Lissabon (2022)

2. Oktober (Sonntag)

Am Flughafen bewundere ich die Geduld, mit der einige Väter ihre quengelnden und plärrenden Kinder mit Fragen und Hinweisen ablenken und beruhigen: „Guck mal da, unser Flugzeug!“ – „Was macht der Mann da?“.

Es ist ein Tag des Wartens, Warten auf den Transfer zum Flughafen (der verspätet eintrifft), Warten beim Check-in (nur ein Schalter besetzt), Warten in der Schlange bei der Gepäckkontrolle, Warten auf den Abflug (der sich verspätet) und dann Warten auf den Koffer (der als vorletzter kommt, zusammen mit dem einer portugiesischen Familie, nachdem wir schon eine ganze Weile an dem leer kreidenden Gepäckband gestanden hatten).

Am Ende geht aber alles gut. Das erste Wort, das ich aufschnappe, ist tapete. So heißen die Gepäckbänder am Flughafen. Das zweite ist giro. Das sagt die junge Frau, Helena, die mich zur Unterkunft bringt. Ein umgangssprachliches Wort für ‚schön‘. Das erste Wort, das mir fehlt, ist merken in Das habe ich nicht gemerkt. Das müsste ich kennen.

Helena fragt mich nach meinen vorherigen Reisen nach Portugal und freut sich vor allem, dass ich Tomar kenne. Sie hat dort ein Ferienhaus. Das Wetter ist sommerlich und soll es auch bleiben, zumindest für die erste Woche. Das ist eine Wohltat nach dem grauen, verregneten Tag in der Heimat.

Die Unterkunft ist bei einer älteren Dame, Margarida, in einer kleinen Wohnung, wohl nördlich vom Zentrum gelegen. Zur Schule soll man zu Fuß gehen können. Margaridas Erklärungen kann ich alle gut verstehen. Sie hat Erfahrung im Umgang mit Ausländern. Ihre Tochter ist mit einem Deutschen verheiratet und lebt in Dresden. Wohin sie jedes Jahr reist, um Weihnachten mit der Familie zu verbringen.

Die öffentliche Aufmerksamkeit wird von den Wahlen in Brasilien in Anspruch genommen. Lula oder Bolsonaro? Nach den ersten Ergebnissen sieht es so aus, als würde ich die Stichwahl in Brasilien an Ort und Stelle mitbekommen. Bolsonaros zweiter Vorname ist Messias. Passt.

3. Oktober (Montag)

Am 3. Oktober 1932, heute vor 90 Jahren, erschien die Times in einem neuen Gewand, in einer neuen Schriftart, nicht mehr in Times Old Roman, sondern in Times New Roman. Das bedeutete das Ende der Frakturschrift. Und das Ende des Punktes, der als Abschluss des Titels bis dahin ein Markenzeichen der Times war. In Deutschland wurde die Frakturschrift noch lange verwendet, sie war weitgehend unumstritten. Nur die Nazis sahen das anders. Auch wenn es bei ihnen unterschiedliche Strömungen gab, eins ist klar: Hitler lehnte die Fraktur entschieden ab, sie erschien ihm rückwärtsgewandt. Ob das die Neonazis wissen, die gerne ihre Schriftzüge in Fraktur präsentieren?

Zum Frühstück gibt e natürlich die berühmte marmelada, die Quittenmarmelade, die der Namensgeber unserer Marmelade ist.

Ich frage Margarida nach ihren Enkeln und ob sie zweisprachig seien. Daraufhin bekomme ich eine Antwort, die für die Omas dieser Welt stellvertretend für die Omas dieser Welt steht. „Nein, nicht zweisprachig. Viersprachig.“ Sie lernen Englisch und Französisch in der Schule.

Ich mache mich zu Fuß auf den Weg zur Schule. In den Cafés sitzen Leute beim Frühstück.

Der führt an einer mehrspurigen, vielbefahrenen, lauten Straße entlang, der Avenida da República. Hochhäuser aller Art zu beiden Seiten der Straße, gesichtslose Klötze. Alles wirkt etwas zufällig, nicht das Resultat einer Stadtplanung. Zwischendurch stehen an Kreuzungen immer wieder mal niedrigere Häuser, die man grob gesagt dem Jugendstil zuordnen kann.

Schön ist es hier nicht, und ich würde gerne einmal die Frau hier entlang führen, die Frau, die einem Buch für Portugiesisch-Lerner Lissabon als „die schönste Stadt der Welt“ (ein ziemlich idiotisches Attribut) bezeichnet. Den ganzen Tag über, wohin ich auch komme, merke ich, dass dies ein ganz anderes Lissabon ist als das, was ich von meinem ersten Besuch kenne.

Ich komme an einem Lokal vorbei, das Oi heißt, die brasilianische Form der Begrüßung. Hier gibt es Rodizio, auch typisch brasilianisch. Dabei gibt es mehrere Gänge mit Fleisch und Gemüse vom Grill. Die brasilianische Vermieterin in Faro hat davon geschwärmt, aber ich habe es nie probiert. Wörtlich bedeutet rodizio ‚Drehung‘, also dasselbe wie gyros und döner.

Links kommt die Stierkampfarena, im typischen Mudéjar-Stil erbaut, und später rechts die Maternidad, eine riesige Geburtsklinik. Irgendwo sehe ich ein modernes Bürogebäude, das an der Ecke von einer überdimensionalen Hand gestützt wird. Hier ist die Skulptur in die Architektur integriert.

Dann, als ich nach Saldanha komme, wird es etwas schwierig und ich muss mehrmals fragen. Dabei fällt mir auf, dass der Eigenname in dem Straßennamen, Rúa do Actor Taborda, von den Portugiesen wie Taborde ausgesprochen wird. Bei der Suche erweist sich vor allem ein Mann sehr hilfsbereit, dem der Name der Straße irgendwie bekannt vorkommt, sie aber nicht verorten kann. Dann fällt es ihm irgendwann ein. Ich muss auf die andere Straßenseite. Er wiederholt seine Erklärung noch einmal und fasst mich dabei an den Arm, so als wolle er sagen, du kriegst das schon hin. Seine Erklärung erweist sich als goldrichtig, und ich bin Punkt 9 an der Schule.

Die ist im dritten Stock eines alten Gebäudes untergebracht, mit einer schweren vergitterten Eingangstür. Die Begrüßung ist nicht sonderlich freundlich, es geht hier eher geschäftsmäßig her.

Ich werde zum Einstufungstest in einen kleinen Raum geführt, wo schon drei andere sitzen, eine Österreicherin, ein Schweizer und ein Belgier, der in Mosambik lebt. Der Test ist ganz gut, es gibt eine Sparte zur Grammatik, eine zur Lexis und eine zum Leseverständnis.

Es kommen alle möglichen Klassiker vor wie esquisito, eine Falle, denn das bedeutet ‚eigenartig‘,  ‚merkwürdig‘. Dann Verbformen wie vinham, viram, vieram, die man immer durcheinanderwirft. Und die Personalpronomina und wo sie überall auftauchen. Im Nachhinein wird mir klar, dass ich mas und más verwechselt habe. Dabei habe ich mas schon Hunderte, vielleicht Tausende von Malen gelesen.

Nach dem Test wird man kommentarlos in einen Unterrichtsraum geführt. Es gibt kein Feedback zu dem Test. Man wüsste schon gerne, in welchen Bereichen man wie abgeschnitten hat. Das Niveau ist B1, das unvermeidliche B1.

Ich werde zusammen mit dem Schweizer, einem Juristen, in einen Unterrichtsraum geführt. Dort begrüßt uns der Lehrer, ein älterer Herr. Außer uns beiden ist hier nur eine weitere Schülerin, ein junge Spanierin.

Der Unterricht bestätigt die schlechten Erfahrungen aus Faro. Damals hieß es, das sei etwas unglücklich gewesen, es fehlten Lehrer, man habe Ersatz rekrutieren müssen. Aber hier ist es genauso: grammatiklastig, kleinteilig, wenig kommunikativ, ohne den Versuch, Fertigkeiten auszubilden, nicht ein Wort zu Aussprache oder Intonation. Es gibt einen guten Hörverständnistext. Aber statt den zum Hörverständnis zu nutzen, wird wieder nur auf die Grammatik geguckt.

In der Pause gehe ich unten in eine Bar. Dort bekommt man einen ausgezeichneten Kaffee und ein Pastel de nata, für 2,50 €. Zusammen!

Gegenüber der Schule befindet sich ein Lokal: Restaurante do tasca careca. Was das wohl bedeutet?

Nach dem Unterricht setze ich mich in einen leeren Raum, um die Hausaufgaben zu machen (Grammatikübungen, was sonst?). Dann werde ich von einer unfreundlichen Frau hinausgeworfen: „This is the teachers‘ room“. Erstens konnte ich das nicht wissen niemand hat uns durch das Labyrinth geführt, zweitens hätte es auch etwas freundlicher sein können und drittens war ja keiner da, den ich hätte stören können. Am Ende weist mir der junge Mann an der Rezeption, Diogo, einen Unterrichtsraum zu. Der sei 45 Minuten lang frei. Er erklärt mir anschließend auch gleich den Weg zum Botanischen Garten.

Auch der Weg dorthin ist für mich unbekanntes Lissabon. Ich bin immer noch ein ganzes Stück nördlich des Zentrums und des Viertels, in dem damals mein Hotel war. Wieder geht es an einer Avenida entlang. Ich bin schon auf dem richtigen Weg, Richtung Pombal, lasse mich aber von einem Schild ablenken und gerate in ein anderes Viertel. Dort komme ich an der Kolumbianischen Botschaft vorbei. In einem großen Bogen geht es dann zurück, ich habe schon fast wieder die Orientierung verloren. Vor einem Tunnel treffen ein modernes Bürogebäude mit einer gläsernen Fassade und ein verfallenes Wohngebäude mit zugemauerter Tür, abblätternder Fassade und zerborstenen Fenstergläsern aufeinander. Die Stelle, wo sie aufeinandertreffen, wird von einem hohen, schlanken Kaktus markiert.

Dann komme ich wieder auf die Avenida und zu Pombal. In der Mitte steht auf einer hohen Säule der Marquês  de Pombal, der umstrittene, rastlose, eigenwillige, aufgeklärte Reformer, der den Wiederaufbau Lissabons nach dem Erdbeben praktisch im Alleingang organisierte.

Von hier geht es weiter über die Avenida da Libertade. Je weiter nach Süden man kommt, umso angenehmer wird es. Hier geht der Fußweg unter Bäumen her und es gibt ein paar schönere Gebäude zu sehen. Ich komme an einer modernen Skulptur vorbei, schwarz, vermutlich Eisen, hoch, die nur aus Kugeln und gedrechselten Bändern besteht, die die Kugeln miteinander verbinden. Zuerst sieht es nach reiner Abstraktion aus, dann glaube ich, einen Menschen zu erkennen und, dann, mit ein paar Metern Abstand, verstehe ich, was gemeint ist: Es ist eine Menschenpyramide.  

Dann geht es von der Avenida ab und steil eine Straße rauf. Es ist ziemlich mühsam, und man hat mit der Hitze zu kämpfen. Es ist wie im Hochsommer.

Man kommt in ein Viertel mit verschiedenen Museen und einer Art Fachschule für Design. Dann geht es über eine geschäftige kleine Straße, wo man das Gefühl hat, in einem authentischen Wohnviertel für Lissaboner zu sein. An dieser Straße liegt der Botanische Garten.

Der Mann in dem Büdchen, wo man die Eintrittskarten kauft (5 Euro) bemüht sich erst gar nicht, freundlich zu sein. Irgendetwas will er damit wahrscheinlich demonstrieren.

Der Botanische Garten hat Bäume aus aller Herren Länder, von Mikronesien bis Mexiko, von Persien bis Taiwan. Am besten vertreten sind Kakteen und Palmen. Die gibt es beiden in allen erdenklichen Formen und Größen.

Das Gelände ist abschüssig und der Boden steinig. Ziemlich ermüdend.

Zwischen den Bäumen sind ein paar künstliche Tümpel angelegt. Da verleiht dem Ganzen etwas Atmosphäre.  Es gibt nur einen blühenden Baum, der aber in verschiedenen Exemplaren vertreten ist, mit großen, schönen Blüten in Weißrosa. An einem Baum sieht man Früchte. Die sehen aus wie künstliche, aus Holz gefertigte Erdbeeren. Der auffälligste Baum ist Dracaena Draco, aus Madeira stammend, ein Baum, der statt in die Höhe in die Breite zu wachsen scheint. Unten, unter dem Dach, bilden sich neue Äste aus. Der Baum wächst langsam und kann Hunderte von Jahren alt werden. Sein Harz, „Drachenblut“, wird seit Jahrhunderten zum Färben und für Lacke gebraucht.

Auch die Vögel fühlen sich hier wohl. Allerdings hört man sie nur, man sieht sie nicht. Sie klingen anders als unsere Vögel, „exotischer“. Was weniger gut dazu passt die das laute Geräusch der Flugzeuge, die ganz niedrig über die Innenstadt fliegen.

Zurück fahre ich mit der Metro. Der Kauf der Karte – Viva-viagem  – nebst Aufladen gelingt am Automaten auf Anhieb. Alles glasklar erklärt. Auf die Karte lädt man ein Guthaben, das man dann allmählich verbraucht.

Ich fahre nach Roma, in unser Viertel. Dort schaue ich mich lange nach einer halbwegs gemütlichen Kneipe um. Vergeblich. Immer wieder komme ich über kleinere Straßen, um dann wieder auf der Roma zu landen. Alles nicht sehr einladend.

Dann finde ich eine kleine Gastwirtschaft mit einer Art Wintergarten als Verlängerung. Dort sitzen zwei portugiesische Damen, die bald aufbrechen, und ein englisches Ehepaar, das mich voll in Beschlag nimmt. Sie haben ein kleines portugiesisches Buch mit Redewendungen dabei und lassen sich gerne aufklären über den Gebrauch von obrigado bzw. obrigada. Da hatten sie wohl etwas missverstanden. Der gesprächige Mann erzählt mir bald seine ganze Lebensgeschichte, die Frau sitzt eher teilnahmslos dabei. Es gibt leckeres, eiskaltes Bier in vorgekühlten Gläsern. Da bleibt es nicht bei einem. Der Mann klagt über die neue britische Premierministerin. Die habe gerade die Steuern für die Reichen gesenkt, ausgerechnet jetzt, wo die normalen Leute jeden Penny umdrehen müssten. Jetzt hat sie die Entscheidung unter dem Druck der Öffentlichkeit wieder rückgängig gemacht. Schuld war der Finanzminister. Er erzählt auch von einer Nichte, die neun Sprachen spreche. Auf meine Frage, wie sie es denn anstelle, die alle gleichzeitig am Leben zu halten, sagt er, sie einfach intelligent.

