4. Dezember (Sonntag)
Yo extraño lugares donde nunca estuve. Das gilt für viele Orte, auch für Buenos Aires.
In ein fremdes Land mit der Fähre kommen – mal was anderes. Während der Überfahrt überlege ich noch, wie ich es bei der Ankunft i Buenos Aires mache, aber da komme ich ins Gespräch mit einem argentinischen Ehepaar und bekomme gute Tipps.
Bei der Abfahrt stehe ich draußen, aber dann wird es zu warm und ich gehe rein. Später, als die Skyline von Buenos Aires in Sicht kommt, gehe ich noch mal raus, aber dann ist es bald zu windig.
Die Wechselstube macht nach einer Viertelstunde auf. Ich wechsele die übriggebliebenen uruguayischen Pesos und, um einen Überblick zu bekommen, 100 Euro. Dafür gibt es 22.000 Pesos. Alles in Scheinen. In Argentinien gibt es keine Münzen, jedenfalls keine, die im Umlauf sind.
Das argentinische Ehepaar erweist sich als sehr gesprächig, nachdem ich Mut gefasst und die beiden bei ihren Handyrecherchen unterbrochen habe. Die erste Frage ist, wie macht man es mit dem Taxi am Hafen? Keinesfalls die ersten nehmen, da hat sich eine Taxi-Mafia etabliert. Sie werden mit mir einen Block weiter gehen und mir zeigen, wo ich zuverlässige Taxis finden kann. Dafür bringen wir uns rechtzeitig in Stellung. Die Frau sagt, die Leute kümmerten sich immer darum, schnell aufs Schiff zu kommen, aber nicht darum, schnell runter zu kommen. Das lohne sich aber denn man muss durch die Passkontrolle – migración – und wenn man hinten dran wäre, könne das länger dauern als die Überfahrt. Es stellt sich alles als richtig heraus, wir sind schnell durch, obwohl er noch mit seinem neuen Fernseher beim Zoll aufgehalten wird. Den hat er in Uruguay in einer Verlosung gewonnen und will ihn seiner Schwester schenken. Die Zöllner lassen tatsächlich ein Photo gelten, das er von der Verlosung gemacht hat.
Die Wartezeit haben wir fürs Klönen genutzt. Die Frau kennt Hamburg gut, da hat ihr Vater oft geschäftlich zu tun gehabt, und er kennt die Schweiz. Wir sprechen über die ähnliche Situation Schweiz/Deutschland und Uruguay/Argentinien.
Ja, in Argentinien würde ich alles für einen Appel und ein Ei bekommen, Transport kostet so gut wie gar nichts, Essen billig, nur bei der Kleidung solle ich aufpassen. Die sei im Allgemeinen teuer.
Sie geben mir auch noch einen guten Ausflugstipp: Tigre. Dort könne man mit einem Katamaran zwischen den Inseln herumfahren. Hört sich gut an. Die Erklärung, wie man dahin kommt, ist mir aber zu kompliziert. Und für das Spiel von Argentinien am Freitag empfehlen sie mir einen Park in der Nähe der Amerikanischen Botschaft. Da werde das Spiel auf großen Leinwänden übertragen. Passt gut. Mein letzter Tag in Buenos Aires ist Freitag.
Sie empfehlen mir noch, in der U-Bahn und bei ähnlichen Gelegenheiten eine Maske zu tragen, es sei speziell für Buenos Aires eine neue Welle ausgebrochen, aber sie selbst tragen auf dem Schiff keine Maske, und alle anderen auch nicht.
Als wir an Land sind, gehen wir ein Stück bis zu einer größeren Straße. Dort stellen wir uns in den Schatten am Straßenrand und winken Taxis heran. Bald darauf sind sie verschwunden, und ich komme dann auch bald dran.
Der Taxifahrer ist sehr nett, das alte Taxi müht sich eine aufsteigende Avenue rauf. Er lässt sich auch auf mein kleines Spielchen ein: kurz am Hotel Circus anhalten, Schlüssel abholen, dann weiter zur Unterkunft.
Die erste Wirtschaft, die ich in Buenos Aires zu Gesicht bekomme, als wir daran vorbeifahren, heißt Untertürkheim und serviert Warsteiner.
Dann kommt es bald zu einem Missverständnis, aber der Taxifahrer passt auf. Ich habe Irigoyen gesagt, aber von der Sorte gibt es zwei, Hipólito Irigoyen und Bernardo Irigoyen. Das ist meine. Ist ganz in der Nähe, aber er muss ein paar Runden drehen, weil es hier überall Einbahnstraßen gibt. Das erklärt er mir geduldig. Dann sind wir am Ziel. Hausnummer 1022. Er nimmt 700 Pesos für die Fahrt, das ist sehr günstig, aber das weiß ich jetzt noch nicht, ich tue mich mit dem Umrechnen etwas schwer. Es sind jedenfalls keine vier Euro.
Dann geht es in die Wohnung hoch, und die macht vom ersten Moment an keinen guten Eindruck. Es ist auch keine Privatvermietung, sondern eine verkappte Pension. Die Vermieterin lässt sich nicht blicken, und es wimmelt nur so von Leuten hier, mehr als die vier angekündigten, und wir alle teilen uns zwei Bäder (nicht drei, wie angekündigt), von denen eins auf der anderen Etage liegt. Alles ist schmuddelig, viel funktioniert nicht oder funktioniert schlecht, das Licht ist eine Funzel, und im Bad sieht es nicht gerade sauber aus. Man könnte die Mängelliste noch fortführen.
Ich stelle mich kurz bei den anderen vor, lauter junge Leute, USA, Holland, Frankreich, Chile, Brasilien, Spanien. Dann räume ich übel gelaunt meine Sachen aus und mache mich auf den Weg, um etwas zu essen zu finden.
Juan, der junge Chilene, hilft mir. Er studiert hier, Filmwissenschaften, Buenos Aires habe einen guten Ruf dafür. Er selbst kommt aus einer Stadt südlich von Santiago – 1000 Kilometer weiter südlich.
Ich folge den Instruktionen und komme von der vermeintlich ruhigen – was für ein Fehlschluss! – Bernardo Irigoyen in ein belebtes Viertel, San Telmo. Hier gibt es eine Markthalle und in der Markthalle und um sie herum einen Flohmarkt, vor allem aber Lokale, Lokale, Lokale. Alle rappelvoll. Von der Krise ist nichts zu spüren.
Ich komme zu einem Lokal, wo es noch ein paar freie Plätze gibt. Ein sehr freundlicher und sehr gesprächiger Kellner bedient mich und gibt mir Tipps. Nein, von dem Lamm rate er ab. Als ich frage, warum, sagt er enigmatisch, zwanzig Jahre Erfahrung hätten ihn gelehrt, dass das nichts für den ersten Tag für einen Fremden sei. Ich solle besser lomo nehmen, Lendenfilet. Auch die Vorspeise nehme ich auf sein Anraten hin. Im Laufe der Zeit wird er mir ein bisschen zu freundlich, aufdringlich, und bald merke ich, worauf es hinausläuft. Er sagt, wie sehr die Pandemie ihnen zugesetzt hat, wie viel er vorher verdient habe, und dass das doch alles für einen Deutschen spottbillig sei. Da muss ich ihm allerdings widersprechen. Die Rechnung beläuft sich am Ende auf 6.950 Pesos, satte 31 Euro (bei dem vermutlich schlechten Wechselkurs, den ich bekommen habe). Das Essen ist gut, aber das ist ziemlich happig, vor allem nach all den Ankündigungen, wie billig hier alles sei.
5. Dezember (Montag)
Als ich am Morgen aus dem Haus gehe, bestätigt sich, was der Verkehrslärm der Nacht und des frühen Morgens schon haben vermuten lassen: Die Irigoyen ist überhaupt keine ruhige Straße. Sie ist Teil der Avenida von Buenos Aires, so breit, dass sie sogar drei Namen hat. Der zentrale Teil heißt Avenida 9 de Julio. In der Mitte hat sie vier Busspuren, und zu beiden Seiten jeweils zwei weitere Straßen mit mehreren Fahrspuren. Ich komme auf insgesamt 16, die Busspuren nicht mit eingerechnet.
Es ist schon richtig heiß, obwohl es gerade mal neun Uhr ist. Kein Lüftchen weht. Fußgänger sind auch allerhand unterwegs.
Ich gehe die Straße entlang und überquere die Venezuela, die México und die Estados Unidos.
An einem Hochhaus auf der anderen Seite der Irigoyen das Profil von Evita fast die Hälfte der Fassade einnehmend.
Auf meiner Seite ein auffälliger Baum mit einem ungewöhnlichen, glatten Stamm, der wie ein Kürbis aussieht.
Glücklicherweise findet man in Buenos Aires leichter ein Café, und noch dazu ein geöffnetes Café am Morgen, als ich Montevideo. Ich nutze die Gelegenheit und mache kurze Pause bei Kaffee und Hörnchen. Dann geht es weiter.
An einer Kreuzung eine Figurengruppe, aus leichtem Material gemacht, sieht fast wie Pappmache aus, zwei Frauen, beide mit Koffern, zwei unterschiedliche Typen darstellend, die eine mit Kleid und Hut, die andere mit Hose und Pullover, die eine mit einem eleganten Rollkoffer, die andere mit einem Koffer, der wie eine Kiste aussieht. Beide mit sehr eng anliegender Kleidung.
Ich frage mich noch, was diese Darstellung wohl bedeutet, muss aber dann abbiegen in die Belgranound sehe dann in der Ferne das Panorama mehrerer Wolkenkratzer, in etwas Entfernung voneinander. Sieht gar nicht schlecht aus.
Auch hier wieder große, kräftige Bäume mit dichtem Blattwerk auf Straßen und Plätzen. Ich komme dann über einen Platz, der Plaza de Armas heißt und auch so aussieht, und dann komme ich auf einen weiteren Platz und stehe unverhofft vor der Casa Rosada. Der Tradition zufolge ist die Farbe das Resultat einer Entscheidung des damaligen Präsidenten, Sarmiento. Der wollte nach dem Bürgerkrieg die beiden verfeindeten Parteien miteinander versöhnen und wählte Rosa (ob man den Farbton wirklich als rosa bezeichnen würde, ist noch eine andere Frage) als Kompromiss zwischen dem Weiß der Unionisten und dem Rot der Föderativen.
In der Mitte des Platzes weht die argentinische Flagge. Die unterscheidet sich nicht besonders von der uruguayischen.
Neben der Flagge ein Reiterdenkmal, und drum herum Kieselsteine mit den Namen von Menschen. Es sind Menschen, die an Covid gestorben sind. Auf Transparenten wird dafür die Regierung verantwortlich gemacht.
An der Ecke des Platzes steht die Kathedrale. An einer der Seitenwände eine Kachel mit der Darstellung des Hl. Martin und einem Lobgesang auf Buenos Aires für die Entscheidung, ihn zu seinem Patron zu machen.
Mich interessiert aber erst einmal die Touristeninformation, die hier in der Nähe ist. Als ich sie endlich finde, merke ich, dass ich schon ein paarmal dran vorbeigelaufen bin, denn sie befindet sich in einem Kiosk.
Ich habe alle meine Fragen parat, aber bekomme keine Antwort, auf keine einzige. Der Mann ist nicht sonderlich hilfsbereit und ziemlich kurz angebunden. Er verweist mich ständig aufs Internet. Und sagt tatsächlich, er habe keinen Stadtplan! Nein, auch bei den anderen Touristeninformationen gebe es keinen Stadtplan, jedenfalls nicht auf Papier.
Ziemlich frustriert mache ich mich auf den Weg, um eine Reinigung zu finden. Unterwegs stoße ich auf eine alte Buchhandlung. Drinnen drei Verkäufer, kein Kunde. Ob sie Karten von Buenos Aires hätten, will ich wissen. Nein, Karten nicht, aber einen Reiseführer, mit Karte. Ist mir erst zu teuer, aber dann will ich ihn doch nehmen. Gott sei Dank macht der Buchhändler sich die Mühe, nachzugucken, ob wirklich eine Karte drin ist. Ist nicht. In dem nächsten auch nicht. In dem dritten wohl. Er will die Karte erst herausnehmen, geht nicht, dann auseinanderfalten, geht auch nicht. Er akzeptiert meine Entscheidung, den Reiseführer nicht zu nehmen.
Ziemlich frustriert mache ich mich auf den Weg und komme an einer nett aussehenden Kneipe vorbei. Drinnen ist es schön kühl, und ich entscheide mich trotz der frühen Stunde für ein Bier, um den Frust zu bekämpfen, dann für noch eins, dann für ein Essen, Hähnchen mit Champions. Hier werde ich um 2.800 Pesos erleichtert, nicht mal die Hälfte von gestern.
An einem Kiosk frage ich nach einem Stadtplan. Ja, er hat einen. Sieht auf den ersten Blick ganz gut aus, erweist sich aber als ziemlich unbrauchbar. Viel zu großer Maßstab, keine Ausschnitte für das Zentrum.
Ich finde dann endlich die Reinigung. Alles vollgestopft, ziemlich unaufgeräumt, und die alte Frau hinter dem Tresen will sich nicht so richtig klar ausdrücken über den Preis. Ich solle die Dinge vorbeibringen. Sehr vertrauenserregend sieht die Sache nicht aus. Vielleicht doch besser nach einer anderen suchen?
Ich will es doch noch mal an einer anderen Touristeninformation versuchen. Auf dem Weg dahin wieder viele Ampeln. Bei den Fußgängerampeln in Brasilien hielt einen eine Hand auf, wenn man die Straße nicht überqueren sollte, in Uruguay waren die Fußgängerampeln genauso wie die für Autofahrer. Hier gibt es Männchen, einer stehend, einer in Bewegung, aber der ist nicht grün, sondern weiß.
Unterwegs kommen mir erst grün gewandete, dann blau gewandete Demonstranten mit eingerollten Fahnen auf dem Rückweg von einer Demonstration entgegen. Morgen soll es Demonstrationen im großen Stil geben.
Bei dieser Touristeninformation ist man viel hilfreicher. Zwei Mädchen nehmen sich meiner an. Sie haben sogar einen Stadtplan. Nein, zum Ausgeben sei der nicht, nur zum Zeigen, es ist das einzige Exemplar. Immerhin schicken sie ihn an meine Mailadresse.
Sie geben mir auch eine Internetadresse für Stadtführungen. Ja, die würden von der Stadt durchgeführt. Der andere Mann hatte mir gesagt, es gebe nur private Stadtführungen, und ich solle auf die Seite der Anbieter gehen.
Eins der Mädchen sucht auch nach einer Reinigung für mich. Ja, da gebe es eine, nur einen Block von mir entfernt, Irigoyen 1294.
Von den Museen am besten das Histórico Nacional, aber das öffnet erst übermorgen wieder.
