3. November (Montag)
Deutschland erstreckt sich über 9 Längengrade, von Görlitz bis Aachen. Das bedeutet: dieselbe Uhrzeit, aber ein anderer Sonnenstand. Der Westen hinkt dem Osten hinterher. Es gibt nur eine einzige Stadt in ganz Deutschland, wo die Sonne mittags um 12 im Zenit steht, und das ist Görlitz, das genau auf dem 15. Längengrad Ost liegt. Eine Zeitzone umfasst 15 Längengrade, also ist man westlich von Dortmund, bei 7.5° Ost, vom Sonnenstand her schon näher am Nullmeridian dran, an Greenwich, als an Görlitz. Das gilt natürlich erst recht für Spanien. Madrid liegt sogar westlich von Greenwich, auf 4° West, Santiago sogar auf 9° West. Trotzdem gilt hier unsere Zeitzone, MEZ. Bei Portugal ist das anders. Dort gilt GMT, wie in England.
Seit Tagen haben wir nichts als Regen gehabt. In Madrid ähnlich, aber für diese Woche sieht es marginal besser aus. Apropos Regen: Wie schnell fallen eigentlich Regentropfen? Da bietet sich ein Vergleich mit Fallschirmspringern an. Die fallen mit einer Geschwindigkeit von 200 km/h und mehr. Regentropfen sind leichter und stoßen auf mehr Luftwiederstand, fallen also langsamer. Wenn sie dick sind, gehen sie in die Breite, sind dann zwar schwerer, treffen aber durch ihre Breite auf mehr Luftwiderstand. Sie fallen also genauso langsam, mit einer Geschwindigkeit von ca. 20 km/h (kann von 5 bis 50 variieren), und brauchen, wenn sie aus einer typischen Stratuswolke fallen, etwa drei Minuten bis zur Erde. Regentropfen sind also rund oder breit. Die typische Vorstellung, die wir von einem Regentropfen haben, ein Tropfen, der unten dicker ist und ober schmal ausläuft, so wie man ihn auf der Wetterkarte oder in Symbolen auf Haushaltsgeräten sieht, den gibt es in Wirklichkeit nicht. Wenn überhaupt, dann bei einem langsam tropfenden Wasserhahn.
Auf dem Rollfeld in Luxemburg, über das wir zum Flugzeug gehen, bläst einem der Wind die Gischt ins Gesicht. Die Wetteraussichten für Madrid sind zwar auch nicht gerade vielverheißend, aber es kann wohl nur besser werden.
Im Flugzeug bin ich von einer Gruppe französischsprechender junger Männer mit blau-gelben Fußballschals umzingelt. Den Verein kann ich nicht identifizieren, aber das Internet hilf: Saint-Gilloise, belgischer Meister. Die spielen morgen gegen Atlético Madrid.
Als wir auf den Abflug warten, kommt mir die Frage in den Sinn, warum bei Flugzeugen der Einstieg immer links ist, auf der Seite des Piloten. Vielleicht ist das die Schauseite. Die praktische Erklärung ist, dass rechts das Gepäck eingeladen wird. Aber es könnte ja auch umgekehrt sein. Und es scheint, unabhängig von Kontinent und Fluglinie, überall gleich zu sein.
In Madrid geht es zügig am Flughafen. Bei der Touristeninformation empfiehlt man mir den Bus, um in die Stadt zu kommen. Der fährt nach Atocha, hat nur drei Haltestellen und kostet nur 5 Euro. Eigentlich wollte ich ein Taxi nehmen, nicht aus Bequemlichkeit oder wegen der Müdigkeit, sondern aus Angst vor der Suche nach der Unterkunft im nächtlichen Madrid, mit allen Wertsachen und Unterlagen. Die Befürchtung erweist sich aber später als gegenstandslos.
Im Bus wird man aufgefordert, mit Geldkarte oder Handy zu zahlen. Der Mann vor mir, vermutlich Marokkaner, will bar bezahlen, aber der Busfahrer kann seine 20 Euro nicht wechseln. Also zahle ich erst einmal für beide, und später im Bus kramt der Mann ein paar Münzen zusammen und gibt mir das Geld zurück.
Die Fahrt durch das nächtliche Madrid gleicht einer Sightseeingtour, nachdem wir das riesige Flughafengelände hinter uns gelassen haben: Puerta de Alcalá, Cibeles, Prado, Retiro, Neptuno und am Ende das palastartige Gebäude des Landwirtschaftsministeriums, alle hell erleuchtet. Dann kommen wir in Atocha an.
Viel Volks unterwegs, man kommt von der Arbeit oder trifft sich mit Freunden. Kleine Verkaufsstände am Straßenrand. Ganz gelassene Atmosphäre, keine Spur von Gefahr.
Vor dem Bahnhof eine lange Schlange am Taxistand. Ich beschließe, es zu Fuß zu versuchen. Es ist etwas kühl, aber nicht kalt, und es regnet nicht.
Ich weiß grob, in welche Richtung es geht, muss mich aber durchfragen: Santa María de la Cabeza? Scheint nicht so bekannt zu sein, obwohl es eine große Straße ist. Drei junge Leute zeigen mir, wo es langgeht, dann frage ich einen Aufpasser vor dem Reina Sofía. Der zückt sein Handy und zeigt mir den Weg. Es geht über zwei große Kreuzungen. Ein Straßenschild kann ich nicht entdecken, aber ein Mann in einem Kiosk bestätigt mir, dies sei die richtige Straße. Er geht sogar mit mir und klingelt nebenan an der Pension.
Es ist ein großes, älteres Mietshaus, und irgendwo ist die Pension. Ich fahre mit dem wackligen, etwas schmuddeligen Aufzug in die sechste Etage, aber hier ist nichts. Dann gehe ich die Treppe runter und schelle an der Pension. Der etwas unfreundliche Mann sagt, auf meinen Namen liege keine Reservierung vor. Er schickt mich in den sechsten Stock. Dort klingele ich an Tür Nummer 4, aber es tut sich nichts. Ich überlege, für die erste Nacht hier in der Nähe ein Hotel zu nehmen, bin schon an mehreren vorbeigekommen, da öffnet sich doch noch die Tür. Ein freundlicher Mann mittleren Alters nimmt mich in Empfang. Er drückt mir sofort einen Schlüssel in die Hand und lässt mich ihn ausprobieren. Es stellt sich heraus, dass er hier wohnt und dass ich der einzige Gast bin.
Wir setzen uns, und er kramt eine Karte von Madrid hervor. Zeigt mir, wo wir sind und empfiehlt eine Ausstellung im Reina Sofía und eine in Atocha, in einem der Bahnhofsgebäude. Und sagt mir, ich bräuchte die Metro gar nicht, von hier aus könne ich alles zu Fuß machen.
Dann geht es endlich zur Sache: Er zeigt mir das Bad und die Küche und dann mein Zimmer. Ja, hier könne ich alles ganz beruhigt liegen lassen. Hier komme kein Fremder rein. Am Ende bekomme ich noch den Internetzugang.
Das Zimmer ist winzig, ich finde kaum einen Platz, wo ich meine Sachen lassen kann. In einer Kommode bewahrt der Vermieter seine Sachen auf, und in dem Schrank auch, bis auf ein Fach mit zahlreichen Bügeln, das es für mich freigelassen hat.
Ich richte mich notdürftig ein und mache mich fertig für die Nacht. Um ins Bad zu kommen, muss ich über meinen Koffer und meinen Rucksack steigen. Aber damit werde ich für die nächsten fünf Tage wohl zurechtkommen.
4. November (Dienstag)
Ich werde früh wach und versuche erst einmal, mich etwas besser im Zimmer zu organisieren. Der Laptop passt so gerade auf den schmalen Schreibtisch, und darüber sind ein paar schmale Regalbretter, auf die man Wertsachen, Schreibutensilien und Unterlagen deponieren kann. Für den Koffer finde ich noch einen Platz neben seiner Koffersammlung oben auf dem Bett – man kann es zu einem Stockbett ausfahren – und mein Rucksack passt noch neben meine Füße unter dem Schreibtisch. Schon besser. Gestern habe ich fast bereut, doch nicht das teure Hotel gebucht zu haben, in dem ich vor ein paar Jahren mal war, zumal diese Unterkunft auch nicht gerade billig ist. Aber jetzt habe ich mich doch ganz gut hiermit arrangiert.
Das erste Ziel am ersten Tag ist die Casa Lope de Vega, das Haus in dem der große Dichter des spanischen Goldenen Zeitalters, der Konkurrent, Rivale und Feind von Cervantes in den letzten 25 Jahren seines Lebens wohnte. Die Casa Lope de Vega befindet sich ausgerechnet in der Calle Cervantes.
Als ich aus dem Haus gehe, ist es kühl und bewölkt, aber trocken, und im Laufe des Tages verschwinden die Wolken und es wird immer wärmer.
Das Reina Sofía ist wirklich nur einen Steinwurf entfernt. Es liegt an der etwas unübersichtlichen, langgezogenen Kreuzung, Carlos V., in die mehrere, teils sechsspurige Straßen einmünden.
Gleich hier auf dem Platz gehe ich in die Bar Pando, zum Frühstücken. Auf den Barhockern sitzen Männer wie auf einer Hühnerleiter, jeder mit sich selbst beschäftigt. Am Spielautomaten ein Hüne von Mann, ein Einwanderer, und in den Tischen in dem großen Wirtsraum sitzen vereinzelt Paare.
Auf dem Boden Papierfetzen, an der Theke vor dem Spalier von Flaschen – Whisky, Likör, Brandy – Lotterielose.
Aus den Lautsprechern kommt Musik, die eher karibisch klingt.
Ich bekomme zum Toast ungefragt Olivenöl und eine rote Paste statt Butter und Marmelade. 3,70 € für Kaffee und Toast. War auch schon mal günstiger. Von meinem letzten Aufenthalt habe ich Preise um die 2,50 € in Erinnerung.
Ich gehe den Paseo del Prado hinunter, da wo ich gestern in umgekehrter Richtung mit dem Bus entlanggefahren bin. Am Straßenrand der eine oder andere Bettler und ein Obdachloser, so tief in seine Decke gehüllt, dass man gar nichts von ihm sieht.
Die eisernen Rollladen der Geschäfte, die früher mit einem Ruck und lautem Krach nach oben geschoben wurden, werden jetzt von einem Elektromotor nach oben geschoben, der die Rollladen nur noch leise quietschen lässt.
Am Neptunbrunnen geht es in die Calle Cervantes ab. Die wirkt wie eine Fußgängerstraße, ist aber keine. Hier ist gefühlt jedes zweite Haus eine Bar oder ein Lokal.