4. Oktober (Dienstag)

Beim Frühstück fragt mich Margarida, ob ich irgendetwas kenne, aber ich verstehe nicht, worum es geht, nicht einmal, ob es ein Wort oder ein Ort ist. Es klingt wie englisch blame. Dann, als sie zum zweiten Mal wiederholt, fällt der Groschen: Belém. Was meine These bestätigt, dass es nicht die unbekannten Wörter sind, die das Hörverstehen schwer machen, sondern die bekannten, die man nicht versteht. Jetzt müsste es mit Belém aber klappen. Sie spricht immer wieder davon und empfiehlt es als Ausflugsziel. Für mich nicht die erste Wahl, weil ich damals schon da war.

Auf dem Weg zur Schule fällt mir ein schönes Gebäude auf, mit dem Eingang schräg zur Straße, ein ehemaliger Adelspalast oder vielleicht eher eine Villa, aus hellem Sandstein, in einer Art Jugendstil gebaut. Es hat einen Fries mit Muscheln, der sich über die drei Teile der Fassade zieht und darüber einen Fries mit bunten Kacheln, Erker an den Außenseiten und gedrechselte Gitter an den Balkonen.

An einem Parkhaus steht liure. So würde man es jedenfalls lesen, wenn man es nicht besser wüsste. Er heißt livre.

In der Nähe der Schule gibt es auch die schön gestalteten Bürgersteige, in Grau und Weiß, mit Mustern und Bildern, auf die man oft in Portugal trifft. In unserem Viertel gibt es die nicht.

Es gibt auch Radwege. Die sind wohl eine Neuerung. Es handelt sich nicht um Radwege im eigentlichen Sinn, sondern um Spuren auf den Bürgersteigen, die als Radweg markiert sind. Die werden hier meist von den elektrischen Rollern benutzt.

Der Unterricht ist gewohnt langweilig. Es gibt mal wieder nur Grammatikübungen. Ein nützliches Detail, das ich inmitten der ellenlangen Erklärungen mitbekomme, ist der Unterschied zwischen ficamos und ficámos, andere Zeit, andere Aussprache. Nützlich ist auch die Korrektur meines falsch gebrauchten cambio, das im Portugiesischen nur für Geldwechsel gebraucht wird.

Gelegentlich halten der Schweizer und der Lehrer ein Schwätzchen. Es wird diskutiert, wie hoch der Mehrwertsatz in den verschiedenen Ländern ist. Der Schweizer, für den die Schweiz das gelobte Land ist, preist den niedrigen Mehrwertsteuersatz in der Schweiz, der Lehrer klagt über den hohen Mehrwertsteuersatz in Portugal, ich weiß nicht, wie hoch der Mehrwertsteuersatz in Deutschland ist und Manuela, die junge Frau, sitzt teilnahmslos dabei.

In der Pause fange ich sie in der Bar unten ab. Ich will sie nach ihren Unterrichtserfahrungen fragen. Es stellt sich heraus, sie ist gar keine Spanierin, da muss ich was missverstanden haben. Sie ist Kolumbianerin. Sie ist schon seit einem Monat hier. Ja, die Lehrer seien sehr unterschiedlich. Dieser rede viel. Aber eine dezidierte hat sie dazu nicht. Sie lebt im Laufe des Gesprächs immer mehr auf, erzählt von sich aus, fragt nach mir. Sie ist an diesen Kurs gekommen, weil ihre Mutter bei Roche arbeitet. Und die Firma finanziert den Kindern der Angestellten gelegentlich Kurse, die sie sich selbst aussuchen können.

Nach der Pause spreche ich die Unterrichtsmethode vorsichtig an, aber der Lehrer lässt mich abblitzen. Und macht klar, dass er keinen Anlass habe, irgendetwas zu ändern.

Also frage ich nach dem Unterricht, an wen ich mich wenden kann. Wieder bin ich bei Diogo in richtigen Händen. Die Studienleiterin, Marta, sei jetzt im Unterricht, aber er könne sie nachher fragen, ob sie mit mir sprechen kann. Ich soll das wiederkommen.

In der Zwischenzeit kaufe ich in einem Supermarkt Hygieneartikel und merke wieder, dass sie in Portugal teurer sind als bei uns.

Dann setze ich mich in einem kleinen Park auf eine Bank und lasse mich von der Sonne bescheinen. An einer Apotheke wird die aktuelle Temperatur angezeigt: 29°.

In einem Schnellimbiss nebenan gibt es chamuças. Was war das noch mal? Muss ich nachgucken. Das waren die gefüllten Teigtaschen, klein, mit der typischen dreieckigen Form. Sind wohl ein koloniales Erbe. Das deutsche Wort ist Samosas.  

Als ich wieder in der Schule bin, treffe ich zum ersten Mal auf Antonia. Die kenne ich von dem Briefverkehr bei der Buchung des Kurses. Ich sage ihr, wie gut das alles geklappt habe. Nach 5 Mails war alles erledigt. Für den Kurs in Rio war erst nach 34 Mails alles unter Dach und Fach.

Mit Marta gehe ich in einen Unterrichtsraum. Sie hört mir geduldig zu, ohne mich zu unterbrechen oder zu korrigieren. Ich erzähle von den Erfahrungen in Faro und von den ersten beiden Unterrichtstagen. Sie nickt verständnisvoll. Ich frage, ob man den Kurs vielleicht in Einzelunterricht umwandeln kann. Ja, das gehe, aber nur am Nachmittag. Soll mir recht sein. Sie will das organisieren und mir heute noch Bescheid geben. Das tut sie tatsächlich. Mit einer guten Nachricht. Ich kann auch um 9 Uhr morgens Unterricht habe, bei ihr. Das hat den Vorteil, dass ich so auch an dem Kulturprogramm am Nachmittag teilnehmen kann.

Wieder zurück in unserem Viertel bewahrheitet sich Margaridas Behauptung, hier wimmele es nur so von Lokalen. Ich muss wohl gestern einfach zur falschen Zeit hier gewesen sein. Ich lande in einem kleinen, völlig schmucklosen Lokal, in dem alle Tische bis auf den letzten Platz besetzt sind. Aber der junge Kellner, der alles alleine macht und trotzdem gut den Überblick behält, sagt mir, ich solle einen Moment warten. Gleich werde ein Tisch frei. Die Gäste sitzen an kleinen quadratischen Tischen, entweder zu zweit oder alleine. Nur Männer. Hier bin ich richtig.

Es wird nur wenig Wein getrunken. Die meisten trinken Bier zum Essen, auffällig viele dunkles Bier.  

Das Lokal heißt Verde Pinho, ein Name, den man als Aufhänger einer Grammatiklektion benutzen könnte. Warum heißt es Verde Pinho und nicht Pinho Verde? Vermutlich weil alle Pinien grün sind. Die Wortstellung hat hier Aussagekraft.

Der Kellner spricht konsequent Portugiesisch mit mir, obwohl er auch gut Englisch kann. Und wiederholt auch geduldig, wenn ich nicht verstehe. Wie bei der Frage, welches Fleisch ich haben wolle: „Vaca ou perú?“ Ich nehme den Truthahn. Es gibt eine Art Tellergericht, mit Salat, Pommes, Reis und Spiegelei auf dem Fleisch. Dazu Bier. Oliven, Brot und Kaffee gibt es auf Bestellung. Das alles kostet unter 10 Euro!

Als sich ein Gast verabschiedet und mit dem Kellner noch ein paar Sätze wechselt, verstehe ich gar nichts, außer einem Wort. In solchen Situationen ist wohl die Redewendung Ich versteh immer nur Bahnhof entstanden.

5. Oktober (Mittwoch)

Feiertag. Heute ist der Jahrestag der Gründung der Republik, 1910. Es ist bei uns wenig bekannt, dass in Portugal der König und der Thronfolger 1908 bei einem Attentat ums Leben kamen. Der zweite Sohn des Königs überlebte leicht verletzt und wurde zum König, Manuel. Aber die Monarchie war längst angeschlagen. Schon 1890 hatte es die erste Revolte gegeben, ausgelöst durch eine schwere Wirtschaftskrise. Zur Stützung der Monarchie war es dann zu einer Diktatur gekommen, die aber den Widerstand noch verschärfte. Manuel, als König Manuel II. lockerte das harte Regime, aber die Monarchie war nicht mehr zu retten. 1910 wurde Manuel abgesetzt. Am 5. Oktober wurde die Republik ausgerufen, vom Rathaus von Lissabon aus, der Cámara Municipal. Manuel floh über Gibraltar nach England. Portugal ist seitdem Republik geblieben, im Gegensatz zu Spanien, wo in derselben Zeit aus einer Monarchie eine Republik wurde und dann wieder aus der Republik eine Monarchie.

Per Internet bestelle ich eine Karte für eine Theaterführung, im Teatro Nacional D. Maria II. Die Führungen  finden jeweils montags statt. Hier bewahrheitet sich, was der Lehrer gesagt hat: hoher Mehrwertsteuersatz, 23%. Es dauert eine ganze Zeit, bis die Bestellung durch ist, denn immer wieder werde ich nach meiner Steuernummer gefragt, und die kann man nur umgehen, wenn man bestimmte Dinge ausschließt.

Beim Frühstück sehe ich vor dem Fenster eine Möwe durch das Viertel fliegen. Aus der Nähe sehe ich, wie groß sie ist und wie weit ihre Flügel sind. Auch in der Innenstadt sieht man sie. Das Meer ist nicht weit.

Nach dem Frühstück gehe ich aufs Geratewohl Richtung Zentrum und komme auf eine weitere Avenida, die eine parallel zu der República verläuft. Aber hier gibt es keine Metrostationen, und ich muss lange laufen, bis ich an einen Platz mit einer Metrostation komme, so lange, dass ich zwischendurch auf einer Parkbank Platz nehmen muss.

Die Straßen sind menschenleer, aber in der Metrostation herrscht Betrieb wie zur Rush Hour. Statt am Rossio auszusteigen, fahre ich bis zur Endstation – Cais de Sodré, nach einer Familie benannt.

Hier, am der Mündung des Tejo, ist (oder war) der Lissaboner Hafen. Ein paar Frachtkräne sieht man jedenfalls noch. Hier ist auch der Abfahrtsort für die Fähre auf die andere Seite des Tejo. Ansonsten ist das Hafenviertel jetzt aber viel auf Freizeit ausgerichtet. Zu dieser Zeit sieht man in erster Linie Jogger und Radfahrer. Die vielen Bars und Restaurants, die sich vor allem in einer Reihe von sanierten oder nachgebauten  Frachthäusern aus Backstein befinden, sind gerade dabei, ihre Außenterrassen für die Gäste vorzubereiten, aber von denen ist noch nichts zu sehen. Ein Lokal heißt Descarado, ‚Unverschämt‘, und das Emblem des Lokals spielt mit der Bedeutung, indem es ein halbes Gesicht zeigt und damit auf die wörtliche Bedeutung verweist.

Es ist richtig heiß, und die Sonne brennt mir auf das Gesicht und auf die Füße.

In der Ferne kommt die Brücke des 25. April in Sicht, und da es hier nur eine Richtung gibt, gehe ich immer weiter, und immer weiter, gehe unter der Brücke durch und mache ein Photo von der Christusstatue auf der anderen Seite, dem kleinen Bruder der von Rio. Während die auf einem Berg steht, steht diese hier auf einem Sockel. Von hier aus ist sie in dem Dunst nur in Umrissen zu erkennen.

Ich gehe noch weiter, unter einer Autobrücke hindurch und an einer breiten Straße entlang, die hier nicht zu überqueren ist, weil sie durch ein Gitter abgetrennt ist. Es bleibt mir nichts anderes übrig als weiterzugehen, und plötzlich bin ich in – Belém. Kaum zu glauben.

Hier erwische ich einen Bus, der mich zurückbringt, gleich ins Zentrum, an den Terreiro do Paço, einen der emblematischsten Plätze Lissabons, mit Arkaden und palastartigen Gebäuden auf drei Seiten, aber auf der vierten zum Tejo hin offen. Im Zentrum die Reiterstatue von Pedro IV. Sieht eher wie ein Freizeitreiter aus.

Den schönsten Blick auf den Platz hat man, wenn man ihn schon verlassen hat, durch den marmornen Bogen, der den Platz mit der Baixa verbindet, zurückblickend auf Reiterstatue und Fluss.

Es ist rappelvoll heute, Einheimische, aber vor allem Touristen. Ich gehe zur Feier des Tages zur Cámara Municipal, dahin, wo die Republik ausgerufen wurde. Aber es ist kaum ein Durchkommen, und der Platz ist ohnehin abgesperrt für Honoratioren und Journalisten. Die Balkone sind mit schweren Teppichen geschmückt, es wird wohl gleich ein Festakt beginnen.

Ich flüchte mich vor der Masse und der Hitze in das gleich daneben gelegene Museu do Dinheiro, auf das mein Blick zufällig fällt. Es ist auch, wie die Cámara Municipal, in einem palastartigen Gebäude untergebracht, vermutlich aus dem 19. Jahrhundert.

Am Anfang werden die ältesten Münzen dargestellt. Dazu gehören die chinesischen. Die ersten Münzen hatten die Form eines Wertgegenstands, wie das hier ausgestellte Messer (5. Jahrhundert vor Christus). Erst langsam nahmen die chinesischen Münzen die runde Form von heute an.

Der älteste Geldschein stammt auch aus China (XIV), der älteste europäische aus Schweden (XVII): 100 Taler. Beide sehen aus wie Urkunden mit viel Text und vielen Unterschriften, im Hochformat.

In Griechenland und Rom übernahm immer mehr der Staat die Prägung von Münzen. Es wurden jetzt auch edlere Metalle genutzt wie Gold und Silber. Vorher war es oft Bernstein gewesen. Symbole wurde immer mehr durch die Porträts der Herrschenden ersetzt.

Dann gibt es Münzen, die irgendwie auf der Iberischen Halbinsel von Bedeutung waren: der römische Aureus, Münzen der Westgoten und der Mauren, der portugiesische Cruzado der Dinar der Almoraviden, die erste reine Goldmünze, eine Drachme aus Mazedonien und ein Schekel aus Karthago, brasilianische, in Minas Gerais geprägte Münzen. Aus der Zeit Alfons VIII. von Kastilien gibt es einen Maravedí mit arabischer Inschrift, aber einen christlichen Kreuz.