Das Mädchen hat ganz nebenbei Mafalda erwähnt. Ja, die steht hier ganz in der Nähe, nur ein paar Block entfernt. Wenn auch in der falschen Richtung für mich. Lasse ich mir natürlich nicht entgehen. Es sind kleine Figuren, vermutlich aus Plastik, ich hätte sie fast übersehen. Auf einer Parkbank sitzen Mafalda, Susanita und Manolito. Es fehlt Felipe. Zwei Frauen, die hier zusammenstehen, merken schon, was ich will, bevor ich die Frage stelle: ein Photo.
Dann geht es in die umgekehrte Richtung zurück, auf müden Beinen. An einer Ecke sehe ich ein Reisebüro und gehe kurz entschlossen rein. Nette Frau, nimmt sich Zeit, und wir gehen die verschiedenen Optionen für die Weiterreise nach den Tagen in Buenos Aires durch. Ja, meint sie sie könne es auch so organisieren, dass ich nicht zwischendurch nach Buenos Aires zurückkommen müsse, sondern zwei Ziele miteinander verbinden kann. Sie will sich wieder melden.
Weiter geht’s. An einem militärischen Gebäude hängt ein Schild mit der Aufschrift: Las Islas Malvinas son argentinas.
Ich passiere die Bar mit dem gewagten Namen Bar de lo Cojones, mit einem ziemlich wild aussehenden Stier auf dem Namensschild.
Zur Stärkung kaufe ich bei einer Frau auf der Straße einen frisch gepressten Orangensaft. Erstaunlich, wie viele Orangen in so einen Saft hineingehen.
Beim Überqueren einer großen Straße sehe ich Straßenarbeiter, die mit Presslufthammern und Staub und Teer beschäftigt. Da habe ich wirklich keine Veranlassung, mich zu beklagen, wenn mal nicht alles glatt läuft.
Dann komme ich an einer Bank vorbei. Auf dem Pflaster davor eine ganze Reihe von Platten, mit dem Namen von Männern, die in dieser Bank gearbeitet haben. Sie sind während der Militärdiktatur verschwunden und nie wieder aufgetaucht.
Es geht jetzt zurück Richtung Wohnung, ich will ja noch zu der Reinigung. Immer wieder frage ich vergeblich nach der Bernardo Irigoyen, bis ein junger Mann in sein Handy schaut und ausruft: „Ah, 9 de Julio“. Nur unter diesem Namen kennt man sie hier. Jetzt kann er mich in die richtige Richtung schicken.
Als ich an einem Platz mit einem Obelisk ankomme, merke ich, dass mich das Mädchen von der Information einen ordentlichen Umweg hat machen lassen. Aber egal, ich bin ja jetzt auf der Bernardo Irigoyen. Nur, welche Richtung? Ich versuche es in einer Richtung und merke, dass es stimmt. Die Hausnummern gehen rauf. Als ich an der 1294 bin und keine Reinigung sehe, merke ich, dass ich auf der falschen Straße bin. Ich bin am Obelisk in die falsche Richtung gegangen. Jetzt muss ich also die 1294 zurück und dann noch mal 1294 in die andere Richtung. In einem kleinen, kühlen Café mache ich Pause bei einem Kaffee und einem kleinen, gutschmeckenden Hörnchen. Ein Glas Wasser wird einfach so dazu serviert. Kann ich gut vertragen.
Dann kommt der Obelisk und dann geht es in die andere Richtung. Aber hier stimmt was nicht. Als ich bei 1290 angekommen bin, ist die Straße zu Ende. Es gibt eine große Straßenkreuzung mit einem Spaghettiknoten. Ist wohl etwas schief gelaufen.
Ich gehe nach Hause zurück und sehe im Internet nach. Es stellt sich heraus, dass die Reinigung auf der Hipólito Irigoyen ist.
Ich muss aber noch mal raus. Ein Handtuch kaufen. Die Vermieterin, die keine Handtücher bereitgestellt hat mit dem Argument, einige wollten das wegen Covid nicht, hat angekündigt, heute Handtücher vorbeizubringen, hat das aber nicht getan.
Ich klappere die Geschäfte auf meiner Seite ab, nichts. Ein Geschäftsmann sagt mir, ich solle es doch auf Constitución versuchen. Ja, auf die andere Straßenseite und dann nach links. Das tue ich auch. Es stellt sich aber heraus, dass es noch richtig weit bis dahin ist, weiter als bis zu der 1294 auf der anderen Seite. Dann kommt ein Platz in Sicht, und drum herum ein ziemlich heruntergekommenes Viertel, mit wenig vertrauensvoll aussehenden Männern und mit leichten Mädchen, die mir aber glücklicherweise nicht ihre Dienste anbieten.
Wieder klappere ich verschieden Geschäfte ab, wieder nichts. Dann leuchtet bei einem der Gefragten ein Licht auf, da hinten, neben McDonalds. Er hat recht, hier befindet sich eine Markthalle mit Ramschwaren, und an einem der Stände bekomme ich tatsächlich ein Handtuch. Kostet aber 2.000 Pesos, fast 10 Euro.
Bei der Frage nach den Handtüchern verstehen mich die Argentinier schlecht oder gar nicht, jedenfalls, solange ich toallas in gewohnter Weise ausspreche. Ich versuche es dann mit einer „argentinischen“ Aussprache, und es klappt.
In einer Drogerie bekomme ich dann auch noch die dringend benötigte Sonnencreme, eine Hautcreme und Zahnpasta, und schon wieder bin ich 3.700 Pesos los. Argentinien als Billigland ist ein Mythos.
Jetzt geht es endlich zurück nach Hause. Als ich rauf komme, sehe ich an meiner Zimmertür eine Tüte hängen – die Handtücher.
6. Dezember (Dienstag)
Gegründet wurde Buenos Aires zweimal, 1535 und 1580. Beim ersten Mal waren es nur ein paar Spanier, die später wieder abzogen. Beim zweiten Mal durfte der Kaplan der Truppe den Namen aussuchen: Puerta de Nostra Señora de Santa María del Buen Aire. Der Wind weht hier etwas frischer als anderswo, und dieser Ort ist, von Norden kommend, der erste Ort ohne Malaria. Von dem frischen Wind ist in diesen Tagen hier nicht viel zu spüren.
2010 war Argentinien Gastland bei der Frankfurter Buchmesse. Evita Perrón, Ché Guevara, Carlos Gardel, Diego Maradona, das waren die Big Four, die die argentinische Regierung ausgesucht hatte, um Argentinien auf der Buchmesse zu repräsentieren. Argentiniens Buchwelt ist entsetzt: kein einziger Schriftsteller. Also wird noch schnell einer hinterhergeschoben, Jorge Luis Borges, Argentiniens literarische Ikone.
Am Morgen fühle ich mich ausgeruhter als erwartet. Versuche es gleich noch einmal mit der Reinigung, diesmal auf der richtigen Irigoyen. Ist weiter als gedacht, weiter als es aussieht und weiter, als das Mädchen von der Touristeninformation meinte. Und es ist schon wieder heiß. Im Wetterbericht ist von extremen Temperaturen in den nächsten Tagen die Rede.
Diesmal klappt es. Gebügelt wird nicht, machen wir nicht, aber darauf kann ich zur Not verzichten. Die Reinigungsfrau meint, ich hätte nicht den typischen deutschen Akzent. Sie hätte mit nicht als Deutschen identifiziert. Wie sie dann weiß, was ein typisch deutscher Akzent ist, frage ich sie nicht. Solche Aussagen über die Aussprache der anderen haben immer was von Splitter im Auge des anderen und dem Balken im eigenen Auge.
Auf dem Rückweg komme ich an der Universidad de Morón vorbei. Muss sich für einen Engländer wie ein Witz anhören.
Vorher sehe ich an einem Café: Tomate un buen café. Tomate mit Kaffee? Komisch. Dann fällt der Groschen: Tómate un buen café. Die Bedeutung der diakritischen Zeichen.
Aus der Heimat habe ich einen guten Tipp erhalten, um der Hitze der Stadt zu entkommen: Tigre.
Dazu muss ich zuerst wieder zu der ungeliebten Plaza de la Constitución. Der Bahnhof Constitución, mit einer großen hellen Halle, hebt sich aber positiv von seiner Umgebung ab. Es handelt sich, und die Fassade lässt keinen Zweifel daran, um einen „richtigen“ Bahnhof, der aber, neben den Vorortzügen, auch eine U-Bahn-Linie hat. Die U-Bahn heißt hier Subte. Mit der geht es von Constitución bis zum anderen Ende der Linie, Retiro. Die Metro ist modern, schnell, sauber.
In Retiro wartet dann eine andere Überraschung auf einen, ein Kopfbahnhof, eine Abfahrtshalle, wie man sie in großen europäischen Metropolen findet, mit einem langen, gebogenen Glasdach. Von hier aus müssten Züge nach Rio, Sao Paulo oder Lima fahren, es sind aber nur Vorortzüge. Mit einem von denen geht es nach Tigre.
Der Zug zockelt so vor sich her, es ist eine Unzahl von Haltestellen, und die Strecke ist nicht sonderlich beachtenswert. Zweimal kommen wir durch Vororte, die wie eigenständige Städte aussehen, und zweimal durch hübsche, grüne Wohnviertel mit Häusern mit Satteldach und Ziegeln.
Dann geht es aus dem kühlen Zug an die heiße Luft draußen. Die Temperaturen sind noch mal gestiegen, es werden im Laufe des Tages bis zu 36° angegeben.
Karten für das Schiff kann man gleich am Bahnhof kaufen. Am Flussufer gibt es verschiedene Stege, von denen die Ausflugsschiffe starten.
Es ist noch etwas Zeit, und ich suche etwas weiter entfernt, im Ort, nach einem Lokal. Das ist ein echter Treffer. Ein schmaler Hof, in dem man geschützt sitzt, unter Sonnenschirmen und Weinranken, ist zu einer Art Außenterrasse umgebaut worden. Wie der Wirt mir erklärt, als Notlösung während der Zeit der Pandemie. Er erklärt mir, was er im Laufe der Zeit hier so alles angepflanzt hat, Bananen, Avocado, Minze viele der Namen anderen Namen kenne ich nicht.
Nach einer kleinen Stärkung geht es dann zum Kai. Ein nicht allzu großes weißes Boot fährt uns über den Tigre. Die meisten Passagiere flüchten sich nach unten in die Kühle Kabine, ganz wenige sind oben. Ich komme mit einer in Paris lebenden Italienerin ins Gespräch. Die kennt Argentinien schon von früheren Besuchen und ist jetzt durch Peru und Bolivien gereist. Wochenlang, mit einer Freundin. Jetzt habe sie mal gesagt, sie wolle mal ein paar Tage alleine reisen.
Durch den Fahrtwind kann man es oben ganz gut aushalten, aber der ist trügerisch und lässt die Sonne nicht in ihrer ganzen Kraft spüren. Dann wird es mir doch zu viel und ich gehe nach unten.
Ich weiß gar nicht so recht, wo wir hier sind, und die Karte in der Broschüre ist nicht sonderlich klar. Man kann aber erkennen, dass es sich um ein weitverzweigtes Flussnetz handelt. Diese Flüsse gelangen alle irgendwie in den Luján, dem Fluss, an dem wir losgefahren sind, und der wiederum mündet in das Delta des Río de la Plata. Der Tigre, nach dem die Exkursion und wohl auch die Stadt benannt sind, ist auch einer der Flüsse.
Auf der Fahrt gibt es immer wieder Einmündungen anderer Flüsse, oder aber wir biegen auf einen anderen Fluss ab. Bei dem Land, das wir sehen, handelt es sich ausschließlich um Inseln, auch, wenn man das nicht sieht. Die Häuser sind fast alle mit Holzstegen versehen, und das Boot – hier ist von lancha die Rede – ist das wichtigste Verkehrsmittel. Schulkinder werden morgens eingesammelt und nachmittags wieder zurückgebracht. Es gibt eine Postboot, ein Krankenboot, ein Boot mit einem Tante-Emma-Laden.
Die Landschaft ist lieblich, das Wasser bräunlich, aber klar, und die Flussufer haben dichte, sattgrüne Vegetation. So kann man es aushalten bei diesen Temperaturen.
Wieder in Buenos Aires sehe ich in einem Supermarkt beim Kauf der x-ten Flasche Wasser, dass die am Donnerstag und am Freitag geschlossen haben. Ohne weitere Begründung. Als ich dann in einer Reinigung, an der ich zufällig vorbeikomme, nachfrage, bestätigt mir der Mann: Ja, geschlossen, zwei Feiertage.
Am Abend kommt in Buenos Aires dann endlich das Treffen mit Elenas Freundinnen aus Kindheitstagen zustande. Sie kennen sich jetzt schon seit sechzig Jahren.
Erst kommt das aktuelle politische Thema zur Sprache: Christina Kirchner, CFK, die ehemalige Präsidentin, aktuelle Vizepräsidentin und Witwe eines ehemaligen Präsidenten, ist zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden. Wegen Korruption. Die Nation scheint erfreut, aber nicht die ganze Nation. Es gibt scharfe Proteste und Demonstrationen, die heute die Straßen so blockiert haben, dass eine der Damen nicht zu ihrer Corona-Impfung kommen konnte.
Bei den beiden Damen handelt es sich um Schwestern, kultiviert, weitgereist, aus einer Familie mit georgischem Hintergrund. Sie haben lange in einem größeren Haus am Stadtrand von Buenos Aires gelebt, dem sie wohl immer noch nachtrauern. Aus praktischen Gründen sind sie dann in dieses Viertel gezogen, Palermo. Hier sieht alles gepflegter, besser aus, als in meinem heruntergekommenen Montserrat. Montserrat, genauer gesagt, San Telmo, erklären sie mir, sei aber die Keimzelle von Buenos Aires. Nach einer Epidemie habe die Mittelklasse das Viertel aber verlassen und sei nordwärts gezogen.
Das Café, in dem wir uns treffen, St. Moritz, ist eins der renommiertesten von Buenos Aires, an die alte Kaffeehauskultur erinnernd. Hier sollen Borges und Bioy Casares gesessen und ihre Werke verfasst haben.
Sie sind sehr stolz auf Buenos Aires, es habe viele schöne Viertel und liebe einfach die Show, dazu gehöre der Fußball genauso wie die Oper. Theater gibt es wie Sand am Meer, mit Gastspielen der renommiertesten europäischen Bühnen.
Die Avenida 9 de Julio, sagen sie, galt als breiteste Straße der Welt, mit 140 Metern. Die Busse im Zentrum mit ihren eigenen Spuren, das sei der Metrobus. Der Obelisk steht an der Stelle, wo zum ersten Mal die argentinische Flagge gehisst wurde, und der Name bezieht sich auf die argentinische Unabhängigkeitserklärung, am 9. Juli 1816.
