasste Palacio Municipal, mit einem Uhrenturm, der sofort ins Auge fällt, weil der Uhr die Zeiger fehlen. An der Seite das Theater, in Lindgrün, zweistöckig, mit offenen Arkaden unten und oben. Quer zum Platz steht an einer Ecke noch ein weiteres Gebäude, das ganz aus dem Rahmen fällt und nur schwer einzuordnen ist. Hat was von Jugendstil. Es handelt sich um das Kasino. Damit ist nicht Kasino im Sinne von Spielbank gemeint, sondern ein Saal für Feste, Kongresse, Seminare. Alle diese Bauten dürften innerhalb weniger Jahrzehnte um die Jahrhundertwende herum entstanden sein.
Auf dem Platz und um den Platz herum herrscht eine schöne Atmosphäre, es ist viel Volks unterwegs, aber es geht dabei ganz ruhig zu. Viele sitzen einfach auf den Steinbänken und genießen den Tag. Das Wetter spielt auch mit, heute kommt sogar mal die Sonne raus.
In der Mitte des Platzes ein Pavillon, und an einem Ende des Parks eine Freiheitsstatue, mit Fackel und Köcher, auf einem niedrigen Podest.
Am Rande des Parks fällt mir ein Schild ins Auge: Prohibido fumar. Jetzt erst merke ich, dass ich in all den Tagen hier noch niemanden habe rauchen sehen.
Ich gehe ins Theater, zu der Führung. Ausländer zahlen 5 $. Die Führung geht auch gleich los. Außer mir nur noch ein mexikanisches Ehepaar. Die Frau ist still und macht Photos, der Mann lässt keine Gelegenheit aus, Kommentare zu machen.
Im Foyer erfahren wir, dass die Initiative zum Bau des Theaters auf einen Präsidenten zurückgeht, der aus Santa Ana stammte. Er schlug einfach eine Zusatzsteuer auf den Kaffee drauf, und man konnte das Theater mit den besten Materialien errichten. Verschiedene Ausstattungsstücke kommen aus Belgien, der Architekt ist Italiener. Der Präsident selbst erlebte die Vollendung des Theater nicht mehr.
Der eigentliche Theatersaal ist schön, mit Weinrot als Grundfarbe. Das Theater hat Parkett und drei Ränge. Der obere war für Arbeiter reserviert. Die kamen durch einen gesonderten Eingang ins Theater. Sie sollten nicht in Kontakt mit der Oberschicht kommen. Besondere Regelungen galten auch für Witwen. Die mussten zwei Jahre Trauer tragen, und im Theater waren ihnen die Logen neben der Bühne vorbehalten. Sie wurden vor allen anderen Zuschauern eingelassen und nach allen anderen rausgelassen.
Es passten damals 600 Zuschauer in das Theater, heute sind es 400. Die Eintrittspreise variierten zwischen einem halben und drei Colón.
In der flachen Kuppel mehrere Gemälde, wie ein Rad um das Zentrum herum angeordnet. Am Rande des Kuppel die Porträts bekannter Komponisten der Zeit, darunter Verdi und Wagner.
Eine Kuriosität gibt es hinsichtlich der Bestuhlung. Es gab Stühle mit und ohne Armlehne. Die mit Armlehne waren für die Männer, die ohne Armlehne waren für die Frauen. Für deren weite Krinoline-Kleider wären Armlehnen nur störend gewesen. Später sehen wir in einem Ausstellungsraum zwei Exemplare dieser Stühle, mit einer geflochtenen Sitzfläche aus Korb, lose stehend.
Das Theater wurde 1910 mit dem Rigoletto eingeweiht, verfiel aber im Laufe der Jahrzehnte und wurde dann in ein Kino umgewandelt. In der Ausstellung sieht man noch Filmrollen und einen Projektor.
Über eine schöne, geschwungene Treppe geht es nach oben. Dort befindet sich im Zentrum ein großer Ballsaal, mit Parkettboden. An der Decke ein Gemälde, das die Apotheose der Kunst zeigt, mit geflügelten Gestalten mit Leier und Harfe. Diese Gemälde wurden nicht an die Decke gemalt, sondern auf dem Boden gemalt und dann oben angebracht.
An den Seiten die Büsten von Shakespeare und Dante, wobei Dante eigentlich im Theater kaum etwas zu suchen hat.
Der Ballsaal geht auf die große Terrasse hinaus, von der man einen schönen Blick auf den Parque Libertad hat.
An den Seiten des Ballsaals jeweils ein Salon, einer für die Damen, einer für die Herren, deckungsgleich, aber mit „weiblichen“ und „männlichen“ Farben, unserer Führerin zufolge. Was damit wohl gemeint ist? Die weiblichen Farben sind wohl eher Pastellfarben, die männlichen Farben eher Erdfarben.