Im Obergeschoss sind Banknoten aus aller Welt dargestellt. Man sieht eine Fülle verschiedener Abbildungen: einen Bauern aus Burma beim Pflügen des Feldes, einen portugiesischen Seefahrer, ein indonesisches Flugzeug, einen Berg aus Neuseeland, kirgisische Musikinstrumente, einen malaiischen Wolkenkratzer. In der Regel finden die aber nur auf der Rückseite ihren Platz.

Dann gibt es Gelddruckmaschinen zu sehen und Druckplatten und Punzen, einen lithographischen Stein von 1910 und verbrannte 50-Euro-Scheine, die aus dem Verkehr gezogen wurden.

Einen australischen 5-Dollar-Schein hat man so angebracht, dass man quasi durch den Schein hindurchsehen kann. Erstaunlich, was da alles drauf ist: Linien, Schraffuren, Embleme, Buchstaben, Zahlen.

Dann gibt es eine Vitrine, in denen Rohmaterialien zur Herstellung von Münzen ausgestellt sind, unbearbeitete Blöcke von Kupfer und Eisen.

Auf einer Elementartafel sind die Elemente hervorgehoben, aus denen Münzen gefertigt werden: Gold, Silber, Platin, Paladium, Kupfer, Nickel (wie der umgangssprachliche Name der 5-Cent-Münze in den USA), Zink, Eisen, Blei und Zinn, dazu noch Legierungen wie Bronze. Erstaunlich, eine solche Vielfalt hätte man nicht erwartet.

Als ich wieder aus dem Museum komme, defilieren gerade, zum Entzücken der Touristen, Soldaten mit schicken Uniformen und Blasinstrumenten vorbei. Es ist kaum ein Durchkommen, aber irgendwie schaffe ich es  zu einer Metrostation und fahre nach Hause.

Gleich in demselben Gebäude, aber zur anderen Seite hin, gibt es ein Lokal, auf das mich Margarida hingewiesen hatte. Sie servieren petiscos. Entsprechen aber nicht den spanischen tapas.  Es sind kleine Gerichte. Der Klassiker, den es hier in allen Varianten gibt, sind die chocos, also Sepias. Die kommen für mich aber nicht in Frage. Ich bestelle stattdessen Schweinebacken, bochechas de porco.  Kenne ich aus Funchal. Diese sind genauso gut, aber die Portion ist wirklich so, dass das Wort petiscos angemessen ist.

Am Nebentisch bestellt ein Mann eine imperial. Da hilft er meinem Gedächtnis auf die Sprünge. Das ist ein gezapftes Bier.

6. Oktober (Donnerstag)

Auf dem Weg zur Schule sehe ich an einer Baustelle in unserem Viertel einen Baggerführer und zwei Hilfsarbeiter. Sie sind alle Afrikaner, vielleicht Mosambikaner oder Angolaner. Auch der Mann, der eine Mülltonne bewegt, ist Afrikaner.

Diesmal gibt es Einzelunterricht bei Marta, der Studienleiterin. Intensiv und interessant. Hier bekomme ich genau das, was ich gebrauche.

Nebenbei kommt die Rede aufs Bezahlen, mit Bargeld oder bargeldlos. Sie selbst, sagt sie, gebraucht, im Gegensatz zu ihren Eltern, fast gar kein Bargeld mehr. Sie bezahlt auch nicht mit einer Geldkarte im engeren Sinne, sondern über ein eigenes portugiesisches Portal, das sich wohl großer Beliebtheit erfreut. Auf so etwas bin ich auch schon mal in Schweden gestoßen.

Nach dem Unterricht fahre ich zum Estádio José Alvalade, dem Stadion von Sporting. An den Emblemen rund um das Stadium herum, sieht man, dass der Verein das Wort Lissabon nicht im Namen trägt: Sporting Clube de Portugal. Die Außenanlagen haben schon bessere Zeiten gesehen. Vieles ist verdreckt, beschmiert, rissig.

Man geht um das Stadium herum, um zu Tor 1 zu gelangen. Hier ist das Museum. Zuerst kommt man aber in eine große, moderne Eingangshalle, ohne jeden Reiz.

Die Leute am Empfang sind alle sehr freundlich und antworten geduldig auf Portugiesisch. Es ist noch Zeit, sich umzusehen, bevor die Führung beginnt.

In der Eingangshalle befinden sich an zwei Pfeilern die Porträts von Figo und Christiano Ronaldo. Figo war der erste Portugiese, der zum Weltfußballer wurden, Christiano Ronaldo wurde es fünfmal. Allerdings spielten da beide schon nicht mehr für Sporting.

Da, wo sich der Zugang zum Stadion befindet, hat man ein Tor aus dem alten Stadion in die Wand integriert, eine Tor, das für die Geschichte des Vereins wohl eine besondere Bedeutung hat. Es hat ein schmiedeeisernes Gitter mit zwei vergoldeten Löwen in der Mitte. Die Löwen sind das Wappentier von Sporting und geben dem Verein ihren volkstümlichen Namen, Os Leões.

Im Museum geht es mit Tennis los. Das war der wichtigste Sport nach der Gründung des Clubs 1906. Man sieht Frauen in langen Röcken und Männer in langen Hosen auf dem Tennisplatz.

Daneben eine Wand mit dem vergrößerten Photo der Gründer des Vereins, lauter Herren mit Strohhüten und gezwirbelten Schnurrbärten, unter ihnen José Alvalade, der Namensgeber des Stadions.

Dann ist das erste Trikot des Vereins ausgestellt. Es sieht aus wie ein Hemd, das man auch in der Freizeit tragen kann, ganz in Weiß mit feinen grünen Linien am Kragen und an der Knopfleiste. Das nächste, zweigeteilt in eine grüne und eine weiße Hälfte, sieht schon eher nach Trikot aus.

In der Fußballabteilung werden zuerst vorgestellt die Spieler mit den meisten Titeln (23), den meisten Toren (544), den meisten Spielen (494) und den meisten Länderspielen (79) des Vereins.

Sporting hat insgesamt 23 nationale Meisterschaften gewonnen. Alle Pokale sind hier in einer Reihe, jeder in einer eigenen Glasvitrine, ausgestellt. Die Form hat sich kaum geändert. Sieht aus wie eine breite Schüssel auf einem Schaft.

Dann kommen die Pokale aus dem Pokalwettbewerb. Die sehen aus wie ein Aschenbecher auf einem hohen Schaft. Bei der Gelegenheit werde ich daran erinnert, dass Pokal taça heißt.

Es folgt eine Photowand mit bekannten Spielern des Vereins. Von denen kenne ich nur Schmeichel und Balakov, zwei Ausländer.

Dann kommen Pokale und Medaillen aus anderen Sportarten, eine ganze Bandbreite: Basketball, Hallenfußball, Rollhockey, Handball, Rugby, Radsport, Volleyball, Wasserball, Boxen. Das geht angesichts der Prominenz des Fußballs schnell unter.

Besondere Erfolge hat der Verein in der Leichtathletik gehabt, vor allem in den Laufdisziplinen. Erinnern kann ich mich noch an Carlos Lopes, der mehrere Weltrekorde aufstellte und in Barcelona die olympische Goldmedaille holte.

Interessant sind die alten Exemplare der Vereinszeitung. Die erste hat auf dem Titelblatt noch einen fortlaufenden, eng gedruckten Text, die nächste hat schon verschiedene, teils eingerahmte Texte auf der Titelseite und ein Photo.

Dann beginnt die Führung. Sie wird im Doppelpack angeboten, Englisch oder Portugiesisch. Ich entscheide mich für Portugiesisch. Das geht ganz gut, vor allem am Anfang. Die junge Frau artikuliert sehr deutlich.

Ich bin überrascht, als sie ankündigt, wir würden uns jetzt die balneários ansehen, und dort  dürfe man keine Photos machen. Es stellt sich heraus, dass mit balneários die Umkleidekabinen gemeint sind. Dorthin gelangt man durch einen langen, schmalen, ganz in Grün gehaltenen Gang. Auch die Umkleidekabinen sind grün. An der Seite das Photo eines Spielers, der lange den Rekord hielt mit fünf geschossenen Toren in 26 Minuten. Wurde später dann von Lewandowski abgelöst.

Dann geht es zum Stadion hinaus, durch das Löwentor in der Eingangshalle. Einige der Stahlträger unter dem Dach sind in Gelb gehalten. Das ist gut für die Augen, sonst ist es doch ein bisschen viel Grün. Das Stadion ist schön, aber weniger speziell, als ich mir das vorgestellt hatte.

Bei Benfica lässt man vor dem Spiel die Adler fliegen. Hier müsste man eigentlich die Löwen eine Runde drehen lassen, aber davon ist nicht die Rede.

Zum Schluss gehen wir noch in die Präsidentenloge. Von hier aus hat man einen guten Blick ins Stadion und aufs Spielfeld hinunter.

Der Name Benfica ist während der ganzen Führung nicht gefallen. Das Stadion von Benfica ist ganz in der Nähe, in gerade mal zwei Kilometer Entfernung. Auch hat es keine Erklärung für den Namen Sporting gegeben. Vielleicht kommt die noch, denn die Führung geht jetzt noch ins Museum. Das erspare ich mir aber. 

Nach der Besichtigung kaufe ich ein paar Kleinigkeiten ein, bei Lidl. Die haben ein großes Geschäft gleich hier am Eingang der Metrostation.

Dann gehe ich in das Lokal gegenüber der Schule, die Tasca do Careca. So steht es auf dem Beleg, und so ergibt es auch Sinn: Es ist die ‚Kneipe des Kahlköpfigen‘. Auf dem Namensschild über dem Restaurant ist die Sache irgendwie durcheinandergeraten.

Die Speisen werden in schönen Keramikformen serviert. Es gibt erst eine grüne, sämige Gemüsesuppe und dann Reis mit Hähnchenfleisch und ein bisschen Speck. Das ist schmackhaft und sehr günstig. Den Salat dazu muss man extra bestellen. Der ist einfach und dafür relativ teuer.

Der Kellner, schlank, mit männlichen Gesichtszügen, hellbraunem Teint und graumeliertem, vollem Haar sieht aus wie ein Schauspieler, der etwas in die Jahre gekommen ist.

Am Nebentisch sitzen drei Frauen und ein Mann. Sie reden pausenlos, immer ganz emphatisch. Manchmal senken sie geheimnisvoll die Stimme, aber die Vorsichtsmaßnahme ist unnötig. Ich verstehe sowieso nichts. Eine der Frauen bestreitet die Hälfte der Konversation, die beiden anderen teilen sich die andere Hälfte. Der Mann sagt zum ersten Mal was, als ich schon aufstehe.

In der Schule gibt es am Nachmittag die erste Veranstaltung innerhalb des Freizeitprogramms, eine Besichtigung des Museu Gubelkian. Diogo stellt mich wiederum vor eine Herausforderung, als er mir sagt, wo der Treffpunkt sei. Ich verstehe mal wieder nur Bahnhof. Es ist der Balkon – veranda. Für mich nicht zu identifizieren. Ähnlich war es schon am Morgen gegangen, als er mich nach dem Feiertag fragte – feriado – und ich so was wie Erkältung verstand.

Wir sind nur zu viert, die Österreicherin von dem Test am Montag, eine Norwegerin und eine Engländerin. Der Führer, Miguel, ist aus Lissabon. Er spricht gerne Englisch und es bleibt praktisch dabei, nachdem er ein paar Alibisätze auf Portugiesisch gesagt hat.

Auf dem Weg zum Museum zieht er hinter der alten Umfassungsmauer einen Zweig hinunter, zerreibt ein paar Blätter und gibt sie uns. Wir sollen daran riechen. Es geht uns allen gleich: Wir kennen den Geruch, aber können ihn nicht benennen. Es ist Pfeffer! Dann sehen wir auch ein paar kleine Pfefferkörner an einem Zweig hängen.

Gubelkian war ein aus Istanbul stammender Armenier, der in Portugal eine neue Heimat fand. Und dem portugiesischen Staat die Schätze aus seinen unglaublichen Sammlungen hinterlassen hat. Er war einer der ersten, die durch Öl reich wurden. Man nannte ihn auch Nummer 7, weil er als der siebtreichste Mann der Welt galt.

Die Kunstschätze waren bereits vorhanden, als das Museum, ein moderner, einstöckiger Bau, errichtet wurde. Es konnte also genau nach den Bedarf gebaut werden. Gubelkian kaufte überall auf der Welt, aber ein paar Schnäppchen machte er bei der Eremitage, als die Sowjets wegen Geldmangels einiges verkauften.

Die Führung ist sterbenslangweilig. Unser Führer läuft irgendwie ziellos und scheinbar teilnahmslos durch die Gegend. Er artikuliert sehr schlecht und macht Bemerkungen, die nicht sonderlich interessant sind. Je länger die Führung dauert, umso mehr wird daraus ein Dialog zwischen ihm und der kunstverständigen Engländerin. Ich atme erleichtert auf, als die Führung zu Ende ist.

Aus dem riesigen Schatz, vom Mistkäfer aus dem Alten Ägypten bis zu Porträts von Degas und Renoir, bleiben mir nur ganz wenige Dinge in Erinnerung. Darunter ein ägyptischer Löffel aus Elfenbein, mit dem man sich die Augen beträufelte, angeblich auch als Schutz vor dem Wüstensand. Aber in erster Linie ist es wohl eine Schönheitsmaßnahme gewesen. An dem Stiel des Löffels sieht man, wie ein junger Mann an einem Ast hinausklettert, um auf den Rücken eines älteren Mannes zu gelangen. Darüber hocken in dem Baum auch noch ein paar Affen. All das auf wenigen Zentimetern.

Aus Persien stammt eine Alabastertafel, die zur Ausschmückung der Gebetsnische in der Moschee diente. Es gibt zwei Schriftbänder, einen äußeren und einen inneren. Der äußere ist in Arabisch, der innere in Farsi.

Interessant die Erklärung zu Glasvasen aus dem arabischen Raum, mit bauchiger Form und Zitaten aus dem Koran. Diese Vasen wurden mit Öl gefüllt, und dann wurde mit Hilfe eines Dochts ein Licht entzündet. Die Vasen hingen dann von der Decke der Moschee hinab und drehten sich. Und dienten so der Kontemplation. 

7. Oktober (Freitag)

Beim Frühstück, als die Rede auf meinen Besuch im Stadion von Sporting kommt und dann auf meine Neffen als passionierte Anhänger des Fußballs, stellt sich mein torceirdor als brasilianisch heraus. In Portugal heißt es adepto.

Das setzt sich im Unterricht gleich fort. Da erweist sich mein ómnibus als brasilianisch, im Unterschied zum portugiesischen autocarro.

Wir sprechen über ein paar portugiesische Berühmtheiten, von denen ich aber kaum eine kenne. Eine der wenigen Ausnahmen ist Saramago. Marta ist nicht allzu begeistert von ihm, empfiehlt aber einen seiner weniger bekannten Roman, Todos os nomes. Bei der Gelegenheit werde ich daran erinnert, dass Roman auf Portugiesisch romance ist, nicht novela.

