Emsradweg (2024)

27. August (Dienstag)

Dass Bad Ems nicht an der Ems liegt, sondern an der Lahn, weiß ich noch von einer alten Radiosendung. Dass dafür Rheine nicht am Rhein, sondern an der Ems liegt, weiß ich auch noch von damals.

Es soll von der Quelle der Ems bis zur Mündung gehen. Eine eigentliche Quelle hat die Ems, wie so viele Flüsse, nicht, eher ein Quellgebiet. Ich starte in einem Ort namens Hövelhof, von dem ich noch nie etwas gehört hatte.

Die Touristeninformation, wo ich mein Fahrrad in Empfang nehme, liegt in der Schlossstraße. Die heißt nicht von ungefähr so, denn hier befand sich früher ein Schloss, ein Jagdschloss des Fürstbischofs von Paderborn.

Die Touristeninformation ist in der ehemaligen Küche des Schlosses untergebracht, die sie sich mit dem Pfarramt teilt. Das Gebäude ist ein perfekt saniertes Fachwerkhaus und eins von mehreren alten Gebäuden hier am Platz. In der kleinen Grünanlage davor steht ein Denkmal für die Opfer von Krieg und Gewalt, mehrere konzentrisch angeordnete Steinplatten mit allen Jahreszahlen der beiden Weltkriege, gruppiert um eine Steinplatte mit dem Relief der Köpfe von etwas fremd aussehenden Engeln. Etwas abseits davon steht ein Bronzemodell des ehemaligen Schlosses, und vorne an der Straße eine platte Skulptur eines Radfahrers. Der vermutlich auf den Emsradweg verweist.

Während ich den ganzen Tag im Zug gesessen habe, ist Hermanito schon aktiv gewesen und ist einen „Prolog“ gefahren, von Verl nach Hövelhof, an den Emsquellen vorbei.

Die Wetteraussichten sind gut, und ich bin heute einigermaßen pünktlich angekommen. Ich nehme das mal als gutes Omen.

Am Abend erinnere ich mich an ein Gespräch im Zug, zwei Mädchen auf dem Weg nach Hause von der Schule. Während der ganzen Fahrt geht es nur um ein Thema:  Jungs. Vor allem um die Frage, ob Leon der richtige für die eine sei. Oder doch Noah? Was hat Leon denn geschrieben? Die SMS wird laut vorgelesen. Es wird beraten, was die Bedeutung dieser Nachricht sein kann. Am Ende der Zugfahrt ist noch keine Lösung gefunden. Aber sie haben ja noch den Fußweg nach Hause vor sich.

28. August (Mittwoch)

Habe gestern noch einen Abendspaziergang gemacht, bei dem ich mich verlaufen habe. Was den Vorteil hat, dass ich mich jetzt nicht verfahre. Jedenfalls nicht sofort.

Ich bin die Jägerstraße einfach in die falsche Richtung gefahren. Das hatte aber auch sein Gutes, ich konnte noch eine kleine Entdeckung machen, die Bifurkation eines Baches, des Krollbachs. Dass sich Flüsse oder Flussläufe gabeln, ist an sich nichts Besonderes, aber hier vereinigen sie sich nicht wieder. Sie bleiben getrennt.  Beide fließen zur Nordsee, aber der eine durch den Rhein, der andere durch die Ems. Der Grund für die Bifurkation war ein eiszeitlicher Block, der dem Bach den Weg versperrte.

Straßenschilder sind hier eine Rarität. Sie müssen wohl aus Fernost eingeführt werden. Ich muss tatsächlich, auf einer größeren Straße, eine Frau vor ihrer Haustür nach dem Namen der Straße fragen. Wir sehen gemeinsam auf meinen Stadtplan und stellen fest: Ich muss den ganzen Weg wieder zurück, wieder durch das Wohnviertel, wo die Unterkunft liegt. Kein Viertel für arme Leute. Lauter Einfamilienhäuser, groß, zweistöckig, nicht von der gediegenen, eher von der vornehmen  Art, einige villenartig, entweder aus rotem, gelben oder weißen Ziegeln, viele mit Walmdach, oder, wie die moderneren, quadratischen, weiß verputzt. In den Vorgärten Banner von Borussia Dortmund, Arminia Bielefeld und Werder Bremen. Hätte schlimmer kommen können.

Heute ist das Ziel dasselbe wie gestern, nur dass ich es gestern nicht mehr geschafft habe, dahin zu kommen: Das Ems-Informationszentrum auf dem Emser Kirchweg, schon außerhalb von Hövelhof. Hier ist der offizielle Startpunkt des Emsradwegs.

Wieder geht es über die Jägerstraße, diesmal in die andere Richtung. Unterwegs erfährt man, warum die so heißt. Das hat was mit dem Jagdschloss zu tun. Dieses Gebiet, die Senne, war von jeher eines der bekanntesten Jagdreviere im weiten Umkreis. Hier hatte der Fürstbischof das alleinige Jagdrecht. Dessen Jagdschloss war der Grundstein für die Entwicklung Hövelhofs. Das Jagdhorn im Wappen des Ortes zeugt bis heute davon. Nach der Auflösung des alten Reiches fanden hier alljährlich Perforce-Jagden statt. Die Jäger, wie die Pächter der Ökonomie einfach genannt wurden, ritten hoch zu Ross über die Jägerstraße. Und im Hövelhofer Wald stand das Jägerkreuz.

Durch die kühle Morgenluft geht es einen schönen Weg entlang, über eine rau asphaltierte, einsame Kreisstraße. Die Sonne steht tief und beleuchtet die Felder.  Es geht an einem Waldrand vorbei, und dort steht unvermittelt ein Polizeiauto – leer. Dann kommt wie aus dem Nichts die Autobahn. Die erste Steigung bei der Auffahrt auf die Brücke.

Hinter der Brücke ein Strommast. Der ergibt, mit der Sonne hinter mir, ein verblüffend schönes Photomotiv.

Dann hört man Schüsse. Jäger? Nein, hier ist ein Truppenübungsplatz.

Ich biege rechts ab und komme zu dem Informationszentrum. Hier ist natürlich noch niemand, aber auf einer Informationstafel kann man erfahren, dass der gesamte Radweg eine Länge von 385 Kilometern hat und an welchen Stationen er vorbeiführt.

Ich fahre erst mal in die „falsche“ Richtung, denn hier in der Nähe befinden sich die Emsquellen, und wenn ich schon einmal hier bin … Ich fahre 3-4 Kilometer über den einsamen Radweg und komme dann dort an. Hier steigt man ab und geht über Planken einen Weg runter und weiter runter. Der geht dann aber wieder rauf. Man muss sich erst mal umgucken, um zu merken, dass man tatsächlich an den Quellen angekommen ist. Es handelt sich nicht um eine aus einem Felsen schießende Quelle, sondern um eine Sickerquelle. Hier tritt Wasser an verschiedenen Stellen aus der Erde und sammelt sich zu einem Rinnsal. Nicht spektakulär, aber ganz schön in der grünen Umgebung.

Ich fahre zurück zum Informationszentrum und sehe mir dort noch mal kurz die Schautafel an. Ein vorüberkommender Mann sagt mir, ich müsse in die andere Richtung, also Richtung Emsquellen fahren, nur eben dort links abbiegen und nicht rechts. Tatsächlich habe ich dort Radwegweiser gesehen. Mein erstes Ziel, sagt er, sei Holte-Stukenbrock, und das habe ich tatsächlich ausgeschildert gesehen. Ich fahre in die Richtung und komme an den Ortsrand von Holte-Stukenbrock. Hier gibt es Schilder für Radwege in drei Richtungen, aber keine scheint richtig zu sein, und das Logo des Emsradwegs ist auch nirgends zu sehen. Ich fahre in den Ort rein, komme da aber auch nicht weiter. Also fahre ich wieder zu den Schildern zurück. Eine Radfahrerin steigt ab und sieht auf ihrem Handy nach. Sie ist sich nicht sicher, gibt sich aber viel Mühe und kommt zu dem Ergebnis: Ich muss nach Hövelhof zurück! Resigniert nehme ich das zur Kenntnis und fahre wieder zu dem Informationszentrum. Als ich dort die Richtungshinweise ansehe, kommt ein muskulöser Mann mit dickem Schnäuzer und tätowierten Oberarmen auf mich zu und fragt mich, wohin ich wolle. Auf den Emsradweg, sage ich, und erwähne leichtsinnigerweise den Namen Espeln, den ersten Ort, durch den der Emsradweg führt. Nein, nein, sagt er, weder hin noch zurück, ich müsse hier rechts abbiegen. Ausgerechnet dahin weist das Emsradlogo nicht. Aber der Mann spricht so entschieden, dass ich seinem Rat folge: diese Straße runter, dann auf die Landstraße, dann durch ein Industrieviertel, und dahinter links, da gehe es nach Espeln.

An der Landstraße angekommen, sehe ich Lastwagen, die hier die Straße runter donnern, einer nach dem anderen, und nur einen schmalen, nicht abgesicherten Streifen für Radfahrer. Nein, das tue ich mir nicht an. Der Mann hat eindeutig das Auto-Gen in seiner DNA, er kann sich in die Lage eines Radfahrers nicht versetzen. Ich flüchte mich in einen Waldweg, der nach Hövelhof führt. Den habe ich vorher aus dem Augenwinkel gesehen. Ich nehme diesen Weg und bin nach anderthalb Stunden und 17 Kilometern wieder genau dort, wo ich hergekommen bin, in Hövelhof. Dort gehe ich erst einmal in eine Bäckerei, einer, in der ich gestern schon mal Halt gemacht habe.

Danach geht es in den Ort, zum Schloss. Hier gibt es Radwegeschilder zuhauf, aber keins für den Emsradweg. Ich irre ein bisschen in der Gegend herum und frage einen jungen Mann. Der reagiert wie der mit dem Schnäuzer auf das Wort Espeln, korrigiert sich aber sofort: Ach nee, Sie wollen ja auf den Radweg. Er führt mich zu einer Gruppe von Rentnern, die vor einem Café sitzen. Darunter befindet sich sein Nachbar. Der weiß tatsächlich Bescheid: Ich muss zurück zu der Bäckerei und dann Richtung Rieke. Stimmt!

Es geht an der Landstraße entlang, dann an Feldern entlang, dann wieder an der Landstraße entlang. Aber immerhin: Ich komme nach Espeln. Aber dort gibt es keinen Emsradweg. Ich fahre durch den Ort und da stoße ich tatsächlich auf den Emsradweg: Richtung Hövelhof! Also wieder zurück. Keine weitere Ausschilderung zu sehen. Ich frage einen Mann, der in seinem Garten arbeitet. Der ist sehr hilfsbereit, erklärt mir den Weg, korrigiert sich dann, erklärt einen anderen Weg, geht dann ins Haus und holt eine Karte. Die ist genauso ungenau wie meine.  Kurzentschlossen holt er sein Rad aus der Garage und begleitet mich. Er ist selbst den Emsradweg schon mal gefahren, bis Emden, mit drei Freunden.

Wir fahren die Landstraße runter und kommen zu einem Gedenkstein, von dem er vorher gesprochen hat. Dort ist tatsächlich ein Schild. Das habe ich schlicht und einfach übersehen. Ich verabschiede mich mit einem herzlichen Dank und er schickt mir ein „Immer an der Ems entlang!“ hinterher.