Auch hier Deckengemälde, wobei das in dem Salon der Herren auf dessen Funktion als Rauchzimmer anspielt: eine nackte, durch die Luft fliegende Venus mit einer brennenden Zigarre in der Hand!
Nach der Führung mache ich irgendwo eine kleine Trinkpause und frage mich dann zum Museum durch, dem Museo Regional. Hier treffe ich an der Rezeption auf einen Mann, der auf mein Spanisch mit Englisch antwortet. Er wolle einfach sein Englisch praktizieren. Den Gefallen tue ich ihm. Wir kommen ins Gespräch, und als ich ihn nach der Führung nach dem Simmer Down frage, einem im Reiseführer empfohlenen Restaurant, begleitet er mich sogar dorthin. Und verrät mir, dass er Douglas heißt. Wie Kirk und Michael. Aber Duglas gesprochen.
Durch das Museum werde ich von einer jungen Frau geführt. Es ist eher für Kinder konzipiert, soll die Kinder mit der Vergangenheit des Landes vertraut machen. Lohnt sich aber auf jeden Fall, obwohl es kaum echte Exponate gibt.
Es beginnt mit dem Mais, der Lebensgrundlage der alten Kulturen ganz Lateinamerikas. Hier ist ein ganzes Maisfeld aus Pappmache aufgestellt. An jeder Pflanze hängt ein Schild mit einem Bild und dem Wort für dieses Objekt auf der Rückseite. Ich suche mir eine Schnecke raus. Die heißt shuti.
In einer Vitrine sind Gefäße der alten Maya ausgestellt: eins mit zoomorphischen Ornamenten, man sie immer wieder sieht, eine bemalte Schüssel mit Hieroglyphen und ein schöner Becher für rituelle Zwecke.
In einer anderen Vitrine ist Indigo ausgestellt, in Form des Farbstoffes selbst sowie in Form von bedruckten Baumwolltüchern.
Dann ist von dem Volcán Molesto die Rede, dem Erbosten Vulkan. Damit ist der Izalco gemeint. Der ist nämlich 1932 ausgebrochen, nach dem Massaker an den Indios. Die hatten sich aufgelehnt, nachdem ihre Arbeitsbedingungen immer schlechter wurden und sie, teils durch Bestechung, teils durch Druck, immer mehr eigenes Land verloren hatten. Das Land ging in die Hände der Ladinos über, Mestizen, die so genannt wurden, weil sich al lado, am Rande der Siedlungen der Indios wohnten. Auf einem Photo sieht man den Unterschied in der Qualität der Behausungen. Als letzter Auslöser der Rebellion kam die Weltwirtschaftskrise hinzu, die die Lebensverhältnisse noch weiter verschlechterten.
An einer Wand hängen die typischen Anzüge der Maya-Männer, aus Leinen. Auch sie stehen im Zusammenhang mit dem Massaker, denn sie wurden Jahre später in den Massengräbern entdeckt, teils noch blutgetränkt.
Dann gibt es ein christliches Kreuz, mit einer Art Stola behängt und mit allerlei Früchten drum herum. Dies ist ein Beispiel für den Synkretismus der Maya-Religion, denn das Kreuz ist aus einem Holz gefertigt, jiote, das wieder neu wächst, wenn man es in die Erde rammt. Es dient deshalb als Fruchtbarkeitssymbol.
Zum Bürgerkrieg sieht man Zeichnungen, die Kinder gemacht haben, die den Bürgerkrieg erlebt haben, einige ganz neutral, andere, in denen die Grausamkeit auf kindliche Art ihren Ausdruck findet.
Auf einer Weltkarte sind Fäden gespannt, die alle ihren Ausgang in El Salvador haben. Sie zeigen, in welche Länder die Salvadorianer ausgewandert sind während oder wegen des Bürgerkriegs, nämlich in praktisch alle. Allein in die USA, sagt mir die junge Frau, seien damals 1 Million Menschen von insgesamt 4 Millionen ausgewandert. Unvorstellbar.
Wir kommen ins Gespräch, und als sich herausstellt, dass ich aus Deutschland komme, sagt sie, sie möge Deutsch und wollte es schon immer gerne lernen. Sie sagt auch verschiedene kurze Sätze auf Deutsch, mit perfekter Aussprache.
Dann gibt es noch in einer Vitrine eine Urne zu sehen, modern, aber den alten nachgebildet. Das ist die Urne von Claribal Alegría, einer Dichterin, Übersetzerin und Sprachwissenschaftlerin, von der hier ihr Roman Cenizas de Izalco ausgestellt ist. Sie stammte aus Nicaragua, war aber El Salvador ebenso verbunden wie ihrem Heimatland. Deshalb ruht die Hälfte ihrer Asche hier in dieser Urne, die andere Hälfte in Nicaragua.
Abschließend geht es noch in den Keller. Hier befand sich der Tresorraum der Nationalbank, die in diesem Gebäude, wo jetzt das Museum ist, beheimatet war.
