Guatemala (2024)

15. Oktober (Mittwoch)

Guatemala ist, was die Bevölkerung angeht, bei weitem das größte Land Mittelamerikas. Es hat 17 Millionen Einwohner, so viele wie Holland. Dann kommt schon Honduras, dann Nikaragua, dann El Salvador, dann erst Costa Rica und am Ende Panama. Guatemala und Nikaragua haben einheimische Namen, Costa Rica, Honduras und El Salvador haben spanischen Namen, bei Panama bin ich noch auf der Suche.

Die Reise beginnt in Guatemala Stadt. Die wird von den meisten Reisenden ausgelassen, sie gilt als laut, schmutzig, chaotisch, gefährlich. Aber Schmuddelkinder haben bekanntlich ihren Reiz.

Guatemala wurde nach einem Erdbeben in der ehemaligen Hauptstadt, in Antigua, zur neuen Hauptstadt, und so wurden am Flughafen La Aurora gestern auch sofort Transfers nach Antigua angeboten.

Die „Einwanderung“, wie die Passkontrolle in Lateinamerika immer heißt, ging so glatt vonstatten wie nie zuvor. Drei, vier kurze Fragen, Stempel, Unterschrift. Erinnert mich an Mexiko, wo ich zwei Stunden in der Schlange stand und fast den Flug verpasst hätte.

Dafür dauert es hier am Kofferband umso länger, und beim Zoll geht es erst richtig los. Als ich dann in die kleine, erstaunlich leere Abflughalle komme, ist von dem Fahrer nichts zu sehen. Zum Glück kümmert sich eine freundliche Frau am Telefon darum, und dann taucht er auf.

Bei der Ankunft war es noch taghell, der erste Blick traf auf ein Häusermeer und ein Wolkenmeer. Jetzt wird es aber sofort dunkel, stockdunkel. Noch vor 6 Uhr.

Einen richtigen Eindruck von der Stadt bekommt man so nicht, aber man sieht Hochhäuser und Wolkenkratzer zu beiden Seiten der Straßen. Das Straßennetz ist nach römischem, in Lateinamerika weit verbreitetem System schachbrettartig, mit Avenidas und Calles, aber das merkt man bei der Fahrt nicht so richtig. Es geht langsam vorwärts, quälend langsam, und die Müdigkeit fordert ihren Tribut. Besser voran kommen die Motorräder, die sich zwischen den Autos durchdrängeln und immer wieder ganz plötzlich auftauchen.

Als wir uns der Zona 1, dem historischen Zentrum, nähern, verändert sich die Szenerie. Kleinere Häuser und ein paar historische Gebäude kommen zum Vorschein, und als wir gerade an der Kathedrale vorbei sind, sind wir am Ziel. Der freundliche Fahrer steigt mit mir aus, wartet, bis ich meinen Notizblock gefunden und es geschafft habe, die Haustür zu öffnen.

Dann geht es drei Etagen ohne Aufzug hoch, und auch oben klappt das „Aufschließen“ mit dem Code. Geschafft! Nach 8500 Kilometern ist das Ziel erreicht. Große Erleichterung.

Es ist inzwischen 3 Uhr morgens deutscher Zeit, 19 Uhr abends lokaler Zeit. Das Apartment ist groß, modern, hat eine Wohnküche und sogar Waschmaschine und Trockner. Durch das Schlafzimmerfenster sieht man auf die Kathedrale.

Im Kühlschrank ist eine Flasche Wasser, ein Segen. Die muss bis morgen halten. Zusammen mit ein paar Keksen, die ich im letzten Moment vor der Fahrt zum Flughafen gekauft habe.  Und noch eine gute Nachricht: Der Adapter aus Kolumbien passt auch hier!

16. Oktober (Mittwoch)

Am frühen Morgen geht es noch ruhig zu in der Stadt, obwohl auch schon viele Menschen unterwegs sind. Es sind nur ein paar Schritte von der Unterkunft bis zu dem zentralen Platz mit dem Brunnen. Ich bin direkt im Zentrum von Guatemala untergebracht.