An der 9 de Julio, sagen sie, habe man die Bäume so gepflanzt, dass zu verschiedene Zeiten Blüten in verschiedenen Farben zu sehen sind. Im Moment ist Gelb dran. Die wichtigsten Bäume der Straße sind Ceibo, Jacaranda und Kirsche.
Unter dem Wetter leiden sie auch. Das sei völlig ungewöhnlich für diese Jahreszeit.
Für meine weiteren Planungen für die Reise nach Buenos Aires erweisen sie sich nicht als sehr hilfreich, sie finden einfach alle meine Vorschläge gut, alles sei „muy bonito“. Für das Fußballspiel am Freitag empfehlen sie mir einen anderen Ort. Wir wollen uns aber vor meiner Abreise noch einmal sehen.
Nicht einig werden wir uns in der Frage um vos und tú. Meine Vermutung, da sei etwas in Bewegung, weisen sie entschieden zurück. In Argentinien gebe es kein tú.
Sie empfehlen mir einen anderen Rückweg, über die Florida. Hier sieht tatsächlich alles besser aus als bei mir, in der Gegend um den Obelisken herum kommt man sich ein bisschen wie in London vor, Soho und Picadilly Circus.
Es ist dunkel, und die Fußgängerzone hat Weihnachtsbeleuchtung. Es sind noch viele Leute unterwegs, vor allem junge Leute.
7. Dezember (Mittwoch)
Ich versuche, den Grund für die Feiertage herauszubekommen. Morgen ist Mariä Empfängnis, da hätte ich auch selbst drauf kommen können. Was übermorgen los ist, ist nicht herauszufinden, vielleicht ist es nur ein Brückentag.
Schon vom Zimmer aus höre ich am Morgen Demonstranten vorbeiziehen, ihre skandierten Sprüche mit Trommelwirbel untermalend. Als ich dann zur Reinigung sehe, kommt mir die ganze Demonstration entgegen, ein Aufmarsch der lateinamerikanischen Linken, gegen die Lebensbedingungen und das System protestierend. Fast alle haben weiße Fahnen und Banner, dann kommt zum Schluss noch eine Gruppe mit schwarzen Fahnen.
Sie nutzen die ganze Breite der 9 de Julio aus und marschieren teils in die eine, teils in die andere Richtung.
Vor den Banken stehen lange Schlangen von Menschen, die an die Geldautomaten wollen. Ist die Lage so ernst, dass sie ihr Geld in Sicherheit bringen wollen?
Nach einer kurzen Pause mache ich mich auf den Weg zum Museo Histórico Nacional. Es geht Richtung San Telmo, über ein paar ruhige Straßen. An einer Ecke sehe ich eine Reinigung viel näher an der Unterkunft als die von heute Morgen. Der Mann arbeitet auch morgen und übermorgen.
Dann komme ich unverhofft an einem Frisörsalon vorbei, Family Barber. Man braucht keinen Termin zu machen. Es ist ein winziger Salon, mit zwei Stühlen nur, an denen die beiden Frisöre mit ihren Kunden beschäftigt sind. Ich bekomme einen Hocker und einen schwanzlosen, potthässlichen Hund zur Gesellschaft, der meine Füße beriecht.
Der eine der Kunden, ein ganz junger Mann, sieht wie ein Zombie aus mit seinem unbewegten Blick unter dem langen Umhang, und die Frisur verspricht nichts Gutes. Aber der junge Friseur versteht sein Geschäft, es wird von Minute zu Minute besser, und am Ende steht da ein junger Mann mit einer perfekten Frisur, der jetzt auch anfängt, freundlich zu lächeln und mit dem Frisör spricht. Dann setzt er sich eine Schirmmütze auf und bringt die Frisur wieder zum Verschwinden.
Mein Frisör macht seine Sache auch gut, langsam und präzis. Wir sprechen über Fußball und das Wetter. Bei dem Wetter köe man überhaupt nicht dazu, mal Wein zu trinken. Es müsse immer Bier sein, meine ich. Da sagt der andere Frisör, bei dem Wetter brauche man viel Vitamin C: Cerveza.
Leider kann man nicht mit der Geldkarte bezahlen, und jetzt herrscht Ebbe in meinem Portemonnaie. Nicht einmal für einen Kaffee reicht es mehr.
Dann komme ich zu einem parkähnlichen Platz und sehe entlang des Platzes schon das Gebäude des Museums, aber als ich hinkomme, ist es verschlossen und verriegelt. Warum, heute müssten doch normale Öffnungszeiten sein? Sie hätten kein Licht und keinen Strom, lautet die Antwort. Stromausfall.
Etwas frustriert frage ich in der Bar Británico an der Ecke, ob man mit Kreditkarte bezahlen könne. Ja, kann man. Es ist ein traditionelles, schön eingerichtetes Wirtshaus, das weder mit Británico noch mit Bar viel zu tun zu haben scheint.
Es gibt ein ausgezeichnetes gefülltes Brathähnchen, und dazu etwas Vitamin C. Ich sitze am offenen Fenster, und immer wieder kommen fliegende Händler heran und wollen etwas verkaufen. Ich setze mich etwas herum, halb mit dem Rücken zum Fenster, aber eine Frau lässt sich dadurch nicht abwimmeln. Sie will gar nichts verkaufen. Sie sagt mir, ich solle das Handy nicht so offen auf dem Tisch liegen lassen, da könne jederzeit jemand schnell zugreifen und wäre in Windeseile weg. Recht hat sie. Muchas gracias, señora.
Von dem Tisch in dem Wirtshaus sehe ich ein Schild zum Museo de Arte Moderno. Soll nur fünf Minuten von hier entfernt sein. Ist zwar weiter, aber immerhin ist mal etwas ausgeschildert.
Das Museum selbst ist genauso modern wie die Ausstellungsstücke. Die besten Stücke sind gleich unten. Mit den Installationen und Videos im oberen Stock, die sich der Desintegration des normalen Lebens durch die Pandemie und der Auflösung der Geschlechter annehmen, kann ich nicht viel anfangen.
Gleich im ersten Saal zieht ein Kunstwerk, das Haiti heißt, die ganze Aufmerksamkeit auf sich. Es besteht aus Köpfen aus Terrakotta, säuberlich auf mehreren parallel verlaufenden Regalen ausgestellt. Es sind wohl bis an die 500. Was stellen sie da? Menschen? Schweine? Geister? Und was hat das mit Haiti zu tun? Vielleicht eine Anspielung auf den Voodoo-Kult? Jedenfalls muss man hingucken, von weitem und von nahem. Das macht auch eine Frau, die sich direkt davor gestellt hat, als ich gerade in großem Abstand dazu stehe. Ich mache ein Photo von ihr, wie sie davorsteht. Das hat was.
Auch ein Hingucker: Eine dreidimensionale Collage von Figuren und Figurenteilen, meist Köpfe, aber auch Arme und Beine, die auf den ersten Blick alle aus der Antike zu stammen scheinen, vor allem vom Parthenon. Sie sind aber aus der gesamten europäischen Kunstgeschichte entnommen, auch aus Renaissance und Romantik, alles ziemlich durcheinander, alles glänzend vergoldet, obwohl das Material Emaille ist. Was haben sie alle gemeinsam? Alle drücken Trauer oder Schmerz aus, haben mit Tod und Leid zu tun. Alle zeigen, wie die Kunst in der Lage ist, solche Gefühle auszudrücken, und je länger man hinguckt, umso größer wird die Bandbreite der Empfindungen. Das Gold verbindet die europäische Tradition schließlich mit dem Leid der lateinamerikanischen Völker.
Bei der abstrakten Kunst geht es vor allem gegen die Tradition der Kunstwerke als „Fenster“. Man sieht einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit, und die verlängert das Auge des Betrachters automatisch in den Raum außerhalb des Bildes. Bei der abstrakten Kunst ist am Bildrand Schluss oder der Rahmen wird dem Bild angepasst. Es gibt Rahmen mit schräg versetzten Rahmenteilen oder Bilder, bei denen die Bestandteile selbst den Rahmen bilden.
Und es gibt ein schönes abstraktes Bild, in dem man versucht ist, in den Formen Gegenstände wie Arme zu entdecken. Tatsächlich überlagern sich hier die verschiedenen, nur aus Grundformen bestehenden „Körper“ des Gemäldes, wobei durch die Farbpalette und das Licht der Eindruck entsteht, dass eine Form über der anderen liegt. Gefällt mir sehr, vor allem durch die vielen Farben, die leuchtenden und die matten, die irgendwie ganz fein abgestuft zu sein scheinen. Würde ich mir sofort in die Wohnung hängen.
Genial in seiner Einfachheit ist ein Bild, das nur aus einem einzigen Wort besteht: Colombia. Das steht in Weiß auf rotem Grund. Keine Kunst, würde man sagen. Aber: Der Schriftzug von Colombia ist der von Coca-Cola.
Das Gemälde, vor dem man die meiste Zeit verbringen kann, zeigt eine Landschaft, mehrere Meter lang, Öl auf Leinwand, aber nicht gerahmt. Es ist einfach an Ringen oben befestigt, wie ein Vorhang, und hängt an einer schrägen Wand. Es macht einen melancholisch, nachdenklich, traurig, aber versöhnt auch. Man sieht eine menschenlose Landschaft, eine flache Steppe mit viel Gras und, auf das Bild verteilt, einzelnen, verkrüppelten Bäumen und anderen, meist Palmen, die gut erhalten sind. Es gibt kein Zeichen von Zivilisation, kein Haus, keine Straße, kein Acker. In den feuchten Stellen der Steppe glänzt das Wasser in der Sonne. Die bricht am Himmel durch die Wolken und erzeugt ein mystisches Licht, das die ganze Landschaft erfüllt. Ist das die Apokalypse? So kann man es wohl verstehen. Der Mensch ist verschwunden, die Erde überlebt. Ein eindrucksvolles Bild.
8. Dezember (Donnerstag)
Feiertag. Läden und Geschäfte sind zu, und viele Lokale auch. Wenig Verkehr, wenige Menschen unterwegs.
Mein erster Weg führt mich zur Reinigung, aber der Reinigungsmann hat es sich anders überlegt. Er öffnet morgen doch nicht. Ich kann meinen Wäschebeutel wieder nach Hause tragen.
Ich mache mich auf den Weg zur Manzana de las Luces. Unterwegs sieht man an den Wänden Reihen von Plakaten, in Schwarz und Weiß, wie Todesmeldungen aussehend, die gegen die Verurteilung von CFK protestieren.
Schon im Zentrum sehe ich von weitem auf einem Haus, das andere überragt, zwei Kuppeln. Eine Kirche? Als ich dahin komme, sehe ich, dass das Gebäude eingerüstet ist, von oben bis unten. Eine Kirche kann es nicht sein. Unten ist ein Starbucks Cafe drin.
In der ganzen Gegend wird saniert und restauriert. Zwischen den historischen Bauten immer wieder Bauruinen. An vielen Ecken stinkt es unangenehm.
Das Museo Municipal, das Teil des historischen Zentrums der Manzana de las Luces ist, hat geschlossen Ebenso das Museo de la Casa Rosada. Hier gibt es noch nicht einmal ein Schild mit den Öffnungszeiten.
Ich gehe in eine U-Bahn-Station, um mich zu erkundigen. Dies muss eine der Stationen aus der Anfangszeit der U-Bahn sein. In einer kleinen Kabine hinter einem Gitter aus Holz sitzt eine Frau. Ich erfahre, dass ich keine Einzelfahrkarte kaufen kann, ich muss auf jeden Fall eine Sube kaufen. Ja, dann hätte ich gerne eine. Nein, hier gibt es die nicht, die müssen sie an einem Kiosk kaufen. Gar nicht so leicht, die meisten Kioske sind auch geschlossen, und andere verkaufen die Sube nicht. Dann werde ich aber fündig. Für 650 Pesos bekommt man die. Es sind nur zwei Fahrten drauf, dann muss sie wieder aufgeladen werden.
Ich komme über die Florida zurück. Hier ist mehr Betrieb, und die meisten Geschäfte sind geöffnet. Haben aber kaum Kunden.
Alle paar Meter – ohne Übertreibung – hört man Cambio? Cambio dolares! Cambio euros! Private Geldwechsler, die ihre Dienste anbieten. Später erfahre ich, dass es sogar ein Wort für sie gibt. Sie heißen arbolitos, ‚Bäumchen‘:
Dann mache ich mich auf die Suche nach einer Bank. Immer noch gab es überall Schlangen vor den Banken. Die erste Bank weist meine Karte als ungültig zurück, in der zweiten klappt es. Erleichterung. Aber sogleich kommt der nächste Schreck. Das Geld ist da, aber die Karte kommt nicht heraus. Dann merke ich, dass man den Vorgang erst beenden muss, damit die Karte rauskommt. Alles in Ordnung.
Am Nachmittag geht es dann mit der U-Bahn zum Cementerio de la Recoleta, einer der wichtigsten Sehenswürdigkeiten von Buenos Aires. Die eine Stunde Anfahrt ist nicht zu großzügig kalkuliert, ich komme gerade rechtzeitig nach zweimaligem Umsteigen. Die Ausschilderung in der U-Bahn ist nicht sonderlich gut, ich muss mehrmals nachfragen.
Man kommt in ein ganz anderes Viertel, hier sieht es weniger großstädtisch aus.
Um zum Eingang zu kommen, muss man um das große, von einer hohen Mauer umgebene Areal herumgehen.
Es ist drückend heiß, und schon beim Warten auf die Führung suchen alle einen Platz im Schatten.
Für die Eintrittskarten kann man nicht mit Bargeld bezahlen. Grundsätzlich nicht. Es wird ausdrücklich darum gebeten, nicht darauf zu bestehen.
Dann geht die Führung los. Wir sind eine große, eigentlich zu große Gruppe, aber die Führerin hat uns gut im Griff, und durch das Mikrophon, mit dem sie spricht, kann man alles verstehen, auch wenn man Abstand hält und sich entweder für einen Moment auf einen Steinvorsprung setzt oder den Schatten sucht.
Diesen Friedhof zu besichtigen ist ein Erlebnis, er nimmt einen sofort in den Bann, vor allem durch zwei optische Reize, den Blick in die langen, ganz gleichmäßig verlaufenden Wege (die Führerin spricht sogar von calles)und den Blick nach oben, zu den Kuppeln, Engeln, Kreuzen ganz oben auf den Mausoleen vor dem blauen Himmel. Immer wieder hat man neue Perspektiven.
Der Friedhof wurde 1822, also kurz nach der Unabhängigkeit, gegründet. Er war von vornherein öffentlich, gratis und allen Religionen zugänglich. Der Ort weit außerhalb der Innenstadt war bewusst gewählt. Man bediente sich des Gartens eines Klosters, des Klosters der Recoletos-Mönche (daher der Name). Das ging deshalb, weil Klöster teils zwangsenteignet werden konnten für öffentliche Belange.