Auch werde ich daran erinnert, dass die Buchstaben im Portugiesischen männlich sind, nicht weiblich.

Zum ersten Mal bekomme ich eine Erklärung dafür, warum bei Ortsnamen manchmal der Artikel steht, manchmal nicht: Hat das Wort eine weitere Bedeutung, dann steht der Artikel: o Porto (Hafen), a Madeira (Holz), o Funchal (Fenchel), o Faro (Leuchtturm), o Rio (Fluss), os Açores (Habicht). Das ist aber die Ausnahme, in der Regel steht, zumindest bei Städten, kein Artikel: Lisboa, Évora, Braga, Setúbal, aber auch Munique oder Madrid. Keine hundertprozentig verlässliche Regel, aber eine gute Leitlinie.

Nach dem Unterricht gehe ich in das von Marta empfohlene Café Galeto auf der República. Nichts Besonderes. Das Gebäude ist hässlich, der Kaffee teuer, die Bedienung unfreundlich. Allerdings sind die Auslagen drinnen an der Theke, Törtchen und Teilchen aller Art, sehr verlockend aus. Draußen stehen die Öffnungszeiten. Geöffnet bis 3.30!

Am Mittag  gehe ich in ein Lokal gleich in der Nähe der Schule. Hektische Betriebsamkeit, fast alle Tische sind besetzt. Immer wieder Wechsel der Gäste, teils ganze Gruppen an aneinandergerückten Tischen. Drei junge Kellnerinnen erledigen die komplette Bedienung, einschl. Außenterrasse, schnell, wendig, aufmerksam. Eine ist nur für das Abräumen da, die beiden anderen erledigen den Rest: Eindecken, Bestellung Aufnehmen, Servieren, Kassieren. Unglaublich.

Hinter der Theke ein Schild mit der Aufschrift: Não leves a vida tão a serio, no final ninguém sai vivo.

Danach fahre ich zum Rossio. Es ist wimmelt nur so von Menschen, und es ist heiß, aber nicht schwül. Einfach hochsommerlich heiß.

Zuerst kommt man auf die Praça da Figueira. Die ist nur ein paar Schritte entfernt. In der Mitte des Platzes die Reiterstatue von Joâo I., ganz Ritter, im Gegensatz  zu der von Pedro IV. auf dem Terreiro do Paço. Vor dem Erdbeben befand sich hier ein großes Hospital, danach eine Markthalle. Die wurde vor ein paar Jahrzehnten abgerissen.

In einem der vielen Souvenirgeschäfte in einer Seitengasse kaufe ich ein Andenken. Die Verkäuferin ist, eine Araberin mit langem Rock und Kopftuch, hat beide Hände voll tätowiert, in Rot.

Beide Plätze sind sehr auf touristische Bedürfnisse zugeschnitten. Verkäufer und Rikscha-Fahrer bieten ihre Dienste an, Kellner stehen in  Erwartung von Kundschaft vor Bars und Cafés. Auf beiden Plätzen sind mehrere Gebäude eingerüstet für die Sanierung. Das alles lässt die Plätze nicht so gut zur Geltung kommen. Der Rossio ist der schönere Platz, teils wegen der Dekorationen im Pflaster, vor allem aber wegen der beiden Bronzebrunnen.

Auch der Rossio hat seine Königsstatue, aber nicht auf einem Sockel, sondern auf einer Säule. Es ist Pedro IV. Das ist der portugiesische König, der später Kaiser von Brasilien wurde.

An der Kopfseite des Platzes steht das Teatro Nacional D. Maria II. Dahin werde ich am Montag zu einer Besichtigung kommen.

Etwas versetzt vom Platz der Rossio-Bahnhof mit seinen charakteristischen hufeisenförmigen Portalen und den zahlreichen Verzierungen an der Fassade. Er dient weiterhin als Bahnhof, aber von hier verkehren jetzt nur noch Nahverkehrszüge, zum Beispiel nach Sintra.

Aus der Heimat erfahre ich, dass am Sonntag der Lissabon-Marathon stattfindet. Davon habe ich hier bisher nichts mitbekommen.

8. Oktober (Samstag)

Heute besichtigen wir die Burg, das Castelo de São Jorge, in der Oberstadt. Wir sind nur zu viert, lauter Deutsche. Diesmal haben wir einen anderen Führer, Bernardo, einen freundlichen jungen Mann, der nicht allzu viel Ahnung hat, aber sich echt Mühe gibt und auf uns eingeht. Auch das Portugiesische kommt nicht zu kurz.

Er stammt eigentlich aus Santarém, lebt aber schon seit einiger Zeit in Lissabon. Ob es ihm hier gefalle, will ich wissen. Lissabon? Die schönste Stadt der Welt. Daran lässt er keinen Zweifel.

Er erzählt von einer Reise nach Südamerika, die er zusammen mit zwei Freunden gemacht hat, sechs Monate, als Rucksacktouristen: Brasilien, Argentinien, Chile, Kolumbien, Bolivien. Kolumbien habe ihm sehr gut gefallen, aber Bolivien, das sei etwas ganz Besonderes, etwas ganz Eigenes. Das ist nicht das erste Mal, dass ich das höre.

Wir müssen ein ganzes Stück zu einer Bushaltestelle gehen, dann mit dem Bus fahren und dann noch ein ganzes Stück laufen, bergauf. Ich hatte nicht in Erinnerung, dass der Weg dorthin so weit ist.

Er ist Anhänger von Sporting und bestens informiert, auch, was die aktuelle Situation in der Bundesliga angeht und in der Europa League. Bei Sporting sieht es in der Champions League ganz gut aus, in der Meisterschaft nicht so. Er ist sehr angetan, dass ich das Stadion das José Alvalade besucht habe und dass ich in Deutschland immer darauf bestehe, dass es nicht Sporting Lissabon heißt.

Eine unserer Fragen zu Lissabon kann er erst nicht beantworten, weil wir das falsche Wort benutzen. Es heißt Elevador de Santa Justa, aber Ascensor do Lavra. Der erste ist ein Aufzug, er geht geradeaus rauf, der zweite, trotz des Namens, eine Straßenbahn, und die geht schräg rauf.

Wir kommen an der Kathedrale vorbei, aber dazu verliert er kein Wort. Schon im weiteren Burgbezirk sieht man Ausgrabungsreste mit verschiedene Mauern und Säulen. Ich erfahre von einer der anderen, dass das ein römisches Theater ist, das man hier entdeckt hat.

Als wir an der Burg ankommen, weiß ich wieder, warum ich sie damals nicht besichtigt habe: eine riesige Schlange, die sich von der Außenmauer über den ganzen Burghof bis zum Eingang windet. Wir brauchen uns nicht anzustellen. Er hat Zugang zu den Gruppenführungen.

Die Burg befindet sich auf einem unebenen, steinigen, baumbestanden Gelände, das sich über den ganzen Berg hinzieht. Hier gibt es, wie Margarida schon sagte, nicht viel zu sehen, aber die Aussicht ist wirklich spektakulär, vor allem von dem ersten Aussichtspunkt her. Die Sonne tut ihr Übriges.

Man sieht hinunter auf den Rossio und den Terreiro do Paço, links davon der Tejo, die Brücke des 25. April und die Christusstatue. Zur anderen Seite sieht man den Rest der Baixa, in der man die Schneisen der Avenida gut erkennen kann und die Praça Pombal. Wir versuchen, die Schule zu lokalisieren, aber die liegt doch etwas weiter seitlich abseits, als wir dachten.

Lissabon war von alters her ein strategisch wichtiger Punkt durch seine Lage am Tejo und die Nähe des Meers. Den konnte man von hier aus militärisch verteidigen. Das erkannten alle, die hier das Sagen hatten. Als erstes errichteten die Römer hier eine Art Festung. Die wurde dann von den Westgoten ausgebaut und dann von den Mauren. Einen Einschnitt bedeutete die Eroberung durch die Christen, nach langer Belagerung. Die ist im Bewusstsein der Portugiesen verbunden mit dem Namen  Martim Moniz, einem Soldaten, der sich mutig zwischen die Torflügel warf, als die Mauren dabei waren, das Tor zu schließen. Er opferte sein Leben und ermöglichte die Eroberung der Burg. So will es die Legende.

Wir gehen anschließend über das Gelände, immer wieder über schmale Steige an der Mauer entlang, rauf und runter. Sonderlich interessant ist das nicht. Man sieht nur immer wieder andere Stadtteile, Kirchen und Aussichtstürme von Lissabon, zu viele, um sich die Namen zu merken. In der Ferne sieht man den Ort, wo der Flohmarkt stattfindet, die jahrhundertealte Feira da Ladra, der ‚Markt der Diebin‘.

Lissabon, heißt es, stehe auf sieben Hügeln. Die werden im Laufe der Besichtigung auch alle genannt und gezeigt, aber leicht zu identifizieren sind sie nicht.

Bei einem der kurzen Gespräche mit Bernardo suche in nach dem Wort für Mischung und mache gleich eine doppelte Bruchlandung: Es ist weder mescolanza noch mezcla, sondern mistura.

Nach der Besichtigung fahre ich nach Hause und esse in einem asiatischen Lokal gegenüber der Unterkunft. Dort gibt es als Vorspeise die indischen chamuças, die Teigtaschen, die ich dieser Tage in einem Schnellimbiss gesehen habe, danach Biryani, ein herzhaftes Gericht mit geröstetem Reis, mit Jogurt und mit verschieden Fleischstückchen.

Dann geht es noch einmal in die Innenstadt, diesmal mit einem Beutel schmutziger Wäsche. Während die Maschine läuft, setze ich mich in ein Café, um die Zeit zu überbrücken. Am Nebentisch sitzt eine Polin, die einem befreundeten Portugiesen laut und deutlich auf Englisch von ihrer Beziehung zu zwei Männern berichtet, einschließlich einiger Details zu Sex im Atelier und Selbstbefriedigung in Gegenwart des anderen. Als ich auf die Toilette gehe, die im Untergeschoss liegt, dringt ihre Stimme immer noch an mein Ohr.

Im Reiseführer lese ich, dass das Wort bica für Espresso seinen Ursprung hier in Lissabon hat, und zwar in dem berühmten Café Brasileira. Dort füllte man zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Kaffee über ein Rohr in die Tassen. Und bica ist das Wort für ein Brunnenrohr.

Ich mache mir auch eine Notiz zur Ginjinha, einem kleinen Lokal direkt am Rossio, wo der typische Lissaboner Kirschlikör ausgeschenkt wird. In die Gegend werde ich in den nächsten Tagen sowieso noch kommen.

9. Oktober (Sonntag)

Die erste Woche ist rum, in einer Woche geht es nach Rio. Interessante Lernerfahrung: Seitdem Margarida einmal über Gubelkian gesagt hat, er sei nach Lissabon gekommen, kenne ich die veio, die Vergangenheit von vir. Alle langen Listen mit der Konjugation von vir und ver haben keine Spuren hinterlassen, aber durch diese eine Sprechsituation ist jetzt eine Form endgültig verankert.

Baedeker legte auf seinen Reisen großen Wert auf Genauigkeit. Als er den Mailänder Dom besuchte, wollte er genau wissen, wie viele Stufen der hatte. Er nahm für alle 20 Stufen eine Erbse aus seiner Westentasche und steckte sie in die Hosentasche. Oben angelangt, zählte er die Erbsen, multiplizierte die Zahl mit 20 und addierte die übrigen 10 Stufen hinzu. Ergebnis: 370. Beim Abstieg kontrollierte er das Ergebnis, indem er die Erbsen wiederum von der Hosentasche in die Westentasche steckte. Daher, so will es die Legende, kommt das Wort Erbsenzähler.

Am Morgen gibt es einen wunderbaren Himmel, mit wie zerrupft aussehenden Wolken, hinter denen die Sonne rötlich schimmernd hindurchbricht. Im Laufe des Tages zieht es sich zu, und es ist auch nicht mehr so warm wie bisher.

Heute geht es gleich mit der Metro los. Die Metro in Lissabon fährt links. Das ist kein Problem für den Fahrgast, ist eigentlich wurscht, auf welcher Seite sie fährt. Trotzdem bin ich immer wieder verwirrt, wenn ich auf dem Bahnsteig sitze und höre, wie die Metro von links angerauscht kommt – um aber dann festzustellen, dass sie auf der anderen Seite einfährt.

Die Metro hat fünf Linien, alle nach einer Farbe benannt. Die Distanz zwischen den einzelnen Stationen ist teils beträchtlich. Die Metro in Ich steige in Campo Grande aus. Hier in der Nähe befindet sich die Deutsche Schule.

Ich will ins Museu da Cidade, das jetzt Museu de Lisboa heißt, untergebracht im ehemaligen Palácio Pimenta. Erst als ich zwischendurch vom Park des Museums nach außen gucke, merke ich, dass gleich nebenan das Estadio José Alavade ist. Man sieht die gelb-grün karierte Umfassung des Stadiondachs von hier aus.  

Gleich hinter dem Eingang stehen zwei große Porzellanfiguren, farbig gefasst, weit über Normalmaß in die Länge gezogen, bald doppelt so groß wie ich. Sie stellen zwei Jahreszeiten dar, den Sommer und den Herbst.

An der Kasse nimmt mich eine sehr freundliche  junge Frau in Empfang, die mir ein Kompliment macht, als ich nach dem Seniorenrabatt frage. Es stellt sich heraus, dass sie Deutsch kann. Sie hat ein halbes Jahr lang als Arbeitslosenmaßnahme Deutsch gelernt und erklärt mir alles auf Deutsch.

Zu Beginn der Ausstellung gibt es Feuersteine aus der Altsteinzeit, Pfeilspitzen aus der Jungsteinzeit und Perlen einer Halskette, aus unregelmäßigen Steinen gefertigt, und einen großen Tonkrug aus der Bronzezeit.

Dann kommen schon die Römer, und mit ihnen ein richtiger Sprung. Die römische Stadt hieß Olisipo und war angelegt wie jede andere römische Stadt, mit einem regelmäßigen Straßenmuster und repräsentativen Bauten. Man weiß, dass der Zirkus am Rossio lag.

Interessant die architektonische Entwicklung, die hier beschrieben wird, allerdings mit nicht genug Ausstellungsmaterial, um alles zu illustrieren. Zunächst hatten die Säulen ionische, dorische und korinthische Kapitelle, von den Griechen übernommen, dann kamen toskanische und komposite als eigentümlich römische hinzu. Leider gibt es hierzu nicht genug Ausstellungsmaterial. Und der einheimische Stein wurde nach und nach immer mehr durch Marmor ersetzt. 