Von der Calle Cervantes geht die Calle Quevedo ab, einem weiteren Mitstreiter von Lope und Cervantes. Der war besonders Góngora in inniger Feindschaft verbunden. Der wiederum wurde von Cervantes gelobt. Góngora war bekannt für seinen obskuren Stil, seine kaum zu entschlüsselnde Dichtung, mit zahlreichen klassischen Anspielungen, lauter Doppeldeutigkeiten (Atlas bezieht sich gleichzeitig auf die mythologische Gestalt und auf den Stoff), verwickeltem Satzbau, kühner Metaphorik. Da stand ihm aber Lope, wie ich aus leidvoller Erfahrung weiß, in nichts nach.
Alle vier – und außerdem noch Tirso de Molina, ein weiterer Stern am spanischen Literaturhimmel des Goldenen Zeitalters – wurden im 16. Jahrhundert geboren und starben im 17. Jahrhundert.
Auf dem Straßenbelag vor dem Haus in goldenen Lettern die Auskunft, dass Lope hier gelebt hat, von 1610 bis 1635. Es ist ein zweistöckiges Klinkerhaus mit Eisengittern vor den Fenstern und den typischen schmalen Balkonen oben.
Über dem Türsturz ein lateinischer Spruch, den man gar nicht so leicht entziffern kann: Parva propia magna / Magna alien parva. Ungefähr: Ungefähr: Das wenige Eigene ist viel / Das viele Fremde ist wenig.
An ein Geländer am Straßenrand hat jemand einen Aufkleber angebracht, auf dem 96 Kolsch steht, mit der stilisierten Doppelturmfassade des Doms als Striche über den O. Aus zuverlässiger Quelle erfahre ich, dass das ein Aufkleber des FC-Fanklubs Wilde Horde 1996 ist.
Nebenan ein Haus, vermutlich ein Lokal, über dessen Eingang steht: Menos mal que nos queda Portugal.
Ich bin noch viel zu früh, es geht erst um 10 Uhr los. Also muss ich noch mal in eine Bar. Diesmal gibt es zum Kaffee Toast mit Butter und Marmelade: 3,50 €.
Hier läuft der Fernseher, den aber, wie üblich, niemand beachtet.
An der Wand eine schöne Collage von schwarz-weiß-Photos von Madrid, die spanische Fahne und ein Schal von CD Retiro. Muss wohl ein lokaler Verein sein.
Auf dem WC ist der Griff, an dem man zur Spülung zieht, ersetzt durch das zusammengedrückte Innenteil einer Toilettenpapierrolle. Funktioniert!
An dem Kühlschrank ein Aushang mit südamerikanischen Speisen, die man hier bestellen kann: Tamales peruanos, Pan de jamón venezolano, Tarta de tres leches. Ich frage den Wirt danach. Es stellt sich heraus, dass er aus Peru stammt und auch in Kolumbien und Venezuela gelebt hat. Und er erwähnt mit einem Lächeln die Bandeja paisa, eins der beliebtesten traditionellen Gerichte in Kolumbien, eine Festplatte, die an Üppigkeit nicht zu übertreffen ist.
Jetzt ist es soweit, und die Führung in der Casa Lope de Vega beginnt. Nach der Einlasskontrolle sammeln wir uns im Garten, hinter dem Haus, rechteckig, von Mauern umgeben, Bäume, Sträucher, Gräser. Er sieht irgendwie ungeordnet und doch geplant aus. Die Erklärung: Jede dieser Pflanzen findet irgendwo Erwähnung im Werk von Lope. Die Präsenz eines Orangenbaumes erklärt sich daher, dass Lope mehrere Jahre lang in Valencia im Exil war.
Als erstes gehen wir in Lopes Arbeitszimmer. Wunderbar! Dicke Folianten in den Regalen, eisenbeschlagene Stühle mit Ledersitzen, ein schwerer Schreibtisch, eine Feder mit Tintenfass, ein Kerzenständer aus Messing und ein paar Bücher darauf. Ob die Möbel Lope gehörten, weiß man nicht, aber sie sind aus der Zeit, und das ganze Haus gibt die Atmosphäre der Zeit bestens wieder.
Neben dem Schreibtisch ein Porträt von ihm, ganz charakteristisch. Man erkennt ihn sofort, mit gepflegtem Haarschnitt und gepflegtem Schnäuzer. Die schwarze Kleidung und die weiße Halskrause lassen überdies die Epoche erkennen.
Über dem Türsturz ein weiteres Gemälde, ganz anders, wirkt wie ein Wimmelbild, könnte von Breughel sein, hat aber wohl einen religiösen Hintergrund.
Lope soll 300 Dramen (oder mehr) geschrieben haben, von denen sind allerdings „nur“ 60 erhalten. Als Dichter konnte man damals reich werden, jedenfalls wenn man so viel Erfolg wie Lope hatte. Für ein Drama bekam er 500 Reales, zu einer Zeit, als ein Arbeiter 1-2 Reales pro Monat bekam. Die Vorstellung seiner Stücke waren ausverkauft, und „Es de Lope“ wurde zu einer gängigen Redewendung, wenn etwas Qualität hatte.
Es gab aber auch Engpässe: Die Zensur, Ärger, wenn er sich mal wieder mit jemandem angelegt hatte, die Verbannung nach Valencia, nachdem er eine ehemalige Geliebte, eine verheiratete Frau, die ihn verlassen hatte, verleumdet hatte.
Außerdem hatte er einiges an Ausgaben. Er soll 14-16 uneheliche Kinder gehabt haben, einige sogar noch aus der Zeit, als er sich schon zum Priester hatte weihen lassen. Die letzte dieser unehelichen Töchter, Feliciana, wohnte in diesem Haus, überlebte ihn und wurde seine Erbin.
Die Weihe zum Priester ließ er nach einigen Schicksalsschlägen vornehmen. Er hatte beide Ehefrauen und seine beiden Töchter aus der ersten Ehe und seinen Sohn aus der zweiten Ehe verloren.
Seine letzte Geliebte war eine verheiratete Frau, die, als sie Witwe wurde, dennoch die Scheidung von ihrem Mann beantragte. Als ihre Sehfähigkeit abnahm und sie dement wurde, nahm er sie zusammen mit ihrer Tochter in sein Haus auf. Als die Frau bereits tot war, brannte die Tochter mit einem Mann durch, der sie dann sitzen ließ. Feliciana nahm sie dann bei sich auf. Zu dem Zeitpunkt war Lope bereits tot. Lauter Geschichten, bei denen sich Hollywood bedienen könnte.
Die nächsten beiden Räume sind die für das gesellige Beisammensein, beide mit einem Kohlebecken, einem brasero, in der Mitte, der erste für die Herren, der zweite, der ganz orientalisch eingerichtet ist mit Sitzkissen auf dem Boden, für die Damen.
In der kleinen Kapelle gerät sofort das Bild von San Isidro Labrador über dem Altar ins Blickfeld, mit langem Haar und Bart, kurzen Stiefeln und einem Rock über der Hose. In der Hand hält er ein Gerät, vermutlich etwas für die Landarbeit.
Auch ausgestellt in der Kapelle ist Lopes Messgewand, in Grün.
Auch weitere religiös motivierte Kunstwerke sieht man in anderen Räumen des Hauses, die Figur einer Madonna im Strahlenkranz, die ein Tier unter ihren Füßen zertritt, und ein wunderbar kontemplatives Bild einer Heiligen, einer Nonne in weißem Ornat, die vor einem Kreuz betet. An der Seite ein Totenkopf als Symbol der Vergänglichkeit.
An verschiedenen Stellen des Hauses ein Spiegel, aus Silber (statt Glas) und Ebenholz. Das muss ein Luxusgut gewesen sein.
Ebenso an verschiedenen Stellen kleine, wunderbare Kommoden und Anrichten, mit einer Unzahl von Fächern, Flächen und Schubladen.
In Lopes Schlafzimmer gibt es eine kleine Öffnung in der Wand, durch die er direkt auf den Altar der Kapelle blicken kann, ganz so wie der König im Escorial.
Lopes Bett ist ein Himmelbett. Ziemlich kurz geraten, was nicht so sehr mit der Größe der Menschen zu tun hat, sondern mit der sitzenden Körperhaltung beim Schlafen. Dafür hat man metaphysische Erklärungen gesucht, es hatte aber wohl auch mit Ernährung und Verdauung zu tun.
Diese schweren Mahlzeiten wurden in der Küche auf offenem Feuer unter einem Kamin zubereitet. Das Standardgericht war die Olla podrida, ein schwerer Eintopf. In der Küche sieht man Kacheln an den Wänden. Die stammen aus Lopes Zeit in Valencia.
Oben auf dem Kinderbett liegen alle möglichen Amulette. Die wurden gegen jedes denkbare Übel getragen, besonders gegen das mal de ojo. Dass dieser Aberglaube mit dem christlichen Glauben kompatibel war, sieht man an der Madonna an der Stirnseite des Bettes.
Nach Lopes Tod in diesem Haus gab es eine neuntägige offizielle Trauerfeier mit Leichenschau für das Volk. Der Friedhof, wo sich sein Grab befand, ging irgendwann in private Hände über, wurde vernachlässigt. Später wurden dann alle Knochen in ein Beinhaus überführt, und das wurde irgendwann zugeschüttet. Heute befindet sich an dieser Stelle ein Blumengeschäft.
Nach der Führung ist Eile geboten, damit ich die nächste Führung, für die ich eine Karte reserviert habe, nicht verpasse. Es geht zu den Descalzas Reales, dem alten Nonnenkloster.
Ich gehe den Paseo del Prado entlang. Im Hintergrund kann man die Türme von San Jerónimo sehen.
Der breite Mittelstreifen für Fußgänger und Flaneure ist mit riesigen Platanen bestückt, deren glatte Stämme sich erst ganz oben teilen. Nur wenige Blätter auf dem Boden, die Bäume haben noch nicht viele verloren.
Bei Cibeles geht es auf die Calle de Alcalá, die breite Avenue, die direkt ins Zentrum führt. Hier kommt mir ein belgischer Fan mit dem blau-gelben Schal entgegen.
Auf der Alcalá sieht man die typischen Hochhäuser mit chaflán, dem abgeflachten Ende eines schräg auf den Platz mündenden Hochhauses. Ebenfalls typisch: Eine Klosterkirche und direkt dahinter ein Hochhaus.
Ich komme an einem Verwaltungsgebäude der Comunidad de Madrid vorbei, mit den sieben weißen Sternen auf rotem Untergrund, dem versteckten Hinweis auf den Großen Bären, das Symbol des Bundeslandes Madrid.
Seine Entsprechung findet er im dem an einem Baum lehnenden, aufrecht stehenden Bären, dem Symbol der Stadt Madrid, dessen Statue an der Puerta del Sol steht. Da komme ich jetzt vorbei. Touristen berühren den inzwischen glatt geriebenen Schwanz des Bären.