Es ist warm, aber bewölkt. Später, wenn die Sonne mal durchbricht, ist es immer wieder mal für ein paar Momente richtig heiß. für den Nachmittag sind Schauer und Gewitter angesagt, aber die bleiben aus.

Mein erstes Anliegen ist der Geldwechsel. Der Fahrer gestern Abend hat mir empfohlen, das in einer Bank zu erledigen. Eine freundliche Polizistin am Rande des Platzes erklärt mir, die Banken seien noch geschlossen. Außerdem benötige man ein Konto, um Geld wechseln zu können. Sie empfiehlt Western Union und weist mir den Weg. Anhaltspunkt: Taco Bell, ein Geschäft. Dort schickt man mich ein paar Häuser weiter die Straße runter.

Über einem Eisentor steht ein kleines Schild mit Western Union, das man leicht übersehen kann. Alles verriegelt und verrammelt. Ich frage zwei Männer, die auf den Bürgersteig stehen. Als sie erfahren, dass ich Geld wechseln will, schließt einer der Männer ein Eisentor auf und lädt mich ein, ihm zu folgen. Ich zögere ein bisschen, aber er lächelt freundlich, und ich gehe mit einem etwas mulmigen Gefühl hinterher. Er selbst geht wieder raus. Ich stehe eine Minute etwas verlassen in der Gegend herum, dann kommt ein Mann und wechselt mir ohne Probleme 100 Dollar. Er inspiziert den Schein kurz, alles in Ordnung. Ich bekomme danach sogar eine Art Kassenzettel: 775 Quetzal. Ob ich da über den Tisch gezogen worden bin? Erst einmal egal. Das kann ich später noch überprüfen.

Die beiden Männer auf dem Bürgersteig lächeln mir freundlich zu, als ich den Daumen hebe und mich auf den Weg mache. Es geht gleich in ein Lokal, an dem ich vorher vorbeigekommen bin. Hier gibt es Frühstück.

Frühstück bedeutet hier Rührei, in allen möglichen Variationen. Ich nehme das erste Beste. Der Kellner ist äußerst freundlich, sehr höflich, an der Grenze zur Unterwürfigkeit. Er spricht gerne Englisch und hält mich natürlich für einen Gringo. Ich kläre ihn auf und wir sprechen halb Spanisch, halb Englisch.

Das Lokal ist ganz schön, in einer alten Fabrikhalle oder so was untergebracht, länglich, hoch, aber schön dekoriert, ohne Kitsch. Ein zweiter Kellner kommt und bringt auch noch eine Kerze in einem schönen eisernen Kerzenständer.

Dann wird mir noch eine Tageszeitung gebracht. Schon auf der Titelseite erfährt man, dass Guatemala in Costa Rica verloren hat, 0:3, und ausgeschieden ist aus der Nations League. Für das Viertelfinale hat sich dafür Surinam qualifiziert.

Im Innenteil erscheint ein Artikel über die Migrationspolitik in den USA. Sowohl Republikaner als auch Demokraten sprechen sich für eine härtere Gangart aus. Das betrifft die Länder Mittelamerikas unmittelbar.

Das ungünstige Klima hat eine Missernte beim Mais verursacht. Das betrifft vor allem Familien, die den Mais für sich selbst anbauen, als Lebensgrundlage. Es handelt sich um den maíz criollo, eine ältere Variante des Mais, die sich im Allgemeinen gut den einheimischen Bedingungen anpasst.

Das Frühstück wird serviert mit warmen Fladen und dem unvermeidlichen schwarzen Bohnen. Dazu dünner schwarzer Kaffee. Am Ende zahle ich 33 Quetzal. Dürfte bei 4 Dollar liegen.

Ich mache mich, den Instruktionen des Kellners folgend, auf den Weg zur Touristeninformation. Die Szenerie wechselt dabei ein bisschen. Es geht vor der Zone 1, dem centro histórico, in die Zone 4, dem centro cívico, mit höheren, neueren Gebäuden, Banken, Regierungssitzen, Unternehmen.