Die Anlage eines Friedhofs war bei der wachsenden Bevölkerungszahl dringend geboten. Bis dahin hatte man die Toten in Kirchen bestattet oder sonstwie entsorgt, teilweise in den Fluss. Es gab anfangs keine Regeln für die Bestattungen hier, keine Parzellen, jeder begrub seine Toten, wo er wollte. Das führte dazu, dass der Friedhof 1881 völlig neu angelegt wurde. Das führte zu der heutigen Form.
Der Friedhof hat über 5000 Mausoleen (in denen stehen bis zu 25 Särge). Hier sind 29 argentinische Präsidenten begraben, und auch der erste argentinische Nobelpreisträger ist hier begraben.
Heute ist der Friedhof weiterhin öffentlich, aber nicht mehr gratis. Hier ist nur begraben, was Rang und Namen hat – oder das nötige Kleingeld. Man sieht – oder bemerkt – wenige religiöse Symbole, sie gehen in der Monumentalität unter. Ob es auch nicht-christliche Gräber gibt? Erkennen kann man das nicht auf den ersten Blick.
An einer der wichtigsten Kreuzungen steht die Figur eines alten Mannes mit Bart, der mit bedächtigen Schritten den Friedhof entlang zu schreiten scheint. Die Führerin fragt uns, wer das denn sein könne. Keiner kommt auf die Antwort: Jesus. Wohl bewusst, wegen der Umgebung, so dargestellt, die Trauer hat aus ihm einen alten Mann werden lassen. Es ist zu viel Betrieb, sonst hätte ich sie gefragt, woher man weiß, dass es Jesus ist und wie alt die Skulptur ist.
Neben den Mausoleen gibt es auch Grabstätten (tumbas). In denen ist nur eine Person bestattet. Das gilt zum Beispiel für Aramburo, einem argentinischen Staatspräsidenten, der sich besonders durch seine Tatkraft hervortat. Er setzte auf Fortschritt, trieb die Industrialisierung voran In dem Grabmal ist er als dynamische Figur dargestellt, mit gestikulierenden Händen, so als würde er gerade ein Plädoyer für etwas halten.
Dann kommen wir zu dem Paar, das zwanzig Jahre lang kein Wort miteinander wechselte. Als sie aus Uruguay nach Argentinien zurückkehrten und er Präsident wurde, gefiel sie sich in ihrer Rolle als Präsidentengattin, Einladungen, Bankette, Oper, Kleidung, Schmuck. Bis er an sein finanzielles Limit kam und in allen Zeitungen großformatige Anzeigen aufgab, dass er nicht mehr für Ausgaben aufkomme, die seine Frau mache. Sie weigerte sich daraufhin, weiter mit ihm zu sprechen, und zwanzig Jahre lang kommunizierten sie nur durch Dienstboten. Hier sind sie zwar zusammen bestattet und als Skulptur verewigt, aber sie kehrt ihm ihren Rücken zu!
Die Führerin macht uns auf Engel mit ausgebreiteten Flügeln aufmerksam. Das sind Engel, die die Seele – dargestellt durch eine menschliche Figur – in den Himmel tragen. Die Engel mit eingeklappten Flügeln sind trauernde Engel. An vielen Grabmälern sieht man Fackeln, die brennen, aber nach unten gerichtet sind, und an vielen sieht man auch Figuren – meist weibliche Figuren – deren Gesicht man nicht sieht, es ist unter Haaren und Händen begraben, eine andere Form, Trauer auszudrücken.
Auf einem Grabmal steht ein Engel, der eine genaue Kopie eines Engels vom Père Lachaise ist. An diesem Grabmal machten sich ein paar junge Leute zu schaffen und klaute eien Sarg, um dann Lösegeld zu fordern. Man ließ ich scheinbar auf ihre Forderungen ein zahlte mit falschem Geld, bekam den Sarg zurück. Die jungen Leute wurden gefasst, konnten aber nicht verurteilt werden. Es gab es Straftatbestand noch nicht!
Das Grabmal von Alfonsín, dem ersten Präsidenten nach der letzten Militärdiktatur (vor vierzig Jahren) ist moderner gestaltet als die anderen. In die Wand sind die ersten Sätze der neuen Verfassung eingelassen. Alfonsín setzte sich vor allem dafür ein, dass die Militärs zur Verantwortung gezogen wurden.
Dann kommen wir zu dem Grabmal des einzigen normalen, bescheidenen Mannes, der hier bestattet ist, einem ehemaligen Friedhofsgärtner. Er hatte so viel Zeit hier auf dem Friedhof verbracht, dass er auch hier bestattet werden wollte, aber seine Gesuche wurden immer wieder abgelehnt. Er reichte einen Entwurf für sein Grabmal ein, das eine Art Marmorimitation vorsah. Als auch das abgelehnt wurde, reiste er nach Genau, beauftragte einen italienischen Künstler, sein Grabmal zu fertigen – mit Gießkanne und Hacke – und kehrte nach Buenos Aires zurück. Einen Tag später lebte er nicht mehr. Er hatte sich umgebracht.
In der Nähe das Grabmal des einzigen hier bestatteten Sportlers, eines argentinischen Boxers, Luis Angel Firpo. Es steht vor seinem Grabmal, im Bademantel, zum Kampf bereit. Er wurde bekannt durch einen Kampf gegen den hohen Favoriten Jack Dempsey. Der Kampf war aber völlig ausgeglichen, und es gab eine Szene, in der Dempsey sogar aus dem Ring flog. Und angezählt wurde. Die unklare Situation und die schlechte Qualität der Radioübertragung sorgten dafür, dass Firpo schon als Sieger gefeiert wurde. Der Kampf ging aber weiter, und Dempsey siegte.
Das Mausoleum von Evita ist erstaunlich einfach, weder besonders groß noch irgendwie herausgehoben, sondern in einer längeren Reihe mit anderen Mausoleen. Würde man normalerweise nicht beachten. Das hat alles etwas mit ihrer Lebensgeschichte und mit der argentinischen Zeitgeschichte zu tun. Sie war keine Politikerin, sondern Sängerin und Schauspielerin, mischte sich aber nach ihrer Heirat mit Perón in die Politik ein, sehr volkstümlich, eine Person, die spaltet, die entweder geliebt oder gehasst wird. Sie starb schon mit 33, an Krebs, zu einer Zeit, als sie selbst für das Amt der Vizepräsidentin kandidierte. Kurz nach ihrem Tod kam der Umsturz, der Peronismus geriet unter Generalverdacht, Perón ging ins Exil nach Spanien (in Francos Spanien), in Argentinien wurden seine Politik und seine Epoche quasi ausgelöscht. Unter diesen Umständen verbargen Evitas Freunde ihren Leichnam, er wurde später sogar nach Italien geschafft und dann erst, nach der Wiedereinführung der Demokratie, nach Argentinien gebracht und dann ohne größere Umstände, in dieses Grab gebracht. Ihr Sarg liegt fünf Meter unter der Erde.
Es gibt dann noch die unvermeidlichen Geschichten über Gespenster, die den Friedhof nachts heimsuchen. Darunter die junge verstorbene Tochter eines argentinischen Autors, der das Mausoleum seiner Familien nach ihrem Tod umgestalten ließ, mit der liegenden Figur seiner Tochter, ganz in Weiß, als Blickfang. Das Grabmal ist durch ein schmales Gitter vom Weg abgetrennt, aber dazwischen ist Platz gelassen. Auf diesem Platz schlief die Mutter der Toten drei Monate lange jede Nacht, und ihre Präsenz muss wohl zu der Geschichte mit der wandelnden Toten geführt haben, die ein junger Mann in einer Nacht gesehen und gesprochen haben will. Mit diesen kleineren Geschichten endet diese ausgezeichnete Führung.
Danach gibt es Wasser, Erdnüsse und Schatten in einem kleinen Park am Rande des Friedhofs. Wunderbar. Dazu spielt eine kleine Jazzband, Hunde und Kinder laufen herum, und es ist alles ganz friedlich.
Am Abend suche ich in San Telmo das Patenque, ein von Graciela aus Uruguay empfohlenes Lokal. Das hat aber noch geschlossen. Aber selbst wenn nicht, es würde mir schwerfallen, die Empfehlung eines jungen Paars in den Wind zu schlagen: Ich solle ins Atis gehen, das gebe es gutes Essen und die Terrasse oben sei einer der schönsten Plätze von Buenos Aires.
Sie haben recht. Man sitzt in einem blass erleuchteten Innenhof zwischen efeuberankten Mauern und Balkonen. Flankiert werden die von Löwen, die ihre Tatzen auf Kugeln legen oder Wappen in den Klauen halten. Auf dem unteren Teil der Mauern schöne blau-gelbe Kacheln.
Es gibt eine längere Sitzreihe, aber auch kleinere Plätze auf verschiedenen Ebenen und auf einem kleinen Balkon, von dem aus man auf den Hof hinabsieht. Die Atmosphäre könnte kaum besser sein. Es hat auch ein kleines bisschen abgekühlt.
Alle Tische sind besetzt. Ich habe Glück gehabt, einen freien Platz zu erwischen. Es gibt eine eigene Platzanweiserin, die per Kopfhörer und Mikrophon mit der Frau korrespondiert, die als Zerberus unten am Eingang steht. Als ich später wieder rausgehe, hat sich dort eine lange Schlange gebildet.
Wieder höre ich, diesmal von dem Chefkeller, No, por favor als Antwort auf Gracias. Scheint eine südamerikanische Eigenart zu sein.
Das Essen ist ausgezeichnet, ein saftiges, karamellisiertes Steak, mit den typischen hauchdünnen Kartoffelscheiben und geröstetem Gemüse serviert.
Das kostet natürlich was. Bei der Bezahlung gibt es die Besonderheit, dass es bei Barzahlung 10% Rabatt gibt. Aber für mich spielt das keine Rolle. Was ich hier spare, knüpfen mir die Banken beim Geldabheben wieder ab.
9. Dezember (Freitag)
Feiertag. Geschäfte geschlossen, viele Lokale geschlossen, wenig Verkehr.
Ich komme an einem Café der besseren Kategorie vorbei, das hat geöffnet. Marmortische, große Spiegel, uniformierte Kellner.
Ich bestelle zum Kaffee eine tostada, aber das ist nicht ein Toastbrot der herkömmlichen Sorte. Es sind geröstete Baguette-Stücke. Die bestreicht man mit der landestypischen Creme, dulce de leche.
Ich suche eine Metrostation, um ins Zentrum zu fahren und komme an einen geschlossenen Eingang, in dem der Müll von Monaten herumliegt. Und entsprechend riecht. Mitten in Buenos Aires!
Der nächste Eingang ist besser. Am Bahnsteig sehe ich auf einem Plakat Ponetelo. Hört sich nach missglücktem Spanisch an, ist aber eine Imperativform des voseo und hier, in Argentinien, angebracht.
Es geht ins Cabildo, einem alten Kolonialgebäude, das früher wohl mal Sitz der Regierungssitz des Vizekönigreichs des Río de la Plata war und heute Museum ist. Es geht um die Revolution vom Mai 1807.
Auf der unteren Ebene werden Objekte aus der Zeit ausgestellt, private wie öffentliche, darunter sehr schöne Laternen mit Schutzblechern gegen den Wind an den Seiten und schöne Holztüren. Bei den Objekten aus Eisen erfährt man, dass die Kolonien das Eisen aus Spanien importieren mussten, weil man die einheimische Wirtschaft unterstützen wollte. Das kommt mir sehr kurzsichtig vor.
Eiserne Fußfesseln und hölzerne Daumenschrauben, die hier ausgestellt sind, stehen für die Zeit des Gebäudes als Gefängnis (bis 1725). Das waren Maßnahmen, um die Zahl der Fluchtversuche zu verringern. Entlassene Häftlinge wurden oft Polizisten!
Oben wird es politisch. Hier geht es um die Revolution, die zur Unabhängigkeit führt. Hier wird einem klar, welche Bedeutung die internationale Lage hatte. Spanien war durch die französische Invasion geschwächt, die französische und die amerikanische Revolution brachten freiheitliche Gedanken, England versuchte in Südamerika Fuß zu fassen. Dabei wurde Buenos Aires erobert, dann wieder verloren. Dann lancierte England einen zweiten Versuch,, Buenos Aires zu erobern, und der scheiterte an dem Widerstand der Argentinier, ein bedeutendes Ereignis für das argentinische Selbstverständnis.
Es werden Gemälde ausgestellt, die die Ereignisse oder die handelnden Figuren darstellen, aber um das zu schätzen, müsste man mehr von der argentinischen Geschichte wissen
Dann mache ich aber doch noch eine Entdeckung, die mir im Gedächtnis bleiben wird. Auf einer Karte sieht man, die das spätere Argentinien aus vier Teilen bestand. Nur zwei davon waren spanisch. Die beiden anderen waren Indio-Gebiete. Die hat sich nicht Spanien, sondern das unabhängige Argentinien einverleibt! Erstaunlich, wie wenig bekannt das ist. Von Freiheitskampf und Widerstand ist oft die Rede, von Eroberungen weniger.
Oben kann auf dem geschützten Balkon treten und auf die sonnenbeschienene Plaza de Mayo hinuntersehen. Einer der schönsten Momente der Tage in Buenos Aires.
Am Nachmittag steht das Viertelfinale an, und ich habe eine Einladung bekommen, die ich nicht ablehnen kann. Im Hause eines älteren Herrn, Sergio, einem Architekten, gebildet frankophil, mit einem Faible für Deutschland. Er kennt Wörter wie Zeitgeist und Gesamtkunstwerk und verweist stolz auf seinen zweiten Nachnamen, der deutsch ist und der auf seiner Visitenkarte steht. Er ist gleichzeitig eingefleischter Fußballfan. Er führt mich durch die Wohnung. Soviel Zeit ist noch, obwohl ich mich mal wieder elendig verlaufen habe und erst kurz vor dem Spiel eintreffe. Eine schön eingerichtete und praktische Wohnung, die früher einen eigenen Teil für das Dienstpersonal hatte. Die Trennung kann man noch gut erkennen. Auf den Bücherregalen lauter Bücher zur Architektur, darunter ein großer Band zum Bauhaus.
Als wir durch die Wohnung gehen, stellt er mir eine Frage, die nicht ganz ernst gemeint sein kann, aber aussagekräftig ist. Er will wissen, was ich denn da immer sagte, dieses Vale, was dann den bedeute. Es kann kaum sein, dass er es nicht weiß, aber es stimmt, dass eins der allerwichtigsten Wörter aus Spanien in Südamerika nicht gebraucht wird.