Bevor es weitergeht, sehe ich mir aber noch den Gedenkstein an. Darauf steht Hilger Jo, Hilger Jo. Tom Haspelkamp Hento. Das war in vergangenen Zeiten ein Warnruf, wenn Gefahr im Verzug war. Man flüchtete, mit primitiven Waffen ausgerüstet, auf den Haspelkamp, einen Hügel, der leicht zu verteidigen war, weil er nur einen einzigen Zugang über einen schmalen morastigen Weg hatte. Der Gedenkstein erinnert an das Jahr 1604, den schwärzesten in der Geschichte von Espeln. Marodierende spanische Söldner verwüsteten den Ort, setzten Häuser in Brand, plünderten die Höfe, verwüsteten die Felder. Viele Einwohner wurden verletzt, einige wurden verstümmelt, und ein Fünftel der Bevölkerung erlebte den nächsten Tag nicht mehr. Woher kamen die spanischen Söldner? Aus den Niederlanden. Dort tobte der Befreiungskampf der Niederlande gegen Spanien, und wenn die Söldner dort keine Beute fanden oder keinen Lohn bekamen, fielen sie in Westfalen ein.

Ich falle ins Emsland ein, aber mit friedlichen Absichten. Und werde belohnt: Die Strecke wird schlagartig schöner, und der Straßenname „An der Ems“ weckt Hoffnungen. Aber bald geht es wieder weg von der Ems und auf Feldwegen weiter.

Ich komme in ein Naturschutzgebiet, an einen See, wie der hilfreiche Mann aus Espeln schon gesagt hatte. Es ist ruhig, nur in der Ferne schnattern und flattern Vögel.

Ich mache Pause auf einer Parkbank. Auf der steht In liebevoller Erinnerung an Werner. Neben mir sitzt ein Wanderer mit Kamera. Er erzählt, er wohne schon seit 30 Jahren in dieser Gegend und rücke immer wieder aus, um schöne Motive zu finden, und die gebe es hier reichlich.

Auf der Bank nebenan sitzen zwei Frauen, die sich in fließendem Deutsch, aber mit markantem Akzent über Kochrezepte unterhalten. Sie sagen mang-gelhaft und gewohnen. Slawische Sprachen.

Über einen Schotterweg geht es aus dem Naturschutzgebiet raus und auf einer Landstraße Richtung Rietberg. Auf einem guten Stück der Landstraße habe ich Birken zu beiden Seiten des Wegs, in regelmäßigen Intervallen, immer eine ältere mit dickerem und eine jüngere mit schmalerem Stamm in Wechsel. Sehr schön.

Die Entfernungsangaben auf den Radschildern sind auch sehr speziell: Erst sind es 5,0 km nach Rietberg, dann 6,7 km, erst sind es 3,0 km, dann 3,7 km.

Dann kommt Rietberg. Hier wollte ich eigentlich frühstücken, jetzt ist es Mittagszeit. Und schon richtig heiß. Überall stehen Fahrräder von Radreisenden, die hier Pause machen.

Ich auch, es gibt Kaffee und Wasser in einer Eisdiele. Der Wirt spricht abwechselnd Italienisch und Deutsch mit den Kunden, beides wie ein Muttersprachler. Die Kugel Eis kostet hier 1,60 €. Muss ein gutes Geschäft sein.

Rietberg ist ein wunderschöner Ort, mit Fachwerkhäusern aller Art, sehr gepflegt. Am schönsten das alte Rathaus.

Über der geschmückten Straße hängt ein Banner, das ein Ortsfest ankündigt: Hänky Pänky. In Espeln findet demnächst das Erntedankfest statt.

Bei der Ausfahrt aus Rietberg treffe ich auf ein Fahrradschild, das ich noch nie gesehen habe, an einer schlecht einsehbaren Abbiegung: ein Warnhinweis mit zwei kollidierenden Fahrrädern, unter denen Gegenverkehr! steht.

Weiter geht es Richtung Wiedenbrück, am Waldrand entlang. Von der Ems ist nichts zu sehen. Plötzlich Gekreische über mir. Eine Schar ganz tieffliegender Vögel. Können das Storche sein? Später sehen wir einen einsam auf einem abgemähten Feld stehen. Aber kreischen Störche so?

Ich bin auf einem einsamen Feldweg zwischen Rietberg und Wiedenbrück unterwegs, in der knalligen Mittagssonne, als ein Radfahrer, der gerade dabei ist, mich zu überholen, auf einmal hinübersieht und „Ach“ sagt. Hermanito. Er ist bisher sehr zufrieden, sowohl mit dem Prolog, den er gestern bis zu den Emsquellen gefahren ist als auch mit seiner Unterkunft in Hövelhof.

Er macht sich sofort nützlich und stellt meinen Sattel höher. Und befreit meinen Rücken vom Rucksack, indem er ihn mit einem Gummizug auf dem Gepäckträger befestigt. Eine doppelte Erleichterung.

Wir kommen nach Wiedenbrück. Ich bin so geschafft, dass ich nur das Rad vor dem Café abstelle, während Hermanito auf den Marktplatz geht und ein paar Photos macht.

Überall um den Marktplatz herum stehen Figuren, wohl nur vorübergehend hier aufgestellt, aus irgendeinem leichten Material, ich habe so etwas schon mal in Koblenz gesehen. Hier steht zum Beispiel ein Mann direkt am Ufer der Ems und guckt in gebeugter Haltung ins Wasser. Hermanito macht ein Photo von mir zusammen mit drei Nonnen vor einer Kirche.

In Rhede, das ein Schloss hat, müssen wir eine Runde drehen, da wir irgendwo falsch abgebogen sind, dann kommen wir wieder auf den Radweg Richtung Harsewinkel. Die richtige Richtung, aber auf dem Emsradweg sind wir nicht.  

Wir suchen eine Bank, weit und breit nichts zu sehen, dann entdecken wir am Wegesrand einen Schuppen, mit einer efeubewachsenen Wand hinten, Grasbüschel am Boden und zwei, drei alten, niedrigen Klappstühle. Ich lasse mich sofort auf einen nieder. Hermanito will kurz gucken, wo meine Unterkunft in Harsewinkel ist und will mich dort absetzen, bevor er zu seiner weiterfährt. Ich gucke nach, nenne die Straße und er: „Kommt mir bekannt vor.“ Dann nenne ich den Vermieter, und es stellt sich heraus, dass wir völlig unabhängig voneinander dieselbe Unterkunft gebucht haben!

Wir müssen feststellen, dass wir beide kein Wasser mehr haben, und hier gibt es weit und breit nichts. Glücklicherweise bringt uns der Routenplaner direkt zu unserer Unterkunft, und wir sind schneller da, als die Kilometerangaben es vermuten ließen. Hermanito kümmert sich um den Schlüssel, und wir werden von einer freundlichen jungen Frau aus dem Lottoannahmegeschäft an der Ecke eingewiesen. Die Fahrräder kommen in den Schuppen und wir unter die Dusche.

Am Abend gehen wir in ein einfaches Lokal, glücklicherweise nur ein paar Schritte entfernt, das eigentlich keine Pizzeria ist, wo wir aber Pizza und Pasta bekommen, die ganz gut schmecken. Hermanito setzt sich anschließend noch mit einem Bierchen an die Tische eines geschlossenen Cafés gleich neben unserer Unterkunft, während ich einfach nur ins Bett falle.

29. August (Donnerstag)

Von Hermanito am Vorabend bestens instruiert, komme ich früh auf dem richtigen Weg – dem Emsradweg – in die richtige Richtung – nach Greffen: An St. Lucia vorbei, die B 513 überqueren, in den Mühlenwinkel, in die Tüllheide und dann in die Kuhstraße.

An der Kreuzung zur B 513 das Verwaltungsgebäude von Claas, einem international agierenden Unternehmen, das hier im tiefsten Münsterland seinen Sitz hat. Früher habe ich immer geglaubt, die Harsewinkler übertrieben mit ihrem Claas, aber das habe ich korrigiert, nachdem ich in verlorenen Ecken von Kastilien und Andalusien Heuwender, Traktoren und Mähdrescher von Claas auf den Feldern stehen sah.

Nachdem es hinter dem Industriegebiet links abgeht, wird es sofort schön: ein ruhiger, schmaler asphaltierten Weg, an Baumreihen und Feldern vorbei, so lässt es sich fahren in der frischen Morgenluft. Der Weg ist autofrei, hin und wieder kommt mir ein Schulkind auf dem Fahrrad entgegen. Ich beneide sie nicht, dass sie zur Schule müssen.

An einem Wehr an der Ems steht ein Reiher im seichten Wasser und wartet geduldig auf Beute.

Dann verschwindet die Ems und es geht einen Feldweg entlang, an Maisfeldern vorbei, Mais, Mais, nichts als Mais.

Ein Radfahrer kommt mir entgegen, der freihändig fährt. Wie wir früher. Warum ich das jetzt nicht mehr kann, weiß ich nicht.

Ich bin an einem Lokal an einer Hauptverkehrsstraße noch nach Greffen abgebogen, dann ist die Beschilderung plötzlich weg. Es kommt gar nichts mehr. Ich fahre zurück und komme wieder dahin, woher ich gerade gekommen bin. Dort sehe ich wieder den Wegweiser nach Greffen und muss nochmal in die andere Richtung fahren. Dann komme ich auf wundersame Weise wieder zu Wegweisern, aber hier ist nicht mehr Greffen ausgeschildert, sondern Warendorf. Ist auch richtig.

Es geht an einer vielbefahrenen Landstraße entlang, glücklicherweise mit abgetrenntem Fahrradstreifen. An einer Stelle, wo die Ems überquert wird, steht ein Hinweisschild auf die Renaturierung, die hier vorgenommen wird.

Lange geht es ziemlich öde an der Landstraße entlang. Als es davon abgeht, mache ich eine kleine Trinkpause an einem Fachwerkhaus, in dem ein Lokal untergebracht ist, die Alte Herrlichkeit.

Das letzte Stück vor Warendorf ist richtig schön, es geht durch einen Park an der Ems, in dem ein großer poröser Stein aufgestellt ist, mit dem es irgendeine geologische Bewandtnis hat.

Dann, nach 28 Kilometern, begrüßt mich die Hansestadt Warendorf. In der Fußgängerzone schiebe ich das Fahrrad vorbei am Bekleidungsgeschäft Gradlinig. Vorgestern in Hövelhof gab es das Anziehbar.

In die Bodenplatten der Fußgängerzone sind die Namen der Warendorfer Olympiasieger eingelassen, von Rom bis München. Immer ist mindestens einer vertreten. Natürlich alle aus dem Reitsport. Passenderweise steht vor der Bäckerei, in der ich einkehre, ein buntbemaltes Pferd.

Die freundliche Bäckersfrau weist mir den Weg zu den öffentlichen Toiletten und will auf mein Fahrrad aufpassen, so dass ich mir in aller Ruhe den Marktplatz ansehen kann. Der ist vom Allerfeinsten. Die mittelalterliche Bausubstanz oder zumindest das Stadtbild sind perfekt erhalten. Schlanke Häuser mit Giebeln aller Art, wie aus einem Lehrbuch zur profanen Baukunst des Mittelalters.

Oben am Giebel eines Hauses der Warendorfer Drachenkopp, ein auskragender Giebelbalken in Gestalt eines Drachenkopfes, an dem eine Rolle mit Seil befestigt werden konnte, um schwere Lasten in die oberen Geschosse der Häuser ziehen zu können. Unten die „Steine des Anstoßes“: Gemeint sind hiermit Radabweiser aus Stein oder Eisen zum Schutz der Häuser an den Gebäudeecken.

An einer Ecke des Platzes ein Haus mit einer großen goldenen Glocke. Das ist das Vertriebshaus der Zeitung dieser Region, der Glocke.