Aus der muslimischen Zeit gibt es unter anderem einen Grabstein mit römischer Inschrift zu sehen, der dann wiederverwendet und mit einer arabischen Inschrift versehen wurde. Die Mauren nutzen die römische und westgotische Struktur der Stadt, bauten sie aber weiter aus. Allmählich bildeten sich die Alfama als das Viertel der muslimischen Elite und die Alfota als Geschäftsviertel als wichtigste Stadtteile aus.

Aus der christlichen Zeit gibt es unter anderem einen schön gestalteten Stein zu sehen mit dem Wappen Lissabons, ein über die Wellen des Meeres fahrendes, von zwei Raben begleitetes Schiff. Das transportierte der Legende nach die Überreste des Hl. Vincent nach Lissabon.

Dann kommen riesige, stark nachgedunkelte Gemälde aus späteren Jahrhunderten, die die Einnahme Lissabons schildern und heroisch verklären. Im Vordergrund immer wieder Dom Afonso Henriques, der später zum ersten König Portugals werden sollte. Auf einem Gemälde sieht man im Hintergrund Teile des Heers der von Norden kommenden Kreuzfahrer, die bei der Einnahme Lissabons und vor allem bei der Sicherung des Umlands in den Jahren danach entscheidend beteiligt waren. Die Einnahme Lissabons fällt auf den Tag der Heiligen Crispin und Crispian, zweier römischer Märtyrer. Das erklärt, warum man hier immer wieder auf die stößt.

Ich mache eine Pause in dem schönen, etwas verwilderten Park des Museums, genau zwischen den beiden Gebäudeteilen gelegen. Hohe Pappeln, umgestürzte, übereinanderliegende Äste, dazwischen ein verdunkelter Obelisk, und dann überall Pfauen, ganz zahm, einige mit bunt schimmerndem Gefieder, einer ganz weiß.

Neben einem kleinen Teich mit klassischen Skulpturen befindet sich ein kleiner Kiosk. Da bekomme ich von der freundlichen Verkäuferin einen Tee und ein winziges Stückchen Kuchen, das sie salame nennt. Sieht aus wie Kalter Hund. Bei der Gelegenheit werde ich an das Wort bolacha erinnert, ‚Keks‘.

Dann geht es weiter mit der Ausstellung und einem Bereich über das Hospital Real Todos os Santos, damals eins der modernsten Hospitäler Europas, beim Erdbeben von 1755 zerstört. Es gibt ein paar einzelne Teile zu sehen, die das Erdbeben überlebt haben, und eine Abbildung der Apotheke des Hospitals. Davor einer der schönen Fayence-Krüge, die man auf der Abbildung sieht, zur Aufbewahrung von Gewürzen, die auch zur Krankenbehandlung eingesetzt wurden. Portugal hatte ja als Handelsmacht Zugang zu ihnen. Hier sieht man, in kleinen Glasbehältern, Kardamom, Koriander, Pfeffer, Muskatnuss, Safran und Zimtstangen. Als Antidot gegen Krankheiten wurden eingesetzt Brühe, Hühnersuppe, Sirup, verschiedene Salben und Theriak, eine opiumhaltige Arznei. Das galt als Allheilmittel.

Dann kommt Porzellan aus China. Durch ihre ostasiatischen Kolonien hatten die Portugiesen Zugang zu chinesischem Porzellan, standen dabei aber in ständiger Konkurrenz zu Spanien und England. Man sieht Teller, Schüssel und Becher, mit floralen Mustern, fast alle in Blau und Weiß.

Dann kommen ganze Stadtansichten von Lissabon, aus einzelnen Fayence-Kacheln zusammengesetzt, ebenfalls in Blau und Weiß. Man sieht die Plätze, wie sie vor dem Erdbeben waren, ein Platz am Meer mit der Casa de Bicas (die bis heute erhalten oder wiedererrichtet ist), den Terreiro do Paço, mit Kutschen, Händlern, Ochsengespannen, Männern in Kniebundhosen und einem Jungen, der aus einem Brunnen trinkt, und das Hospital Todos os Santos, mit einer langen Front mit Arkadengängen zum Rossio hin und einer stark verzierten Fassade und einer Freitreppe vor dem Eingangsportal. Von all dem ist nichts mehr übrig.

Dann kommt das Stadtmodell. Dem ist ein ganzer Raum gewidmet. Es stellt das Lissabon der Zeit vor dem Erdbeben dar, mit jedem einzelnen Gebäude. Gut zu erkennen sind hier einige Hügel, auch wenn man nicht unbedingt auf sieben kommen würde. Die Stadt sieht erstaunlich modern aus, man hat nicht den Eindruck, vor einer mittelalterlichen Stadt zu stehen. Und auffällig, dass es keine Stadtmauer gibt. Ist die damals schon abgerissen worden? Vom dem gesamten Territorium ist vielleicht die Hälfte bebaut, nach Osten und vor allem nach Westen gibt es noch viele unbebaute Flächen mit Feldern und Wiesen.

Dann gibt es noch die Kapelle des Palácio Pimenta zu sehen, mit viel Kitsch und nachgedunkelten Gemälden, fensterlos, mit einem schönen Fußboden mit rötlichen Kacheln, und die Küche des Palasts, mit großen Kupfertöpfen und Holzbottichen. Sowohl die Kapelle als auch die Küche sind von unten bis zur Mitte der Wan mit blau-weißen Kacheln versehen. In der Küche sind auf den einzelnen Kacheln Vögel, Fische, Jäger und Schiffe zu sehen. An der Seitenwand aber wird eine ganze Szene dargestellt, wahrscheinlich diese Küche selbst. Da steht eine Frau mit einem Messer in der Hand an einem Tisch und nimmt einen Fisch auseinander. Die Frau ist schwarz, vermutlich eine Sklavin. Alles ist in Blau und Weiß gehalten, nur ihre Haut ist schwarz.

Zum Schluss gibt es noch ein paar Kachel-Gemälde, oft mit religiösen Motiven. Auf einem sieht man D. Fuas Roupinho, einen mittelalterlichen Ritter, der aber hier wie ein Adeliger aus der Barockzeit aussieht, auf seinem Pferd sitzend, bei der Jagd. Ein Hirsch, die Verkörperung des Teufels, hat ihn an einen Abgrund gelockt. Die beiden Vorderfüße des Pferdes schweben schon über dem Abgrund, der Jäger streckt entsetzt die Arme aus, und sein Hut fliegt durch die Luft. Doch oben erscheint die Madonna, Nossa Senhora de Nazaré, und bringt das Pferd im allerletzten Moment zum Halten.

Mit der Metro geht es zurück. Zum Essen lande ich, der Bequemlichkeit halber, im Choco Frito, gleich bei uns um die Ecke. Es gibt Ovos Rebeldes à Portuguesa. Das muss man schon wegen des Namens probieren. Etwas mayonnaiselastig, aber sehr schmackhaft. Die Eier werden mit Schinkenstreifen und feinen Paprikastreifen serviert. Wo die Eier geblieben sind, weiß man nicht so genau. Sie sind wohl in der Soße verrührt worden.

Am Abend mache ich noch mal einen Spaziergang durch das Viertel. Ich komme an einer künstlerisch gestalteten Wand vorbei, mit Zeichen, die so angebracht sind, dass sie eine Art Bild ergeben und einem ganz kurzen Gedicht unten am Rand. Daneben, auf einer anderen Wand, eine Figur und ein Zitat zur Literatur.

Sonntagabend scheint nicht die beste Zeit zum Ausgehen zu sein. Es sind kaum Leute unterwegs, und alle Lokale sind geschlossen. In einem einsamen Frisörsalon wird noch jemandem die Haare geschnitten, am Eingang eines Krimskramsladens wartet ein Inder auf Kundschaft.

Ich muss bis zur Stierkampfarena gehen, um noch an ein Bier zu kommen. Die Arena ist hell erleuchtet, und auf dem Parkplatz steht eine ganze Reihe von Reisebussen. Ich trinke mein Bier, und dann hört man Anfeuerungsrufen aus der Arena. Jede Bewegung des Toreros wird vom Publikum bejubelt. Hört sich nach Begeisterung an.

10. Oktober (Montag)

Beim Unterricht stellt sich heraus, dass Marta noch nie etwas von Alexander von Humboldt gehört hat. Sie hört aber aufmerksam zu.

Bei einem Gespräch über die gegenwärtige soziale Situation macht sie in einem Nebensatz die Bemerkung, Portugal sei noch nie das Ziel eines Angriffs von Terroristen gewesen, im Gegensatz zu Spanien, England, Frankreich, Deutschland, Schweden usw.

Sie bestätigt, was ich über den Ursprung von bica gelesen habe. Auf jeden Fall kommt das Wort aus Lissabon. In Porto sage man dagegen cimbalino. Dazu finde ich später im Internet eine Seite, die das als Legende ausweist.

Immer wieder abweichendes Genus bei den Substantiven: Der Reiseführer (als Buch) ist im Portugiesischen Maskulinum, das Internet Femininum.

Ich erfahre auch, was der Unterschied zwischen paço und palácio ist. Der palácio soll demnach nur ein Teil des paço sein, und der paço soll immer königlich sein. Ganz kann das nicht stimmen, ich habe auch schob Bischofspaläste gesehen, die paço hießen. Im Internet gibt es eine lange Diskussion darüber, in der auch schräge Definitionen vorkommen wie die, dass der paço mindestens elf Fenster an der Fassade haben muss.  

Ich fahre zum Rossio zur Führung in das Teatro Real D. Maria II. Als ich auf den Platz komme, hat es angefangen, zu nieseln.

Außer mir nimmt nur eine junge Russin an der Führung teil. Die findet auf Englisch statt.

Erst gibt es etwa zu den Vorgängerbauten an dieser Stelle, beide keine Theater. Das Theater wurde dann auf Initiative der Königin Maria gegründet, der Tochter von Pedro IV., auf dessen Statue auf dem Rossio wir durch eines der Fenster bei der Führung kurz sehen können. Der Bau wurde einem jungen italienischen Baumeister anvertraut, was nicht nur auf Begeisterung stieß. Er hatte wohl Beziehungen zu einem der Fürsten, die den Bau vorantrieben.

1964 brannte das Theater ab. Was die Ursache war, hat man nie genau herausgefunden. Viele architektonische Elemente konnten aber gerettet werden, so dass das Foyer, in dem wir stehen, nicht viel anders aussieht als vorher.

Es ist viel von portugiesischen Dichtern und Schauspielern die Rede, die uns nichts sagen. Nur bei einem Namen klingelt es bei mir: Taborda, der Schauspieler, nach dem die Straße der Schule benannt ist, ist mit einer Büste vertreten.

Die Führung ist nicht sonderlich interessant, aber man bekommt mal wieder einen Eindruck davon, wie aufwändig das alles ist. Das Theater hat insgesamt 90 vollberufliche Angestellte, darunter zwei Schneiderinnen. Die Kostüme werden hier gefertigt, auch gewaschen, und nach Gebrauch in einem eigenen Lager außerhalb Lissabons verwahrt. Sie dürfen in der Regel nicht einfach abgeändert werden für eine spätere Vorstellung. Da muss man erst das Einverständnis der Designerin einholen.

Wir sehen ein moderne, völlig funktionale Garderobe, ohne jede Dekoration und mit einem Bildschirm, auf dem die Vorstellung auf der Bühne gezeigt wird während der Aufführung. Später sehen wir dann noch eine Garderobe, wie man sie sich vorstellt, mit Photos, Briefen von Verehrern, Glücksbringern und mit Muita Merda! mit dem Lippenstift auf den Spiegel geschrieben.

Von oben von der Ehrenloge blicken wir in das Theater hinunter. Es fasst gut 400 Zuschauer, früher hat man hier über 700 reingelassen. Es gibt neben dem Parkett (plateia) drei Ränge (balcões), wobei der dritte, auf dem früher die Stehplätze waren, heute nur noch für technische Vorrichtungen genutzt wird. Die Führerin berichtet von einem sehr volkstümlichen Präsidenten, der sich, zum Entsetzen seiner Leibwächter, immer unten ins Parkett statt hier oben in die Loge setzte und alle persönlich begrüßte und umarmte.

Es gibt auch ein kleines Haus, ganz und gar sachlich, mit gerade mal drei Stuhlreihen für Zuschauer. Hier werden auch Stücke in Zeichensprache aufgeführt (mit Sprache auf den Bildschirmen) und es gibt besondere Aufführungen für Blinde, die vor der Aufführung die Kulisse und die Requisiten berühren dürfen.

Zum Schluss werden noch die Preise genannt. Das Theater ist staatlich und bekommt Zuschüsse. Die Eintrittspreise sind sehr günstig, und es gibt darüber hinaus noch alle möglichen Ermäßigungen, so dass für die meisten der Theaterbesuch preiswerter ist als ein Kinobesuch. Die Vorstellungen, sagt unsere Führerin, seien in der Regel alle ausverkauft.

Als wir aus dem Theater kommen, hat der Regen noch einen Zahn zugelegt. Nur ein paar Schritte hinter dem Theater, auf einem weiteren Platz, befindet sich A Ginjinha, in meinem Reiseführer unzutreffenderweise als „Kaschemme“ bezeichnet. Es ist eine Bar ohne Sitzplätze, ein Raum, der nur aus dem Tresen und ein paar Metern Stehfläche besteht. Hinter dem Tresen steht ein Mann, der ginja ausschenkt, einen stark destillierten, süßen Kirschlikör, den es mit oder ohne Schattenmorellen im Glas gibt. Neben vielen Touristen stehen hier auch Einheimische an. Der Likör ist lecker und steigt sofort zu Kopf.

Von hier fahre ich zur Padaria Portuguesa, die trotz ihres Namens nicht nur Bäckerei, sondern auch Speiselokal ist. Es gibt Feijoada Brasileira. Kleine dunkle Bohnen in einer schwarzen Soße, serviert mit etwas Reis und etwas Kohl, beide eher zur Dekoration, und Fleischstücke vom Schwein, die sonst kaum Verwendung finden dürften. Aber dem Gericht seinen vollen Geschmack verleihen. Da es nicht mehr so heiß ist, trinke ich diesmal einen Rotwein dazu, aus dem Dão. Es regnet die ganze Zeit stark, und dann fängt es regelrecht zu schütten an. Als ich zur Schule komme, erfahre ich, dass die Besichtigung des Jardim Amália wegen des Regens ausfällt.