Es fehlt auch nicht an einer Warnung vor meinem coger el metro, das komme hier nicht so gut an, ich solle besser tomar el metro sagen. Leichter gesagt als getan.
Er fragt, ob ich verwirrt war, als ich unten in das Gebäude kam. Ja, das war ich wirklich. Man kommt in das Foyer hinein und steht vor lauter verschlossenen Türen. Keine Treppe, kein Aufzug zu sehen. Auch das noch, nach all der Suche und der Rennerei. Es stellt sich heraus, dass der Aufzug – man sollte eher Fahrtstuhl sagen – sich hinter einer der Türen verbirgt. Wo die Treppe ist, weiß ich am Ende immer noch nicht.
Das Spiel beginnt, Argentinien macht es gut, führt völlig verdient 2:0, und man wartet nur auf das dritte Tor. Dann schlägt Holland zurück, mit zwei Toren in letzter Minute. Verlängerung, Elfmeterschießen. Es geht gut aus. Argentinien hat verdient gewonnen. Der enthusiastische Kommentator spricht vom Messi-ahs.
Bei der Berichterstattung merke ich, dass penaltis hier penales sind, dass der portero (das sei ein Portier, gibt mir Sergio zu verstehen) hier arquero heißt, und dass der Einwurf hier nicht saque de banda, sondern lateral heißt.
Wir trinken noch ein letztes Bier auf den Sieg. Er fragt mich, was ich von der gendergerechten Sprache halte. Oh je, ein abendfüllendes Thema. Ich versuche, nur kurz anzudeuten, wie ich dazu stehe. Er macht verschmitzt lächelnd, in Anlehnjung an die politisch korrekte Form nosotres, den Kommentar: ¡Qué pene!“
Er ruft Gunlara an, und wir verabreden uns mit ihr auf eine Rundfahrt durch das abendliche Buenos Aires. Als wir aus dem Haus gehen, fallen die ersten Tropfen, und dann geht es richtig los. Es ist kein Halten mehr. Man sieht noch Fußballanhänger mit völlig durchnässten Trikots oder mit entblößtem Körper durch den Regen laufen, aber das Wasser sammelt sich auf den Straßen, es spritz auf allen Seiten.
Wir fahren über große Avenidas, sehen verschiedene Museen und Theater, blicken auf den noch leicht rötlich schimmernden Río de la Plata und fahren an der Fakultät für Jura vorbei, in einem Gebäude, das jedem Fürsten gut zu Gesicht stehen würde. Auf dem Gelände befindet sich eine silbern glänzende, große Skulptur in Form einer Lilie. Die öffnet und schließt sich von selbst, je nach Sonnenstand. Die Skulptur geht auf eine Initiative des ehemaligen Dekans zurück.
Unterwegs testet er mich mit ein paar Witzen mit Wortspielen, mit großem Erfolg. Ich verstehe keinen einzigen. Auch später kommen immer wieder leicht spöttische, aber ausgesprochen liebenswürdige Anspielungen. Wir haben schnell eine gemeinsame Sprache gefunden.
Er spricht von Proust und seiner Begeisterung für ihn und von Borges, und kommt dann noch mal mit einem deutschen Ausdruck, den er aus einem Fellini-Film kennt: die Seele reinigen. Er wundert sich, dass ich das nicht kenne. Am nächsten Tag sehe ich im Internet, dass es sogar ein Heimspiel gewesen wäre: Der Ausdruck geht auf Hildegard von Bingen zurück!
Wir biegen ab und kommen in ein Kneipenviertel. Es geht ins Desigual, einem hemdsärmeligen Lokal, in einer Seitenstraße gelegen. Was da auf dem Grill liegt, sieht gut aus und riecht gut und ist ein eindeutiger Beleg dafür, dass Argentinien ein Land ist, in dem Fleisch regiert. Wir bestellen entraña, was nichts mit Innereien zu tun hat, sondern ein gegrilltes Stück Rindfleisch ist. Dazu gibt es Salat und Pommes. Gunlara bedient sich bei denen, aber sehr bescheiden. Sie ist der ganze Kontrast zu Sergio und Vegetarierin. Seit 36 Jahren.
Er übernimmt die Rechnung, da lässt er gar keinen Zweifel aufkommen, und anschließend bringen sie mich noch bis vor die Haustür. Ich gehe aber schnell noch durch das nächtliche Viertel und mache ein Photo vom Untertürkheim, dem ersten Lokal, das ich bei der Ankunft in Buenos Aires gesehen habe. Ein versöhnlicher Abschluss der Tage in Buenos Aires.
10. Dezember (Samstag)
Am Morgen geht alles gut, ich bekomme die Haustür zu und erwische gleich vor der Tür ein Taxi. Der Taxifahrer sagt, die Feier gestern sei im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser gefallen. Es sei nichts los gewesen in der Nacht. Für das Finale wünscht er sich Argentinien gegen England. Der Gewinner bekommt die Malvinas.
Der Flughafen, der kleinere von Buenos Aires, heißt Aeroparque, aber trotzdem ist hier sogar um diese nachtschlafene Zeit ganz schön was los. Beim Check-in gibt es Unklarheiten bei Aerolíneas Argentinas. Bin ich in der richtigen Schlange? Mendoza ist unter den südlichen Zielen aufgelistet, liegt aber nicht im Süden, und irgendwo gibt es eine andere Schlange, die sich viel schneller bewegt. Vor mir sind aber auch Leute, die nach Mendoza wollen. Unsere Schlang bewegt und bewegt sich nicht, ich werde langsam nervös. Dass kommt endlich jemand und holt einige Leute aus der Schlange raus, deren Flug bald abgeht, und plötzlich geht alles ganz schnell.
Schon um 6 Uhr sind wir in Mendoza. Der Taxifahrer drückt ordentlich auf die Tube. Und erzählt von einer Reise, die er gemacht hat, mit ein paar Freunden, mit dem Motorrad. Von Mendoza Richtung Süden, nach Chile rüber, nach Bolivien und dann wieder zurück. Die Straßen seien gut gewesen, sie seien oft von morgens bis abends unterwegs gewesen. 26.000 Kilometer in vier Wochen, kaum vorstellbar.
In der Unterkunft nimmt mich statt Omar seine Mutter in Empfang, Norma, eine sehr freundliche Frau. Ich lerne gleich auch David kennen, einen Amerikaner aus Arizona. Erst denke ich, er sei ein weiterer Gast, aber im Laufe der Zeit wird mir klar, dass es hier eine andere Rolle hat. Omar selbst, Rechtsanwalt, lebt in einer anderen Stadt in der Region Mendoza. Er hat diesen Namen, weil sein Vater Libanese ist. Libanesische Einwanderung habe es hier lange gegeben. Später komme ich an einem Haus vorbei, in dem die Sociedad Libanesa de Mendoza ihren Sitz hat.
Norma zeigt mir das winzige, aber wunderbar hergerichtete Zimmer, das alles bietet, was das Herz begehrt, außer einem Schreibtisch. Als ich danach frage, wird mir sofort der Schreibtisch im Wohnzimmer angeboten. Auch der Gebrauch der Waschmaschine wird sofort angeboten. Mein Zimmer liegt am Ende eines knallrot gestrichenen Hofs mit allerlei Pflanzen, alles ist sauber und schön, ein Aufatmen nach Buenos Aires. Und das Haus selbst ist sehr geschmackvoll eingerichtet, modern, mit viel Kunst an den Wänden.
Norma sagt mir, sie kenne meine Stadt. Ich weiß nicht genau, was sie meint. Sie meint tatsächlich Trier, da sei sie gewesen. Und in meinem Profil stände, dass ich dort wohne. Ihre Tochter lebt in Bonn, spricht fließend Deutsch, und sie hat sie dort gerade dieses Jahr erst wieder besucht. Am Kühlschrank hängen Aufkleber aus allen möglichen Städten, die sie kennt, darunter – Koblenz.
Trotz Müdigkeit mache ich gleich einen Spaziergang in die Innenstadt. Ich komme an einem grünen Platz vorbei, mit schönem Springbrunnen, dann an noch einem grünen Platz, dann finde ich irgendwo ein Café. Die Stadt ist noch im Erwachen, für mich fühlt es sich viel später an.
Ich frage mich zur Touristeninformation durch. Freundliche junge Frau, die mich mit einem Stadtplan und ein paar Tipps ausstattet. Auf ihren Rat gehe ich zu einem Reisebüro. Da sitzt eine gelangweilte junge Frau und zeigt mir die Broschüre mit den Tagesausflügen. Ich könne mir das alles in Ruhe überlegen, sie sei bis acht Uhr hier.
Ich gehe zurück zu dem zentralen Platz der Stadt, der Plaza de la Independencia. Es gibt keinen Stadtrundgang, sondern eine Stadtrundfahrt, da habe ich etwas missverstanden, aber egal, ich mache es einfach. Ist gar nicht so schlecht. Und man sitzt oben unter einer Plane und bekommt den Fahrtwind ab.
Vor mir sitzt ein Paar, er Mexikaner, sie Venezolanerin. Sie fragen mir Löcher in den Bauch über Auswanderung nach Europa, welches ist das beste Land, wo kommt man am besten mit Englisch zurecht, welche Hürden gibt es. Die meisten Fragen kann ich nur so halb beantworten, aber sie sind sehr zufrieden und schütteln mir zum Abschluss die Hand.
Bei der Rundfahrt wird eins schnell klar: Mendoza ist die Stadt der Plätze: Plaza de la Independencia, Plaza Italia, Plaza España, Plaza Sarmiento, Plaza San Martín. Alle sehr grün, genauso wie die Straßen. Die Zweige der Bäume auf beiden Seiten der Straße treffen sich oben und bilden eine Art Baldachin. Schön anzusehen und schön schattig.
Mendoza hat keine großen Sehenswürdigkeiten, aber auch keine hässlichen Seiten wie die anderen Städte Südamerikas. Es ist ein schönes Ensemble, aus Altstadt und Neustadt bestehend.
Das einschneidendste Ereignis der Stadtgeschichte war das Erdbeben von 1861. Es forderte 4000 Leben (bei einer Bevölkerung von 11500). Das Feuer dauerte vier Tage lang. Danach wurde die Altstadt wieder aufgebaut und die Neustadt angelegt. Sie unterscheiden sich eigentlich nur durch die Breite der Straßen. An das Erdbeben erinnert auch die lokale Jungfrau, Nuestra Señora del Terromoto, die einige Bewohner geschützt haben soll. Ebenfalls die Ruinen der ehemaligen Jesuitenkirche zeugen von dem Erdbeben.
Zuerst geht es über die Avenida Avellaneda, die aber keine Pappeln trägt, sondern Akazien und ein Baum, der Tipa heißt oder Tipuana Tipo und in Südamerika oft an Straßen anzutreffen ist.
Wir passieren Eisenbahngleise. Die habe ich vorher schon mal passiert und mich gefragt, was es damit auf sich hat. Es ist eine stillgelegte Strecke, auf der heute eine Straßenbahn verkehrt.
Der Held der Stadt ist San Martín. Er hat nicht nur seinen eigenen Platz, sondern auch sein eigenes Museum.
In der Altstadt gibt es ein sog. Amphitheater, benannt nach Gabriela Mistral, eine Reverenz an das Nachbarland.
Dann geht es am Ende einer langgestreckten Avenida durch schmiedeeiserne Tore in einen Park. Riesengroß. Er beherbergt u.a. einen Reitclub, einen Ruderclub, ein Velodrom und einen Golfplatz. Und hier befindet sich auch das Stadion des lokalen Fußballvereins. Der heißt tatsächlich FC Malvinas Argentinas.
Die Bäume hier wurden alle angepflanzt und mussten lange bewässert werden, bis sie sich an das trockene Klima gewöhnten. Besonders schön der große Brunnen des Parks, die Fuente de los Continentes.
Der Park hat auch ein Naturkundemuseum, das Skelette von Dinosauriern ausstellt, die hier vor Ort gefunden wurden.
Dann kommen wir aus der Stadt heraus und befinden uns plötzlich in einer anderen Welt. Alles trocken, steinig, Wildnis, hohe Berge in der Distanz. Der Kontrast zu der grünen Stadt könnte nicht größer sein.
Es geht einen schmalen Weg hinauf, ganz steil. Am Wegesrand wachsen Eukalyptusbäume, Kiefern und Zypressen. Der Ausblick wird immer spektakulärer, geradezu schwindelerregend.
Die ganze Gegend leidet unter der Trockenheit. Und unter den gewaltigen Stürmen und Gewittern, die vereinzelt auftreten und den Boden erodieren lassen.
Oben an der Spitze des Hügels steht irgendein Monument, und dann geht es steil bergab. Am Rande sieht man ein Veranstaltungsort, in der Form eines römischen Theaters. Hier findet die Abschlussfeier des Weinfestivals von Mendoza statt, einem der größten überhaupt, wie man erfährt. Das Weinfestival findet jedes Jahr am Ende der Weinlese statt – im März!
Dann sind wir plötzlich wieder auf der baumbestandenen, ebenen Avenida Avellananeda und kommen zu unserem Ausgangspunkt zurück.
Nach der Bustour gehe ich wieder in das Reisebüro. Die Frau sagt, gut, dass sie kommen, wir wollten gerade schließen. Aber sie wollten doch bis acht Uhr hier sein. Ja, aber jetzt hat mein Chef angerufen und gesagt, wir sollten zu einer Sitzung kommen. Dass mir das nicht viel nutzt, scheint sie nicht zu stören. In provozierender Umständlichkeit stellt sie dann Voucher aus für zwei Tagesausflüge aus.
Auf dem Weg nach Hause holt eine freundliche Frau ihr Handy raus, um mir den Weg zu zeigen und gleich noch einen Tipp für ein Lokal mitzugeben. Sie fragt, woher ich komme, was meine Reiseziele seien und sagt „Bienvenido en Argentina“. Ich würde sie am liebsten gleich mitnehmen in das Lokal.
Das Restaurant ist einfach, es gibt einfaches Essen mit Salat und Pommes und Portionen für Holzfäller. Im Fernsehen zeigen sie, wie Marokko auch noch Portugal rauswirft.
Als ich nach Hause komme, fragt Norma, ob ich nicht mit ihnen essen wolle. Ja, gerne. Sie bereitet einen wunderbaren Salat vor und auf dem Grill ein paar ordentliche Stücke Fleisch. Irgendwie überraschend bei dieser schmächtigen Frau.
Sehr abwechslungsreiches Gespräch. David kennt Europa gut, Amerika noch besser. Er ist durch die Gegend getingelt und hat sich dabei Zeit gelassen. Er habe erst drei Monate für Ecuador, Peru und Bolivien einkalkuliert, dann seien es drei Monate für Ecuador alleie geworden. Jetzt ist er in Mendoza hängen geblieben, und wohl nicht nur, weil es eine schöne Stadt ist.