Um 9.30 geht es weiter. Zunächst gilt es, die typischen Schwierigkeiten beim Verlassen eines Ortes zu überwinden, dann geht es durch weite Vororte. Ich passiere den MC Drunken Drivers und die Josefstraße. Dann kommt ein Wald und dann eine lange, ermüdende Landstraße. Danach geht es durch den Ort Einen, der zu Wortspielen einlädt. Von einer Brücke aus sehe ich auf der Ems zwei Stehpaddlerinnen.

Dann, vor Telgte, wird es wieder schön, genauso wie vor Warendorf. An einer Ecke des Radwegs ist ein Stein mit einem wunderbaren Zitat von Marie von Ebner-Eschenbach angebracht: Am Ziel deiner Wünsche wirst du ebenfalls eines vermissen: dein Wandern zum Ziel.

Nach 48 Kilometern erreiche ich Telgte. Dort muss ich schon mal gewesen sein, habe es aber nicht mehr in Erinnerung. Jetzt verbinde ich es zuallererst mit Günter Grass‘ Treffen in Telgte.

Am Eingang zur Innenstadt eine Skulptur, die ein weit geöffnetes Pferdemaul darstellt. Da ist aber noch was. Kann es erst nicht identifizieren. Es sind Hände, menschliche Hände, die das Pferdemaul aufreißen.

Wieder ein schöner Ort, mit sommerlicher Atmosphäre. Auf dem Marktplatz ein geschmückter Maibaum und die Skulptur eines Ausrufers, ebenerdig, mit Schirmmütze, Uniform und Glocke. Der Pregonero! Er sieht auf ein Blatt, das er mit einer Hand vor sich hält. Da steht tatsächlich ein Text drauf: Zuerst war die Ems … der Missionar Ludger … der Fürstbischof … dass die Stadt größer und stattlicher werde … 750 Jahre sind seither vergangen. 

Die Gnadenkapelle – achteckig, außen schön, innen weniger – steht etwas abseits. Das Gnadenbild ist kein Bild im engeren Sinne, sondern eine Skulptur, aus Pappelholz (XIV), eine Pietà, ursprünglich farbig gefasst, die erstaunlich modern aussieht, ausdrucksstark vor allem das Gesicht der Gottesmutter.

Neben der Gnadenkapelle ein altes Haus mit Sonnenuhr an der Fassade und Posaunenengel auf dem Dach.

Weiter geht es um 11.30. Am Ortsrand von Telgte ein Knotenpunkt. Es geht von hier in drei Richtungen, aber Greven, mein Ziel, ist nicht angegeben. Ich muss absteigen und meine Karte konsultieren. Demzufolge muss ich nach Westbevern. Auf dem Weg dorthin ist Greven ausgeschildert, aber als ich nach Westbevern komme, geht es nur noch in eine Richtung, nach Ostbevern, und das ist der Karte zufolge auf jeden Fall falsch. Was tun? Ich treffe die schlechteste Entscheidung und folge den Autoschildern nach Greven. Dahin sind es nur noch 20 Kilometer. Und schon nimmt das Unheil seinen Lauf.  

Die Strecke ist unschön und laut, nur an einer Stelle gibt es einen kleinen Lichtblick. An einem Feldrand hat jemand eine alte Propangasflasche aufgestellt, die er in ein Scheusal verwandelt hat. Sieht aber eher lustig als abschreckend aus.

Auf dieser Straße gerate ich nach Westbevern-Vadrup, einem verlorenen Ort mit einem riesigen, menschenleeren Wohnviertel und einem Bahnhof, an dem auch kein Mensch zu sehen ist. Schilder scheint es hier gar keine zu geben. Am Ende stoße ich an einer Haltestelle auf Mütter, die auf ihre Kinder warten. Sie wissen mit dem Begriff Emsradweg nichts anzufangen, geben Erklärungen, sind sich uneins, widersprechen sich selbst, sprechen von einer Baustelle, schicken mich über einen Berg. Als der Bus mit den Kindern kommt, habe sie mich schlagartig vergessen. Am Ende rufen sie mir dann doch noch was hinterher, aber ich bin schon weg.

Ich folge irgendwelchen roten Pfeilen, habe aber keine Ahnung, wohin die mich führen. Als ich gefühlt schon kurz vor dem Ziel bin, taucht endlich ein Wegweiser nach Greven auf:17 km.

Es geht ein kurzes Stück am Emskanal entlang, dann kommen wieder Feldwege. An einer Stelle gabelt sich der Weg in verlassener Gegend, ich habe ein Maisfeld vor mir und zwei Wege, die im gleichen Winkel abgehen und gleich breit sind. Es gibt kein Schild.

Dann kommt endlich Greven in Sicht. Hier werde ich für meine Mühen gleich doppelt entschädigt. Ich bekomme ein Zimmer in einem ganz zentral gelegenen Hotel, auf das ich ganz zufällig bei der Einfahrt nach Greven stoße, und dann bekomme ich Gesellschaft von Hermanito und Hermanita. Die ist eigens aus Münster zu einem Blitzbesuch angereist. Außerdem erreichen uns noch Grüße aus der Heimat.

Wir sitzen zuerst in einer Eisdiele und erzählen von den letzten Tagen. Da fehlt es nicht an Material.

Hermanita lenkt unsere Aufmerksamkeit auf ein Schild an der Hauswand gegenüber, auf dem der Name Greven erklärt wird. Er leitet sich vom altsächsischen Grevaon ab, ‚bei den Gräben‘, und bezieht sich auf die frühgeschichtlichen Emsarme und die vielen Emsschlingen.

Nach drei Flaschen Wasser komme ich wieder zu Kräften, und wir können gemeinsam den Abend genießen im Mezzomar, wieder draußen in der Fußgängerzone sitzend. Es gibt Tagliatelle Salmone, Pizza Cufu und Cotoletta Caprese, drei ganz unterschiedliche Gerichte, und wir sind alle zufrieden. Und das Bier schmeckt heute Abend besonders gut.  

30. August (Freitag)

Nach einem nicht gerade opulenten Frühstück und einigen Schwierigkeiten, das Fahrrad aus dem Schuppen zu bekommen, geht es los, später als gewohnt. Das hat zur Folge, dass in der Stadt ordentlich Autoverkehr ist.

Es fallen ein paar Tropfen, und es muss wohl während der Nacht geregnet haben. Aus der Stadt heraus geht es an einem Geschäft mit dem schönen Namen Die tapfere Schneiderin vorbei.

Ich folge den Instruktionen der Frau von der Rezeption, komme mal hierhin, mal dahin, und merke nach drei Kilometern, dass ich falsch bin. Dann komme ich an ein Schild, das die richtige Richtung angibt, aber der Pfeil ist schräg, und es ist nicht klar, in welche von zwei Straßen es geht. Ich nehme auf gut Glück eine. Das ist die falsche. Ich fahre wieder zurück und nehme die andere.

Es geht durch ein weitläufiges Wohnviertel, hier sind wieder nur rote Pfeile, denen man folgen kann. Irgendwie kommt mir das nicht richtig vor, aber ich folge ihnen einfach. Dann komme ich in einen Wald, ein ganz schmaler Weg. Komme mir vor wie weit von der Zivilisation entfernt, obwohl ich gerade erst durch das Wohnviertel gefahren bin. Zwei entgegenkommende Radfahrerinnen bestätigen mir, dass dies der Emsradweg ist. Von der Ems ist nichts zu sehen.

Es folgt eine schöne, aber schwierige Strecke durch den Wald, über Wurzeln und Steine. Der Lehmboden ist durch den Regen zu Matsch geworden. Immer wieder geht es steil bergauf, und ich muss absteigen.

Dann wird der Radweg breiter und ebener, viel besser zu befahren. In der Ferne sehe ich, wie jemand auf einem Baumstamm sitzt und Kaffee trinkt. Sonst weit und breit kein Mensch. Es ist Hermanito.

Er hat vergeblich nach einer Bank gesucht und dann den Baumstamm gefunden. Er ist auf einem anderen Weg hierhergekommen, ist nicht durch den Wald gefahren.

Unser erstes Ziel ist Emsdetten. Es ist ein grauer, trüber Tag, kein Vergleich zu den Tagen davor. Es hat aber aufgehört, zu regnen.

Es geht mal über Asphalt, mal über Schotter, mal über Lehmwege, die vom Regen aufgeweicht sind.

Unterwegs mache ich ein Photo von einer Straße, die Drivel heißt. Toll, da geht jedem Anglisten das Herz auf. Kommt bei mir in die Datei der Favoriten.

In Emsdetten machen wir eine Kaffeepause. Trotz des trüben Wetters kann man draußen sitzen. Hermanito beobachtet, wie an der Wand gegenüber Fahrradständer angebracht sind und dahinter ein Logo, das das Abstellen von Fahrrädern verbietet.

An der Ecke die Skulptur eines Mannes mit Schirmmütze, der, von einem Hündchen begleitet, eine Schubkarre vor sich her schiebt, auf der Weidenkörbe ineinander gestapelt sind. In dem oberen Korb steht das Wasser bis zum Rand.

Als wir aufbrechen, geht Hermanito noch kurz zur Toilette, ich überlege einen Augenblick und gehe dann auch. Eine Fügung des Schicksals. Auf dem Boden der Toilette finde ich etwas, das wir vermisst hätten.

Es geht weiter Richtung Rheine. Auf einem Waldweg steigen wir kurz ab. Der Sattel von Hermanito hat sich verschoben und steht mit der Spitze nach oben. Ziemlich beschwerlich beim Fahren. Er holt sein Werkzeug heraus und versucht sich daran, mit einem Schraubenzieher von unten an den Sattel zu kommen. Vergeblich. Er hat aber noch weiteres Werkzeug dabei, gerade neu erworben. Es ist gar nicht so leicht, das aus seiner Plastikpackung rauszukriegen. Wir schaffen es beide nicht, und Hermanito beginnt, nach einer Schere oder einem Messer zu suchen. Dabei erschließt sich mir, wie gut er ausgerüstet ist. Ein Werkzeugkasten kommt zum Vorschein, ebenso ein Apothekerkästchen. Außerdem hat er eine Kühltasche, einen Aschenbecher, einen Handyhalter und einen Dreierstecker! Ich habe noch nicht einmal eine Luftpumpe.

Auch mit dem neuen Werkzeug gelingt es nicht, den Sattel gerade zu bekommen. Mit vereinten Kräften versuchen wir es mit Gewalt, und es klappt! Aber sobald wir über eine unebene Stelle fahren, richtet sich der Sattel wieder auf.

Wir fahren an einer vielbefahrenen Straße aus Emsdetten raus und können uns nicht einigen. Ich will der Beschilderung nachfahren, wo hier schon einmal der Emsradweg mit Logo, Ziel und Entfernung angezeigt ist. Hermanito sagt, das sei falsch, die Ems liege in der anderen Richtung. Das sehe man auf der Karte. Am Ende fahren wir den Wegweisern nach. Rechts ab, der Ausschilderung folgend, obwohl gleichzeitig an der Kreuzung ein roter Pfeil nach vorne zeigt. Dann wieder rechts ab und dann kommt – nichts. Wir stehen an einer Kreuzung, schon abseits der Hauptwege, und es gibt keinerlei Beschilderung. Eine freundliche Autofahrerin kurbelt ihr Fenster runter und sagt uns, wohin wir fahren müssen. Genau da hin, wo Hermanito hinwollte.