Am Corte Inglés kommen mit Teilnehmer einer Palästinenser-Demonstration mit Fahnen entgegen.
Dann komme ich zum Kloster. Die Front nimmt praktisch die ganze Breite einer Seite des Platzes ein. In der Mitte die Kirche, aus Ziegelsteinen, mit einem kleinen durchbrochenen Glockenturm, ebenfalls aus Ziegelsteinen. Zu beiden Seiten die Klostergebäude, mit der typischen Madrider Bauweise, Ziegelsteinen mit größeren Flächen von mampostería, einem Gemisch aus Stein und Mörtel, mittendrin, zur Verbesserung der Statik.
Ich bin mehr als pünktlich und muss sogar noch warten, bis die Führung beginnt. Davor geht es aber noch durch die Sicherheitskontrolle.
Unser Führer, ein ausgesprochen gut aussehender Mann mit akzentuierter Gestik und Mimik – immer wieder bewegen sich die Hände synchron nach innen und nach außen – spricht so deutlich, dass man jede Silbe versteht. Auch auf rhetorische Pausen versteht er sich.
Wir gehen durch eine Reihe abgedunkelter Räume und kommen dann in ein wunderbares Treppenhaus, stehen auf dem Treppenabsatz und blicken nach unten und nach oben. Die Wände und die Decke voller Fresken, man weiß kaum, wo man zuerst hinsehen soll. Sehr schön verschiedene Darstellungen mit der Trompe-l’oeil-Technik. Bei einer scheint man in den Garten eines Palastes hineinzusehen. Über der Treppe scheint einer der Habsburger Könige, vielleicht Felipe III., zusammen mit seiner Familie von einer Brüstung aus in das Treppenhaus zu schauen.
Das alles hat nichts Klösterliches. Der Grund ist einfach: Anfangs handelte es sich bei dem Gebäude um einen Palast. Erst von Juana de Austria wurde er dem Orden vermacht, den Descalzas Reales, eigentlich Klarissinnen, also Franziskanerinnen, die aber wegen ihrer nackten Füße – nicht ganz, sie tragen Sandalen – und ihrer königlichen Herkunft – das Kloster war nur für Mitglieder der königlichen Familie bestimmt, war aber auch als soziale Einrichtung für Waisen und verarmte Priester gedacht – volkstümlich Descalzas Reales genannt wurden und werden. Das Kloster war für 33 Nonnen vorgesehen, eine für jedes Lebensjahr Christus‘. Heute sind es, wenn ich das richtig mitbekommen habe, nur noch 16. Sie leben in Klausur und sehr asketisch. Später kommen wir in einen großen Saal, in dem im Fußboden die Umrisse ihrer Zellen abgebildet sind. Dagegen ist sogar das Zimmer in meiner Unterkunft groß.
Es gibt aber durchaus auch hier Fresken mit religiösen Motiven, aber sie dienten eher der politischen Propaganda, der Werbung für die Ideen der Gegenreformation. Deshalb sieht man hier Heilige und Engel und Blut, das aus dem Leichnam Christi am Kreuz in den Kelch tropft.
Wir kommen dann an einer Unzahl von kleinen Nischen mit Altären vorbei, Laurentius, Antonius, Agnes und vielen anderen gewidmet. Laurentius sieht man siegreich mit dem Palmzweig des Märtyrers, nur rechts unten im Bild sieht man die dunkle Szene seines Martyriums. Er soll, nachdem man ihn von einer Seite auf dem Rost gegrillt hatte, gebeten haben, auch von der anderen Seite gegrillt zu werden. Die Hl. Agnes ist mit einem Lamm dargestellt. Gibt es da etwa eine sprachliche Verbindung? Hat Agnes etwas mit agnus zu tun? Ist mir noch nie aufgefallen, aber unser Führer scheint das nahezulegen. Antonius soll als Person sehr hässlich gewesen sein, wird hier aber als bildschön dargestellt. Der Auftraggeber des Bildes soll gesagt haben, „Stelle mir nicht den Körper, sondern die Seele dar.“
Jeder dieser Altäre wurde von einer Novizin gestiftet und war ein erwarteter Eintrittsakt.
Der wertvollste dieser Altäre ist einer mit mehreren Reihen kleiner vergoldeter Reliquienschreine. Die Reliquienschreine werden von einem goldenen Gitter abgesperrt. Das Gemälde, das eigentlich hier im Hintergrund war, wurde von Napoleon einkassiert und ist seitdem verschwunden.
An einer Ecke bleiben wir vor einem Spiegel stehen, den man nicht als solchen erkennen kann. Er ist mit einer Paneele zugeklappt. In dem Spiegel soll sich aber jeder von uns bestens erkennen können. Wenn die Paneele zur Seite geschoben wird, erscheint auf dem „Spiegel“ eine hässliche Fratze, ein unmenschliches menschliches Gesicht. Wie wahr! Hier können wir uns alle erkennen.
Auf einem anderen Gemälde sieht man ein Kind – hier als Engel dargestellt – das versucht, mit einer Muschel das Meer zu leeren. Es schöpft das Wasser aus dem Meer und füllt es in ein Loch am Strand. Der Hl. Augustinus kommt vorbei und sagt dem Kind, das sei völlig aussichtslos, was es da versuche. Das Meer könne man nicht „erschöpfen“. Daraufhin antwortet das Kind: „Eher gelingt es mir, das Meer zu leeren, als es dir gelingt, das Geheimnis der Dreifaltigkeit zu verstehen“.
In der Nähe ist auf einem Gemälde Uriel dargestellt, der Erzengel. Er wird mit einem Schwert dargestellt und mit einer Flamme, einer Anspielung auf die wörtliche Bedeutung seines Namens. Warum ist er uns so wenig bekannt, warum denken wir eher an Gabriel, an Michael, an Raffael, wenn wir Erzengel hören? Das liegt daran, erfahren wir, dass die katholische Kirche ihn aus ihrem Heiligeninventar gestrichen hat. Er wird in den kanonischen Büchern der Bibel nicht erwähnt, nur in den Apokryphen.
In dem Gebäudeteil, der auf den alten Palast zurückgeht, sehen wir einen großen Empfangssaal, mit Porträts von Mitgliedern der königlichen Familie der Habsburger. Unser Führer fragt, ob uns etwas auffällt. Ja, sagt ein Mann, keiner trägt eine Krone! Tatsächlich, ist mir in all den Jahren noch nicht aufgefallen. Die spanischen Könige werden nicht gekrönt, sondern proklamiert. Nur von Gott könnten sie gekrönt werden.
Auf einem Gemälde, das Juana de Austria darstellt, sehen wir, wie sie, schwarz gekleidet, einen Handschuh in der Hand hält. Das ist ein Zeichen allerhöchster Würde.
Einer der Könige trägt das Goldene Vlies, das toisón de oro, die höchste Auszeichnung, die Spanien zu vergeben hat. Es gibt insgesamt 16, wenn ich die Zahl richtig behalten habe. Sie werden vom König verliehen, an besonders verdienstvolle Untertanen, aber nur für die Lebenszeit. Sie sind nicht vererbbar.
Auf einem großen Gemälde sieht man eine große Gruppe fein gekleideter Frauen und Männer durch die Natur ziehen, schwer zu sagen, was das ist. Eine Prozession? Ein Spaziergang? Die Frauen, und nur die Frauen, tragen alle eine Maske vor dem Gesicht. Warum wohl? Es wird auf eine Pandemie getippt oder auf Karneval, aber die Erklärung ist viel einfacher: Sonnenschutz! Es ging darum, den blassen Teint zu bewahren.
Zum Schluss kommen wir noch in einen großen Saal mit riesigen Wandteppichen, in Flandern gewebt. Viele gehen auf Skizzen von Rubens zurück. Auch hier wird Politik betrieben: Der siegreiche Wagen mit einer die Eucharistie tragenden Frauenfigur rollt über die Ungläubigen hinweg, über die Verräter, über die Eitelkeit, als Frauenfigur, über die Dummheit und die Blindheit, als Männerfiguren.
An der Seite ein Porträt einer gewissen Isabel Clara Eugenia, aus dem Königshaus. Sieht beinahe wie das Porträt einer Nonne aus, sie ist aber tatsächlich als Witwe dargestellt. Unser Führer hält große Stücke auf sie. Sie sei klug und geschickt und gebildet gewesen, und eine ausgezeichnete Diplomatin. Es wäre besser gewesen, wenn sie die Thronfolge angetreten hätte. Wir sollen auf den Wandteppich gegenüber schauen, und tatsächlich, da ist sie, in einer Heiligen, die ihre Gesichtszüge trägt!
Das war die zweite richtig gute Führung des Tages, ich bin müde, aber zufrieden.
Zur Erholung gehe ich schnurstracks in eine Chocolatería und bestelle chocolate con churros. Chocolaterías sieht man heute mehr als früher, auch Nagelstudios und Fast-Food-Läden sind im Kommen. Dabei braucht kein Land die Fast-Food-Ketten so wenig wie Spanien.
Danach geht es über die Arenal, die bereits Weihnachtsschmuck hat, zum Mercado de San Miguel, einem typisch spanischen Mercado, aber in einem völlig restaurierten Gebäude mit viel Glas. Es ist rappelvoll hier.
Da es bei den Descalzas Reales keine von Nonnen hergestellten Süßigkeiten gibt, mache ich mich auf die Suche nach einem anderen Nonnenkloster, populär als Las Carboneras bekannt. Ich komme aber erst zum Tablao Flamenco mit demselben Namen, dann erst zum Kloster, nur um festzustellen, dass die Mittagspause haben.
Ersatz besorge ich in einem feinen, kleinen Geschäft, wo es hauptsächlich turrón gibt. Von dem bekomme ich ein leckeres Stück zum Probieren.
Dann mache ich einen Versuch mit einem Los für die Weihnachtslotterie. Erst mal erkundige ich mich, wie das läuft. Wenn man gewinnt, muss man den Gewinn binnen drei Monaten abholen, sonst verfällt er. Und man muss ein spanisches Konto haben, um den Gewinn ausbezahlt zu kommen. Ich verlasse mich aber auf meine spanischen Freunde und kaufe fünf Lose, eins für mich, die anderen zum Verschenken.
Ich komme über den Pasadizo del Panecillo und die Calle del Codo. Die schönen Straßenschilder aus Keramik erklären die Bedeutung in ihren Darstellungen: Mönche, die auf der Straße Brot an Arme verteilen und ein Ellenbogen, auf den Verlauf der Straße anspielend.
Den Namen einer kleinen Buchhandlung entziffere ich erst auf den zweiten Blick: Ozymandias. Den kenne ich aus einem Gedicht von Shelley. Spielt, wenn ich mich richtig erinnere, auf Ramses II. an. Und ist ein beeindruckender Text zur Nichtigkeit von Macht.