Norma kommt aus Buenos Aires. Sie ist wegen ihres damaligen Mannes und dessen Beruf nach Mendoza gezogen und hat sich anfangs ganz schrecklich gefühlt. Kaum auszuhalten. Jetzt möchte sie nicht mehr von hier fort, auch wenn ihre Familie weiterhin in Argentinien wohne.
11. November (Sonntag)
Heute geht es in die Berge. Die Fahrt geht Richtung Luján de Cuyo, wobei Cuyo die Bezeichnung der Region ist, einer von acht Argentiniens. Die Einwohner heißen cuayanos, die von Mendoza heißen mendocinos.
Norma hat recht, ich werde tatsächlich vor dem Haus abgeholt, und zwar als erster. Dann geht das Einsammeln los, und als nach anderthalb Stunden immer noch kein Wort von der Reiseleiterin gefallen ist, werde ich langsam ungeduldig. Aber das Warten lohnt sich.
Die Landschaft ist überwältigend, und es gibt immer wieder ungewöhnliche Szenarien unterwegs, einen Eisenbahntunnel, der mit dem Felsen verwachsen zu sein scheint, weil er aus demselben Stein gebaut worden ist, zwei unvermittelt mitten in der Landschaft herumstehende Brücken einer ehemaligen Eisenbahnlinie, den Cerro de los Pendientes, der aussieht, als würden Mönche ihn auf dem Weg zur Kathedrale oben erklimmen, Wände am Ufer des Mendoza, bis zu zwanzig Meter hoch, schwarz, wie von Menschenhand erschaffen, aber tatsächlich durch Erosion entstanden.
Eine beeindruckende, majestätische Landschaft, die uns zwischendurch alle vor Andacht schweigen lässt.
Dabei gibt es eine ganze Zeit gar nichts zu sehen. Das ändert sich schlagartig, als wir einen langen Tunnel durchqueren und dann plötzlich vor einem See mit unwirklich blauem Wasser und einem beeindruckenden Bergpanorama stehen.
Es ist ein Stausee, aber das sieht man ihm nicht an. Aus diesem Stausee wird ganz Mendoza mit Wasser versorgt, einem hier besonders wertvollen Gut.
Hier legen wir die erste Photopause ein. Man weiß gar nicht, in welche Richtungen man schauen soll, es ist alles schön.
Als wir dann wieder im Bus sitzen, ist plötzlich mein Handy weg. Taschen durchsucht, Rucksack durchsucht, auf den Nebensitz, unter den Sitz, zwischen den Sitzen gesucht – nichts. Noch mal alle Taschen und den Rucksack durchsucht. Nichts. Völlige Ratlosigkeit. Kann es so gewiefte Diebe geben, dass sie einem beim Einsteigen in den Bus in die Tasche greifen? Kann ich das Handy irgendwo hingelegt haben? Aber wo? An dem Stand, wo ich ein Wasser gekauft habe? Alles kaum denkbar, aber das Handy ist weg. Da kommt von hinten eine Stimme, „Señor, ¿está buscando su celular?“. Ich sehe mich um, eine junge Frau, die mich ansieht und mit dem Finger nach vorne weist. „Está sentado encima“. – Tatsächlich. Ich sitze drauf.
Bei der Kaffeepause setzen wir uns nebeneinander und stellen uns vor. Sie heißt Evangelina, kommt aus Jujuy, im Norden Argentiniens, und hat sich ein paar Tage frei genommen, um diesen Teil ihres Landes kennenzulernen. Sie ist Geschichtslehrerin, macht unterwegs eifrig Notizen und stellt kluge Fragen. Wir sind sofort auf einer Wellenlänge. Später, beim Mittagessen, hilft sie mir bei der Identifizierung der Speisen.
Wir sind in der Precordillera, die wird von der Cordillera Principal unterschieden, nicht nur wegen der Höhe, sondern auch wegen der Entstehungszeit.
Die Fahrt geht über die N6 Nacional/Internacional. Hier sind lauter Lastwagen unterwegs, die Straße ist der wichtigste Weg für den Warentransport zwischen Chile und Argentinien. Und sie bedeutete das endgültige Ende der Eisenbahn. Denn die gab es hier wirklich mal, wie ein mitten in der kargen Landschaft herumstehender alter Bahnhof bezeugt. Der Bau der Eisenbahnstrecke war wegen der vielen Tunnels und Brücken ein Mega-Unterfangen, ganz abgesehen von den typischen finanziellen und administrativen Problemen. Aber man hat es geschafft, 1910 war die Eisenbahn fertig und bis 1984 in Betrieb. Es gab allerdings wegen des Schnees und der Erosion immer wieder Probleme, außerdem war die Eisenbahn eingleisig und wurde mit Dampf betrieben, so dass immer wieder Wasser nachgefüllt wurde und Zeit verloren ging.
Trotzdem schade, und vielleicht keine gute Entscheidung. Die Abgase und die Wärme der Autos haben es nämlich mit sich gebracht, dass der Schnee schmilzt. Wir kommen an einer trist aussehenden ehemaligen Skistation vorbei, jetzt aufgegeben und komplett verfallend, wegen Schneemangels. Als Folge davon ist auch die Schneeschmelze nicht mehr so ergiebig. Der Stausee hat so wenig Wasser wie nie zuvor.
Die Schneeschmelze hat es auch mit sich gebracht, dass irgendwo in den Bergen die Leiche eines Kindes aus der vorkolonialen Zeit ans Licht gekommen ist, einer mit Papageienfedern geschmückten Mumie der Inkas. Sie war jahrhundertelang im Schnee begraben.
Auf der ganzen Fahrt begleitet uns der Río Mendoza. Sein Wasser ist sauber, sieht aber schmutzig aus, weil er so viele Sedimente mit sich trägt.
Die Berge, meist gräulich, haben oft bilderbuchartige farbige Stellen, das Resultat von Mineralien. Rote Stellen als Ergebnis des Vorkommens von Ton und gelbe Stellen durch das Vorkommen von Schwefel und Kalzium, Eisen und verursacht.
Wir passieren ein graues, nichtssagend aussehendes Gebäude, das aber für die Region wichtig ist. Es beherbergt die Fabrik Alfajor, in der die bekannteste Süßigkeit Cuyos hergestellt wird.
Dann kommen wir an einer Thermenanlage vorbei, Cacheuta, einer Therme der luxuriösen Art.
In einer Ebene zwischen den Bergen befindet sich die Zollstation. Die hat man hierher vorgezogen, weil oben an der Grenze wenig Platz ist und die Passage immer wieder wegen der Witterung gesperrt ist, oft mehrere Tage lang. Hier unten haben die Lastwagen mehr Platz und die Fahrer haben es wärmer. Denn im Winter ist es hier eiskalt. Kann man sich kaum vorstellen.
Als wir auf unserem höchsten Punkt sind, auf fast 3000 Metern, sehen wir bei einer Pause zwei Kondore, aber sie fliegen in großer Höhe, weit über uns. Wir erfahren, dass man Kondore an ihrer weißen Halskrause und den fingerartigen Flügeln erkennen kann, aber das ist von hier aus nicht zu sehen.
Vorher hat uns die Reiseführerin auf einen gräulich-weißen Felsen aufmerksam gemacht. Da haben die Kondore ihren Kot hinterlassen.
Wir kommen zu der Stelle, wo drei kleinere Flüsse sich zum Río Mendoza vereinigen und dann zu einer historischen Steinbrücke. Sie ist denkmalgeschützt, aber man kann unten an den Fluss gehen und sie von mehreren Seiten ansehen. Sie spielte eine Rolle in dem Kampf um die Unabhängigkeit. Hier wurde eine kleinere militärische Einheit, Teil des Ejército de los Andes, von den Spaniern überrascht. Sie waren auf dem Weg über die Anden, nach Chile. Es ging darum, sich dort mit vielen anderen Einheiten aus verschiedenen Himmelsrichtungen zu treffen und die Spanier zu attackieren, und das war am Ende erfolgreich.
Wieder auf dem Weg erwähnt die Reiseführerin den Cementerio Andino. Ich verstehe nicht auf Anhieb, aber es ist tatsächlich ein Friedhof für Bergsteiger, die in dieser Gegend abgestürzt und ums Leben gekommen sind. Sie sind begraben in einer Gegend, die ihnen viel bedeutete.
Der höchste Berg der Gegend, der alles beherrschende Aconcagua, misst 6.960 Meter. Seine Kuppe ist schneebedeckt, aber längst nicht mehr so wie in früheren Zeiten. Er sieht von unterschiedlichen Seiten ganz anders aus, und unser freundlicher Busfahrer fährt uns zu den Stellen, von denen man die besten Blicke hat.
Auch der Aconcagua ist beliebtes Ziel unter den Bergsteigern, und die Reiseleiterin zählt allerlei Rekorde auf. Der jüngste Bergsteiger, der es bis zum Gipfel geschafft hat, ein Junge aus den USA von 9 Jahren, der älteste ein Japaner von 76 Jahren, die schnellste Besteigung einschließlich Abstieg, 25 Stunden, die längste Verweildauer, 61 Tage. Verrückt, wozu Menschen so alles in der Lage sind.
Wir fahren bis direkt an die chilenische Grenze, drehen vor dem Tunnel wieder um. Hier gibt es noch mal eine Rast. Als ich kurz mit dem Busfahrer über die steilen und kurvenreichen Straßen spreche, antwortet er nach kurzem Zögern. Mein Wort conducir ist ihm fremd, er sagt manejar.
Ich komme auch mit einem brasilianischen Ehepaar ins Gespräch. Sie erzählen, dass es zwischen Curitiba und Florianópolis einen Felssturz gegeben habe, genau auf der Straße, auf der ich auch unterwegs gewesen bin. Es hat Unfälle gegeben und Tote und Verletzte. Wir unterhalten uns über ihre und meine Reise, sehr angenehme Gesprächspartner, sie spricht fließend Spanisch, er spricht Portuñol, mit deutlich überwiegendem Portugiesisch.
Hier an der Grenze gibt es auch einen Cristo Redentor, aber der Weg dorthin ist versperrt und von hier unten kann man ihn nicht sehen.
Aber eine Besonderheit gibt es noch, bevor wir uns auf den Rückweg machen: El puente del Inca. Das ist eine von der Natur, vom Thermalwasser geschaffene Brücke, rötlich-gelb, so wie in Tropfsteinhöhlen. Es ist ein wunderbarer Anblick. Die Brücke ist dadurch entstanden, dass das Thermalwasser einen breiten Fels im unteren Teil ausgehöhlt hat, und jetzt sieht der übrige Felsbogen so aus, als wäre er eine Brücke. Stoff für Legenden. Die Legende besagt, dass ein Inkafürst mit seinem gelähmten Sohn an die Thermalquellen kommen wollte, aber den reißenden Fluss nicht überqueren konnte. Daraufhin bildeten seine Krieger eine menschliche Brücke. Die überquerte er mit seinem Sohn. Als er zurückblickte und seinen Kriegern danken wollte, sah er, dass sie zu einer Brücke versteinert waren.
Die moderne Fortsetzung der Geschichte der Brücke hat eine tragische Seite. Hier befand sich ein Thermalbad mit einem Hotel, das durch einen unterirdischen Gang mit den Thermalquellen verbunden war. Das wurde 1953 durch einen Erdrutsch komplett zerstört. Dabei kamen alle ums Leben, die sich in dem Hotel oder in den Quellen aufhielten. Gerettet wurden nur vier Menschen, die in der Kapelle war, die etwas entfernt vom Hotel stand und wundersamerweise erhalten blieb. Man sieht sie auf der anderen Seite stehen, Dokument und Monument gleichzeitig.
12. Dezember (Montag)
Als ich am Morgen nach einer Bank frage, um Geld abzuheben, gibt es eines Sturm des Entrüstens bei Norma und David: Kreditkarte! Um Gottes Willen! Dollars, Zoom, Western Union, alles besser als Kreditkarte. Mit Iguazú ergeht es mir nicht besser. Um diese Jahreszeit? Viel zu warm. Besser im April. Alles gut gemeint, aber nicht sehr hilfreich.
Als ich später in einer Bank Schlange stehe und mit dem Geldautomaten zu kämpfen habe, dirigiert mich ein Mann hinter mir: Jetzt bestätigen, jetzt Geheimzahl angeben, jetzt Auszahlung. Es klapp!
Ich mache durch die erstaunlich frische Luft einen Spaziergang Richtung Innenstadt. Gehe an den Cafés am Straßenrand vorbei und werde dafür belohnt: ein schönes Café in einem versteckten Innenhof, mit Sträuchern und Bäumen und Efeu an der Mauer.
Eine Frau fegt umständlich, erst mit einem selbst gebastelten, dann mit einem normalen, aber viel zu kleinen Besen, die Terrasse. Eine Sisyphusarbeit. Mit jedem Windstoß verliert der Baum neue Blüten. Sehr schöner Baum, mit Blättern, die Farn aussehen, und ganz weich aussehenden, aber kratzigen Blüten. Was für ein Baum das denn wohl ist? Der Kellner weiß es nicht, sein Kollege auch nicht, dann macht die Frage die Runde. Am Ende traut sich einer: wohl eine Art Akazie.
Die Frau mit dem Besen, der ich gesagt habe, dass es hier richtig schön sei, fragt mich, ob es mein erstes Mal sei. Da ich nicht weiß, worauf sich die Frage bezieht, antworte ich: „Primera vez en este café, primera vez en Mendoza, primera vez en Argentina.“
Auf der Plaza de la Independencia suche ich jemanden, der ein Photo von mir macht vor den dort aufgestellten Buchstaben mendoza. Dann kommt ein junger Argentinier und will dasselbe. Wir helfen uns gegenseitig. Wunderbar. Zwischen den großen Buchstaben kann man uns sehen, aber nur ganz unscheinbar.
Ich gehe weiter zur Plaza de España. Hier reagiert die Kachel: Kacheln an den Sitzbänken, Kacheln an den Stützpfeilern der Laternen, Kacheln an den Treppenstufen. Auch der Brunnen in der Mitte des Platzes ist ganz gekachelt. Am Ende des Platzes bebilderte Kacheln. Die erzählen die Geschichte der Entdeckung Amerikas und feiern die Konfraternität zwischen Spaniern und Einheimischen. Alles friedlich gelaufen. Am Rande ein Auszug aus dem Dekret, das die Anlage der Plaza de España bestimmte, immerhin schon von 1638.
Ich komme auch an der Plaza Italia vorbei. Überall Skulpturen, ziemlich bunt zusammengewürfelt, die Bezug auf Italien nehmen. Im Zentrum ein Brunnen, der auf Dantes Comedia anspielt. Die einzelnen Szenen, die Hölle, Purgartorium und Himmel darstellen, bleiben mir unverständlich. Verstehen kann ich nur die Figur von Dante, am unteren Ende einer Art Rampe stehend. Er sieht Beatrice in die höheren Sphären des Himmels entschwinden, in denen er nichts zu suchen hat.