In Rheine machen wir eine längere Pause. Es lohnt sich. Um den unregelmäßigen Marktplatz herum gruppieren sich die unterschiedlichsten historischen Bürgerhäuser. An einem sieht man an der Fassade noch die Kugeln der schwedischen Armee, die hier 1647 eingeschlagen sind. Darunter fromme Sprüche und phantasievolle Darstellungen von Jonas, der gerade vom Wal ausgespuckt wird, und von einem geflügelten Amor mit Fischschwanz, der gerade seinen Pfeil abschießt.

An einem anderen Haus ganz oben eine vermutlich moderne Figur, mit einem Rost (oder Kreuz) in der Hand, mit einem Bein auf einem Beil stehend. Die andere Hand ist weit ausgestreckt, und auf dem kahlen Kopf reckt sich vorne ein Haarbüschel in die Höhe.

An noch einem anderen Haus, mit einem Rokoko-Giebel auf einem älteren Erdgeschoss, steht die Jungfrau auf einer Mondsichel und zertritt der Schlange, die Adam und Eva unter dem Paradiesbaum umschlingt und zur Sünde verführt, den Kopf.

Hinter der Silhouette der Häuser sieht man den mächtigen Turm der Kirche, St. Dionysius. Auf dem Weg dorthin liegt ein riesiger Kopf auf dem Boden, die Augen zum Himmel gerichtet. Es braucht einen Moment, bis ich kapiere: Dionysius ist Denis, also der Schutzpatron der gotischen Kirche in Paris, und der konnte, nachdem ihm der Kopf abgeschlagen worden war, noch weiter gehen, und zwar bis zum Montmartre – dem ‚Märtyrerberg‘.

Nach einer Stunde brechen wir auf. Hinter Rheine geht es sehr schön an der Ems entlang, aber nur für 500 Meter. Dann geht es ab und über eine relativ schöne Strecke weiter, mal über Asphalt, mal über Schotter.

An einer Stelle, wo es plötzlich scharf rechts ab und dann steil bergauf geht, müssen wir beide absteigen und schieben, wobei Hermanito klar das „schwerere“ Los hat.

Statt der roten Radwegweiser gibt es jetzt grüne. Wir haben Nordrhein-Westfalen verlassen und sind in Niedersachsen. Wo genau die Grenze verläuft, wissen wir nicht, aber Hermanito erinnert sich, dass wir in Rheine ein Studio des WDR gesehen haben. Das muss also noch Nordrhein-Westfalen sein.

Schmale, einsame Dorfstraßen, dann geht es an der Landstraße entlang, und dann kommen wir zu einer Schleuse und fahren am Ems-Kanal entlang, Richtung Lingen.

Ich brauche mich jetzt nicht mehr um den Weg zu kümmern, und nicht nur das, Hermanito begleitet mich sogar zu meiner Unterkunft, in einem besseren Wohnviertel gelegen. Die Vermieterin ist nicht da, ich finde den Schlüssel in einer Schlüsselbox.

Hermanito fährt zu seiner Unterkunft, auch außerhalb der Innenstadt von Lingen gelegen (1). Er bringt in Erfahrung, dass es bei mir in der Nähe nur einen Burgerladen gibt. Man kann aber in seinem Hotel essen, dem Märchenwald. Klingt gut. Daraufhin kommt er später wieder zu mir, um mich abzuholen (2). Wir fahren gemeinsam einen etwas verwinkelten, aber ganz schönen Weg zu seinem Hotel (3). Nachdem wir gegessen haben, bringt er mich wieder nach Hause (4) und fährt zu seinem Hotel zurück (5). Da kann man echt nicht meckern.

Wir genießen das Essen im Märchenwald und ein kühles Bier. Man kann noch gut draußen sitzen. Erstaunlich, wie viel hier los ist, drinnen und draußen, in diesem ganz abseits gelegenen Lokal. Es muss einen guten Ruf haben.

Die Kommunikation mit den Kellnerinnen gestaltet sich etwas schwierig am Anfang, außer mit Anastasia aus der Ukraine. An ihr hat Hermanito auch noch seine Freude, als er nach dem letzten Begleitservice noch mal auf ein Bierchen in den Märchenwald zurückkehrt.  

31. August (Samstag)

Ich fahre früh nach Lingen rein, ins Stadtzentrum. Es ist ungemütlich, kalt und windig. Nach 3-4 Kilometern komme ich in die Innenstadt.

Wieder eine schöne Stadt. Hermanito kommt etwas später hierher, als es schon aufgeklart ist, und hat einen noch besseren Eindruck von der Stadt. Und hat ein Photo von einem Haus gemacht, auf dem in großen Buchstaben STONE steht!

Es findet gerade Markt statt. Ich kehre ein bei Schäfers Brotstuben („Wir backen mit Leidenschaft“) und bestelle Kaffee und Croissant. Diesmal ist es besser, drinnen zu sitzen.

Das schönste Gebäude am Marktplatz ist das Alte Rathaus, mit Treppengiebel und dem Wappen der Stadt Lingen. Die Ankereisen in der Höhe des Hauptgesimses bilden die Jahreszahl 1663. Der Vorgängerbau, bei einem Brand zerstört, hatte eine offene Gerichtslaube.

Ganz in der Nähe die Alte Posthalterei, jetzt Lokal, mit Postboten und Posthorn. Posthalterei war mehr als eine Poststation, es war eine, schon von Karl V. gegründete Postanstalt, der alle Postmeister, Schirrmeister, Briefträger weit und breit unterstanden, ein Beleg für die Bedeutung von Lingen als Knotenpunkt für Handel und Verkehr.

Es folgt das übliche Hin und Her bei der Ausfahrt aus der Stadt, aber dann komme ich an den Ems-Kanal. Da lässt sich gut fahren, die Strecke ist flach, der Weg ist asphaltiert, es ist grün, die Bäume bilden einen Baldachin über dem Radfahrer. Ab und zu kommt mir ein Jogger entgegen, ab und zu erscheint auf dem Wasser ein kleineres Schiff.

Um 10 Uhr komme ich in Meppen an, an der Hase-Brücke, einer Hubbrücke, deren Vorgängerin, seit 1930 in Betrieb, eine technische Besonderheit war: Per Elektroantrieb konnte binnen weniger Minuten die gesamte, 165 Tonnen schwere Fahrbahn um mehr als zwei Meter angehoben werden. Die Autos mussten warten. Fußgänger und Radfahrer dagegen konnten die separate, höher gelegene Fußgängerbrücke benutzen.

Gleich auf der anderen Seite sieht man ein modernes Fußballstadion, das Stadion des SV Meppen. Kein anderer Ort in Deutschland stand so sehr für Fußballprovinz wie Meppen.

Auch in Meppen ist Markt, aber hier ist es, da es schon später ist, viel voller als in Lingen. Auch hier bekomme ich einen Kaffee und dann ein Faltblatt in der Touristeninformation. Es beginnt gerade eine Stadtführung, aber nach kurzem Zögern sage ich nein. In einer Drogerie bekomme ich gleich mehrere Dinge, die auf dem Einkaufszettel stehen, von freundlichen Verkäuferinnen durch den großen Laden gelotst.

Hier in Meppen gibt es kein Fachwerk mehr, alles ist Backstein. Es wirkt nordischer. Über einer Straße in der Fußgängerzone hängen bunte Schirme, über einer anderen hängen orangefarbene Ballons.

Das schöne Rathaus hat oben ein goldenes Schiff, eine Reminiszenz der Zeit der Stadt in der Hanse. Das untere Stockwerk stammt von 1408, die beiden oberen Stockwerke sind 200 Jahre jünger, fallen aber nicht aus dem Rahmen. Hier wurde früher Gericht gehalten, ein Sandsteinrelief mit dem Urteil Salomons erinnert daran.

Die Gymnasialkirche, mit einer Fassade, die hier im Stadtbild etwas aus dem Rahmen fällt, liegt ein ganz klein bisschen abseits. Sie war die Kirche der Jesuiten, die hier ab dem 17. Jahrhundert eine Lateinschule betrieben.

Eine denkmalgeschützte Straße trägt den Namen Im Sack. Nach der Schleifung der Festungsanlagen wurde sie zur Sackgasse.

Ganz außerhalb des Betriebs am Marktplatz liegt die Propsteikirche. Der Haupteingang ist an der Nordseite, und davor steht eine mächtige Kreuzigungsgruppe. Jesus ist ans Kreuz genagelt, die beiden Schächer sind mit Seilen ans Kreuz gebunden. Beide mit artistischen Fußstellungen. Man kann nicht unterscheiden, wer der gute und wer der schlechte ist. Unter dem Kreuz, wie gewohnt, Johannes und Maria und eine weitere Figur. Es stellt sich heraus, dass es St. Vitus ist, der Schutzpatron der Kirche. Das ist der mit dem Veitstanz. Er taucht hier noch mehrmals auf, immer mit denselben Attributen: Toga, Umhang, Palme und Hahn.

Am Westportal schöner neugotischer Bauschmuck mit einer Kreuzigung und den 12 Aposteln in 3 Gruppen zu 4, viele mit den typischen Attributen: Schlüssel, Schwert, Messer, Säge, Andreaskreuz. Unter dem Kreuz wiederum St. Vitus.

Der mächtige, etwas gedrängte, oben spitz auslaufende Turm mit Schallarkaden und Wimpergen, hat ein paar weit hervorragende Wasserspeier, Monster mit breiten Mäulern.

Innen ist die Kirche breit und niedrig. Am neugotischen Hochaltar noch mal ein St. Vitus, diesmal farbig gefasst.

Am besten im Innenraum gefällt mir eine Figur des Hl. Josef, die aus Holz ist, aber wie Stein aussieht. Er hat das barfüßige Jesuskind an der Hand. Er selbst, mit langem, an Jesus erinnerndem Haar und feinem Bart, sieht schräg nach unten, mit einem traurigen, vielleicht ahnungsvollen Blick. Ganz fein gearbeitet ist sein Gewand, besonders der Faltenwurf. Es wird mit Knöpfen zusammengehalten (die es damals noch gar nicht gab) und einer Kordel, die in einer Schlaufe endet. Auch sehr schön die Schuhe, mit schnallenähnlichen Verschlüssen.

Es ist inzwischen 12 Uhr geworden. Zeit für den Aufbruch. Hinter Meppen geht es an der Ems entlang, diesmal dem Fluss, über eine Schotterpiste, dann geht es durch den Wald, wo man ordentlich durchgerüttelt wird. Ich fahre durch Holthausen, überquere die Ems und komme zu einer Brücke, vor der der Wegweiser nach geradeaus zeigt. Hinter der Brücke dann nichts. Ich stehe unentschlossen an der Kreuzung, zwei Holländer ebenfalls. Sie meinen, es müsse links abgehen. Ich fahre einen halben Kilometer, dann ist Schluss. Wieder zurück und die Abbiegung rechts nehmen. Das ist richtig. 7 km vor Haren kommt die Ems wieder zum Vorschein. Ich fahre ein Stück gemütlich weiter und mache dann, an einer Schleuse, Halt in Lottas Café. Dort gibt es ein paar Minifrikadellen mit Nudelsalat, echt lecker.

Dann hört man Stimmen. Eine Truppe von Radfahrern ist eingetroffen, 10 junge Männer. Noch bevor sie sich gesetzt haben, bestellt einer von ihnen 10 Bier. Es ist ein herrliches Bild, als das frisch gezapfte Pils ankommt. 10 Glas Bier, alle gleiche Größe, gleiche Marke. Die Männer sind aber keine Saufköppe. Sie lassen es ganz langsam angehen mit dem Bier. Sie sprechen erst von Autos, dann von Fußball.