Dann komme ich fast ungewollt zum Teatro Real. Davor die Taberna Real, mit einem schönen Wirtschaftsschild vor blauem Himmel. Die Plätze vor der Taverne sind alle besetzt. Die Leute trinken ein Bierchen oder einen Aperitif.
Da ich schon viel gelaufen bin heute, versuche ich es jetzt mit der Metro und stelle fest, dass auf einer alten Fahrkarte noch Guthaben ist. Erst traue ich dem Braten nicht so richtig, aber es klappt. Ich fahre nach Sol und nehme von dort die Linie 1 nach Atocha. Der Bahnhof ist blitzsauber, gut ausgeschildert, die Züge sind modern, selbst hier, auf den alten Linien, und kommen in schnellem Takt. Sie müssen hier alle Bahnhöfe erweitert haben, dann früher waren die Züge viel kürzer.
In Atocha gehe ich gleich zu der Gedenkstelle für die Opfer des terroristischen Attentats von 2004. Auf dem Geländer um die runde Empore herum sind Gedenksprüche in verschiedenen Sprachen angebracht: Spanisch, Katalanisch, Baskisch, Französisch, Portugiesisch, einer slawischen Sprache, die ich nicht identifizieren kann, vielleicht Tschechisch, und einer asiatischen Sprache, die ich nicht identifizieren kann, vielleicht Bengalisch. In einem abgedunkelten Raum sind die Namen aller Opfer auf der Wand angebracht, mit den Vornamen in Großbuchstaben, so als würde man sie persönlich kennen.
Vor dem Bahnhof haben afrikanische Einwanderer auf dem Boden vor ihnen Fußballtrikots ausgebreitet, die sie zum Verkauf anbieten. Ihr Favorit ist Mbappé.
Erst beim dritten Versuch finde ich an dem großen Platz meine Straße, Santa María de la Cabeza. Sie war, wie ich inzwischen rausgefunden habe, die Ehefrau von San Isidro Labrador, dem Patron von Madrid, einem einfachen Mann vom Lande. Ebenso war María de la Cabeza eine einfache Landfrau. Sie wird meist mit einer Harke dargestellt. Obwohl die Legenden, die sich um sie ranken, im Mittelalter spielen, beginnt die schriftliche Überlieferung erst im 17. Jahrhundert. Der merkwürdige Name erklärt sich daraus, dass ihre wichtigste Reliquie ihr Schädel ist.
Ich gehe aber noch mal zurück und bestelle in einem Straßencafé Patatas bravas und ein Bier. Ich lasse mich von dem Verkehr genauso wenig stören wie die Spanier an den anderen Tischen. Aber dem Versprechen des Sonnenschirms, dass er für saubere Luft sorge, kann ich nicht Glauben schenken.
5. November (Mittwoch)
Am frühen Morgen geht es zum Bahnhof. Den Weg kenne ich ja inzwischen. Komischerweise verdankt Atocha dem Königshaus seine Existenz. Der Bahnhof und die Bahnlinie dienten dazu, die Könige möglichst schnell von Madrid zurück in ihre Residenz nach Aranjuez zu bringen.
Aranjuez steht bei mir diese Woche auch auf dem Programm. Heute geht es aber erst einmal nach Almagro.
Es herrscht Großstadtverkehr, von allen Seiten überqueren Autos den Platz. Und ganze Horden von Menschen ziehen zu Fuß Richtung Atocha. Vor dem Bahnhof eine riesige Schlange von Taxis, wohl an die 50, die typischen weißen Taxis mit dem roten Querstreifen und dem Emblem von Madrid. Die Schlange bewegt sich aber ständig weiter. Es ist 7 Uhr und noch stockdunkel.
In einer Cafeteria im Bahnhof bekomme ich das gewohnte Frühstück, das hier aber 4,75 € kostet. Eine Bettlerin macht vergebliche Versuche, ein bisschen Geld zu bekommen. Ich gebe ihr einen Euro, aber sie beschwert sich, das sei nicht genug. Da nehme ich ihr den Euro wieder ab.
An einem Zeitungsstand kaufe ich die heutige Ausgabe von El País. Kostet nur 2 Euro. Hier gibt es auch die FAZ und die Bildzeitung.
Alles ist hier organisiert wie am Flughafen. Selbst das Zugpersonal ist gekleidet wie die Flugbegleiter. In den Bahnhofsbereich kommt man nur mit einer Fahrkarte hinein. Die Begleiter müssen sich vorher verabschieden. Dann kommt die Sicherheitskontrolle. Die Züge werden auf großen, gut lesbaren Bildschirmen angezeigt. Von der Renfe gibt es den AVE, den Avant und den Alvia, dazu kommt noch ein Privatunternehmen: Iryo. Die Züge fahren nach Malaga María Zambrano, Barcelona Sants, Sevilla Sta. Justa, Toledo. Das Abfahrtgleis wird erst kurz vor der Abfahrt bekanntgegeben. Vor dem Betreten des Gleises gibt es eine weitere Fahrkartenkontrolle. Als die Abfahrt nach Algeciras bekanntgegeben wird, erheben sich ganze Heerscharen marokkanischer Männer, mit ihren Frauen im Schlepptau.
Alle Fahrkarten haben automatisch eine Sitzplatzreservierung. Der Zug braucht für die 160 Kilometer nach Ciudad Real genau eine Stunde und ist auf die Minute pünktlich.
Die Strecke ist eher öde, wenig abwechslungsreich, flach: brach liegende Felder, Zypressen, Olivenbäume, Strommasten.
Zeit fürs Lesen. El País berichtet von dem Tod von Dick Cheney, des Oberfalken, des Erfinders der Atomwaffen im Irak, des Kriegstreibers, des unsäglichen Vizepräsidenten unter dem ebenso unsäglichen George Bush Junior. Ihm braucht man keine Träne nachzuweinen.
Ebenso aus den USA die Nachricht von der Wahl eines blutjungen neuen Bürgermeisters, von den Demokraten aufgestellt, in Uganda geboren, erst seit 2009 im Besitz der Staatsangehörigkeit. Er will der gnadenlosen Trump-Politik, die nur auf Gewinn aus ist, etwas entgegensetzen, will sich vor allem um die Mietpreise kümmern und die Gesundheitsversorgung kümmern. Er hatte 100.000 Unterstützer, die wochenlang von Haus zu Haus gegangen sind, um für ihn zu werben. Ob er Erfolg haben wird, ist eine andere Frage. Je größer eine Stadt, umso größer die Probleme, die es zu lösen gilt.
Ganz anders der Bericht über einen jungen Mann in Madrid, der einen Zeitungskiosk übernommen hat. Er glaubt an die Zukunft der gedruckten Zeitung, verkauft auch Bücher, kennt seine Kunden aus dem Viertel mit Namen. Ja, das Sterben der Zeitungskioske sei nicht zu übersehen, meint er, man müsse sich breiter aufstellen, er habe auch Spiele, Schirme, Taschen, Bonbons und – Abziehbilder von Fußballern!
David Beckham, erfährt man, wird zum Ritter geschlagen. Warum in aller Welt? Was hat er für Verdienste?
Miguel Ríos ist inzwischen 81 und sagt, man könne sich ruhig daran machen, seinen Nachruf zu verfassen. Es gebe viel zu erzählen.
Atlético Madrid hat mühsam gegen St. Gilloise gewonnen, Xabi Alonso hat mit seinem Madrid in Anfield, bei seinem FC Liverpool, verloren, war mit 0:1 gut bedient.
Der Vorsitzende der Europaliga im Basketball ist besorgt. Die NBA will eine eigene Europaliga gründen. Man habe schon drei Wettbewerbe, das sei genug. Stimmt. Aber auch die Europaliga will immer mehr, hat Israel als Mitspieler aufgenommen und Dubai und hat das letzte Endspiel in Abu Dhabi ausgetragen. Wo man hinschaut: Gier treibt alle an.
Der Dollar ist seit Trump um 11% gesunken, das Gold um 51% gestiegen.
Dann kommt Ciudad Real in Sicht, als erstes erscheinen die modernen Gebäude der UCLM, der Universidad de Castilla-La Mancha.
Ich steige aus, der Zug fährt weiter nach Portollano. Das erinnert mich an einen sehr sympathischen ehemaligen US-amerikanischen Kollegen. Der war in Portollano gewesen, bevor er nach Madrid kam. Nach zwei Jahren wollte er wieder zurück.
In Ciudad Real habe ich Aufenthalt. In der Cafeteria schiebt mir ein Mann, den ich um eine Photo gebeten habe, wortlos seine Tasche zu. Auf der steht (auf Deutsch): Die Klapse hat heut Wandertag.
Die kurze Weiterfahrt nach Almagro erfolgt mit einem Nahverkehrszug. Hier gibt es keine Kontrollen.
Almagro hatte schon zu römischer Zeit seine Bedeutung, weil es an der Heerstraße von Toletum nach Hispalis, von Toledo nach Sevilla, lag. Zur Zeit Karls V. wurde es dann zu einer wichtigen Schaltstelle der Fugger für ihren Handel mit Nordafrika und Südamerika. Der hoch verschuldete Kaiser hatte ihnen die Konzession für die Quecksilbergruben in Almadén, 100 Kilometer von Almagro entfernt, überlassen müssen, und die waren eine wichtige Kapitalquelle.
An dem kleinen Provinzbahnhof von Almagro geht man über die Gleise auf die andere Seite. Dort wartet Monika schon. Statt Ana, ihrer ecuadorianischen Freundin, wartet deren Sohn vor dem Bahnhof, ein ruhiger junger Mann, schon in Spanien geboren, im IT-Geschäft unterwegs, der uns in die Stadt fährt.
Ana wollte eigentlich mitkommen, hat aber ausgerechnet heute ein Examen beim Roten Kreuz. Sie macht einen Kurs und demnächst ein Praktikum, um später eine Stelle in einer Seniorenresidenz zu bekommen.
Es ist nicht gerade warm, aber warm genug, um draußen zu sitzen und einen Kaffee zu trinken, auf der schönen Plaza Mayor, mit grünen Fensterläden über langen Kolonnaden. Monika ist stolz, die Zahl der Pfeiler zu kennen: 81. An der Schmalseite hinter uns das Rathaus. Die Plaza bildet ein Ensemble, dessen Bild man sofort mit Almagro in Verbindung bringt.
Monika grüßt an jeder zweiten Ecke jemanden. Sie lebt seit 20 Jahren in Spanien, in Bolaños de Calatrava, wenige Autominuten von hier entfernt. Sie kommt jede Woche zum Markt hierher.
Während unseres Gesprächs lerne ich ein hochaktuelles Wort von ihr, andador. So heißt hier der Rollator. Sieht man noch viel seltener als bei uns.