Auf dem Rückweg komme ich an einer Häuserwand vorbei, an der ein Mafalda-Comic angebracht ist, mit Farbe und Sprechblasen und allem Drum und Dran. Mafalda drückt emphatisch ihre politischen Überzeugungen aus, Miguelito antwortet, es käme doch eher auf Verständnis an und darauf, sich nicht für besser zu halten als andere. Am Ende steht Mafalda nicht mehr auf der Rednerbühne, sondern lächelnd neben einem Stapel mit den drei Buchstaben p a z.
Bevor es losgeht, gehe ich noch schnell zur Stärkung in ein mexikanisch angehauchtes Lokal mit mexikanischen Wendungen an der Wand. Es läuft Musik, die sich auch mexikanisch anhört, wohl älteren Datums. Auf dem Bildschirm erscheint ein Plattencover, das ich mir nicht erklären kann. Der Kopf des Interpreten und darunter Las Número. Da stimmt gar nichts, weder Genus noch Numerus. Was kann das zu bedeuten haben? Dann sehe ich, dass der Kopf des Interpreten in eine 1 eingebettet ist, und die muss mitgelesen werden: Los Número 1.
Als ich vor unserem Haus stehe und auf den Bus zur Tour zu den Bodegas warte, sehe ich auf der anderen Straßenseite eine Frau, die mich freundlich anlächelt: Evangelina. Sie hat zwar bei einer anderen Agentur gebucht, aber die haben ihre Klienten wohl zusammengelegt.
Die Teilnehmer werden an verschiedenen Stellen eingesammelt. Am Schluss steigen noch zwei ältere Damen zu. Es gibt nur noch zwei Einzelplätze für die. Ich stehe auf und biete ihnen an, den Platz zu wechseln, damie sie nebeneinander sitzen können. Hocherfreut nehmen sie mein Angebot an und sagen, sie wollten später den jungen Mann dann zu einem Glas Wein einladen. Daraus wird aber nichts.
Wir fahren nach Osten, Richtung Maipú. Schon sieht man am Straßenrand die ersten Weinfelder. Hauptsächlich angebaut werden Malbec, Cabernet Sauvignon und eine geheimnisvolle Rebe namens Carménère. Sie galt seit einer Reblausplage in Frankreich als verschwunden und wurde es wiederentdeckt durch einen Biologen, der sie identifizierte. Die Winzer hatten jahrzehntelang geglaubt, Cabernet Sauvignon anzubauen.
Der chilenische Wein, erfahren wir, ist dem argentinischen ähnlich, aber säuerlicher, Folge der anderen Anbaubedingungen.
Eine Überraschung kommt, als wir das erste Weingut anfahren. Hier werden die Weinfelder bewässert, mit einem ausgetüftelten System, bei dem jedem Winzer an bestimmten Tagen zu bestimmten Zeiten ein bestimmtes Quantum an Wasser zur Verfügung gestellt wird. Er bestimmt dann selbst, ob das Wasser gleich auf die Weinfelder geleitet oder in Zisternen gespeichert wird.
Irgendjemand fragt, ob man die Trauben, aus denen Wein gewonnen wird, denn auch essen könne. Ja, kann man, aber sie sind kleiner, haben weniger Wasser und eine härtere Schale.
Bevor es zum Wein geht, besichtigen wir aber eine Ölmühle, die Ölmühle der Firma Laur, französisch, heute in italienischer Hand. Die Produkte werden aber unter dem Namen Laur vermarktet. Stolz wird darauf hingewiesen, dass man als bester Ölproduzent weltweit ausgezeichnet worden sei. Wer hätte das gedacht? Öl aus Argentinien!
In der sengenden Hitze suchen wir alle ein bisschen Schatten und erfahren, dass die ersten Ölbäume vor 130 Jahren aus Frankreich hier kamen. Das trockene Klima erwies sich als sehr geeignet. Diese Ölbäume stehen noch immer und liefern immer noch ab. 130 Jahre ist ein jugendliches Alter für einen Ölbaum.
Jetzt sind die Oliven klein, es ist genau die Zeit, wo in Kreta die Ernte beginnt.
Im Schatten der alten Ölmühle sehen wir, wie die Oliven gepresst und dann Wasser und Öl getrennt wurden (Öl schwimmt oben).
Eine niedrige Säure, (etwa 0,5) ist gut. Und je kälter die Pressung, umso besser.
Hier ist es im Winter richtig kalt, was man sich kaum vorstellen kann, und wir erfahren, dass Öl sich bei niedrigen Temperaturen verfestigen kann. Das sei kein Problem, hören wir zu unserer Überraschung. Wenn die Temperaturen dann steigen, verflüssige es sich eben wieder. Ohne Qualitätsverlust.
Dann geht es zur Probe. Es gibt vier Schälchen mit Öl und zwei mit Essig. Die ersten drei Ölproben kann ich kaum unterscheiden, aber sie schmecken alle gut, die vierte noch besser, ist aber ein bisschen bitter im Abgang. Der Essig ist ein Gedicht, beide süßlich, beide nicht zu aufdringlich im Geschmack.
Danach komme die beiden Weingüter, ein modernes, ein traditionelles. Bei der Führung wird mir vor allem klar, wie schwierig es ist – und in der Vergangenheit gewesen sein muss – die Kerne zu entfernen, und zwar ohne dass sie zerbrechen.
Die Führerin im ersten Weingut will nichts von Alternativen zum Korken wissen. Der Korken der Korkeiche sei essentiell für Barrique-Weine, für die anderen benutzten sie Korken aus Zuckerrohr. Von Plastikverschlüssen will sie nichts wissen. Die Führerin im zweiten Weingut hat von Verschlüssen aus Zuckerrohr noch nie gehört. Sie hat dafür eine Überraschung parat: veganer Wein. Der werde jetzt immer mehr angebaut. Da muss ich aber doch mal nachfragen: veganer Wein? Sind nicht alle Weine vegan? Nein, heißt es, normalerweise werde Eiweiß zugesetzt. Noch nie gehört.
Von den insgesamt sechs Proben, die wir an den beiden Stellen bekommen, schmeckt mir zur eigenen Überraschung der Rosé gut, der Sekt hervorragend, der Rotwein mäßig bis schlecht, am schlechtesten der Carménère. Haben meine Geschmacksnerven unter dem ganzen Bierkonsum gelitten? Oder ist es einfach zu heiß für Rotwein?
Die gut aufgelegte Frau im zweiten Weingut fragt uns, woher wir kämen: Argentinien, Mexiko, Venezuela, Brasilien, alles vertreten. Und zweimal Deutschland. Ich spreche den anderen Deutschen an, einen sehr sympathischen jungen Mann mit einer unglaublich abwechslungsreichen Biographie für sein junges Alter. Er stammt aus Göttingen, studiert in Rotterdam so etwas wie Wirtschaftsstatistik, hat gerade ein Auslandsemester in Buenos Aires hinter sich und hat vorher schon mal ein freiwilliges Jahr in Chile verbracht. Und er ist eingefleischter Fußballfan, Anhänger von Werder. Er hat vor, in den nächsten Tagen nach Chile zu fliegen, hat sich aber noch ein zusätzliches Rückflugticket nach Buenos Aires besorgt für den Fall, dass Argentinien ins Endspiel kommt. Evangelina kommt auch sofort ins Gespräch mit ihm und dann noch eine perfekt spanisch sprechneden Brasilianerin. Sie kommt aus Brasilia, hat in Madrid gearbeitet und ist schon mehrmals in Deutschland gewesen, meist bei ihrer besten Freundin, die in Bonn lebt. Sie trinkt am liebsten Riesling. Dann kommt noch ein Argentinier dazu, ein überzeugter Biertrinker und Fußballfan. Er kann noch fast die ganze deutsche Mannschaft von der WM von 1974 auswendig. Er will wissen, ob wir Anhänger von Bayern sind. Das können wir beide guten Gewissens verneinen.
13. Dezember (Dienstag)
Ich kann von Glück sagen, dass ich Normas Hilfe habe. Erst im vierten Versuch bekommt sie ein Taxi. Das stellt ich dann aber sofort ein.
Am Flughafen merke ich, wie die Weinberge bis unmittelbar ans Flughafengebäude herankommen.
Die Schlange am Schalter ist – nicht existent. Ich bin sofort dran, und auch bei der Gepäckkontrolle ist kaum jemand. In Rekordzeit sitze ich schon am Gate.
Wir machen eine Zwischenlandung in Jujuy, Evangelinas Stadt. Wir können aber im Flugzeug sitzen bleiben. In der Reihe vor mir setzt sich ein Jude sein Käppi auf, legt einen Gebetsumhang über die Schulter und Gebetsriemen um die Arme. Dann holt er sein Gebetbuch heraus (ist das die Thora?), aber als er sich gerade darin vertieft hat, muss er aufstehen, um für seinen Nachbarn Platz zu machen.
Als wir nach Iguazú kommen, präsentiert sich unten eine grüne, dicht bewaldete Landschaft mit einem Fluss mit braunem Sediment. Sieht fast tropisch aus.
Am Flughafen steht schon der Bus bereit, ein uralter Bus der Firma Río Uruguayo, um uns in die Stadt zu bringen, zum Busbahnhof. Vor dort müsste es eigentlich schnell gehen, ich brauche nur einen Häuserblock weiter, aber ich kann einfach die 316 nicht finden. Jetzt bin ich schon am Ende der Straße Richtung Stadtausgang gelandet, und es wird immer heißer und immer leerer, das Halbfinale wartet. Eine freundliche junge Frau nimmt ihr Handy raus, lokalisiert meine Unterkunft und zeigt mir sogar das Photo davon: Da vorne, an dem grünen Tor. Ich komme hin. Es stellt sich heraus, dass das Haus keine Hausnummer hat!
In Empfang genommen werde ich von vier Hunden, von denen der jüngste gleich an mir hochspringt. Der kennt mich. Dann kommt die Herrin der Hunde und beruhigt sie (und mich), das seien ihre chicas, die seien ganz harmlos. Sie heißt Gloria und ist mindestens 25 Jahre älter und 25 Kilo schwerer als auf ihrem Profilphoto.
Die Anlage ist sehr schön, alles ein ganz klein bisschen schmuddelig und etwas ungeordnet, aber gemütlich. Unter einem Dach stehen ein alter Kühlschrank und ein paar Möbel, dann kommt eine Wiese mit ein paar Pflanzen und am Ende das schöne, zweistöckige Backsteinhaus, mit vier Apartments. Das Apartment hat alles, was man sich wünschen kann, hier kann eine Familie einen ganzen Urlaub verbringen.
Die Gastgeberin ist nett und sehr couragiert. Sie hat gleich zwei Pläne für mich, einen von der Stadt, einen von den Wasserfällen. Und zeigt mir gleich, wie die Kaffeemaschine funktioniert. Sie habe selbst früher im Tourismus gearbeitet und reise selbst viel, deshalb wisse sie von beiden Warten aus, was für den Reisenden von Bedeutung sei.
Wir diskutieren meine Pläne. Von meinem Vorhaben, die Wasserfälle nur von der brasilianischen Seite aus zu sehen, will sie nichts wissen. Wenn man schon mal hier ist. Klar, Brasilien habe die schöneren Ansichten, aber in Argentinien sei man viel näher dran.
Von meiner „Notlösung“ Paraguay für die Weiterfahrt ist sie sehr angetan, aber von Ciudad del Este will sie gar nichts wissen: reiner Kommerz, gefährlich, überfüllt, da könne man keinen Schritt machen, ohne von irgendwem angelabert zu werden. Aber ich wollte doch in das Guaraní-Museum und an den Staudamm. Für den Staudamm könne sie mir jemanden besorgen, der könne mich gleich morgen nach den Wasserfällen dorthin fahren. Wir verbleiben so, dass ich mir die Sache durch den Kopf gehen lasse.
Jetzt gehe sie erst mal Fußball gucken. Glorias Sohn spielt auch Fußball, wohl professionell, in der Dominikanischen Republik.
Kaum ist sie weg, muss ich sie schon wieder rufen. Es gibt zwei Internetverbindungen, mit so komplizierten Eingangsdaten, dass ich keine der beiden zustande bringe. Sie schafft es dann aber im dritten Anlauf.
Ich mache mich auf den Weg in die Stadt und laufe dabei Glorias Tochter über den Weg, mit Argentinien-Trikot. Sehr freundlich, fragt woher ich komme und was ich jetzt vorhätte und gibt mir einen Tipp mit dem Schlüssel. Am besten hier hängen lassen, an dem Schlüsselbrett, dann kann er unterwegs nicht verloren gehen.
Es wird schon Zeit. Als ich ein Lokal gefunden habe, hat das Spiel schon begonnen. Es geht eher abwartend los, dann bekommt Argentinien wieder einen Elfmeter. Dann kommt ein Tor, das eine Mischung aus kunstvoll und Slapstick ist. 2:0 zur Pause. Sieht gut aus, Argentinien lässt nichts mehr zu und macht dann nach einem unglaublichen Dribbling von Messi das 3:0. Finale. Wie haben diese Kroaten nur Brasilien schlagen können?
In dem Lokal wird das Spiel auf zwei Leinwänden übertragen, oben und unten. Oben und auf der Treppe sitzen die echten Anhänger, unten sitzen wir anderen, die das Spiel eher unaufgeregt verfolgen. Es gibt eine Zeitverzögerung, wir sind immer zu spät dran. Die Begleitgeräusche von oben passen nicht zu den Bildern, die wir sehen, und als das dritte Tor fällt, läuft bei uns noch eine harmlose Mittelfeldszene.
Ich mache mich auf den Weg zum Hito Argentino, von Gloria empfohlen. An einer Straßenkreuzung feiernde Argentinier, darunter Mopedfahrer, die den Sieg zelebrieren, indem sie rhythmisch den Motor aufheulen lassen. Passend dazu komme ich kurz darauf an einem Schild vorbei, in dem von Lärm als Umweltbelästigung die Rede ist.
Dann wird es plötzlich ganz einsam. Bäume, Vögel, ein altes Zollhaus im Kolonialstil. Die Jubelgesänge hört man nur noch von ganz weitem.
Dann öffnet sich der Weg und ich stehe am Fluss. Aber an welchem? Und wo ist der andere? Ich versuche, mich an einer Karte zu orientieren, aber vergeblich, hier verlaufen mehrere Wege, die sich kreuzen. Ich klopfe an einem Reisebüro an, sonst ist hier weit und breit niemand zu sehen, und eine junge Frau gibt mir freundlich Bescheid.