Ich fahre auf die Schleuse, um ein Photo zu machen. In dem Moment fährt ein Radfahrer an mir vorbei: Hermanito. Wir fahren die letzten Kilometer zusammen. Die werden mir sauer, auch wegen des Windes. Unmittelbar vor Haren kommen wir an eine kleine Holzbrücke, die hochgefahren ist, um ein kleines Schiff durchzulassen. Danach eine große Brücke, über die ich muss, Hermanito aber nicht. Er bringt mich aber trotzdem zu meiner Unterkunft und fährt dann zurück. Guter Service.

Ich bin in einem abgelegenen, ruhigen Wohnviertel gelandet, in einem riesigen Haus mit einer forsch auftretenden Vermieterin. Aus Gründen, die ich nicht ganz verstehe, werde ich im „Familienzimmer“ untergebracht, ebenfalls groß, mit Balkon mit Blick in den ebenfalls großen Garten.

Am Abend treffen wir uns in der Stadt. Bei der Einfahrt nach Haren, ein Stück vor der Innenstadt, komme ich an einer riesigen neobyzantinischen Kirche vorbei, dem „Dom“. Vor der Kirche, auf dem Rasen, findet ein gut besuchter Gottesdienst statt. Katholischer Ritus. Die Gläubigen kommen vermutlich aus dem benachbarten Altersheim.

Hermanito hat schon angekündigt, dass er in der Stadt nichts Aufregendes entdeckt hat. Kann ich nur bestätigen. Das Zentrum hat ein paar moderne Plätze und Straßen, wie es sie überall geben könnte, und kein richtiges Stadtbild.

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An einer Stelle sehe ich ein Schild, auf dem ein paar Wörter auf Plattdeutsch und ihre hochdeutschen Entsprechungen stehen, wie Holsken und Holzschuh, Koken und Kuchen, Pannkoken und Pfannkuchen. Die sind so gut ausgewählt, dass sie beinahe perfekt die Zweite Lautverschiebung veranschaulichen.

Wir sitzen eine Zeitlang in einer Eisdiele, die die schlechteste Bedienung hat, der wir auf dem ganzen Radweg begegnen, und gehen dann ins Zorbas, einem eher höherklassigen griechischen Lokal. Hier gibt es Gyros mit Leber bzw. Moussaka und reichlich Bier bzw. reichlich Rotwein. Die Bedienung ist Albanierin, aber als wir rauskriegen wollen, woher sie kommt, spricht sie immer nur von Korfu.

Als wir aufbrechen, ist es stockdunkel geworden, und ich hatte ganz vergessen, dass ich noch in die abgelegene, einsame Gegend zurückfahren muss, in der meine Unterkunft liegt. Und das mit mehr Wein intus, als die Polizei erlaubt. Die Fahrt wird zu einer Odyssee, die ich so bald nicht vergessen werde.

1. September (Sonntag)

Zwischendurch erreichen uns in diesen Tagen immer wieder gute Wünsche und Anfeuerungsrufe aus Emden, wo Hermanita inzwischen gelandet ist. Sie erkundet die Stadt und macht Ausflüge, nach Aurich, Bad Zwischenahn, Leer und anderen mehr.

Relativ früher Aufbruch. Die Zimmerwirtin macht mich auf Schwalben aufmerksam, die über uns fliegen. Ja, hier, in der Nähe des Wassers, da gebe es noch reichlich Schwalben, Wasser bedeutet Mücken, und Mücken bedeutet Futter für die Schwalben. Die könnten, sagt sie, nur im Fliegen fressen. Und könnten, genau wie die Mauersegler, nicht vom  Boden starten. Interessant. Wusste ich nicht. Was hat sich die Evolution dabei gedacht?

Sie meint, es werde ein schöner Tag werden, und gar nicht windig. Mit dem ersten Teil ihrer Prophezeiung sollte sich recht behalten, mit dem zweiten nicht. Noch an keinem Tag habe ich so sehr mit dem Wind kämpfen müssen wie heute.

Ob ich diesseits oder jenseits der Ems fahren wolle, will sie wissen. Ich wusste gar nicht, dass ich die Wahl habe. Der Einfachheit halber bleibe ich auf dieser Seite, da komme ich ohne weitere Umwege, gleich von diesem Wohnviertel aus, an die Ems.

Und die zeigt sich gleich von ihrer Schokoladenseite. Wunderschöner Weg, direkt am Fluss, leicht zu fahren. Nur vereinzelte Hundehalter begegnen mir, überhaupt keine Radfahrer.

Aber die Herrlichkeit hält nicht lange. Bald geht es vom Wege ab, steil eine Straße rauf, langgezogen, am Ende steige ich ab. Irgendwann geht es dann zurück zur Ems, dann wieder weg von ihr, dann wieder hin. Mehrmals muss die Seite gewechselt werden. Der beidseitige Emsradweg existiert wohl nur in der Vorstellung meiner Zimmerwirtin.

Das letzte Stück vor Steinbild ist wieder richtig schön. In der Böschung am Ufer sitzen Angler, einer nach dem anderen, in regelmäßigen Abständen, jeder in seiner eigenen Nische im plattgetretenen Ufergras. Die meisten sind alleine, alle haben ein Höckerchen und die meisten einen Sonnenschirm.

In Steinbild selbst schlägt die Kirchenglocke, Punkt zehn Uhr, und lädt zum sonntäglichen Gottesdienst ein.

An einem Café an einer Schleuse deckt eine Frau draußen die Tische ein. Ja, einen Kaffee könne ich schon haben. Während sie die Tische mit Besteck, Speisekarten und Blümchen versorgt, kommen wir ins Gespräch. Sie hat heute einen harten Tag vor sich. Sonntags im Sommer ist immer was los. Radler kommen vorbei, vor allem aber auch die Bewohner der Ferienwohnungen der Umgebung. Im Winter machen sie zu, da sei hier nichts los. Erst Ostern geht es dann wieder los.

Sie selbst ist gebürtige Berlinerin, was man ihr aber nicht anhört. Sie spricht aber auch ohne norddeutschen Akzent. Ja, das stimme, sie sei mit 13 mit ihrer Mutter hierher gekommen, fühle sich aber wie eine Emsländerin.

Das mit der Radtour findet sie gut, besonders das mit Hermanito und Hermanita. Sie verabschiedet mich und wünscht noch eine gute Fahrt.

In einem Vorgarten stehen zwei einfache, kleine Figuren aus rostigem Eisen, ein Mann, der ein Buch liest und ein Paar, das gemeinsam ein Rad schiebt.

Kurz danach ist zum ersten Mal Papenburg ausgeschildert. Ich folge dem Hinweis, und das scheint ein Fehler zu sein. Zwar ist Papenburg das Ziel, aber um an der Ems zu bleiben, muss man einen anderen Weg nehmen. Später stellt sich heraus, dass Hermanito fast den ganzen Weg an der Ems entlang gefahren ist. Ich nicht. Manchmal erahne ich sie, manchmal sehe ich ein Schiff, aber kein Wasser.

Ich wähne mich schon in der Nähe von Papenburg, als eine Entfernungsangabe kommt, die mich umwirft: 13 Kilometer. Und die werden mir echt sauer. Zu dem Wein von gestern und dem viel zu starken Kaffee in dem Café an der Schleuse kommt der Wind, der scheinbar ungehindert angreift, obwohl ich links von mir den Deich als Schutz habe. Entweder muss ich schieben oder ich fahre mit 6-7 km/h. Keine Bank, kein Ort, kein Café, nicht einmal ein Baumstamm, um eine Pause zu machen. Nur Wind, Wind, Wind.

Irgendwann kommt in der Ferne ein Schiff in Sicht, ein Kreuzfahrtschiff, und der Anblick gibt mir neue Kraft. Es ist die Meyer-Werft von Papenburg, die gerade jetzt Schlagzeilen macht, weil ihr der Konkurs droht. Es wird kontrovers diskutiert, ob der Staat eingreifen soll oder nicht. Hier machen alle Radfahrer Halt und sehen auf die Werft hinüber.

Danach kommt eine Bank zum Ausruhen und dann ein schöner Weg an Bäumen entlang, Richtung Stadt. Und dann endlich Papenburg. Ankunft 13 Uhr. Es wird richtig heiß.

Die Innenstadt zieht sich an einem Kanal entlang, mit Gebäuden zu beiden Seiten. Der Landesherr warb hier Siedler an, die die Verpflichtung eingehen mussten, den Kanal weiter zu graben. Sie waren auch für die Sauberkeit ihres Kanalabschnitts zuständig. Diese Menschen gehörten zu dem, was man heute Prekariat nennen würde. Sie führten als Torfstecher eine prekäre Existenz, die durch schlechtes Klima in Gefahr geraten konnte.

Trotzdem wurde der Ort immer größer, und dieser Tatsache  verdankt sich der Bau der neugotischen Nikolaikirche, auch am Kanal gelegen. Bis dahin wurde der Gottesdienst in der Navigationsschule  abgehalten. Bis zum Bau der Marktkirche 1965 wurde die Nikolaikirche sowohl von Lutheranern als auch von Freikirchlichen genutzt. Sie hat ihr Patrozinium erst seit 1980. Sie hieß vorher Kirche am Hauptmarkt. Bei Nikolaus denkt man wohl an den Patron der Seefahrer.

Etwas abseits des Kanals hat man eine alte Mühle renoviert, eine Bockwindmühle, Meyers Mühle, zu ihrer Zeit mit ganz modernen Mechanismen ausgestattet. Den normalen Besucher von heute beeindruckt vor allem die Größe. Und die schöne Lage in der Innenstadt.

Heute ist der Kanal ein Schmuckstück, mit kleinen Zugbrücken, verschiedenen Schiffen, die im Wasser liegen, Bäumen und Blumen. Cafés und Restaurants gibt es reichlich. Fischliebhaber kommen hier auf ihre Kosten.

Ich mache mich auf die Suche nach der Touristeninformation, erst mit dem Rad, dann zu Fuß. Die ist genauestens ausgeschildert: 500 Meter, 300 Meter, und dann kommt – nichts. Ich versuche es auf und ab und rechts und links – nichts. Ich gehe über die Straße am Rande der Innenstadt, nichts. Ein älteres Ehepaar sagt, ja, dort drüben, in dem Bachsteinbau, da ist sie. Nichts. Ich folge einem Pfeil, von dem man nicht weiß, in welche Richtung er zeigt. Versuche es in beide möglichen Richtungen. Nichts. Dann endlich gehe ich in die Mühle rein. Ist hier die Touristeninformation? Nein, die ist da ganz oben. In der den Pfeilen entgegengesetzten Richtung. Die einzige Erklärung: Sie haben die Touristeninformation verlegt, aber die Schilder noch nicht geändert. Just my luck.

Ich schleppe meine müden Füße in die andere Richtung, den Kanal entlang. Die Touristeninformation liegt auf der „falschen“ Seite, also muss ich erst zu der nächsten Brücke und dann zurück. Ganz hinten auf einem großen Platz in einem riesigen modernen Gebäude, da ist sie. Ich gehe hin und will rein: Sonntags geschlossen. Just my luck.

Glücklicherweise gibt es in der Nähe öffentliche Toiletten. Die brauche ich dringend. Aber auch die sind geschlossen. Just my luck.

Ich schleppe mich zu einem Biergarten, den ich unterwegs gesehen habe, und stärke mich mit einer Laugenbrezel. Und natürlich Mineralwasser.