11. Oktober (Dienstag)

Magellan hat nie eine Weltreise geplant. Man konnte sich nichts dafür kaufen, dass man die Welt umrundet hat. Er hatte viel praktischere, naheliegendere Motive: Er wollte zu den Gewürzinseln, den Molukken. Nur dort gab es Nelken und Vanille, und mit denen konnte man einträgliche Geschäfte machen, mit Gewinnmargen von mehreren Hundert Prozent. Dieser Handel wurde von Portugal kontrolliert. Portugal war vom Papst die östliche Erdhälfte zugesprochen worden. Magellan, selbst Portugiese und eigentlich Fernão de Magalhães, diente sich der spanischen Krone an, und die ließ sich auf seinen Vorschlag ein, es auf dem anderen Weg zu versuchen, von Westen her. Wenn man weit genug nach Westen fuhr, vorausgesetzt es gibt eine Durchfahrt durch den Atlantik in das Meer auf der anderen Seite, konnte man auch zu den Gewürzinseln kommen. Und so geschah es am Ende auch, allerdings unter allergrößten Schwierigkeiten und den allerhärtesten Opfern. Es gab Windstille, Stürme, Kälte, Versorgungsengpässe, Meutereien, Flucht, und die Durchfahrt war nicht, wie erwartet, einmal um das Kap herum wie in Gibraltar, sondern ein verschlungener Wasserweg von 600 Kilometern Länge. Am Ende kam von den fünf Schiffen nur eins nach Europa zurück, mit gut 20 Mann Besatzung statt der ursprünglichen über 200. Als diese Männer schließlich auf den Kapverden ankamen, merkten sie, dass sie einen Tag verloren hatten. Sie hatten endgültig empirisch bewiesen, dass die Erde eine Kugel ist, etwas, was man schon seit Jahrhunderten angenommen, aber nicht mit Sicherheit gewusst hatte. Für Magellan selbst ging es schließlich schlecht aus. Er war zu den Philippinen gelangt und machte dort gute Geschäfte, überspannte den Bogen aber und stieß bei einem Stamm auf entschiedene Gegenwehr. Er büßte es mit dem Leben. In Portugal hat er nicht den allerbesten Ruf, und in Spanien feierte man Elcano, den Kapitän des zurückgekehrten Schiffs. Später wurde wenigstens die Wasserstraße nördlich der Südspitze Amerikas nach ihm benannt.

Am Morgen ist es noch stark bewölkt, aber es regnet nicht mehr. Im Laufe des Tages wird es immer schöner, und als ich schließlich in der Altstadt bin, ist der Himmel so blau wie in den ganzen Tagen noch nicht.

Zuerst mache ich Erledigungen im Viertel: Apotheke, Reinigung, Feinkostgeschäft. Das klappt alles wie am Schnürchen.

Ich fahre zum Chiado und mache dort ein Photo vor der Brasileira, auf dem Stuhl neben Pessoa, ein beliebter Platz für Touristen aus aller Welt. Der Mann, der das Photo für mich macht, ist Spanier.

Hier ist es mir zu voll, und ich komme zufällig auf einen kleinen, aus dem Nichts auftauchenden Platz an einer der kleinen Nebenstraßen des Viertels. Hier steht das Teatro Carlos III., die Oper Lissabons, ein klassizistischer Bau, und gegenüber ein mehrstöckiges Wohnhaus mit einer Plakette. Hier wurde Pessoa geboren. Vor dem Haus steht eine moderne Bronzefigur, die ihn darstellt. Statt eines Kopfs hat er ein aufgeschlagenes Buch.

Ich mache eine Pause bei einem Kaffee auf diesem schönen, sonnenbeschienen, ruhigen Platz. Er erweist sich als der schlechteste und teuerste Kaffee, den ich bisher hier getrunken habe, und der Service ist gleich auch noch schlecht.

Auf  dem Weg zum Carmo komme ich an einem Haus vorbei, über dessen Eingang in großen Lettern dieses Zitat steht: penso mas não existo.

Der Carmo, der Convento do Carmo, genauer gesagt der ehemalige Convento do Carmo, genauer gesagt, die Kirche des ehemaligen Convento do Carmo, ist mein Ziel. Damals, vor sechs Jahren, habe ich sie nicht besucht, weiß nicht mehr, warum. Die Kirche ist bei dem Erdbeben zerstört worden. Später begann man mit dem Wiederaufbau, aber der zog sich in die Länge. Die Romantiker hatten dann Gefallen an der Ruine, wollten sie so belassen, wie sie ist, und dabei blieb es.

Man sieht die Ruinen vom Rossio aus, ganz oben auf dem Hügel liegend. Das ist schon ein schöner Anblick, aber nichts im Vergleich zu dem Anblick, den man hat, sobald man die Anlage jetzt betritt. Man sieht die Außenmauern der dreischiffigen Kirche und die tragenden Teile des Gewölbes vor dem stahlblauen Himmel, man guckt durch alles hindurch. Ein Dach gibt es nicht. Zur Vollendung sieht man im Osten durch die Rosette auf den Himmel. Die Romantiker hatten recht.

Heute ist in der Kirche eine archäologische Ausstellung untergebracht. Auch das passt bestens. Bauteile der alten Kirche oder übrig gebliebenen Ausstattungsstücke hängen an den  Außenwänden oder stehen aus Sockeln entlang der Seitenschiffe: Kapitelle, Grabplatten, Fenstereinfassungen, ein Taufbecken, Reliefs mit Wappen, teils gotisch, teils barock. Man hat wohl schon vor dem Erdbeben die Kirche verändert und renoviert. Besonders schön das manuelinische Fenster und der Kopf eines Jungen, der kontextlos von der Wand hinabguckt. Auffällig eine Grabplatte mit hebräischer Inschrift, die später für ein christliches Grab recycelt wurde und eine lateinische Inschrift enthält. Oder war es umgekehrt?

Schöner als heute ist der Himmel in den ganzen Tagen nicht gewesen, und es ergeben sich immer neue Perspektiven, je nachdem, ob man von vorne oder von der Seite oder von hinten guckt.

Im Osten, hinter dem Querschiff, tritt man durch ein Tor, und kommt in den Chor und, flankiert von mehreren Kapellen. Dieser Teil ist erhalten geblieben oder wiederaufgebaut worden, einschließlich Dach.

Hier sind Dinge ausgestellt, die nicht zu der Kirche gehörten, sondern woanders herkommen, meist christliche Kunst, aber nicht nur. Sogar eine peruanische Mumie ist vertreten.

Mir fällt eine Sarkophag auf, der die klassischen Musen an der Frontseite darstellt, teils durch Attribute wie eine Maske gekennzeichnet. Ist das das Grab eines Christen? Vielleicht eines Künstlers? Eines Schauspielers?

Der Sarkophag von D. Fernando I., dem König, stellt alle möglichen Szenen aus der Bibel und der Überlieferung dar, darunter einen schräg durch die Luft fliegenden Engel, aber auch die Werkstatt eines Alchemisten!

Sehr schön vier Alabastertafeln aus England, die Szenen der Passion Christi darstellen, darunter die Geißelung. Gleich zu viert schlagen sie auf ihn ein, zwei von der Seite, zwei von oben (oder hinten?). Sie holen weit aus mit ihren Knüppeln.

Nach der Besichtigung verliere ich mich in den Straßen dieses belebten Viertels und erinnere mich an einen ähnlichen Streifzug bei dem letzten Lissabon-Besuch. Der Weg führt u.a. über die Rúa Garrett. Das ist ein Name, der gestern bei der Besichtigung des Theaters gefallen ist.

Auf der anderen Straßenseite sehe ich ein winziges Handschuhgeschäft, Luvaria Ulisses. Es hat keinen Raum für Kunden. Die stehen vor dem Verkaufsfenster, wie vor einem Kiosk. Die Breite des Geschäfts ist so gering, dass die Schaufenster, nicht mehr als zwei längliche Streifen, schräg zur Straße stehen. Es gibt tatsächlich Kundschaft.

Zum Essen fahre ich zurück in unser Viertel und lande in einem Lokal, in dem junge, gut gekleidete Leute in kleinen Gruppen an den Tischen sitzen, vermutlich Geschäftsleute oder Verwaltungsangestellte.

Die Kellnerin, die gleichzeitig die Eigentümerin ist, spricht Portugiesisch mit Akzent. Sie ist Französin. Aus Tours. Das erklärt den Salat, den es als Vorspeise gegeben hat, Radicchio mit gebratenem Camembert.

Ich streife noch etwas durch die Gegend und komme dabei an einem kleinen Imbiss mit dem Namen Aquinãocomes vorbei und dem Restaurant Apeadeiro. Das ist eine Zughaltestelle in einem Ort ohne Bahnhof.

12. Oktober (Mittwoch)

Im Unterricht bekomme ich einen Text korrigiert zurück. Marta hat ihn sehr gründlich durchgesehen. Ich bin überrascht, wie fehlerhaft er ist und wie viele der Fehler direkt dem Spanischen anzulasten sind. Die Wortformen sind meistens korrekt, viele Fehler gibt es bei der Wortstellung. Sie hat mir auch eine doppelte Verneinung angekreuzt. Gibt es die im Portugiesischen gar nicht? Kann ich mir nicht vorstellen.

Aufgrund einer meiner Fragen macht Marta einen Kommentar zur Realisierung des /r/ im Spanischen und im Portugiesischen. Beide haben zwei Varianten. Eine davon, der Tap, ist in beiden Sprachen gleich und kommt auch in der Regel in den gleichen Kontexten vor. Das andere wird im Spanischen als alveolarer Reibelaut ausgesprochen, also „gerollt“, im Portugiesischen aber als uvularer Reibelaut, wie im Französischen. Und jetzt kommt es: Die alte Variante, im Norden Portugals noch üblich, entspricht der spanischen Variante. Und diese Verteilung ist ganz ähnlich wie die im Deutschen! Auch bei uns hört man auf dem Land und bei älteren Sprechern noch diese Variante.

Nach dem Unterricht will ich in die Baixa, bin aber zu faul, zu laufen. Das rächt sich. Der Metrodienst ist eingeschränkt, da es, wenn ich das richtig verstehe, eine Art Betriebsversammlung der Mitarbeiter gibt. Schon auf die erste Metro muss ich fast eine halbe Stunde warten.

Es ist heiß und so voll, dass man auf den Bürgersteigen kaum passieren kann. Ich weiche schnell auf Seitenstraßen oder Plätze aus. Da geht es besser.

Als erstes komme ich zur Casa dos Bicos, dem Haus mit der auffälligen Fassade. Sie ist mit spitz zulaufenden Steinen geschmückt, die wie Diamanten aussehen (sollen). Es wurde beim Erdbeben teilweise zerstört, aber wiederaufgebaut. Drinnen ist heute die Saramago-Stiftung, die ich damals schon besichtigt habe. Der Platz vor dem Haus ist groß und in der Verlängerung liegt schon der Tejo, der in der Sonne glänzt.

Von hier aus sieht man oben auf dem Hügel die beiden gedrungenen, quadratischen Türme der Kathedrale liegen.

Etwas abseits von diesem Platz liegt, mitten in einer Häuserreihe, die Nossa Senhora da Conceição Velha, einer Kirche, deren Steinportal, manuelinisch, das Erdbeben überlebt hat, üppig dekoriert, mit Engeln, Blumen, Armillarsphären und dem Kreuz des Christusordens. Oben die Jungfrau, die ihren Mantel ausbreitet und Bischöfen, dem Papst, einem König und wohl auch ein paar Normalbürgern Schutz bietet. Das Innere der Kirche lohnt sich nicht.

Ich komme an einem kleinen Laden vorbei, in dem nur Fischkonserven verkauft werden, das aber wie ein Juweliergeschäft aussieht. Alle Dosen sind genormt, so wie eine normale Sardinendose, aber kunstvoll verziert und meist mit einer Goldschicht überzogen – oder etwas, das so aussieht.

Dann gibt es ein Geschäft, das Com Certeza! Heißt. Davon muss ich auch ein Photo machen, denn genau dieser Ausdruck kam dieser Tage im Unterricht vor.

Dann komme ich zum Terreiro do Paço. Eigentlich will ich die Stelle lokalisieren, an der damals, 1908,  das Attentat auf König und Kronprinz ausgeübt wurde, aber es findet sich kein Hinweis. Der König fuhr absichtlich im offenen Wagen und mit Generalsuniform, um Normalität zu signalisieren.

Das Attentat war der Anfang des Endes der Monarchie. Die „Grundlagen“ waren aber längst vorher gelegt. Es hatte sich ein Kleinbürgertum ausgebildet, das in Opposition zu Adel und Großbürgertum stand, eine Internationale Wirtschaftskrise hatte zu Landflucht und Verelendung geführt, das Königshaus wurde verantwortlich gemacht für das englische Ultimatum, das den Rückzug aus dem Gebiet zwischen Angola und Mosambik forderte, man war den ständigen Wechsel zwischen konservativen und progressiven Regierungen (rotativismo) leid, und dann stellte sich auch noch heraus, dass das Königshaus beim Staat stark verschuldet war. Dass der König im Gegensatz zu seinem Vorgänger unpopulär war, half auch nicht gerade.

Wie groß dieser Platz ist, merkt man erst, wenn man alle vier Seiten abschreitet. Unter den Arkaden ist man dabei gut vor der Sonne geschützt.

Im Zentrum des Platzes auf einem hohen Sockel die Reiterstatue von José I. Der gehört hier auch hin, nicht so sehr wegen eigener Verdienste, sondern als Förderer von Pombal. Und der hat die ganze Baixa nach dem Erdbeben neu konzipiert und eine neue Stadt entstehen lassen, und zu der gehört auch der Terreiro do Paço, auf dem die Statue steht. Die Verbindung von José und Pombal war so eng, dass Pombal zurücktrat, als José starb.

Ich weiß nicht, warum Pombal, der doch so umstritten ist, mir immer sympathisch war. Er war modern, aufgeklärt, packte an, wollte aus dem immer noch mittelalterlichen Portugal ein modernes Land machen. Seine Maßnahmen zur Regelung des Handels in Portugal und in den Überseekolonien waren erfolgreich, die Organisation der Aufräumarbeiten und der Wiederaufbau der Stadt nach dem Erdbeben waren beispielhaft. Er war allerdings auch rücksichtslos bei der Durchsetzung seiner Maßnahmen, ließ Unruhen in Porto durch Soldaten niederschlagen, ließ 25 Beteiligte hinrichten und setzte die Gründung einer Weinbaugesellschaft mit Zwangsmaßnahmen durch (Weinberge wurden verwüstet, Dörfer niedergebrannt), und er ließ nach einem Anschlag auf den König die Mitglieder mehrerer Adelsfamilien nach geheimen Ermittlungen verhaften und hinrichten. Keine schöne Bilanz. Und insgesamt litt sein Werk, wie es in meiner Geschichte Portugals heißt, unter dem Grundwiderspruch des aufgeklärten Absolutismus schlechthin: die Menschen glücklich zu machen, sie zu erziehen, bevor sie es selbst wollen.