Als sie nach Spanien kam, konnte sie kein Wort Spanisch. Jetzt verständigt sie sich perfekt, versteht alles, kann alles ausdrücken, und engagiert sich in einem karitativen Verein und in der PSOE. Sie spricht Spanisch mit unüberhörbarem polnischen Akzent und ohne Artikel und Konjunktiv.
Ihre Lieblingsthemen sind ihre Tiere – Hund, Katzen, Vögel, Hase – und ihre Krankheiten, gefolgt von dem nicht unproblematischen Verhältnis zu ihren beiden Söhnen und ihren Freundinnen. Ana, die Ecuadorianerin, verweigert jeden Kontakt zu Zulma, der Kolumbianerin, von der ich weiß, dass sie jeden Tag drei Liter Coca-Cola trinkt. Ihr Augenstern ist Hassan, ihr junger marokkanischer Mitbewohner, den sie bekocht, von dem sie sich verwöhnen lässt, wenn es ihr schlecht geht, und für den sie alle Behördengänge erledigt, auf dem steinigen Weg zur Erlangung von Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis. Kleine Erfolge sind bereist erzielt. Hassan arbeitet aufopfernd in der Landwirtschaft, unter anderem im Winter bei der Olivenernte. Gemeinsam fechten sie Kämpfe gegen ihre erbarmungslose Vermieterin aus. Die Gefechte gehen in der Regel verloren. Die Heizung funktioniert nicht, das Dach ist leck.
Ich gebe ihr ein Los der Weihnachtslotterie und die Pralinen, die ich gestern gekauft habe.
Wir gehen bis zum anderen Ende des Platzes. Dort steht die Reiterstatue von Diego de Almagro, dem Eroberer Chiles, einem mittellosen Hidalgo wie Don Quijote, nur, dass er seine Träume tatsächlich verwirklichte. Ob der Ort seinen Namen von ihm hat oder umgekehrt, ist nicht klar.
Monika führt mich in ihr Lieblingsgeschäft, einem Laden mit Stickereien, Klöppelarbeiten und Keramik. Die Spitzenklöppelei wurde im 16. Jahrhundert aus den Niederlangen importiert.
Die Wände, die Regale, die Tische, selbst der Boden des Ladens, alles voller Ware, teils ziemlich kitschig, teils sehr ansehnlich, vor allem bei der Keramik.
Dann geht es zurück zur Plaza Mayor. An einer Längsseite ist der Zugang zum Corral de Comedias, dem einzigen aus dem Goldenen Zeitalter erhalten gebliebenen Freilichttheater Spaniens, eine echte Sehenswürdigkeit. Monika hat es noch nie besichtigt.
Der Corral de Comedias wurde 1628 erbaut und dient heute wieder im Sommer als Freilichttheater, wie zu alten Zeiten. Damals waren solche Theater die Normalität, genauso wie bei Shakespeares Globe und anderen Londoner Theatern. Der Umzug in geschlossene Räume begann auch etwa um diese Zeit, meist aber nicht in eigentliche Theater, sondern in die Säle der Paläste. Wo das Theater natürlich nur den Adeligen zugänglich war. Im Freilichttheater war das anders. Da waren alle soziale Schichten vertreten.
Bezeichnend ist auch, dass viele Freilichttheater wie der Corral de Comedias, aus Umbauten resultierten, aus Umbauten von Wirtshäusern, und das viele dieser Theater später wieder zu Wirtshäusern wurden. Aus mesón mache teatro, aus teatro mache mesón.
Man betritt das Theater von hinten, blickt auf die Bühne am anderen Ende und die beiden Ränge an den Längsseiten, auf Stützen stehend. Der optische Eindruck ist ausgesprochen schön, die hölzernen Galerien sind in rötlich-brauner Farbe vom Weiß der tragenden Teile abgesetzt.
Der Raum ist rechteckig. Das muss fürs Zuschauen mühsam gewesen sein, man musste das Gesicht zur Seite drehen, um auf die Bühne sehen zu können.
Bei den Zuschauern gab es, wie beim Eintrittsgeld, eine klare soziale Unterscheidung. Die teuersten Plätze waren die auf den Rängen an den Seiten. Die billigsten Plätze hatte man im Innenhof, unten, zwischen den Rängen. Dort musste man stehen. Wenn man etwas mehr Geld investierte, konnte man auf Steinblöcken in dem Raum unter den Rängen sitzen. Alle diese Plätze waren für Männer bestimmt. Der Platz für die Frauen war am anderen Ende des Theaters, der Bühne gegenüber. Dort hatte man einen guten Blick auf die Bühne und vor allem auf den ganzen Raum, wie wir selbst feststellen können, als wir da hinaufsteigen. Von hier aus kann man auch das beste Photo machen.
Darunter befand sich ein Verkaufsraum. Dort konnte man Obst und Nüsse kaufen und aloja, ein Getränk aus Wasser, Honig und Gewürzen. Es ging offenbar damals im Theater ganz anders zu als heute.
Leider ist nirgendwo die Rede davon, wie viele Zuschauer der Corral de Comedias fasste. Schwer zu schätzen, vielleicht um die Tausend herum. Das wären etwa so viele wie in einem modernen Theater, aber viel mehr auf die Gesamtzahl der Bevölkerung bezogen.
Die Bühne ist ganz einfach, rechteckig, hinten von einer zweistöckigen Wand begrenzt. Es gab keinen Vorhang und keine Möglichkeit zur Verdunkelung. Vieles, was heute technisch gelöst wird, musste damals über die Sprache kommuniziert werden, ob es Nacht ist oder der Wind pfeift oder man sich in einem Wald oder einem Gasthaus befindet. Und es gab kein Signal zum Aufführungsbeginn. Die Schauspieler mussten sich mit ihrem Auftreten und ihrer Stimme Aufmerksamkeit verschaffen, sicher keine leichte Angelegenheit.
Unter der Bühne befanden sich die Umkleideräume für die Schauspieler und Platz zur Aufbewahrung der wenigen Requisiten. Im Boden der Bühne gibt es eine mit einer Holzplatte geschlossene Öffnung. Durch dieses Loch konnten Geister und Gespenster die Bühne betreten oder Dramenfiguren in den Orkus verschwinden.
Die Bezeichnung Corral de Comedias ist für uns heute leicht irreführend. Das Wort Komödie hat einen viel breiteres Bedeutungsspektrum und umfasste auch hochdramatische Problemstücke, solange die nur irgendwie noch ein glückliches Ende fanden. Sogar konnte Komödie ganz allgemein einfach ein Synonym von Drama sein.
Von England weiß ich – Monika nimmt es mit ungläubigem Staunen wahr – dass alle Rollen von Männern gespielt wurden, die Rollen von Frauen oft von jungen Männern vor dem Stimmbruch. Die Verkleidung tat ein Übriges. Das wird dann besonders heikel, wenn sich im Stück ein Mann als Frau oder umgekehrt verkleidet. Dann hat man zum Beispiel eine von einem Mann gespielte Frau, die sich als Mann verkleidet an ihren Angebeteten heranmacht und ihn auf merkwürdige Art bezaubert. Der kann sich gar nicht erklären, warum dieser junge Mann, sein Dienstbote, ihn so sehr anzieht. Und ist dann völlig verwirrt, als es zum ersten Kuss kommt.
Nach der Besichtigung wollen wir irgendwo Chocolate con churros bekommen, aber es ist die falsche Tageszeit, entweder früher oder später. Stattdessen gibt es für sie einen Kaffee mit einem Pudding und für mich ein Bier mit einer Berenjena de Almagro, einer in Essig eingelegten Aubergine. Die sind, wie der Name schon verrät, typisch für die Region. Sie werden in allen Geschäften in Einmachgläsern oder Konservendosen angeboten. Es gibt sie in verschiedenen Varianten. Meine ist mit kleinen Stückchen Paprika gefüllt.
Danach steuern wir auf gut Glück eine Kirche an, die sich ein Stückchen abseits der Plaza Mayor befindet, San Agustín, ein echter Volltreffer. Was das etwas nüchterne Äußere nicht vermuten lässt.
Aber der Blick in den Innenraum ist wie ein Paukenschlag. Man ist sofort gebannt, weiß gar nicht, wohin man gucken soll bei all der barocker Pracht, einer barocker Pracht, die überhaupt keine Schwere hat, sondern trotz der Üppigkeit leicht wirkt.
Überall Verzierungen in Form von Girlanden, Medaillons, verzierten Kreisen und „gerahmten“ Gemälden. Dazwischen zur Entlastung der Auges immer wieder auch weiße Flächen. Einfach schön.
Besonders die verzierte Kuppel, noch mehr aber das wunderbare gestaffelt wirkende Halbbogengewölbe ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Das Gewölbe richtet den Blick nicht auf den Altar, sondern auf eine große Nische darüber, wo einst eine Madonnenfigur stand.
Die Bildmotive haben zwar häufig religiöse Symbolkraft, könnten aber genauso gut profan sein, wie das von einem Pfeil durchbohrte Herz an der Decke im Westen. Auch die fülligen, oft nackten Putten könnten genauso gut in der Dekoration eines Palasts auftauche. Im Osten an einer Seite des Chors gibt ein (gemalter) sich öffnender Vorhang den Blick auf eine Szene frei. Das hat theatralische Wirkung.
Wir sehen uns die Kirche von unten und von oben an, von der Empore im Westen und von der Nische im Osten. Man hat immer neue optische Eindrücke, ganz zu schweigen von den vielen Details, die man entdeckt.
Monika kommt aus dem Staunen nicht heraus. Ich habe das Gefühl, mit der Kirche kann sie mehr anfangen als mit dem Corral de Comedias.
Ana lässt weiter auf sich warten. Ihre Ankunft verzögert sich immer mehr. Wir gehen schon einmal vor in ein Lokal, von dem wir oben einen schönen Blick auf die Plaza Mayor haben.
Dann kommt die lange Erwartete doch noch. Sie begnügt sich mit einer Sopa castellana, mit Brot, Knoblauch, Ei und Öl, wir bestellen, von Monika empfohlen, Gachas manchegas, einem weiteren typischen Gericht der Gegend, ebenso einfach und deftig, das Essen einfacher Leute. Ich hatte die Gachas noch nie probiert und auch den Namen noch nie gehört. Es ist eine Art Erbsenbrei, wie Kartoffelpüree aussehend, mit kleinen Stückchen Knoblauch, Paprika und Bauchspeck.
Ana hat ihre Prüfung mit einer 8 (von 10) bestanden und ist sehr froh darüber. Monika sieht sie voller Bewunderung an.
Sie erzählt ihre Lebensgeschichte. Als jüngstes von neun Kindern entschied sie sich gegen ihren Verlobten und die bevorstehende Heirat und folgte der Bitte einer schwangeren Cousine, ihr nach Spanien zu folgen. Ihre Mutter sei untröstlich gewesen. Das muss eine schwere Entscheidung gewesen sein, ein Scheideweg, die sie in eine Richtung führte und ihr Leben ganz anders verlaufen ließ. Ihren Mann, einen Ecuadorianer, lernte sie dann hier in Spanien kennen. Alle vier Jahre fährt sie in die alte Heimat.