Die Touristeninformation ist in einem Hochhaus untergebracht, in einem modernen Bürogebäude. Eine Frau dort nimmt sich alle Zeit der Welt für mich, erklärt geduldig alles, was ich wissen will und noch  viel mehr, so dass mir am Ende der Kopf raucht. Sie kümmert sich auch um meine nächsten beiden Stationen in Guatemala und wie ich dorthin komme.

Was das Geld angeht, gibt sie Entwarnung: alles in Ordnung, gängiger Kurs. Und es gibt eine Bank, bei der man auch ohne Konto Geld wechseln kann, die Banco Industrial.

Meine Adresse habe ich falsch notiert. Richtig lautet sie: 8A Avda. 8-24. Die erste Zahl gibt die Avenida an, die zweite die Calle, die diese Avenida auf dieser Höhe kreuzt, die dritte die Hausnummer.

Ich bekomme verschiedene Broschüren und Stadtpläne mit und am Ende sogar einen bunten Stoffball, auf dem Guatemala steht.

Trotz ihrer Werbung für den Metrobus gehe ich zu Fuß zurück und lasse die Eindrücke auf mich wirken: Eine Frau verkauft Lose, ein Mann Kaugummis, eine junge Frau im kurzen Sommerröckchen schiebt einen Kinderwagen vor sich her, irgendwo geht plötzlich eine Sirene los, ich passiere einen Parkplatz extra für Motorräder, ein Mann, auf einem Mauervorsprung sitzend, bietet seine Dienste als Taxifahrer an, aus den Mauern der Ruine eines Hauses sprießt das Grün, ein kleines Hotel mit einer schönen Fassade auf der anderen Straßenseite. In einem Frisörsalon kann man sich umsonst die Haare schneiden lassen. Hier wird ausgebildet.

Ich bemerke ein kleines Lokal, in dem es Licuado gibt, ein populäres Getränk. Auch hier freundliche Begrüßung. Der Wirt empfiehlt Erdbeere mit Milch. Schmeckt aber ganz anders als Erdbeermilch, wird auch viel kälter serviert, mit vielen kleinen Eisstückchen.

Außer mir ist nur noch ein Ehepaar an einem der hübsch dekorierten Tischchen. Als der Mann bezahlt, spricht er mich an. Er ist etwas enttäuscht, dass ich kein Gringo bin. Er hat fünf Jahre in den USA gelebt und spricht gerne Englisch. Da kann ich ihm einen Gefallen tun. Er hat sich hier den Unionisten angeschlossen, dort hat er die Gelegenheit, Englisch zu sprechen.

Weiter geht’s richtig Heimat. An einer Straßenkreuzung ohne Fußgängerampel frage ich mich, warum alle Autos (und Motorräder natürlich) warten. Keine Ampel zu sehen. Die entdecke ich dann erst auf der anderen Seite der Kreuzung, hoch oben, zwischen Ästen und Stromkabeln.

Die Fußgängerampeln zählen die Sekunden bis der verbleibenden Wartezeit, und da ist Geduld gefragt. An einer Kreuzung dauert es 85 Sekunden.

Schuhputzer haben hier weiterhin eine Klientele. Die Geschäftsleute und Banker tragen weiterhin schwarze Lederschuhe.

Viele sind gut, aber ärmlich gekleidet. Der Unterschied zu Europa ist nicht zu übersehen. Es gibt eine ganze Reihe von Bettlern und von Obdachlosen. Und viele andere sitzen irgendwo am Bürgersteig. Ob sie auf Arbeit warten? Einige scheinen einfach in den Tag hinein zu leben. Ein paar scheinen drogenabhängig zu sein. Alkohol sieht man auf der Straße nirgendwo.

Die meisten Frauen sind klein und untersetzt, auch die Männer sind keine Riesen. Die meisten haben die Physionomie der Indios, mehr als ich in anderen Ländern gesehen habe, vielleicht mit der Ausnahme vom Süden Mexikos.

Dass die Hauptstadt kein typisches Touristenziel ist, merkt man auf Schritt und Tritt. Ich begegne während des ganzen Tags keinem einzigen Ausländer.