Man sieht zuerst Kakaobohnen, die klassische Ersatzwährung der Maya. Für die meisten Waren scheint es feste Preise gegeben zu haben, vom Maiskolben bis zum Sklaven.
Die ersten Münzen, Silbermünzen, gab es in der Kolonialzeit. Sie hießen Macacos. Sie hatten keinen festen nominellen Wert, was zählte, war der materielle Wert. Deshalb wurden sie oft geteilt, Stücke wurden abgetrennt, um dem Preis der jeweiligen Ware zu entsprechen. Alle hier ausgestellten Münzen sind entsprechend „angefressen“.
Nach der Unabhängigkeit wurden sowohl Münzen als auch Geldscheine oft von Privatbanken geprägt, Privatbanken, die von den großen Landbesitzern betrieben wurden. Die Motive der Geldscheine betonen die Bedeutung der Landwirtschaft, das Design ist eher europäisch, denn die Söhne der Familien wurden oft auf Bildungsreise nach Europa geschickt.
Erst ziemlich spät kommen Münzen und Geldscheine auf, die von der Nationalbank geprägt wurden. Zuerst war es der Peso (die 25-Peso-Münze hieß Peseta), erst dann kam der Colón, dann der Dollar.
Ganz modern sieht die neueste Serie der Geldscheine des Colón aus, aber ihnen war keine lange Lebensdauer vergönnt. Schon kurz danach kam der Dollar. Die Scheine mit den höheren Werten wurden zwar noch gedruckt, kamen aber gar nicht mehr in den Umlauf!
Nach der Führung gehe ich ins Simmer Down, gleich am Parque Libertad gelegen. Dort sieht man ein ganzes Heer von uniformierten Kellner, Köchen und Bediensteten an der Theke. Hier wird vor Ort gegessen, aber auch bestelltes Essen abgeholt. Immer wieder klingelt die Glocke an der Theke, und Kellner schreiten mit großen Tabletts durch den Raum und die Treppe rauf. Ich bestelle Pasta und ein Bier, das erste seit drei Wochen. An den anderen Tischen werden Gerichte serviert, die Lust auf Wiederkommen machen.
Als ich später bei offener Tür zu Hause am Schreibtisch sitze, kommt die Frau mit den beiden Kindern von gestern in die Anlage. Sie arbeitet hier, als Putzfrau. Den Kindern gebe ich eingepackte Gebäckstücke, die ich gestern in rauen Mengen im Supermarkt gekauft habe. Die Mama nimmt auch eins. Das Gebäck habe ich gekauft wegen des wunderbaren Aufdrucks. Oben steht Pan dulce alemana und unten Hay cosas que sólo son Salvadoreñas. Dann biete ich den Kindern an, die Weintrauben zu probieren, die ich gestern gekauft habe. Das Mädchen nimmt ein paar und nimmt gleich ein paar für die Mama mit. Der kleine Junge, vielleicht zwei Jahre alt, kommt zu mir, bleibt vor der geöffneten Tür stehen, guckt mich schüchtern an, kommt rein und pflückt dann mit Mühe eine einzige Traube und verschwindet. Diese Aktion wiederholt sich dann immer und immer wieder. Nie nimmt er mehr als eine Traube.
21. November (Donnerstag)
Sowohl Magret Mead als auch Derek Freeman, beide Anthropologen, machten über viele Jahre Feldforschung in Samoa. Sie lernten die Sprache, wurden mit den Kulturen vertraut und von den Einheimischen akzeptiert. Und dennoch kamen sie zu diametral entgegengesetzten Ergebnissen. Für Mead waren die Samoaner das Paradebeispiel des „edlen Wilden“, freiheitsliebend, im Einklang mit der Natur, frei von gesellschaftlichen Zwängen, lebensbejahend, das Gegenprogramm zur westlichen Kultur. Freeman dagegen sah eine Gesellschaft, die von Zwängen, Ängsten und Tabus geprägt war und von Gewalt in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Vor allem, was die Heranwachsenden betrifft, hatten sie ein völlig anderes Bild von den Samoanern. Wie kann das sein? Beide waren vor Ort, beide haben Gründlichkeit walten lassen und sich viel Zeit genommen. Die gängige Erklärung lautet: Freeman hat seine Studien etwas später als Mead und an einem anderen Ort vorgenommen. Aber: Reicht das als Erklärung? Ich habe das Gefühl, dass da noch was anderes dahintersteckt, nämlich die Perspektive des Forschers. Beide sahen das, was sie sehen wollten. Das ist kaum zu vermeiden, auch, wenn es nicht immer zu so extrem unterschiedlichen Schlussfolgerungen führt. Für mich bedeutet das in erster Linie: Vorsicht vor allem, was angeblich „wissenschaftlich bewiesen“ ist.