Sie fragt nach meinen Reiseplänen und empfiehlt mir ihre ecuadorianische Heimatstadt, Salcedo, etwa zwei Autostunden von Quito entfernt. Die sei bekannt für ihr Speiseeis. Da müsse ich unbedingt hin. Auch auf die Galapagos-Inseln sollte ich fahren. Da gebe es von Quito aus 3-4-tägigen Exkursionen.
Als sie mich nach meinen kulinarischen Erfahrungen in Ecuador fragt und ich das cui nenne, das Meerschweinchen, sieht man ein Lächeln auf ihrem Gesicht, während Monikas Gesichtszüge in sich zusammenfallen.
Es wird Zeit für den Aufbruch. Wieder ist Anas Sohn zur Stelle und fährt mich zum Bahnhof. Vorher gibt es natürlich noch die unvermeidlichen Abschiedsphotos, auf der schönen Plaza Mayor.
Als ich in Madrid ankomme, ist es stockdunkel und es regnet in Strömen.
6. November (Donnerstag)
Am Morgen hat es aufgehört zu regnen. Der Himmel ist bis auf ein paar Wolken klar, und wir liegen bei 11°.
Zum Frühstück geht es in die Bar Asturias. Bin ich dieser Tage dran vorbeigekommen. Ein kleiner Raum mit wenigen Tischen, alle Kunden sind Männer, fast alle sitzen an der Theke. Eine riesige Auswahl an Flaschen über der Theke, Whisky, Brandy, Wermut, Liköre. An der Wand hängen mehrere ganze Schinken und allerhand Würste. Auf dem Boden vereinzelte Papierfetzen und Zuckertütchen, an einem Regal die Lotterielose.
Hier bestellen die meisten ihren Toast mit Olivenöl, ich bleibe bei Butter und Marmelade. Beliebt ist hier auch die Porra zum Kaffee, die große Schwester der Churros.
Von hier aus geht es direkt zum Bahnhof. Inzwischen habe ich auch einen „Schleichweg“ zum Bahnhof entdeckt. Vor mir eine ganze Reihe von Männern auf dem Weg dahin, jeder mit einem Rucksack auf dem Rücken.
Apropos Rucksack habe ich noch kurz vor der Abreise etwas zur deutschen Sprachgeschichte gelesen: Warum sagen wir Rücken, aber Rucksack, nicht Rücksack, und Rücken, aber nicht Rucken. Ähnlich: Warum heißt es Osnabrück, aber Innsbruck? Das alles hat seinen guten Grund. Aus dieser sprachgeschichtlichen Entwicklung verdanken wir auch die Dubletten drücken und drucken und nützen und nutzen.
Vor dem Bahnhof eine riesige Baustelle. Habe im Internet gelesen, dass die Fertigstellung erst für 2030 vorgesehen ist. Unter anderem geht es auch um zusätzliche unterirdische Gleise. Ist wohl eine Art Stuttgart 21.
Der Name Atocha scheint von einem arabischen Wort zu stammen, das so etwas wie ‚Quelle‘ bedeutet. Hier befand sich in der Zeit der Mauren wohl ein Brunnen. Es war aber wohl auch das Wort zur Bezeichnung des Hanfs, atochal, der von Valencia hierher nach Madrid transportiert wurde, ein wichtiges Material in der Vergangenheit für die Herstellung von Tauen und Matten.
Mein Versuch, eine Fahrkarte für morgen zu bekommen, für die Fahrt nach Aranjuez, scheitert. Man kann die Fahrkarten nur am Tag der Reise kaufen, und erst zwei Stunden vor der Abfahrt. Verstehe nicht, was das soll.
Auf dem Rückweg sehe ich auf der anderen Straßenseite ein Lokal, das sich als Restaurante, Cafetería und Arrozería ausgibt. Es auf Reis spezialisiertes Lokal. Ein neues Wort für mich.
Das Museo de América ist nicht, wie ich dachte, in Cibeles, sondern in Moncloa. Da muss ich mit der Metro hin. Ich gehe rauf zu dem runden Gebäude, an dem ich am Montag angekommen bin. Dort treffen sich die Nahverkehrszüge und die Metro.
Ich frage nach einer Carta del Metro und bekomme einen Plano de Metro. Habe ich das falsche Wort gewählt?
In dem dicht besetzten Zug versucht in der Mitte ein Mann die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, der ein Set mit Schlüsseln verkaufen will. Ansonsten habe ich in der Metro keine ambulanten Verkäufer mehr gesehen, auch keine Musiker oder Heilsprediger. Ein Bettler sitzt auf der Treppe, die rauf zum Ausgang führt.
Über Sol geht es nach Moncloa. Oder soll es gehen. Aber der Zug bleibt in Argüelles, der vorletzten Station, stehen. Wir werden gebeten, auszusteigen. Was nun? Der Zug fährt ohne uns weiter. Merkwürdig. Dann kommt aber nach wenigen Minuten der nächste und bringt uns nach Moncloa.
Von der Metro-Station aus sieht man auf ein Gewirr breiter Straßen hinunter. Die Orientation ist hier nicht leicht. In der Metro war die Ausschilderung noch gut, hier kommt nichts mehr. Ein freundlicher Herr an der Ampel beschreibt mir den Weg. Ich soll Richtung Faro de Moncloa gehen. Ob das wirklich ein Leuchtturm ist? Wenn ja, dann ist es einer der modernen Art, aus Glas und Stahl. Auf dem Rückweg sehe ich, dass man dort mit dem Aufzug nach oben fahren kann, aber die Sache ist aus technischen Gründen „vorübergehend“ geschlossen.
Seitlich davon befindet sich ein Tor, eine hohe Konstruktion mit einer Quadriga oben drauf, einem Vierergespann, von Minerva gezogen. Es ist tatsächlich ein Triumphbogen und erinnert an den Bürgerkrieg und den „siegreichen“ Einmarsch in Madrid.
In Atocha befindet sich auch der Palacio de Gobierno, der Sitz der Ministerpräsidenten, aber das große, rechteckige Gebäude mit den vier Ecktürmen, das ich in Verdacht habe, ist etwas anderes, das Heer- und Luftfahrtministerium.
Es hat sich inzwischen zugezogen und es ist zu kühl für mein leichtes Outfit. Alle anderen sind dicker eingepackt.
Das Museum befindet sich in einem palastartigen Gebäude auf zwei Stockwerken. Der Eintritt ist frei. Auf dem Weg die Treppe rauf machen sich meine Beine bemerkbar. Die haben in den letzten Tagen einiges geleistet.
Das Museum ist ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe. Über die einzelnen Länder erfährt man nichts. Und trotz seines Namens hat das Museum auch Exponate aus China und den Philippinen.
Immerhin bekomme ich Ausstellungsstücke von den prä-inkaischen Kulturen zu sehen, über die ich in letzter Zeit etwas gelesen habe, Mochica, Chimú, Nazca.
Am Anfang steht ein Auszug aus einem Brief von Kolumbus, 1493, nach der ersten Amerikareise geschrieben. Er beschreibt die Schönheit von Hispaniola, der Insel, auf der heute Haiti und die Dominikanische Republik liegen. Auffällig die (vom heutigen Standard) abweichende Sprache: in der Rechtschreibung fallen yervas, ay, hedificios auf. In Wörtern wie fermosa hat sich der alte lateinische Anlaut erhalten. Und es fehlt das prothetische e in Spañola und specierías.
Zu den auffälligsten Exponaten zählen ein bunter, runder Frauenhut aus Vogelfedern, ein winziger Einbaum in Form eines Schuhs, eine goldener Anhänger mit einer halb menschlichen, halb tierischen Gestalt, die einen Schamanen in Trance darstellen soll, und Sägen (oder sind es Waffen?) aus Fischzähnen. Ganz wunderbar ein dünnes Geflecht, in zwei dünne Netze auslaufend, die von einer Kordel gehalten wird. Sieht dekorativ aus, hat aber einen ganz praktischen Zweck: Es ist eine Waage, eine Waage für Kokablätter.
Am besten vertreten sind allerdings die Figuren, aus Keramik oder aus Stein, oft anthropomorph oder zoomorph. Ein rätselhafter dreieckiger Stein, der vorne in ein menschliches Gesicht ausläuft, soll den Gott der Yucca darstellen. Eine andere Figur stellt einen Mann dar, der damit beschäftigt ist, aus der Agave die Flüssigkeit herauszupressen, die dann fermentiert und zum Pulque verarbeitet wird, den ich mal bei einer denkwürdigen Gelegenheit in Mexiko probiert habe.
Alle möglichen kleinen Gefäße und kleine Menschenköpfe aus Ton sind Grabbeigaben. Was man sich dabei gedacht hat, ist schwer zu sagen. Auch Musikinstrumente, meist Flöten, Blockflöten und Panflöten, spielen in diesem Zusammenhang eine Rolle.
Auf einem Keramikkrug sieht man die Bilder der abgeschlagenen Köpfe von Feinden. Nach der alten Vorstellung ging die Energie der erledigten Feinde auf den Sieger über.
Buntbemalte, kleine Figuren, weder Mensch noch Tier, fungierten als Tauschgüter, sie sollten Glück bringen. Erst mit den Spaniern kam dann Geld nach Amerika. Hier sieht man eine ganze Reihe von Reales und Escudos verschiedenen Werts ausgestellt, alle aus Gold und Silber.
Dann kommen Karten und Globen, ein Himmelsglobus und ein Erdglobus. Bei dem Erdglobus heißt der südliche Teil des Atlantiks Oceanus Etiopicus, auf der Karte heißt der Pazifik Mar del Zur. Auf dem Himmelsglobus erscheinen auch Tiere und Ungeheuer, die nicht zu den uns geläufigen Tierkreiszeichen gehören. Peru ist auf der Karte kleiner als heute, umfasst nur den breiten Küstenstreifen.
Dann kommen noch einige Vitrinen zu dem Thema Zahlen und Schrift. Man sieht ein Knotengeflecht, das den Inka zur Darstellung von Zahlen diente. Kompliziertes System: Es gibt unterschiedliche Klassen von Knoten und unterschiedliche Zahlen von Knoten. Entscheidend war aber wohl die Position der Knoten, ganz ähnlich wie bei unserem Zahlensystem. Das scheint im Reich der Inka perfekt funktioniert zu haben, und man hat das System wohl auch schon gut verstanden.