Ich komme wieder Richtung Innenstadt und frage am Palacio Nacional nach den Besichtigungszeiten. Dann will ich in den Mercado Central, gleich in der Nähe. Der ist aber nicht zu sehen. Es stellt sich heraus, dass der unterirdisch ist. Ein Verkäufer an einer Straßenecke gibt mir ungefragt diese Information.

Der Mercado hat drei Ebenen. Oben gibt es Souvenirs. Die Stände sehen alle irgendwie gleich aus. Hier fehlt nur eins: die Kundschaft.

In der mittleren Etage geht es lebendiger zu. Hier gibt es Lebensmittel und Blumen und allerlei Imbissstände. Ungeachtet der frühen Stunde essen viele Einheimische schon das, was bei uns als Mittagessen durchgeht.

An einem Obststand kaufe ich Bananen und eine unbekannte, kleine Frucht, die die freundliche zum Probieren anbietet. Schmeckt köstlich. Ich muss dreimal nachfragen, bis ich verstehe, wie sie heißt: jocote. Die Haut ist etwas hart, aber das Fruchtfleisch ist richtig lecker, saftig und süß. Erinnert entfernt an Pflaume. Bei den Bananen muss man bei der Bestellung aufpassen. Sie heißen hier bananos, mit plátanos sind die Kochbananen gemeint.

An einem anderen Stand finde ich noch schwarzen Tee. Wird wohl nicht oft nachgefragt. Der Verkäufer sucht selbst unter den dicht auf den Regalen an der Hinterwand gestapelten Paketen. Am Ende wird er fündig. Etwas besorgt sagt er mir, das Ablaufdatum sei Dezember 2024. Kein Problem. Nehme ich.

In der unteren Etage gibt es volkstümliches Kunsthandwerk, meist aus Korb: Hüte, Taschen, Körbe.

Wieder oben kaufe ich in einem kleinen Laden Wasser und Kekse und in einem anderen Bier. Das muss der Verkäufer aus dem Lagerraum hinten an die Theke holen. Dann kaufe ich noch ein Viertel Hähnchen und mache mich auf den Weg nach Hause. Aber ach, ich kann den Eingang nicht finden. Ich bin genau auf der Kreuzung der Achten mit der Achten, aber das Haus ist einfach nicht zu finden. Eine freundliche Polizistin sieht sie die Adresse an und hilft mir. Aber es nützt nichts. Ich gehe in alle Richtungen. Erfolglos. Dann entferne ich mich sogar von der Straßenecke. Kann nicht sein, ich muss in der Nähe der Kathedrale bleiben. Dann plötzlich sehe ich den Eingang. Warum bin ich vorher daran vorbeigelaufen? Weil ich nach Nummer 24 gesucht habe. Die Hausnummer ist aber 14. Habe ich das falsch notiert? Nein, später stellt sich heraus: Die falsche Hausnummer habe ich von der Vermieterin!

Wie hat der Fahrer gestern nur das richtige Haus gefunden? Da fällt mir ein, dass ich ihm den Namen des Hauses genannt habe, La Gloria Kiiper. Den muss er in seinem Routenplaner gefunden haben. Ich erinnere mich noch, wie wir uns über das merkwürdige Wort Kiiper gewundert haben.

Erleichtert, mein Ziel gefunden zu haben, gehe ich die Treppe rauf. An der Tür des Apartments gebe ich den Code ein. Ergebnis: Ich komme nicht rein. Auch beim zweiten und dritten Versuch nicht. Irgendwas ist am Morgen mit dem Verschließen der Tür falsch gelaufen. Die Erklärungen der Vermieterin sind mir bis jetzt noch ein Rätsel. Ich schicke eine Nachricht und bekomme glücklicherweise bald Antwort: An der gegenüberliegenden Wand ist ein Schlüsselkästchen. Das soll ich mit einem Code aufschließen und den Schlüssel zum Öffnen des Apartments nehmen. Leichter gesagt als getan, aber am Ende gelingt es. Da kommt aber nicht ein Schlüssel zum Vorschein, sondern gleich mehrere. Und die Tür des Apartments hat zwei Schlösser. Nach einigem Probieren öffnet sich am Ende die Tür. Geschafft: Inzwischen ist das Hähnchen kalt und das Bier warm.