Jetzt steht noch die Fahrt zu der Unterkunft an. Wieder habe ich ungünstig gebucht, in einem Wohnviertel außerhalb der Innnestadt. Hermanito hat es besser gemacht, er ist gleich im Zentrum. Zwei Malteser helfen mir, den Weg zu finden, die Erklärung ist perfekt, und trotz der Hitze schaffe ich noch die letzten 3-4 Kilometer. Glücklicherweise kann ich schon ankommen, obwohl ich eigentlich zu früh bin, aber der Vermieter, ein ganz gelassener junger Mann, nimmt das ganz locker. Man kann Wintergarten und Küche benutzen und sich am Kühlschrank bedienen. Mit Mineralwasser natürlich.

Hier in der Gegend gibt es aber nichts zu essen, ich solle am besten wieder in die Stadt fahren, meint er. Morgen früh geht er schon um 5 Uhr zur Frühschicht. Na, ganz so früh will ich doch nicht aufbrechen.

Am frühen Abend – es ist noch richtig heiß – fahre ich also wieder Richtung Stadt. Hermanito sitzt am Museumschiff, gleich gegenüber seinem Hotel. Er hat den besseren Weg gefunden und schöne Photos gemacht. Warum ich an der Meyer-Werft vorbeigekommen bin und er nicht, können wir uns im Nachhinein nicht erklären. Unterwegs, in der Nähe von Steinbild, ist er auf einen Rettungswagen gestoßen. Dort war eine Radfahrerin mit einem anderen Radfahrer kollidiert und musste per Hubschrauber ins Krankenhaus gebracht werden.

2. September (Montag)

Aufbruch um 8.30. Der angekündigte Regen soll jetzt doch erst am Abend kommen. Es ist ideales Wetter zum Radfahren. Ich fahre Richtung Innenstadt.

Im Zentrum sitzt jemand auf einer Bank und raucht eine Frühstückszigarette. Hermanito. Ich mache kurz Halt, und er erzählt mir von dem üppigen Frühstück, das er in dem Hotel bekommen hat und von seiner Jacke, die er am Abend zuvor in dem Lokal ganz in der Nähe liegen lassen hat. Hat sie aber wieder. Gerade als er hinfuhr, war ein Kellner dabei, sie einzusammeln.

Gleich neben dem Hotel liegt die riesige katholische Kirche von Papenburg, St. Antonius. Das Internet bestätigt: Papenburg hat mehr katholische Einwohner als evangelische. Es gehörte wohl zum Bistum Münster.

Ich bestelle einen Kaffee in einer Bäckerei an dem Kanal. Die freundliche Kellnerin erzählt, sie hätten eine Filiale schon schließen müssen. Wegen Personalmangels. Zu hoher Krankenstand.

Inzwischen habe ich endlich nachgesehen, wofür das Autokennzeichen EL steht: Emsland. Das hatte Hermanito schon vermutet.  

Aber, was bedeutet Fehnroute, der Name eines Radwegs, auf dem man hier immer wieder stößt? Der Duden erklärt: Fehn ist die norddeutsche Variante von Fenn, und das bedeutet ‚Moorgebiet‘, ‚Sumpfland‘.

Hermanito hat mir gesagt, ich solle Richtung Weener fahren, das sei der erste Ort auf der Route. Aber hier ist auch schon Leer ausgeschildert. Also richte ich mich danach. Dann biege ich fast falsch ab, als es nach Leer in zwei Richtungen geht, Die längere Strecke führt über den Emsradweg.

Dann fahre ich auf eine rote Ampel zu. Lange Schlange: Autos, Radfahrer, Fußgänger, Angestellte der städtischen Gartenbetriebe. Was ist hier los? Dann sehe ich: Die Brücke ist nach oben geklappt, ein Schleppkahn fährt durch, mit einem hohen Hebekran, von dem ein Brückenteil herunterhängt. Das Schiff fährt so langsam durch die enge Stelle, dass man die Bewegung kaum wahrnimmt. Ein echtes Spektakel, alle schauen hin und machen Photos. Dann senkt sich die Brücke wieder, ganz, ganz langsam.

Wieder geht es erst im allerletzten Augenblick in die richtige Richtung, als ich nach Weener geradeaus fahren will, dann aber merke, dass der Emsradweg nach Weener rechts abgeht. Man muss höllisch aufpassen.

Ich komme in eine einsame Gegend. Hinter einer Brücke ist nur die Dollard-Route ausgeschildert, sonst nichts, kein Pfeil, kein Logo, kein Ort. Was soll man machen, wenn man auf dem Emsradweg ist und dort bleiben will? Geradeaus oder rechts, der Dollard-Route folgend? Ich biege rechts ab, und das ist richtig, aber reiner Zufall, und ich merke erst nach mehreren einsamen Kilometern, dass ich auf dem richtigen Wege bin, als mir ein Radfahrer zuruft „Immer der Strrooße lang“.

Weener ist ein hübscher, kleiner Ort mit Backsteinhäusern und Backsteinkirchen.  Es ist 10 Uhr, und ich bin inzwischen bei Kilometer 400.

Ich drehe eine Runde durch den Ort und komme dann bei der Weiterfahrt an einen Kanal, ganz ähnlich dem von Papenburg. Hier hat man den Törffrieren ein Denkmal gesetzt, den Torffrauen. Man sieht zwei Frauen, eine jüngere, eine ältere, mit Kopftuch, Schürze und Holzschuhen, die Briketts in einen vor ihnen liegenden Korb füllen. So ein Korb fasste 100 Liter. Er wurde bis zur Hälfte gefüllt, dann gerüttelt, dann komplett gefüllt. Man arbeitete im Team. Eine weitere Frau trug den Korb weg, eine vierte lud ihn auf das bereitstehende Pferdefuhrwerk. Ein Denkmal für Frauen, die harte Arbeit leisteten, so wie es sie bei uns heute gar nicht mehr gibt.

Hinter Weener geht es immer am Deich entlang. An einer Stelle steige ich oben auf den Deich. Auf der anderen Seite fließt die Ems, aber die bekommt man vom Radweg aus nicht zu sehen. Oben auf dem Deich grasen Schafe, schöne Tiere, mit schwarzen Beinen und schwarzen Köpfen. Als ich ein Photo machen will, läuft das eine weg, das andere richtet seinen Hinterteil auf mich und verrichtet sein Geschäft. Kein Respekt vor dem Schäfer.

Hermanito berichtet später, dass er auch mehrmals auf den Deich gestiegen ist und dabei einen Mann gesehen hat, der das Deichgras mit einer Sense bearbeitete. Mit Muskelkraft.

Ich komme in einen kleinen Ort, Bingum. Dort spricht mich ein Mann an, der auf einer Schubkarre eine Waschmaschine durch die Gegend fährt. Ob es da hinten ein Café gebe, will er wissen. Habe keins gesehen. Hier, auf der Dorfstraße, gibt es eins, aber die haben montags Ruhetag.

Als ich, um einem parkenden Lastwagen aus dem Weg zu gehen, ein paar Meter auf dem schmalen Bürgersteig fahre, kommt plötzlich aus einer Haustür ein junger Mann auf die Straße gelaufen. Ich fahre ihn fast über den Haufen. Ich bremse, steige ab und entschuldige mich. Freundlich lächelnd hebt er die Hand und geht weiter. Zu Hause wäre ich angemotzt worden. Die beiden anderen berichten später beim Eis ähnliche Erlebnisse. Kein Ahnung, warum die Leute im Norden den Ruf haben, stur oder gar unfreundlich zu sein.

Es geht an einer Hauptverkehrsstraße entlang Richtung Leer. Das lasse ich aber links liegen, es liegt nicht direkt am Radweg. Hermanito berichtet später, dass er reingefahren ist und sich einen Tee nach ostfriesischem Ritual geleistet hat.

An einem Wehr setze ich mich kurz auf eine Bank und mache Pause. Mein nächstes Ziel, Ditzum, ist schon ausgeschildert. Ditzum, Bingum, Jemgum, Critzum  und natürlich Borkum. Viele Ortsnamen enden hier auf –um. Das ist die korrumpierte Form von –heim, wie sie auch in Bochum und Beckum zu finden ist.

Weiter geht’s. Einmal lande ich unverhofft zwischen zwei Gehöfte, einmal auf einem Deichweg, der ins Nichts führt, aber sonst geht es immer geradeaus, immer am Deich entlang. Öde Strecke, keine schöne Landschaft. Auf den letzten Kilometern Richtung Ditzum mache ich noch einmal Tempo, es geht auf das Ziel zu. Auf diesem Abschnitt kommt man gut voran, aber es macht tack-tack, tack-tack, wie früher auf den alten Autobahnen.

Der Wind bewegt die unendlich vielen Windräder in der Distanz und fährt durch das Schilfgras am Rand, aber er ist heute nicht so heftig wie gestern und macht sich nur an einzelnen Stellen bemerkbar.

In Ditzum muss ich das Rad ein paar Stufen runter und dann wieder rauftragen und merke jetzt erst, wie viel das Gepäck wiegt.

Dabei höre ich, wie sich zwei Sommergäste und zwei Einheimische über die vielen Touristen beschweren, die hier zu bestimmten Zeiten einfallen, wie gestern, am Sonntag. Da habe man keinen Fuß an den Boden bekommen. Heute dagegen sei es herrlich ruhig.

Ich mache Pause in der Schiffsbörse am Hafen, eins von vielen Lokalen, die sich die ganze Straße entlang ziehen. Suppe und Mineralwasser, da kommt man zu neuen Kräften.

In Ditzum geht es zum Hafen und dann auf die Fähre. Damit habe ich gar nicht gerechnet. Die Fähre fährt nur einmal pro Stunde, und die letzte ist natürlich gerade abgefahren. Die Wartezeit wird mir lang, so kurz vor dem Ziel.

Dann kommt die Fähre. Es dauert zwanzig Minuten bis zur anderen Seite. Ich habe mein Portemonnaie schon gezückt, aber Radfahrer zahlen hier nicht, nur die Autofahrer. Die Erwachsenen wollen einem Baby die Fähre zeigen, das Wasser, die Schiffe, die andere Seite, aber das Baby brüllt und will ins Auto zurück.

Auf der anderen Seite – noch 11 Kilometer bis Emden – geht es auf einer Schotterpiste an der Ems entlang, mal ganz nahe dran, mal weiter davon entfernt. Immer wieder geht es über Brücken, oft moderne Brücken, aus Eisengittern, ganz steil, immer wieder muss ich absteigen und schieben.

Dann kommt der erste Hinweis Richtung Innenstadt. Ich bin unschlüssig, ob ich erst zum Hotel oder erst zur Touristeninformation fahren soll. Irgendwo wartet Hermanita seit Stunden in einer Eisdiele und will uns abfangen. Da komme ich aber nicht vorbei.

Die Frage Hotel oder Touristeninformation erledigt sich dann von selbst. Ganz zufällig, noch bevor ich in die Nähe der Altstadt komme, überquere ich eine Straße, deren Name mir auffällt: Friedrich-Ebert-Straße. Auf der ist das Hotel! Glück gehabt! Angekommen! Nach 5 Etappen, 445 Kilometern und 33 Stunden im Sattel. 

Als ich das Fahrrad in einem Schuppen hinter dem Hotel abstelle, kommt ein weiterer Radfahrer rein. Hermanito. Reiner Zufall. Zwei Minuten nach mir. Er ist eine ganz andere Strecke gefahren.