Anders verhält es sich mit der Schrift. Hatten die Inka wirklich, im Gegensatz zu den Maya und den Azteken, wirklich keine Schrift? Kann man so ein großes Reich ohne Schrift verwalten, zusammenhalten? Hier ist ein bunter gewebter Teppich ausgestellt, mit Rechtecken, die jeweils ein abstraktes Symbol enthalten, 8 in der Horizontalen und, wenn ich richtig gezählt habe, 32 in der Horizontalen. Die Symbole wiederholen sich, offensichtlich ist die Anordnung nicht ganz zufällig. Was hat das zu bedeuten? Einige Archäologen vermuten hier die Darstellung eines Kalenders. Haben die einzelnen Zeichen dann auch einen Wert wie vielleicht die Piktogramme oder Ideogramme bei uns? Die Frage ist im Moment wohl noch offen.
Damit lasse ich es bewenden und mache mich auf den Rückweg. Beim Umsteigen in Sol fällt mir ein Mann auf, der etwas auf Arabisch in sein Handy spricht. Dabei fällt mir auf, dass ich jetzt zum ersten Mal in diesen Tagen eine Fremdsprache höre, jedenfalls eine, die nicht Spanisch ist, außer einer kurzen Szene am Nebentisch in Almagro, wo ein paar Worte Englisch gewechselt wurden. Ich habe auch noch keine Touristen gesehen, außer einer Gruppe spanischer Touristen, die in Almagro durch die Kirche geführt wurde.
Dafür sieht man in der Metro Latinos zuhauf. Alle klein, mit glattem Haar, mit mehr oder weniger prononcierten indianischen Gesichtszügen.
Diesmal steige ich an der Estación del Arte aus. Die ist noch günstiger für mich. In den Gängen der Metrostation sind Reproduktionen von Gemälden aus den drei Museen zu sehen, die hier gleich in der Nähe sind, Prado, Reina Sofía und Thyssen-Bornemisza: Monet, Juan Gris, Veronese, Miró, Degas.
Hier ist das Wetter besser, es ist wärmer, und die Sonne kommt heraus. Ich komme an der Fassade des Reina Sofía vorbei. Dort wird auf die Ausstellung von Maruja Mallo hingewiesen, die mir der Vermieter empfohlen hat. Daneben ein Bild von einer gewissen Elena Asins, „Estructuras ópticas“. Es besteht nur aus schwarzen und weißen Linien und Kreisen, über die sich wiederum spitz ein Quadrat aus schwarzen und weißen Linien legt. Da entdeckt man immer was Neues.
Ich gehe in die Bar Asturias von heute Morgen. Das Geschäft läuft. An der Theke steht man in zwei Reihen, draußen sind alle Tische besetzt, und die wenigen Tische in dem Schankraum auch. Erst jetzt sehe ich, dass es hinten auch noch einen Comedor gibt. Der scheint auch gut gefüllt zu sein. Nur dort sieht man die eine oder andere Frau. Alle anderen Kunden sind Männer.
Ich sitze kaum, schon steht neben dem frisch gezapften Bier ein kleiner Teller mit Essenresten von gestern auf dem Tisch. Kleine Wurststücke und Zwiebeln und Paprika zwischen Kartoffelwürfeln. Schmeckt hervorragend. Danach gibt es dann noch auf Kosten des Hauses einen Teller mit lacón, kleine Stücke gepökeltes Fleisch vom Schwein.
Als ich frage, ob es Fabada gebe, macht der Kellner eine ausladenden Bewegung mit den Händen, sehr spanisch und sagt: „!Hombre!“ Es sucht wohl nach einem sprachlichen Vergleich, so was wie in einem Bekleidungsgeschäft zu fragen, ob es Hosen gibt. Schließlich sind wir in Asturias.
Die Fabada, in einer runden Steingutterrine serviert, hält alles, was man sich von ihr versprechen kann. Eine der besten, die ich jemals gegessen habe. Ich bedanke mich bei dem umsichtigen, aufmerksamen Kellner und verspreche, wiederzukommen.
7. November (Freitag)
Als ich um 8 Uhr aus dem Haus gehe, regnet es (noch) nicht, aber die angezeigten 12° fühlen sich kälter an. Der Himmel, mit Wolken und blauen und rötlichen Schattierungen, zeigt sich aber in aller Schönheit.
Als ich in der Bar Asturias meinen Kaffee trinke, kommt eine ganz Staffel von schwer bewaffneten Polizisten in schwarzen Uniformen in die Bar. Sie werden freundlich begrüßt. Scheinen Stammgäste zu sein.
Der Weg zu den Toiletten ist mit Servicios ausgezeichnet, an den Toiletten selbst steht aber Aseos. Die Vielzahl der Wörter, die jede Sprache für dieses Örtchen hat, ist ein Widerhall auf das Unangenehme der Tätigkeiten, denen man an diesem Örtchen nachgeht.
Am Mittag geht es nach Aranjuez, zu Nigel und Hilary, den alten englischen Freunden. Die Rückfahrkarte kostet gerade mal 8,15 €. Geschenkt.
Ich fahre mit der C3, der Linie, mit der Nigel, der englische Freund, jahrelang zur Arbeit nach Madrid gefahren ist und über die er ein wunderbares Buch geschrieben hat. Jedes Kapitel entspricht einer Station. Er beschreibt die Fahrgäste und die Umgebung des Bahnhofs und wählt sich für jedes Kapitel ein landeskundliches Thema aus: spanisches Essen, spanischer Humor, spanische Fremdsprachenkenntnisse, spanische Einstellungen, und wie die Spanier fluchen und welche Redewendungen sie benutzen.
Wir treffen uns vor dem Restaurant Parterre, wo sie einen Tisch reserviert haben. Beim letzten Mal haben wir in einem benachbarten Restaurant gegessen, aber oben auf der Terrasse gesessen. Davon kann heute keine Rede sein.
Das Lokal ist zu vornehm für meine legere Kleidung, aber keiner lässt sich was anmerken, die Kellner schon gar nicht. Sie sind alle freundlich und aufmerksam und unaufdringlich.
Es gibt eine ganze Reihe von Vorspeisen: gefüllte Kroketten, Austern, Pilze, Sardellen und dann, als Hauptgericht, entweder Lachs oder Spanferkel. Das wird nur in ganz kleinen, knusprigen Portionen serviert und schmeckt hervorragend. Es wird mit Rotkohl serviert, lombarda. Das kenne ich aus Spanien gar nicht. Doch, meinen die beiden, es sei eine klassische Beilage zum Weihnachtsessen. Zum Kaffee gibt es einen Schokoladenlikör, der mir besser schmeckt als den beiden.
Die beiden haben durch ihre drei Wohnorte, zwischen denen sie ständig wechseln, die Hitze dieses Sommers besser überstehen können als die meisten. Sie haben die Wohnung in Aranjuez, ein kleines Apartment an der Küste, in Oropesa, und einen Wohnwagen in der Sierra. Ins Schwitzen gekommen sind sie aber trotzdem.
Als es darum geht, wer bezahlt, lassen sie, wie immer, keinen Zweifel aufkommen: Die Rechnung übernehmen sie. Ich war gewappnet und habe aus der Heimat Pralinen und einen englischen Roman mitgebracht und noch ein Los der Weihnachtslotterie dazugetan.
Anschließend gehen wir zu ihnen, in ihre gemütliche Maisonettenwohnung. Dort werden wir freudig von Doris begrüßt, ihrer Hündin. Sie ist überhaupt nicht scheu und springt ständig an mir herauf und leckt an mir herum.
Wir sprechen über Lebenseinstellungen, über unserer Hoffnungen und Befürchtungen für die Zukunft, darüber, wie man das Beste aus seinen letzten Lebensjahren machen kann, über Beziehungen und Interessen. Bei ihnen steht demnächst der 50. Hochzeitstag an. Nigel hat ein zweites Buchprojekt in der Pipeline und widmet sich neuerdings – mit Erfolg – der Aquarellmalerei, Hilary der Lektüre und der Musik. Sie hat aber, im Gegensatz zu ihm, keinerlei Ambitionen. Ist froh darüber, in den Tag hinein leben zu können, ohne große Verpflichtungen.
Sie zeigen sich sehr angetan von der Hilfsbereitschaft der Spanier. Als Hilary einmal unterwegs stürzte und sich nicht mehr aufrichten konnte, kamen sofort zwei Männer herbei, die ihr aufhalfen. Und als Doris einmal an dem Brunnen vor dem Schloss ihr Geschäft verrichtete, kam ein Mann, bückte sich und, statt zu meckern, beseitigte den Unrat.
Wir sprechen auch über die Vergangenheit und ehemalige Kollegen: eine irische Kollegin ist nach San Francisco zurückgekehrt, woher sie damals nach Madrid kam, eine US-amerikanische Kollegin, die damals in Madrid schon in einem Chor sang, ist inzwischen Opernsängerin, und ein sehr geschätzter US-amerikanischer Kollege, einer der wenigen, die Deutsch sprachen, ist inzwischen verstorben, tot von einem Nachbarn in der Wohnung aufgefunden worden.
Es gibt eine herzliche Umarmung zum Abschied. Gut, so treue Freunde zu haben.
Ich mache mich zu Fuß auf dem Weg zum Bahnhof, durch den strömenden Regen. Der ist so heftig, dass auch die vereinten Kräfte von Regenschirm und Regenjacke gegen ihn machtlos sind. Zu allem Überfluss tritt man in der Dunkelheit ständig in Pfützen.
Aber am Bahnhof habe ich Glück: Auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig, Gleis 3, steht abfahrtbereit der Zug. Zur Sicherheit frage ich, bevor ich rübergehe, ob das der Zug nach Madrid sei. Im Zug frage ich dann noch mal. Ja. Wir warten, aber es tut sich nichts. Dann kommt eine Bahnangestellt und sagt uns, dieser Zug fahre nirgendwo hin, er stehe hier nur rum. Wir müssten zu Gleis 5. Wir laufen rüber, kommen aber zu spät. Der Zug fährt uns vor der Nase weg.
Der nächste Zug soll in 20 Minuten von Gleis 4 abfahren. Tatsächlich steht er auch schon in Sichtweite des Bahnsteigs abfahrbereit. Aber er bewegt sich nicht. Die vorgesehene Abfahrtzeit vergeht, wir warten und warten, aber es tut sich nichts, obwohl alle paar Minuten eine Durchsage kommt, der Zug fahre gleich ein. Ein Gefühl von DB macht sich breit. Dann kommt der Zug endlich, aber zu allem Übel fährt er so langsam, dass die Fahrt doppelt so lange wie die Hinfahrt dauert. Ziemlich bedröppelt komme ich wieder in Madrid an.
8. November (Samstag)
Am Morgen ist der Himmel blau, und die Sonne scheint. Statt, wie beabsichtigt, ins Archäologische Museum, gehe ich ins Reina Sofía, einfach, weil es so naheliegend ist, im wahrsten Sinne des Wortes. In zwei Minuten bin ich da.