Es geht bergauf, und oben kommt es dann in den Blick, das Deutsche Ecke Argentiniens. Hier fließt der Iguazú in den Paraná. Genau an der richtigen Stelle ist ein Lokal, etwas zu vornehm aussehend für meinen Aufzug und außerdem auf Abendessensgäste ausgerichtet. Aber ich könne auch nur etwas trinken. Und könne wählen, wo ich sitzen wolle. Sie hätte einen Balkon und eine Terrasse. Was ist denn der Unterschied zwischen balcón und terraza? Es stellt sich heraus, dass beide Aussichtsterrasse sind, auch beide überdacht, aber die eine höher gelegen.
Von hier aus hat man eine schöne Aussicht auf die Flüsse, die grünen Flussufer, ein paar Bote und eine elegante Hängebrücke, die zwei Flussufer miteinander verbindet. Ich setze mich und stelle die unvermeidliche Frage: Was ist was? Hier ist Argentinien, drüben ist Brasilien, und auf der anderen Seite ist Paraguay. Die Brücke verbindet Paraguay mit Brasilien. Später entdecke ich in der anderen Richtung eine weitere Brücke. Die verbindet Brasilien und Argentinien.
Ich genieße die Ruhe und die Aussicht und bestelle ein Bier. Dazu, passend zur Gelegenheit, eine Sopa paraguaya. Hat nichts mit Suppe zu tun, erklärt die Kellnerin. Wie der irreführende Name entstanden ist, weiß man nicht. Das Gericht, ein Häppchen eher, sieht ein bisschen aus wie eine Tortilla española und wird in mundgerechten Stücken serviert. Ist eine Art Maisbrot, aber weich, mit Maismehl, Fett, Eiern und anderen Dingen zubereitet.
Für den Rückweg nehme ich den anderen Weg, keine gute Entscheidung, es geht durch ein geschäftiges Viertel mit viel Lärm und Unebenheiten auf den Bürgersteigen. Zwischendurch ist für einen Moment die Bebauung ganz weg, es ist fast einsam, und man hört wieder die Vögel schreien.
Dann kommt, schon nahe der Stadt, eine Kreuzung, und hier wird richtig gefeiert. Die Fans singen, dirigiert von einem auf einem Pfosten stehenden Flaggenschwenker. Das hört sich gar nicht so schlecht an. Aber das meiste ist nicht anders, als das, was man in jedem Land hat: Autokorso, Hupkonzert, Nationalmannschaftstrikots, Fahnen. Bei den Umstehenden viele fröhliche, aber auch halb nachdenkliche Gesichter.
14. Dezember (Mittwoch)
Am Fahrkartenschalter am Busbahnhof sind drei Kunden vor mir dran, aber es dauert eine Ewigkeit. Der erste bucht gleich mehrere Fahrten, der zweite muss für eine siebenköpfige Familie sorgen und der dritte zahlt per Handy, wie das hier die meisten machen. Es scheint gut zu funktionieren, aber sehr kompliziert zu sein. Immer wieder müssen neue Angaben gemacht und die beiden Handys miteinander koordiniert werden. Mit Bargeld hätte man das längst erledigt.
Ein Aufseher bemerkt meinen suchenden Blick und sagt, Treppe rauf und dann über den Steg. Wo ich denn noch schnell einen Kaffee bekommen könne, will ich wissen. „Da vorne. Wenn Sie meinen Namen nennen, bekommen Sie 0,001% Rabatt“.
Es geht zu den Cataratas de Iguazú, einer der Sehenswürdigkeiten Südamerikas. Habe in der Heimat so viele begeisterte Kommentare gehört, aber meine Skepsis gegenüber solchen Weltwundern (oder deren Besichtigung) findet bei der Anfahrt wieder neue Nahrung. Nach dem Anstehen bei der Fahrkartenausgabe wartet man auf den Bus, dann auf dessen Abfahrt, dann müssen an der Grenze alle raus, Passkontrolle, wieder Schlange stehen, wieder in den Bus. Bei der Gelegenheit passieren wir die Brücke, die ich gestern am Dreiländereck gesehen habe. Dann kommt die letzte Haltestelle, und man glaubt, am Ziel zu sein. Dann muss man aber die im Internet gebuchten Voucher erst gegen eine Eintrittskarte umtauschen. Wieder Schlange stehen. Dann muss man darauf warten, eingelassen zu werden (passiert nur in bestimmten Intervallen), dann steigt man auch hier in einen Bus, wartet auf dessen Abfahrt und lässt sich dann noch kilometerlang durch den Naturpark kutschieren, bevor man am Ziel ist. Aber es lohnt sich doch.
Es geht einen schönen Fußweg runter, an beiden Seiten dichtes Grün, und dann eröffnet sich der Blick auf die Wasserfälle. Und man ist sofort gebannt.
Dass es Cataratas de Iguazú heißt, im Plural, hat seinen Grund. Man sieht eine ganze Reihe von Wasserfällen, mehr als ein Dutzend, breitere und schmalere, durch Felsen voneinander getrennt. Wie Gardinen hängen sie an den Felsen, und links glaubt man sogar eine Gardinenstange zu erkennen. In der Mitte, da, wo die Strömung am stärksten ist, verfärbt sich das Wasser sogar gelblich. Rechts haben die Wasserfälle sogar zwei Stufen, was den Reiz noch erhöht. Je länger man hinguckt, umso mehr Wasserfälle entdeckt man, kleinere, an der Seite und weiter unten.
Ich komme mit einem brasilianischen Ehepaar mit Sohn ins Gespräch. Wir photographieren uns gegenseitig. Am Ende, als sie erfahren, dass ich aus Deutschland bin, gucken sie ihren Sohn bedeutungsvoll an. Er lernt Deutsch in der Schule. Am Anfang ist der arme Kerl ganz überwältigt, als plötzlich jemand Deutsch mit ihm spricht, aber am Ende kann er doch ein paar Sätze sagen. Und mir erklären, dass er aus São Paulo kommt und João heißt.
Dann geht es auf dem Weg weiter und die Wasserfälle entziehen sich dem Blick. Am nächsten Aussichtspunkt hat man dann einen Blick aus der Nähe und nicht mehr aus der Ferne. Und beginnt zu erahnen, dass die ersten Wasserfälle, die man gesehen hat, nur ein kleiner Teil ist. Es sind über zweihundert einzelne Wasserfälle. Von hier aus sieht man oben und unten einen „See“, eine Art Lagune, die der Fluss oben bildet, weil er an die Felsen gerät, und unten, weil er das Wasser aufsammelt. Hier ist die Variation der Wasserfälle noch größer, und man beginnt auch das Rauschen immer deutlicher zu hören. In der Ferne sieht man einen Wasserfall, vielleicht den größten, bei dem das Wasser meterhoch nach oben spritzt und eine Art Nebelschicht bildet.
Schon auf dem Weg mit dem Bus durch den Park hat man Hunderte von Schmetterlingen gesehen, gelbe, dunkelgelb und hellgelb, und jetzt habe ich einen Schmetterling unmittelbar vor mir. Er sucht mit seinem Rüssel das Geländer ab. Ich „erwische“ ihn einmal mit geschlossenen, einmal mit offenen Flügeln. Die geschlossenen Flügel sind bräunlich, mit einem schwarzen Besatz, die offenen Flügel violett, mit ein paar hellen Punkten. Wunderschön.
Es geht weiter, und man kommt den Wasserfällen immer näher. An einer Station kommt ein Tier mit langem Schwanz und spitzem Maul aus dem Gebüsch, und dann entdeckt man dort auch ein paar Junge. Ein Brasilianer sagt mir, was das für Tiere sind, aber ich verstehe ihn nicht richtig.
Dann sieht man, dass in dem unteren See ein Schiff die Besucher noch näher an die Wasserfälle bringt, und dann sieht man einen Steg, der direkt über dem Wasser zu einem der Wasserfälle führt. Das muss die argentinische Seite sein. Ist es aber nicht, es ist unsere. Man kann den Steg entlang laufen, direkt über dem Wasser. Hier spritzt die Gischt. Einige haben in weiser Voraussicht ein Regencape mitgebracht (einige sogar Schutzhüllen fürs Handy), wir anderen werden ordentlich nass. Aber es ist ein Erlebnis. Man hat Wasserfälle zu drei Seiten, zwei kommen von oben runter, einer stürzt von uns aus runter.
Ganz zum Schluss kommt man, wieder auf dem Hauptweg, direkt an den großen Wasserfall, ganz von der Seite, wieder eine neue Perspektive, und ein überwältigendes Rauschen.
Ein tolles Naturerlebnis. Wie muss es für die gewesen sein, die die vergessenen, nur von den Eingeborenen gekannten Wasserfälle entdeckt haben, also ohne „Vorwarnung“ auf sie gestoßen sind. Das geht mir durch den Kopf, als ich, statt mit dem Aufzug, über den einsamen Felsenweg wieder nach oben steige.
15. Dezember (Donnerstag)
Der Besuch der Wasserfälle auf der argentinischen Seite ist einfacher, man braucht keine Grenze zu passieren und es gibt auch keinen Bus innerhalb des Parks. Es kann also sofort losgehen, und zwar nicht mit dem Bähnchen, das hier verkehrt, sondern über einen der Wege, den Sendero Verde. Der hat seinen Namen verdient, es ist wirklich grün hier. Auf beiden Seiten des Wegs Bäume mit exotischen Namen, darunter einer mit einem kurios gedrechselten Stamm.
Auf einem Hinweisschild ist von einem Vagabunden die Rede, einer „pittoresken Persönlichkeit“, einem Mann, der jahrelang mit seinem Böllerwagen durch die Gegend gezogen war und sich dann entschieden hatte, sich hier, in Iguazú, niederzulassen. Er brachte verschiedene Pflanzen mit, die er hier anbaute, die aber den einheimischen Pflanzen zum Feind wurden.
Man hört wieder das volltönige Schreien der Vögel und darüber einen einzelnen mit einem hohen langgezogenen Piepton.
Dann kommt der Circuito Interior, den ich, einer Aufpasserin zufolge, vor dem Superior nehmen soll.
Rechts ein reißender Bach, es ist, wie sich herausstellt, ein Nebenfluss des Iguazú, der Iguazú Inferior. Der hat wiederum seine eigenen Wasserfälle. An sich schon eine Sehenswürdigkeit.
Dann kommt der erste Wasserfall in Sicht, gar nicht so spektakulär, aber durch die grünen Zweigen zu sehen, eine der schönsten Ansichten der Cataratas.
An einer Ecke ein auffälliger Geruch. Der stammt, wie man erfährt, von den Fledermäusen. Die haben hier eine Höhle. Ich suche und suche, kann aber nichts finden. Vielleicht ist der Eingang der Höhle zur anderen Seite. Beim Herumspähen sehe ich dann aber etwas, das sich im Gebüsch raschelnd bemerkbar macht: einen Leguan.
Man gelangt zu einem Aussichtspunkt. Von hier blickt man auf die Isla de San Martín, mit einem 50 Meter hohen Basaltblock als Wand, an der ein Wasserfall herunterrauscht.
Darunter kommt der Iguazú Inferior in Sicht, mit Stromschnellen. Echtes Wildwasser.
Leider ist die Garganta del Diablo geschlossen, der spektakulärste Wasserfall, und auch der Circuito Inferior geht irgendwann nicht mehr weiter. Man muss umkehren und auf den Circuito Superior. Von dort hat man wunderbare Aussichten auf viele weitere Wasserfälle, darunter Las dos Hermanas, die friedlich wie Schwestern nebeneinander den Felsen herunterrauschen.
Hier wird es aber immer voller, oft versperren die Leute mit Selfies den Weg, das Gedränge gefällt mir nicht.
Als ich wieder am Ausgang bin, frage ich, wo man
noch hinkönne. Da gebe es noch den Sendero Macuco, heißt es. Das seien aber
noch mal dreieinhalb Kilometer hin und dreieinhalb zurück. Und es gebe weder
Wasser noch Toiletten. Nach kurzem Zögern lasse ich mich darauf ein. Hier ist
man in einer anderen Welt. Von den Wasserfällen ist nichts zu sehen und nichts
zu hören, es geht über einen sandigen, manchmal steinigen einsamen Waldweg. Am
Eingang zu dem Weg wird vor Schlangen und Jaguars gewarnt, mit
Verhaltenshinweisen, und jedes Mal, wenn es im Gebüsch raschelt,, schreckt man
kurz zusammen, jedenfalls am Anfang. Dann legt sich das.
Nur wenige sind hier unterwegs, meist zu zweit. Der Weg wird mir etwas lang, und der Wasservorrat geht langsam zuneige. Da kommt mir eine freundlich lächelnde Frau entgegen und sagt mir, es sei nicht mehr weit. Sie hat mich wiedererkannt. Eine Amerikanerin, die ich vorher einmal nach dem Weg gefragt habe.
Am Ende des Weges ist ein Wasserfall, aber man kann nicht ran, nicht einmal ans Wasser. Einige verwegene Jugendliche haben sich auf die Felsen über dem Wasser gewagt, aber davon lasse ich lieber die Finger. Etwas enttäuschend, hatte gedacht, hier könne man die Füße ins Wasser tauchen.
Insgesamt hat sich Glorias Ankündigung, auf der argentinischen Seite komme man näher ans Wasser heran, als unzutreffend erwiesen, vielleicht aufgrund der gesperrten Wege.
Auf dem Rückweg gibt es aber noch eine Entschädigung. Im Wald raschelt es, die Bäume neigen sich zur Seite, man hört gelegentliches Kreischen: Seidenäffchen. Eine ganze Bande. Unglaublich ihre Treffsicherheit, wenn sie den nächst höheren Ast ergreifen oder sich von Baum zu Baum schwingen. Man bekommt sie leicht vor die Kamera, obwohl sie scheu sind und das Laub dicht, aber immer nur von hinten. Es dauert eine Zeit, bis man sie ganz aufs Bild bekommt: hellbrauner Rücken, hellbraunes Gesicht, dunkelbrauner Kopf, dunkelbraune Beine.
Ich bin inzwischen völlig ausgetrocknet, aber da kommt ein Brunnen am Wegesrand. Nur kann ich das verrostete Schild nicht lesen. Steht da Agua Potable oder Agua no Potable? Ich lasse lieber die Finger davon und rette mich noch ins Ziel.
Bei der Rückfahrt mit dem Bus nach Puerto Iguazú sehe ich aus dem Fenster ein Geschäftsschild, das mir gestern schon aufgefallen war. Ich steige schnell aus, mache ein Photo und nehme dafür noch einmal ein, zwei zusätzliche Kilometer in der sengenden Sonne in Kauf. Aber es lohnt sich. Das Lokal heißt Llámame como quieras. Noch mal ein kleines sprachliches Schmankerl zum Abschluss der Argentinienreise.