Ich bringe gleich das Rad zur Touristeninformation, obwohl sie laut Vertrag das Rad vom Hotel abholen sollten. Davon will man dort aber nichts wissen. Man habe überhaupt keinen Platz, um Fahrräder abzustellen, und vom Hotel hole man sie schon gar nicht ab. Das müsse ein Missverständnis sein. Sie wüssten von der ganzen Sache nichts. Glücklicherweise habe ich den Vertrag dabei. Kleinlaut sagt die Frau, ach so, ja, das sei ja schon so lange her, das sei inzwischen in Vergessenheit geraten. Na toll. Etwas widerwillig nimmt sie das Rad entgegen.

Hier, am Bahnhof, gibt es keine Eisdiele und keine Hermanita. Die wartet in einer Eisdiele nahe der anderen Touristeninformation, beim Rathaus. Sie hat vergeblich auf uns gewartet. Also mache ich mich auf den Weg in die Innenstadt. Gehen ist besser als fahren.  

Wir treffen uns dann auf einem großen Platz und steuern, sobald Hermanito auch eingetroffen ist, eine Eisdiele an. Hermanita lädt zu einem Eis ein. Und wir erzählen von unseren Erlebnissen in den letzten Tagen. Hermanito ist auch der Name einer Kneipe auf dem letzten Streckenabschnitt aufgefallen: Klapsmühle.

Emden, erklärt Hermanita, habe drei bekannte Söhne: Henri Nannen, den Stifter der Kunsthalle, Wolfgang Petersen, den Regisseur, und Otto, den Komiker.

Von hier aus blicken wir auf einen Kanal. Das ist nicht die Ems, und erst recht nicht die Nordsee. Bis zur Mündung sind wir nicht gekommen.

Wir machen uns auf den Weg und bekommen gratis eine Stadtführung. Es sind nur ein paar Schritte von hier zu dem Kanal. Dort wehen die Fahnen der Stadt Ems, Gelb-Rot-Blau. In der Mitte das Wappen der Stadt, mit Wasserwellen, Zinnen und  einer Harpyie.

Im Wasser liegen verschiedene alte Schiffe, darunter ein fahrender Leuchtturm und ein Seerettungsschiff.

Auf dieser Seite des Kanals Dat Otto Huus mit einem Ottifanten an der Fassade. Die Fußgängerampel hat bei Grün einen Otto als Ampelmännchen. Vielgesuchtes Photomotiv.

Auf der anderen Seite des Kanals das Rathaus, asymmetrisch. Der Durchgangsbogen und der Turm mit Turmuhr und einer hohen, von weitem sichtbaren goldenen Bekrönung, sind nicht mittig angebracht. Der Grund dafür ist die beim Bau des Rathauses bereits existierende Straße.

Unten der Wahlspruch der Stadt, Concordia res parvae crescuntDurch Eintracht wachsen kleine Dinge. Der Name Emden bedeutet ‚Flussmündung‘, und das dazugehörige Adjektiv ist Emdner, wie Dresdner.

Hier am Kanal heißt alles Delft, die Straße selbst und ein Hotel und eine Apotheke und ein Schnellimbiss. Was ist eigentlich ein Delft? Das Internet verrät es: Delft bedeutet eigentlich ‚Graben‘.

Eine vielbeachtete Skulptur steht gleich vorne am Kanal. Drei Männer lehnen lässig an einem Geländer, in verschiedene Richtungen blickend. Das sind die Kanalspucker. Sie führten ein müßiges Leben, verbrachten stundenlang am Kanal und kauten Kautabak. Den spuckten sie, wenn der durch war, ins Wasser. Zwei von ihnen haben, wie der Koblenzer Schengel, ein kleines Rohr im Mund und spucken hin und wieder – Wasser allerdings, keinen Kautabak. Der Kautabak, erfährt man, wurde populär, weil auf den Schiffen wegen Brandgefahr das Rauchen verboten war.

Wir kommen zu einem Schnellimbiss, wo es Matjesbrötchen gibt. Hermanito probiert eins. Urteil: Fisch gut, Brötchen schlecht. Hermanita erzählt, dass der Hering für den Matjes aus Norwegen kommt! Er macht dann noch Halt in Rotterdam, wo er irgendwie vearbeitet wird. Zum Matjes wird er erst in Emden.

Nebenbei erfahren wir, dass Emden die Stadt der Produktion des Passats von Volkswagen ist (oder war). Nach den neueren Produktionsmethoden wird an jedem Standort immer nur ein Typ produziert. Wenn der alte ausgelaufen ist und der neue nicht erfolgreich ist, hat man schlechte Karten.

Ebenfalls erfahren wir, dass es gleich in der Nähe von Emden eine kleine Erhöhung gibt, die aber schon aus der flachen Landschaft heraussticht. Hierher kommen Fahrschüler aus der gesamten Umgebung, um das Anfahren am Berg zu üben!

Noch ein kurioses Detail: Emden steht auf Pfählen, hat einen feuchten Untergrund. Das hat, wie Hermanita bei der Stadtführung erfahren hat, zur Folge, dass auf einem Friedhof ein Sarg durch den Druck des Wassers von unten an die Oberfläche gespült wurde. Eine Besucherin sagte, sie würde sich auf diesem Friedhof nicht bestatten lassen. Die Stadtführerin antwortete, das könne ihr auf jedem Friedhof in Emden passieren.

Wir verlassen die Straße am Kanal und stoßen auf der anderen Straßenseite auf die Emsmauerstraße. Die Ems floss einst hierher, und die Emsmauer schützte die Stadt. Der Verlauf der Ems änderte sich durch eine Sturmflut. Sie ist jetzt hier nicht mehr zu sehen.

Wir kommen zu einem Bunker. Emden wurde im 2. Weltkrieg stark zerstört, vermutlich wegen der Schiffsbauindustrie, und schützte sich durch 60 Bunker. Von denen stehen immer noch 30! Dieser hier ist ein grauer Klotz, der sich von den Backsteinbauten der Innenstadt unvorteilhaft absetzt. Später kommen wir zu einem Bunker, dessen Fassade von einem argentinischen Künstler phantasievoll bemalt worden ist.

Unter den Backsteinbauten heben sich die Pelzerhäuser hervor, zwei der ältesten Häuser der Stadt, einst Sitz der Pelzhändlerfamilien. Sie haben sehr schön gestaltete Fassaden mit Volutengiebeln, zwei besondere Vertreter der Backsteinrenaissance.

Wir kommen zur evangelisch-reformierten Kirche, einem Riesenbau, ganz untypisch für diese Konfession. Emden, erfährt man, gehört neben Wittenberg und Genf zu den einflussreichsten Städten der Reformation. Das hat was mit den spanisch-niederländischen Kriegen zu tun, denn damals fanden viele „Täufer“ aus den Niederlanden Zuflucht in Emden.

In dieser Kirche ist heute eine Bibliothek untergebracht, die Johannes-a-Lasco-Bibliothek, benannt nach einem polnischen Reformator, eine Spezialbibliothek mit Tausenden von Bänden und einem historischen Buchbestand, mit dem Schwerpunkt auf Geschichte und Theologie. Hermanita kennt die Bibliothek von einem früheren Besuch in Emden und empfiehlt den Besuch.

Vor dem Eingang der Kirche, wie vor anderen Gebäuden, ein Stolperstein, aber ein Stolperstein der besonderen Art. Er erinnert an einen Pastor, Hermann Immer, einen Pastor der evangelisch-reformierten Kirche, der sehr volksnah war, sich um die Nöte der Gläubigen kümmerte und der Bekennenden Kirche nahestand, obwohl er nicht im Widerstand war. Er war dennoch dem Regime ein Dorn im Auge und wurde verhaftet. Die Verhaftung von Pastor Immer verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Emden. Dagegen regte sich Widerstand, vor allem auf Seiten der Emdner Arbeiterschaft im Emdner Hafen. Gleich am nächsten Morgen erschien der Kranführer Jan Klaassen beim Oberbürgermeister und forderte im Namen der Hafenarbeiter: „Wenn Hermann Immer nicht am nächsten Sonntag wieder in der Großen Kirche zu sehen ist, dann gifft‘ Skandal bi uns in Hafen!“ Das hätte Streik bedeutet. Das Regime lenkte ein, Immer erhielt allerdings ein Verbot jeder Tätigkeit.

Zum Schluss kommen wir in der Fußgängerzone noch an einer Skulptur vorbei, die eine Frau mit Besen und Schüppe zeigt. Ein ganzes Leben lang fegte sie hier die Straße, noch bis in die sechziger Jahre.

Beim Abendessen haben wir schon abgesprochen, wann wir uns morgen treffen wollen, um die Bibliothek zu besichtigen, als Hermanito noch mal auf der Website der Bibliothek weiter nach unten scrollt und ganz am Ende feststellt: Die Bibliothek ist diese Woche geschlossen!

Auf einer Karte zeigt uns Hermanito, was es hier mit der Ems auf sich hat. Sie mündet ein ganzes Stück außerhalb von Emden in die Nordsee, genau genommen in eine Bucht, den Dollart. Davor befindet sich ein großes, aufwendig angelegtes Auffangbecken, beinahe quadratisch, das die Überflutung der Stadt verhindert.

3. September (Dienstag)

Immer noch kein Regen, obwohl der erst für gestern Nachmittag, dann für gestern Abend angesagt war. Zum ersten Mal eine Radtour ohne einen Tag, an dem ich klatschnass geworden bin.

Als ich mich auf den Weg in die Innenstadt mache, hält ein Radfahrer neben mir und spricht mich an. Hermanito. Der hat schon eine Runde gedreht. Und mich ganz zufällig gesehen. Er ist selbst ebenso zufällig von Hermanita gesehen worden, die aus der Distanz nicht sicher war, ob er es war. Es fehlten Helm und Zigarette. Er war es aber.

Als erstes passiere ich die große Kirche mit dem hohen Dachreiter, die als Orientierungspunkt für das Hotel dient. Es ist die Neue Kirche (XVII), eine evangelisch-reformierte Predigerkirche, aus Backstein, aber mit Sandstein in den Gesimsen, gebaut nach dem Vorbild einer Amsterdamer Kirche. Um die Kirche herum der Kirchhof mit Gräbern aus verschiedenen Zeiten. Der Grundriss der Kirche ist das eines griechischen Kreuzes, angeblich, wie es hier heißt, typisch für protestantische Kirchen. Der mit einer goldenen Kugel bekrönte Kirchturm ist ein Hingucker. Die Kirche ist geschlossen, in den Seitenportalen gibt es schöne, farbige Wappen, mit zinnenbewehrter Mauer, den Wellen der Ems, einer Sanduhr, einam Totenschädel, einer Flamme und einer barbusigen Harpyie. 

Ich gehe zum Landesmuseum, will etwas über die Entwicklung von Emden erfahren. Das Museum ist im Rathaus untergebracht, in einem modernen Erweiterungsbau. Unterwegs fällt mir auf, wie viele Ladenlokale hier leer stehen. Es ist immerhin eine Einkaufsstraße in der Fußgängerzone, die direkt ins Zentrum führt.

Die Frau am Empfang im Landesmuseum sagt, ich könne das Museum gerne besuchen, nur eine Abteilung sei geschlossen: die über Emden. Just my luck.

Ich gehe trotzdem rein. Im ersten Ausstellungsraum gibt es Karten und Atlanten aus der Frühzeit der Kartographie, einige farbig und sogar mit Relief. Die Kartographie geht eigentlich auf Ptolemäus zurück, aber von dem sind nur Beschreibungen, keine Karten erhalten.