Ich betrete das Museum durch den modernen Annex, verlasse es später durch den alten Gebäudeteil mit den modernen Glasaufzügen an der Fassade und komme auf den großen, vom Verkehr abgeschirmten Platz, der nach Juan Goytisolo benannt ist, den katalanischen Dichter und Verfasser des wunderbar tröstlichen Gedichts „Palabras para Julia“.
Als erstes gerät ein bekanntes Bild aus der frühen Schaffensperiode von Dalí, „Figura en una finestra“, in mein Blickfeld, ein wunderbares Bild, das man noch mehr schätzt, wenn man sich in die Details vertieft. Dalí stellt seine Schwester dar, die, mit dem Rücken zum Maler, aus dem Fenster auf das Meer sieht. Eine solche Darstellung widerspricht der ganzen Tradition der Porträtmalerei, bei der die Porträtierten natürlich immer von vorne dargestellt wurden. Diese Tradition wurde erst in der Romantik durchbrochen, etwa bei Caspar David Friedrich. Auch bei ihm blicken die Porträtierten in die Ferne, in die Natur, was Sehnsucht und Innigkeit vermittelt. So auch bei Dalí. Besonders schön die Details: die drapierten hellblauen, zur Seite gezogenen Vorhänge sind ein Widerhall des sich auch leicht wölbenden hellblauen Kleids von Dalís Schwester und den gekräuselten Wellen des hellblauen Meeres. Die wiederum reflektieren sich in ihrem leicht gekräuselten Haar. In der Ferne sieht man die Küste, aber nur flache Felsen und Strandgewächse. Keine Spuren von Zivilisation, keine Menschen, keine Häuser. Die entdeckt man erst, wenn man genau hinguckt, in den Fensterscheiben, ganz am Rand, in denen sie sich spiegeln.
Juan Gris ist unter anderem mit „La guitarra“ vertreten, einem idealtypischen kubistischen Bild. Die Gitarre ist in ihre Einzelteile zerlegt, und wir sehen auf dem Bild mehr von ihr als jemals in der Wirklichkeit. Hier haben wir Vorder-, Hinter- und Seitenansicht gleichzeitig. Die Gitarre war so ein beliebtes Motiv sowohl für Juan Gris als auch für den Picasso der kubistischen Periode, dass die beiden sich einen Spaß daraus machten, das Werk des einen für das des anderen auszugeben. In diesem Bild zeigt sich Juan Gris allerdings farbenfroh, im Kontrast zu seinem selbstgewählten Pseudonym Gris, das ‚Grau‘ bedeutet. In einem anderen Gemälde hier „Portrait du Madame Josette Gris“ sind allerdings fast nur Grautöne vertreten.
Ebenfalls kubistisch María Blachards „Mujer con abanico“. Hier dauert es länger, bis man die Flächen zu einem Bild zusammensetzen kann. Das klappt, wenn man sich Zeit nimmt und das Bild aus einigem Abstand ansieht. Man erkennt den (gelben) Fächer und die (roten) Rüschen des Rocks. Beide heben sich von dem schwärzlichen Hintergrund und der Bluse ab. Die einzelnen Flächen sind durch Linien scharf voneinander abgetrennt. Man spürt förmlich die Bewegung in dem Bild. Auch der Hintergrund, der nicht glatt ist, trägt vermutlich dazu bei.
Dann kommt ein unverkennbarer Miró, „Retrato II“, ein beinahe kindlich aussehendes, abstraktes Porträt, das nur aus Formen besteht, aus Dreiecken, Punkten, Ovalen, Kreisen, mit leuchtenden, stark voneinander abgesetzten Farben. Eigentlich erstaunlich, dass man überhaupt ein menschliches Gesicht und eine menschliche Büste erkennen kann. Es ist ein weiter Schritt von der traditionellen Malerei weg.
Max Ernsts „La belle allemande“, kein Gemälde, sondern eine Skulptur, ist weder schön noch deutsch. Hier ist der Minimalismus auf die Spitze getrieben. Selbst die Mondgesichter unserer Kindheit waren differenziert im Vergleich. Die kleine Gipsscheibe, die das Gesicht (vermutlich) verkörpert, hat nur zwei aufgeklebte Punkte, die Augen. Erst auf den zweiten Blick bemerkt man unten eine längliche Erhöhung vermutlich die Nase. Die ist aber viel zu tief im Gesicht angebracht. Dieses Gesicht wird mit zwei vertikalen Eisenstangen mit dem Fuß verbunden, einer flachen Gipsscheibe, auf der die Skulptur ruht. Die Eisenstangen sind vermutlich die Beine. Erstaunlich, dass man das überhaupt als menschliche Figur erkennen kann. Ob man auch erkennt, dass es sich um eine Frau handelt? Oder weiß man das nur durch den Titel?
Ähnlich und doch anders ist „Pérégrinations de George Hugnet“. Das besteht nur aus zwei Kinderspielzeugen, einem Pferd und einem Fahrrad. Das Pferd spricht durch den Rahmen des Fahrrads oder zumindest dabei, es zu tun. Der Titel hat mit dem Bildmotiv nichts zu tun, ist eine Anspielung auf einen Freund, der mit seinen Schriften die neue Kunst gefeiert hat.
Alexander Calder, der Meister des Mobiles – ich habe mal in Palma de Mallorca zwischen Kathedrale und Küste ein großes Mobile im Freien gesehen – ist mit einer ziemlich rätselhaften Skulptur vertreten, die wie ein Mobile aussieht, aber vielleicht keins ist. Der stabile untere Teil besteht aus zwei oder drei ineinander verschobenen Metallplatten, von denen ein feines Drahtgerüst ausgeht das in einen roten Kreis mündet. Noch darüber hängt ein feines Drahtschild mit dem Wort Almadén. Scheint eine Anspielung auf die Quecksilbergruben in Ciudad Real zu sein. An einer Stelle des Gerüsts sieht man auch so etwas wie Tropfen. Könnte das Quecksilber sein?
Den meisten Andrang gibt es vor Picassos „Guernica“. Davor gibt es eine Absperrung, neben der eine Aufpasserin sitzt, die nur für dieses Gemälde zuständig ist. 1974 hat es einmal im MOMA einen Angriff auf das Bild gegeben. In einem „kreativer Akt des Friedensvandalismus“ besprühte ein Mann das Bild mit roter Farbe, als Protest gegen den Vietnamkrieg. Dazu wählte er sich ausgerechnet dieses Antikriegsbild aus. Der Attentäter machte keinen Versuch zu fliehen. Die Direktorin des Museums kam sofort herbei und beseitigte die Farbe so gut, dass sie mit bloßem Auge heute nicht mehr zu sehen ist.
Das Gemälde hat die enormen Maße von 8 x 3,50 Meter. Das war genau die Wandfläche, die Picasso in seinem Pariser Atelier zur Verfügung hatte. Erst durch den Angriff der Legion Condor auf Guernica entstand das heutige Bild. In den Nebenräumen hier sieht man alle möglichen Vorzeichnungen von Picasso und sogar fertige Bilder, die später ein Teil des Gemäldes wurden.
Die schwarz-weiß-graue Farbgebung setzt den Ton für die grausamen Szenen des Gemäldes: Eine Frau hält ein totes Kind in den Armen, ein Speer durchbohrt ein Pferd, Flammen züngeln aus einem brennenden Haus. Man sieht nicht, was die Ursache ist, man sieht keine Bomben, keine Granaten, keine Gewehre. Gerade das steigert die Wirkung des Bildes noch.
Ebenso viel Andrang herrscht vor Dalís „Visage du grand masturbateur“. Zu Recht. Hier könnte man stundenlang stehen, und in der surrealistischen Traumlandschaft immer neue Details entdecken. Da versagt die Sprache, um so ein Bild zu beschreiben. Erkennen kann man, wenn man so will, den Oberkörper einer Frau und den Unterkörper eines Mannes. Der Oberkörper der Frau scheint aus dem Körper eines Tiers herauszuwachsen, vielleicht einem Stier. Dessen Haut ist an verschiedenen Stellen von völlig disparaten Dingen durchbrochen, Büscheln von bunten Gräsern, Gewürm, einer Fratze, einem Horn. Das Tier hat als Schwanz einen ganz normalen Regenschirm. Die ganze Szenerie ist in eine Art Wüstenlandschaft eingebettet, mit merkwürdigen Figuren. Wenn man die alleine betrachtet, ergeben sie ein Bild für sich.
Ich lasse es bei dieser kleinen Auswahl bewenden. Heute ist der letzte Tag, und es stehen noch Reisevorbereitungen auf dem Programm.
Der Weg zum Ausgang durch den alten Gebäudeteil bietet einige schöne Blicke den langen gewölbten, indirekt von der Sonne beschienenen Gänge entlang.
Anschließend trinke ich einen Kaffee in der Bar Pando und bestelle einen Cookie dazu. Der schreibt sich hier Cuqui.
Zum Abschluss will ich, einem Tipp des Vermieters folgend, zu einem Eisenbahnmuseum gehen, wo heute ein Markt stattfindet. Ich frage den Mann hinter der Theke nach dem Paseo de las Delicias. Er macht eine Handbewegung und sagt, „La que sube“. Da führt mich mein Sprachgefühl auf die falsche Fährte. Für mich ist das die Straße, die von dem Platz aus aufsteigt, es ist aber die Straße, die zum Platz hin aufsteigt.
Auf der Delicias komme ich an einem Frisörsalon vorbei (wenn es denn einer ist), der den bösartig-ironischen Namen Corta Cabeza trägt.
An der Metrostation Delicias stoße ich auf eine moderne Kirche, die sich den Namen des Viertels zu eigen macht in einem Spruch aus den Sprüchen an der Fassade der Kirche: Mis delicias son los hijos de los hombres – Meine Freude habe ich an den Menschensöhnen.
In der Eisenbahnstation schickt mich eine uniformierte Angestellte in die entgegengesetzte Richtung. Und die erweist sich als völlig falsch. Das Eisenbahnmuseum ist gleich hierneben, etwas tiefer gelegen.
Ich gehe die falsche Straße runter und stoße dabei auf die Bar Ande Andarás und den Buchladen Pulgarcito. Dann geht es wieder zurück, aber als ich die Schlange vor dem Museum sehe, höre ich mir nur, in dem dichten Pulk vor den Absperrung stehend, ein Lied an und kehre unverrichteter Dinge wieder zurück.
In der Bar Asturia ist es heute, obwohl Samstag, noch voller als während der letzten Tage. Entsprechend hoch der Lärmpegel. Die Kellner behalten trotz des Betriebs die Ruhe und die Übersicht, und ich gehe gut versorgt nach Hause, mit Marschverpflegung am Ende einer abwechslungsreichen Woche in Madrid.