13. Oktober (Donnerstag)

Marta erzählt im Unterricht gerne und ausführlich von ihren beiden Söhnen – welche Mutter tut das nicht? – wahre Prachtkerle. Und Gegensätze. Der eine musikalisch begabt, der andere Technik. Für den einen, der mehrere Instrumente spielt, mit Spezialisierung auf Posaune, ist Musik alles. Für den anderen sind es die Flugzeuge. Es gibt kein Flugzeug, das er nicht identifizieren kann, wenn es über ihre Köpfe hinwegfliegt, und wenn schönes Wetter ist, will er nicht hinaus in die Natur, sondern zum Flughafen. Er will Aeronautik studieren.

Für mich sind diese Monologe, die eigentlich nicht mein Ideal fürs Fremdsprachenlernen sind, eine Art Hörverständnistraining, und ich merke tatsächlich, dass ich zwar längst nicht alles, aber immer mehr verstehe. Wie das genau vor sich geht, weiß ich nicht. Sie selbst ist überrascht, als ich nach presta frage. Ja, das benutzt sie häufig. Ohne es selbst zu merken: Não presta – Das taugt nicht. Nützliche Wendung.

In diesen Tagen ist das beherrschende Thema ein zweieinhalbstündiger Eingriff, den der  jüngere Sohn beim Zahnarzt über sich hat ergehen lassen müssen, eine größere Sache, die noch drei Jahre dauern wird, bis sie ganz abgeschlossen ist. In dem Zusammenhang bekomme ich das Wort arco mit, also ‚Bogen‘. Das ist offensichtlich eine Zahnspange. 

Wir kommen noch mal auf die doppelte Verneinung zurück. Es gibt sie wohl! Aber nicht bei nunca. Das ist mir völlig neu. Und dass man não … nadanão … ninguém und não … mais sagen kann aber nicht não … nunca, das will mir nicht in den Kopf. Sie scheint darin eine Logik zu sehen und versucht auch, mir das zu erklären, aber ohne großen Erfolg.

Am Ende kommt es durch eine Nachfrage von mir noch zu einem größeren Rundumschlag über die Personalpronomina und wie sie ihre Form verändern, wenn sie in bestimmten Positionen erscheinen. Das ist alles gut und schön, wird aber nur von dem verstanden, der es sowieso kennt. Meine Abneigung gegen Grammatikunterricht bekommt neue Nahrung.

Als ich aus der Schule komme, sehe ich gerade den Bus von Olympique Marseille unter dem Geleit der Polizei den Platz passieren. Sie haben nach dem Hinspiel gestern auch hier bei Sporting gewonnen und die Tabellensituation auf den Kopf gestellt.

Ich will zum Aqueduto das Águas Livres. Es gibt keine Metrostation in der Nähe. Ich fahre nur eine Station, um den Fußweg etwas abzukürzen.

Am Bahnsteig ist die ganze Wand mit Zitaten zu Kunst und Literatur verziert, darunter Pintar é falar consigo-mesmo para que alguém nos entenda.

Beim Hinausgehen merke ich, dass diese Metrostation sogar ein WC hat. Das ist heute die große Ausnahme, in allen U-Bahnen. Ich kann mich noch erinnern, wie die Londoner überall Toiletten hatte, aber die waren dann so versifft, dass man sie am Ende alle abschaffte.

Von hier aus ist es noch ein ganz schöner Fußmarsch, aber auch nicht so wild, wie die jungen Frauen in dem Café meinen, in dem ich nach dem Weg frage. Sie sind geradezu entsetzt bei dem Gedanken, dass jemand zu Fuß dahingehen will.  

Auf der rechten Seite ein langgezogenes Gebäude hinter einer Mauer, mit Zinnen und romantisch geformten Rundtürmen. Sie aus wie eine mittelalterliche Burg in einem Kinderbuch. Ich frage mich, was das wohl sein kann. Es ist ein Gefängnis!

Man kommt durch ein Wohnviertel, das mich mit seinem Nebeneinander von neueren Wohnhäusern und älteren mit Kacheln an der Fassade an eine andere Stadt erinnert, vielleicht Aveiro. Die Kacheln haben meist ein einfaches Muster, sind oft grün und ziehen sich die ganze Fassade entlang.

Hier fliegen die Flugzeuge noch niedriger über die Häuser. Man glaubt, sie mit den Händen greifen zu können.

Auf dem abschüssigen Platz vor dem Aquädukt sehe ich eine Portugiesin mit langem Kleid und Handy in der Hand, die sich geschickt mit Stöckelschuhen über das Kopfsteinpflaster bewegt.

Ein englisches Paar – vermutlich eher Mutter und Sohn – fragt, wie man denn zu dem Aquädukt komme. Ich begegne ihnen nachher noch zweimal. Beide Male hat die Frau etwas zu bemängeln – da kommt man ja nicht, ist schlecht ausgeschildert, warum das da nicht auf Englisch stehe – während der Sohn wortlos dabeisteht und mir irgendwie verständnisvoll zunickt, als auch meine Antworten nicht zufriedenstellend ausfallen.

Das Aquädukt befindet sich in einem Museum. Warum das so heißt, ist wirklich nicht so leicht zu verstehen. Denn ausgestellt wird hier nichts. Es gibt nur einen kleinen Park mit ein paar Informationstafeln und eben den Aquädukt. Später sehe ich auf einem Faltblatt, dass das Museum aus verschiedenen Teilen besteht, darunter einer unterirdischen Anlage und ein Pumpwerk, dass diese Teile sich aber an verschiedenen Orten befinden und nicht täglich zu besichtigen sind.

Das Aquädukt stammt aus dem 18. Jahrhundert und entstand auf Initiative von João V., dem mit der Bauwut, auch der Erbauer von Mafra. Zur Errichtung des Aquädukts wurde eine Sondersteuer erhoben. Der Bau zog sich über sechzig Jahre hin und wurde 1799 abgeschlossen. Zwischen den verschiedenen Baumeistern gab es Kontroversen über die Konstruktion, unter anderen über die Form der Bögen zur Überwindung des Tals von Alcántara. Am Ende entschied man sich für solide Rundbögen. Das bewährte sich. Dieses Teilstück, an dem wir jetzt stehen, war das schwierigste und wurde 1744 abgeschlossen. Beim Erdbeben elf Jahre später wurden lediglich drei Dachgauben zerstört.

Diesen Teil des Aquädukts, 960 Meter, kann man hier entlanglaufen, über einen schmalen Steg ganz oben. Der Aquädukt, aus dunklem Granit gebaut und durch Ruß zusätzlich nachgedunkelt, ist nicht sonderlich schön auf den ersten Blick, aber auf jeden Fall beeindruckend. Und nach der Hälfte der Strecke, wo der Aquädukt einen Bogen macht, hat man einen schönen Blick hinunter auf die Arkaden. Die Häuser reichen bis fast unmittelbar an das Aquädukt heran. In regelmäßigen Intervallen gibt es oben einen quadratischen, gedrungenen Turm mit einer kleinen Verzierung auf dem Dach. Was genau deren Funktion ist, erfährt man nicht. Vielleicht Kontrolltürme. 

Mit dem Abschluss des Baus war das Wasser natürlich noch nicht bei den Leuten, und es gab, wie man auf Abbildungen sieht, aguadeiros, Wasserträger, Männer wie Frauen, meist Afrikaner, später auch Galicier , die das Wasser auf Fässern auf der Schulter oder in Krügen auf dem Kopf in die Wohnviertel brachten. Die arbeiteten zunächst „freiberuflich“, später als feste Angestellte. Das ging noch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts so.

Auf dem Rückweg sehe ich an einem Frisörsalon die Preise für die Dienstleistungen: Haarschnitt 5 €, Bart 3 €.

Da ich schon einmal hier oben bin, suche ich hier auch gleich ein kleines Lokal zum Essen. Es hat einen kleinen, dunklen Innenraum, und die hier verkehren, sind lauter Einheimische, Bekannte des Wirts, die teils auch nur auf ein Schwätzchen kommen oder kurz einen Kaffee an der Theke trinken.

Der Raum hat nichts Besonderes, wohl aber schön gestaltete Kacheln, in Weiß, Blau und Geld, die sich die halbe Wand hochziehen.

Über die fußballerische Affinität des Wirts lässt die Einrichtung keine Zweifel zu: ein Schal von Benfica, Mannschaftsbilder, Pokale, eine Aufnahme des Stadions, ein Kalender und der Adler von Benfica.

Überflüssige Worte werden hier nicht gewechselt, und der Wirt lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass er nichts von falscher Höflichkeit hält.

Ich bestelle eine Gemüsesuppe zu dem unschlagbaren Preis von 2,00 € (Mitnahmepreis 1,50 €) und dann einen Cozido à Portuguesa, eine Art Schlachtplatte mit Kohl, Möhren, Reis, Kartoffeln und Bohnen.  Es gibt ein Stück Chorizo, ein Stück Blutwurst, Rippchen, Speck und allerlei Knochen, an denen man herumknabbern kann.

Für die Oliven gibt es ein Schälchen, aus schöner Keramik, in der eine größere Mulde für die Oliven vorgesehen ist und eine kleinere für die Steine. Sehr praktisch. Sonst weiß man nie, was man mit denen anfangen soll.

Dann geht es durch die Mittagshitze zurück zur Schule, denn heute muss ich nachsitzen, für eine ausgefallene Stunde am Dienstag. Es geht um portugiesische Traditionen, zu denen Feste gehören, aber auch Stickereien und Masken. Alles steht unter dem Motto: Portugal hat mehr als die drei F’s: Fußball, Fatima, Fado. Von den zehn Traditionen, die hier beschrieben werde, kenne ich nur drei.

Anschließend soll ich etwas über deutsche Traditionen erzählen. Gar nicht so einfach, das aus dem Standreif zu tun. Als die Rede auf Süßigkeiten kommt – ich erzähle vom Lübecker Marzipan und den Aachener Printen – erzählt Marta von deutschem Weihnachtsgebäck. Ich bin überrascht. Woher sie das denn kenne? Von Lidl!

Nach dem Unterricht kaufe ich auf dem Rückweg in einem Süßwarengeschäft, das mir dieser Tage ins Auge gefallen ist, ein paar Pralinen für die Gastgeberin in Rio. Ich sage dem Mann hinter der Theke, dass ich sie mit dem Flugzeug transportieren müsse. Wohin denn die Reise gehe, will er wissen. Nach Brasilien. Brasilien? Er antwortet mit einem Freudenschrei. Es stellt sich heraus, dass er selbst Brasilianer ist, aus Santos. Aber er hat in verschiedenen Städten in Brasilien gelebt, auch zwei Jahre in Rio, wo er an der Copacabana an einer Grundschule unterrichtet hat. Brasilien werde mir gefallen, die Natur, die Musik, die Menschen. Aber Vorsicht! Nichts Auffälliges, keine Uhr, keine Wertsachen, auch keinen Rucksack. Es gebe viel Kriminalität. Aber dann fügt er doch zu meiner Beruhigung hinzu: Da wo ich mich bewege, in den Touristenvierteln, sei es nicht so schlimm, und da sei überall die Polizei präsent. Zum Leben sei Brasilien ein schwieriges Land, unsicher, kriminell, überall Korruption, Armut. Es gebe Menschen, die nichts zu essen hätten. Da lobe er sich Portugal, sicher, ruhig, guter Lebensstandard. Das sei wirklich lebenswert. Heimweh habe er keins. Ob er denn noch oft nach Brasilien fahre? Nein, nicht so oft, aber 2021 zweimal, einmal, weil er noch etwas zu erledigen hatte, einmal, weil sein Vater verstorben sei. Corona. Er senkt dann noch die Stimme, um etwas über die aktuelle politische Situation zu sagen. Er polemisiert, ohne den Namen zu nennen, gegen Bolsonaro. Was der anstelle, das sei Gehirnwäsche. Er bringe die Leute, ausgerechnet die Armen, dazu, seine Kampagne finanziell zu unterstützen. Dass ich Portugiesisch lerne, einfach nur so, findet er erstaunlich, aber sehr lobenswert. Als ich mich verabschiede, sind wir beinahe Freunde geworden.

14. Oktober (Freitag)

Endlich sehe ich mal nach, was celeiro heißt. Es gibt eine Ladenkette (verlauft irgendwas Elegantes). Immer wieder bin ich an einer der Filialen vorbeigekommen. Es bedeutet ‚Scheune‘, ‚Speicher‘.

Im Unterricht kommt die Rede auf Peniche, einer Stadt nördlich von Lissabon. Dort gab es während der Zeit der Diktatur ein berüchtigtes Gefangenenlager. Hier waren insgesamt über 2000 Gefangene, meist politische Gefangene inhaftiert. Am Tag nach der Nelkenrevolution wurde sie freigelassen. Danach sollte das Lager eigentlich abgerissen werden und einem Hotelkomplex für Touristen weichen, aber das wurde abgewendet. Heute ist aus dem Gefangenenlager ein Museum geworden, eine Erinnerungsstätte.

Nach dem Unterricht fahre ich zum Chiado und gehe dann zu Fuß in der Hitze ins Bairro Alto rauf, ein ganz schönes Viertel, in dem ich vermutlich noch nie gewesen bin. Es wirkt wie ein normales Wohnviertel, mit Blumentöpfen auf den schmalen Balkonen, der einen oder anderen Fahne, vor allem aber Wäsche zum Trocknen. Es ist aber wohl auch ein Viertel für das Nachtleben, wie man an den vielen Bars und Kneipen sieht, die um diese Zeit alle geschlossen sind. Sie haben auffällige Namen wie Copacabana, Simplesmente oder (auf Deutsch) Hungerstation.

Eine Straße in diesem Viertel heißt Rúa do Diario das Notícias, ist also nach der Zeitung benannt. Ob hier früher die Redaktion war?

Irgendwo versteckt soll sich hier in einem Wohnhaus das Freimaurermuseum befinden. Gut genug versteckt, ich finde es nicht.

Ich komme nach São Roque, einer Kirche mit einer einfachen, weißen Fassade im klassizistischen Stil. Auf dem Platz vor der Kirche bekomme ich an einem Kiosk von einem freundlichen Mann meinen Kaffee, diesmal mit einer Art Käsekuchen, der aber mit dem unseren nichts zu tun hat. Hier sind die Preise ganz normal, anders als unten am Chiado. 

Wenn man die Kirche betritt, sieht man erst gar nichts. Man ist noch geblendet von der Sonne draußen und kommt in einen völlig dunklen Raum. Wenn sich die Augen dann an die Dunkelheit gewohnt haben, möchte man am liebsten gleich wieder rausrennen, angesichts der völlig überladenen, schier erdrückenden Inneneinrichtung. Barocker Überfluss überall, und ein Übermaß an Gold.

Aber es lohnt sich, der Kirche eine Chance zu geben. An den Seitenwänden schöne Fliesen, mit einfachen Mustern, irgendwie im Kontrast zu dem Prunk der Altäre stehend. Dann lohnt bemalte Holzdecke. Sie ist flach, aber die Malerei schafft die Illusion von Tiefe. Der Hochaltar hat ein zentrales Bild, Mariä Himmelfahrt. Tatsächlich ist dies nur eins von sieben Bildern des Hochaltars. Nur sieht man die anderen nicht. Es gibt einen Verschiebehahnhof, an dem jeweils das für das liturgische Jahr relevante Bild nach vorne geschoben wird! Und dann ist da noch eine Seitenkapelle, Johannes dem Täufer gewidmet. Sie wurde komplett in Italien gefertigt und dann in Stücke zerlegt und in Lissabon wieder aufgebaut. Sie hat drei großflächige Gemälde, die Szenen aus dem Leben Jesu‘ darstellen, mit der Taufe in der Mitte. Diese Bilder sind keine Originale, sondern Kopien der Werke  eines italienischen Meisters. Aber sie sind nicht auf Leinwand gemalt, obwohl sie so aussehen, sondern bestehen aus Hunderten kleiner Mosaiksteine!

Beeindruckt von der Kunstfertigkeit, aber auch dem Schaffenswillen früherer Generationen kann ich mich wieder mondäneren Dingen wie dem Essen und der Wäsche widmen.

15. Oktober (Samstag)

Von gut unterrichteter Seite bin ich an den Brand Lissabons erinnert worden. Vor lauter Detailverliebtheit habe ich den gar nicht auf der Rechnung gehabt, schlichtweg vergessen, dass es ihn gegeben hat. Das war 1988. In Chiado, wo ich gestern noch war, brannten mehrere Häuserblocks komplett nieder, darunter zwei schöne Kaufhäuser. Das Feuer hatte sich durch explodierende Gasflaschen rasch ausgebreitet. Ob es davon noch Spuren gibt

Margarida hat Besuch von ihrer in Dresden verheiraten Tochter bekommen. Sie ist mit ihrer Tochter, also der Enkelin, gekommen. Die hat vorgestern bei der Ankunft im Taxi ihr Handy verloren. Und gestern hat es einen medizinischen Notfall gegeben. Glücklicherweise ist alles gut ausgegangen. Als Fremder steht man etwas hilflos davor, und in der Fremdsprache ist man da im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos.

Nachtrag zum Unterricht von gestern: Schule heißt immer escola und Lehrer immer profesor, ganz egal, auf welcher Stufe, von der Grundschule bis zur Universität. Man unterscheidet durch Hinzufügungen: profesor de ensino básico (6-15) und profesor de ensino secundário (16-18). Bei dem ersten werden dann noch drei Zyklen unterschieden.

Bei den vielen Metrofahrten und den unendlichen Umsteigewegen sind mir in den letzten Tagen diese Wörter durch den Kopf gegangen: naturaleza/natura/natureza und sé/so/sei und mezcla/mescolanza/mistura. Genug Material zum Durcheinanderkommen ist also vorhanden.

Wieder viel zu schönes Wetter für ein Museum. Diesmal fahre ich nach Santa Apolonia, unten am Tejo gelegen, so gerade außerhalb der Innenstadt.

In der Nähe der Metrostation liegt das Museu Militar, und das ist gut als Orientierungspunkt. Auf dem Platz ein mehrstöckiges schmales Haus mit gefliester Fassade. Unten hängt eine brasilianische Fahne, und ganz oben, im letzten Stockwerk, eine wunderbar bunte Reihe von Wäschestücken.  

Es geht eine stille Seitenstraße entlang. Wie in Coimbra haben auch hier die Häuser für jede Eingangstür eine eigene Hausnummer. Ein Haus hat auf vielleicht zehn, zwölf Metern Breite fünf Hausnummern: 86A, 86, 82A, 82, 84 (in dieser Reihenfolge).

Kurz danach kommt eine, zu dieser Zeit geschlossene Kneipe mit dem Namen Tagus. Das ist die lateinische Form des Namens, aus der dann der Tajo bzw. der Tejo wurde.

Dann geht es über eine verschmierte, einsame Treppe an Wohnhäusern vorbei. Es geht steil rauf, und die ganze Zeit kommt mir kein Mensch entgegen. Hier möchte man nachts nicht unbedingt alleine hergehen.

Oben angekommen, präsentiert sich eine völlig andere Szenerie. Vor einem liegt der weiße Bau des Panteão Nacional, und gleich daneben wimmelt es nur so von Menschen. Hier ist heute Flohmarkt. Die Feira da Ladra. Er soll einer der größten Europas sein. Ich bleibe an einem Stand mit Fliesen stehen, ganz hübsch, und gar nicht teuer, und wundere mich an einem anderen Stand über die dicken wollenen Strümpfe, die hier an einer Leine hängen. Passt zu dem Wetter nicht so richtig.

Mein Ziel ist aber der Panteão Nacional. Auf dem Weg dahin kommt man durch einen großen Bogen, der sinnvollerweise Arco Grande de Cima heißt. Etwas weiter spielt ein chinesisch aussehender Musiker auf einem arabisch aussehenden Instrument eine Musik, die spanisch klingt. Er spielt ausgezeichnet und bekommt lauten Beifall.  

Der Panteão Nacional ein klassizistischer Bau ganz in Weiß mit einer barock anmutenden konvexen Fassade. Nur ganz wenige Nischen mit großen Figuren, ansonsten ist die Fassade schmucklos.

Die Kirche, die jetzt keine Kirche mehr ist, hat eine interessante Baugeschichte. Sie hieß ursprünglich Santa Engrácia und ist in die portugiesische Sprache eingegangen als Metapher für eine endlos sich hinziehende Sache (obras de Santa Engrácia), die nicht zu einem Ende kommt, wie bei uns der BER vielleicht, aber dessen Bauzeit war ein Klacks zu Santa Engrácia. Bei der betrug sie 300 Jahre.

Das mag man kaum glauben, wenn man die Kirche betritt. Alles ist wie aus einem Guss, ein Zentralbau mit einer hohen Kuppel und vier Halbkuppeln an den Seiten,  mit vier Seitenkapellen, vier Kanzeln, und mit Fenstern im Obergeschoss, die wie eine Theaterloge wirken, von der aus man das Geschehen verfolgt.

In den Seitenkapellen stehen jeweils vier fast baugleiche Sarkophage, vermutlich Marmor, mit kurzen Inschriften in großen Buchstaben, die meist nicht mehr als den Namen angeben. Kurioserweise sind die meisten Sarkophage leer. Sie haben rein symbolische Funktion. Vasco da Gama und Camões sind zum Beispiel im Hieronymuskloster in Belém bestattet. Zu den Ausnahmen gehört Amália Rodrigues. Die ist wirklich hier bestattet. Amália, die Frau, die wie keine andere für den Fado an sich steht, eine portugiesische Ikone. Sie wurde in Lissabon geboren und für ihre besonders gefühlvolle Interpretation bekannt. Später hat sie auch eine Karriere als Filmschauspielerin gemacht. Als Sängerin ist sie in der ganzen Welt aufgetreten, ob in Japan, den USA oder Südafrika.

Die nächste Kirche ist wirklich eine, São Vicente de Fora. dos Moros. Der Namensbestandteil fora bezieht sich auf die Lage der Kirche außerhalb der Stadtmauern. Die Fassade, ebenfalls ganz in Weiß, ist gar nicht so anders als die beim Panteão. Nur überwiegt hier die Horizontale.

Das Innere ist für portugiesische Verhältnisse fast schlicht, kein Gold, keine Gemälde, in den Seitenkapellen immer nur eine einzige Figur, aus Holz, an den Seitenwänden und den breiten Pfeilern kein Schmuck. Einen Moment denke ich, wie der Escorial ohne den Prunk, und dann klopfe ich mir selbst auf die Schulter, als ich lese, dass Herrera möglicherweise der Baumeister war.

Die Kirche gehört zu einem Kloster, und der Eingang zu dem Kloster liegt gleich an dem Platz vor der Kirche, quer dazu. Man kommt zuerst in einen schönen Innenhof mit Bänken zum Ausruhen. Von hier aus hat man schöne Blicke auf die Fassade der Kirche, von der Seite aus. Ich überlege, wie noch mal die Blumen hießen, die hier so üppig blühen. In dem Moment erklärt ein deutscher Besucher seiner Mutter, das seien Glyzinien, die wüchsen nur in tropischen Ländern.

Was man von hier aus nicht vermutet: Das Kloster ist riesengroß. Man kommt durch eine ganze Reihe von Sälen, museal ausgestattet mit liturgischen Gewändern und liturgischen Geräten und Schautafeln zur Geschichte des Klosters. Dann kommen zwei Kreuzgänge, eine Sakristei, eine Kapelle, ein Pantheon, ein Kapitelsaal und eben die Kirche. Irgendwann habe ich die Orientierung verloren und finde fast den Ausgang nicht mehr.

Die beiden Kreuzgänge sind praktisch identisch, zweistöckig, mit Arkaden unten, ganz in Weiß. Von hier aus hat man wunderbare Blicke auf die weißen Türme der Kirche vor dem blauen Himmel.

Von der Ausstattung der Kirche sind die Wandfliesen am interessantesten. Davon gibt es vermutlich Hunderte, alle Szenen des täglichen Lebens darstellend, teils höfische, teils volkstümliche. Man sieht Adelige vor ihren Kutschen und Bauern auf dem Feld. Als Szenarien dienen vor allem der Fluss, das Meer und die Parks. Eine Szene fällt mir besonders ins Auge: Da machen sich drei Männer an einem Baum zu schaffen, mit einem Seil und einer Axt ausgestattet, und neben ihnen stehen drei Musiker. Soll der Baum aufgerichtet oder gefällt werden? Und welche Funktion haben die Musiker? Man könnte sich noch viele solcher Szenen ansehen, aber mich zieht es wieder nach draußen.

Wir befinden uns hier im Stadtteil Graça, und das kann einem nicht entgehen: Die Calçada da Graça, der Largo da Graça und die Rúa da Graça für zur Igreja da Graça, zur Feira da Graça rund um die Kirche herum und zum Jardim da Graça, einem Lokal an dem Platz vor der Kirche.

An der Tür der Kirche steht in mehreren Sprachen, was man zu tun habe. Auf Englisch heißt es Please grab the door, auf Deutsch Bitte ergreifen Sie die Tür.

Statt zur Kirche zieht es mich aber um Miradouro, zum Aussichtspunkt, gleich an dem Platz an der Seite der Kirche. Ich bin nicht der einzige, den es hierhergezogen hat. Kein Wunder. Von hier aus sieht man hinunter in die Baixa mit den rotgedeckten Häusern, hinauf zur Burg auf der linken Seite und in die Ferne auf die Ponte 25 de Abril. Und das bei dem Wetter! Das Auge kann das alles auf einmal fassen, die Kamera nicht. Die Bilder bleiben hinter dem eigenen Seherlebnis zurück.

Hinunter geht es über eine unbequeme Treppe mit ganz kleinen Stufen und Absätzen aus Kopfsteinpflaster. Das zieht sich hin.

Unten sehe ich dann, dass es als Alternative sogar eine Rolltreppe gibt, mitten in der Stadt. Aber die führt wohl nur rauf.

Dann beginnt die endlose Suche nach der Tasca Zé dos Cornos, die unser Führer, Bernardo, dieser Tage empfohlen hat. Ich kann mich erinnern, dass das war, unmittelbar bevor wir zur Metro Martim Moniz kamen. Das Lokal lag in einer Seitengasse an erhöhter Stelle, man konnte es aber von unten aus sehen. Ich drehe endlose Runden und frage bestimmt ein Dutzend Mal nach. Einige kennen das Lokal, andere nicht.

Am Ende lande ich in der Mouraria. Dahin hat mich ein Mann geschickt der vermutlich die Tasca Zé dos Cornos mit der Tasca Zé da Mouraria verwechselt hat. Macht nichts. Ist auch gut. Es gibt nur ein Problem. Die Kneipe ist rappelvoll, und draußen stehen schon Leute an, die sich auf die Warteliste haben setzen lassen. Das Warten wird mir zu lang. Ich laufe durch die Mouraria, dem ehemaligen Mohrenviertel, ein Viertel mit verwinkelten Gassen, in dem es auf und nieder geht und in dem Einfamilienhäuser neben Mehrfamilienhäusern stehen. Das Viertel ist sehr bunt. Hier sieht man chinesische Lampions neben gehäkelten Gardinen, einen arabischen Frisör neben einem indischen Minimarkt und einem Plakat mit portugiesischen Fadosängern. Nachts soll man dieses Viertel besser meiden, heißt es, aber jetzt ist es friedlich und vor allem ganz still.

Auf einem Platz sehe ich ein Lokal mit einer Terrasse. An den Tischen sitzen Einheimische genauso wie Touristen. Auf dem qualmenden Grill liegen Sardinen. Die gebe es aber nicht mehr, sagt mir er Wirt. Es müsse Fleisch sein. Einverstanden. Das Essen ist keine Offenbarung, immer wieder der eintönige Salat mit viel zu großen Zwiebelringen und viel zu großen Tomatenscheiben und die labbrigen, lauwarmen Pommes, aber das Fleisch ist ein Gedicht. Es gibt eine rötliche Wurst, ein Stück Rippchen und ein Kotelett. Alles sehr saftig, sehr schmackhaft. Abkassiert wird hier ohne Rechnung. Das passiert nicht so oft in Portugal.

Ich fahre dann noch mal nach Chiado. Es wimmelt nur so von Menschen, auf den Bürgersteigen kommt man kaum aneinander vorbei, Portugiesen gibt es hier nicht, und überall wird Englisch gesprochen. Schrecklich.

Es ging mit nur darum, mir noch einmal die Rúa Garrett anzusehen, Die soll bei dem Brand am meisten betroffen gewesen sein. Wenn man es weiß, könnte man meinen, dass man es sieht, der untere Teil der Straße sieht neuer aus als der obere. Und ganz unten, wo jetzt ein Shopping Center ist (das auch so heißt) war früher wohl eins der traditionellen portugiesischen Kaufhäuser.

Hier hält mich nichts. Ich fahre zurück. Die Tage in Lissabon enden in einer typisch portugiesischen Institution: bei Lidl. Dort gibt es Spekulatius, Dominosteine, Schokoladennikoläuse und Adventskalender. Do legst di nieder.