Die ersten Karten von Friesland stammen aus der frühen Neuzeit. Sie stellen Ostfriesland noch verzerrt dar, und Lage und Entfernung der Städte sind noch ungenau. Eine weit verbesserte Karte stammte dann von einem friesischen Gelehrten, Ubbo Emmius. Dessen Karte war 200 Jahre lang das Maß aller Dinge. Erst dann merkte man, dass er zwei unterschiedliche Maßstäbe für Ostfriesland und Westfriesland verwendet hatte.

Ubbo Emmius stammte aus Greetsiel, wurde aber Professor in Groningen, ein Indiz dafür, dass Friesland eigentlich eine Einheit über die heutigen Ländergrenzen hinaus war.

Im oberen Stockwerk wird die Entwicklung von Emden über drei Seiten eines Raum kontinuierlich durch kleine Figuren und Landschaften dargestellt, von den ersten niedrigen Warften, Erdaufschüttungen zum Schutz vor dem Wasser mit einfachen Riethäusern, bis zur Anlage des Sperrwerks zum Schutz vor Überschwemmungen. Das Sperrwerk hat nicht nur die Funktion des Schutzes, sondern dient auch der Durchfahrt der Ozeandampfer aufs offene Meer. Deiche gibt es erst seit den dreißiger Jahren

Einige Objekte aus mittelalterlichen Haushalten dieser Gegend sind ausgestellt: Löffel und Brettchen aus Holz, Messer aus Eisen, Kochgeschirr aus Keramik. Gabeln gab es noch keine. Glas war ein Luxusgut. Das hier ausgestellte grüne Glas stammt vermutlich aus den Niederlanden.

In einer weiteren Abteilung geht es um die „Friesische Freiheit“, ein wichtiges Element des Sozialsystems in Friesland. Letztlich bedeutet das die Abwesenheit von Adel. Die Ausstellung relativiert das aber. Es gab durchaus soziale Abstufung, basierend auf einem Häuptlingswesen, das klare Hierarchien ausbildete.

Die einzelnen Territorien, sog. „Herrlichkeiten“, waren wie autonome Länder, aber es gab ein übergreifendes Rechtssystem, dessen Regeln wohl auf Niederdeutsch abgefasst waren.

Die Friesen widersetzten sich lange der Missionierung, die sie als ein Mittel zur Unterwerfung ansahen. Erst ab der karolingischen Zeit setzte sich das Christentum allmählich durch.

Es gibt schön gestaltete Taufsteine aus Sandstein zu sehen und geschnitzte Figuren, die wie Stein aussehen, aber alle aus Eichenholz sind. Sehr schön ein Reliquienschrein, ebenfalls aus Eichenholz, verziert, aber ohne den ursprünglichen Figurenschmuck, dessen Konturen man aber noch sieht. Da waren bilderfeindliche reformierte Christen am Werk.

Eine Abteilung, die sofort die Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist die mit der Moorleiche von Bernutsfeld. Man sieht das (für einen Laien) gut erhaltene Skelett mit pechschwarzen Knochen in zusammengekauerter Stellung in einer Vitrine liegen.

Die Leiche wurde 1907 von Torfstechern entdeckt, die sie sofort wieder bedeckten und ihren Fund meldeten. Sie müssen einen gehörigen Schrecken bekommen haben. Die Leiche wurde dann von Experten begutachtet. Man geht davon aus, dass es sich um einen Mann handelte – meistens sind Moorleichen Männer und nicht Frauen oder Kinder – der im 7. Jahrhundert lebte. Eine der offenen Fragen ist die, warum keine Haut bewahrt ist. Dafür gibt es verschiedene Erklärungen. Es könnte sein, dass der Mann erst noch an der Oberfläche lag und erst später, als die Haut schon verwest war, endgültig ins Moor gesunken ist. Ob der Mann im Moor begraben wurde oder dort eingesunken ist, ist offen.

Die Besonderheit dieses Fundes ist die Kleidung des Mannes, hier in verschiedenen Vitrinen ausgestellt: eine Art Tunika mit langen Ärmeln und Stehkragen, aus Schafswolle, ein Patchwork, ein Musterbuch der Webkunst des frühen Mittelalters, dazu ein Schultertuch, ein Wollmantel und Wickelbinden für die Beine. Erhalten ist die lederne Messerscheide, nicht aber die Klinge. Eisen zersetzt sich im Moor.

Am Ende der Besichtigung kann man noch auf den Turm steigen. In einem Zwischengeschoss gibt es Informationen über Nachtwächter und Turmwächter. Ausgestellt sind Hellebarden und verschiedene Blasinstrumente, alle erstaunlich groß. Nach der Emdner Wachordnung waren alle Bürger verpflichtet, im Wechsel des Nachts mit Laternen und Hellebarden die Straßen abzugehen. Eine Holzklapper Ratel genannt, diente als Alarminstrument. Später wurde die Bürgerwache aufgegeben und 34 angestellte Rateler übernahmen den Dienst. Die Hauptaufgabe des Türmers war die nächtliche Brandwache. Zur Kontrolle und zur Beruhigung der Bürger wurde jede Stunde mit dem Wächterhorn ein Signal abgegeben.

Dann steigt man nach oben. Man steht auf dem Rathausturm, den wir schon gestern immer wieder gesehen haben, und von dort hat man einen Blick auf den Innenhafen gleich hier, den Außenhafen in der Ferne, den Verkehrsplatz unter einem und die Dächer der Häuser und die Türme der Kirchen der Stadt.

Nach der Besichtigung mache ich Pause in einem Lesecafé ganz in der Nähe des Museums. Es gibt Milchkaffee und einen leckeren Crumble mit Eis.

Ich gehe dann einmal ganz den Wall entlang, jetzt eine schöne, schattige Promenade, früher Teil der Verteidigungsanlage. Das erste Ziel ist der Wasserturm. Architektonisch klingt er an den Jugendstil an und dient noch heute als Wasserreservoir. Er wurde 1910 von einer Gelsenkirchener Firma errichtet und fasst 1.000 cbm Wasser. Damals ersetzte er einen älteren Wasserturm, der 1885 nach der Kanalisation Emdens in Auftrag gegeben worden war.

Dann kommt der Chinesentempel, der so heißt und so aussieht, aber kein Tempel ist, sondern eine Toilettenanlage. Jedenfalls als solche angelegt war. Scheint jetzt leer zu stehen. Schade. Daraus könnte man was machen. Die Besonderheit des Baus ist, dass hier alles rund ist.

Dann kommt eine Bockwindmühle. Die steht auf dem Terrain einer einstigen Bastion. Man kann heute noch gut ermessen, welche Dimensionen sie hatte.

Der Weg führt an einer Skulptur einer französischen Künstlerin vorbei, eine metallene Erdkugel, auf die in den verschiedensten Sprachen der Satz Wasser ist Leben eingraviert ist. Die Kugel wird von zwei menschlichen Händen gehalten. Sie hat zu zwei Seiten einen Ausguss, aber leider kommt kein Wasser raus.

Schließlich erreiche ich, fast am anderen Ende des Walls, die Kesselschleuse. Eine Besonderheit, denn hier werden gleich vier „Flussläufe“ miteinander vereinigt, an der Kreuzung des Ems-Jade-Kanals mit dem Stadtgraben. Dabei wird ein Höhenunterschied von über zwei Metern überwunden. Die Schleuse ermöglicht den Schiffsverkehr in vier Richtungen. Der „Kessel“ in der Mitte dient also nicht nur zur Angleichung der Wasserhöhe, sondern auch als Wendemöglichkeit für die Schiffe.  

Ich habe Glück, es wird gerade ein Tor geschlossen, und dann wird Wasser in den Kessel gelassen, damit er die Höhe des Kanals erreicht. Und dann öffnen sich die Tore, um ein kleines Schiff durchzulassen. Obwohl es eine kleine Schleuse ist, ist das Ganze ein echtes Spektakel, vor allem dann, wenn das Wasser an der Oberfläche zu blubbernbeginnt und dann regelrechte Wirbel verursacht und dabei immer lauter wird. Toll, wie sich Menschen so was ausgedacht haben.

Am Nachmittag treffen wir uns im Henri’s, dem Café des Kunstmuseums. Es ist benannt nach Henri Nannen, der der Initiator des Kunstmuseums war und es zusammen mit seiner Frau auf die Beine stellte. Die Keimzelle des Museums war eine Malschule für Kinder. Die gibt es heute noch. Sie ist jetzt in einem eigenen Gebäude untergebracht, dort, wo auch das Café ist.

„Nein, es ist keine Uhr“ steht auf einem Schild am Eingang zum Café. Das bezieht sich auf zwei „Zeiger“ an der Fassade, die ständig in Bewegung sind und gelegentlich wie die Zeiger einer Uhr aussehen. Es ist aber keine Uhr, sondern ein kinetisches Kunstwerk, das nur willkürlich vom Wind angetrieben wird. Es ist keine Elektrizität im Einsatz. Wir fragen uns, ob die Zeiger bei Windstille auch mal still stehen, und am nächsten Tag sieht das einer der beiden anderen tatsächlich.

Henri Nannen war von 1949 an 31 Jahre lang Chefredakteur des Sterns, der eine Zeitlang die auflagenstärkster Zeitschrift Deutschlands und sogar der Welt war. Als die Hitlertagebücher veröffentlicht wurden, 1983, war er bereits ausgeschieden. Nannen hatte keineswegs Publizistik, sondern Kunstgeschichte studiert und von Beginn an Kunst gesammelt, ohne besonderen Schwerpunkt, einfach nach persönlicher Vorliebe.

Wir sitzen gemütlich an einem Arm der Ems oder eines Kanals und erzählen. Hermanito ist mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und hat dabei auch den Jüdischen Friedhof besichtigt. Hermanita ist wie ich den Wall entlang gegangen.

Hermanita bestellt einen Stachelbeerkuchen mit Baiser. „Ihhh“, finden wir beide, was für eine Kombination! Und sind uns einig, das Stachelbeeren und Rhabarber zu den Höchststrafen unserer Kindheit gehörten.

Hermanito erzählt von der Ausstellung im Kunstmuseum. Es geht um Stillleben, Stillleben der modernen Art. Begeistert zeigt er ein Photo von einem Bild von einer norddeutschen Landschaft mit einem breiten Himmel voller kleiner Wolken. Weniger angetan ist er von einigen „Installationen“, in denen – scheinbar willkürlich – jede Menge Küchengeschirr dicht gedrängt aufeinander gestapelt ist.

Hermanito schlägt vor, ein Photo von uns dreien mit den Kanalspuckern zu machen. Wir kommen hin und bitten einen Passanten, das Photo von uns zu machen. Gerade in dem Moment, als das erledigt ist, fängt es sturzflutartig an zu regnen. Wir können uns im letzten Moment unter einen Sonnenschirm flüchten, nur der arme Photograph wird für seine gute Tat komplett durchnässt.

Als der Schauer vorbei ist, fliegen Stare zu Hunderten wie wild geworden um das Rathaus herum, ohne erkennbare Richtung. Sie besetzen die gesamte Länge des Dachfirsts, sitzen dort wie auf einer Stange, dann sind sie alle auf einmal wieder weg. Vielleicht finden sie in den hohen Bäumen auf dem Vorplatz ihre Nachtruhe.

Wir gehen in ein italienisches Lokal, in dem wir von einer Kurdin aus dem Irak bedient werden und wo ich die erste vegetarische Lasagne meines Lebens esse. Und wohl auch die letzte. Das Mädchen schafft es spielend, das alkoholfreie Weizen von dem mit Alkohol zu unterscheiden. 

Hermanita friert, was uns beiden ein Rätsel ist. Auf dem Rückweg sehe ich auf einer Anzeige, dass es 23,5° warm ist.

4. September (Mittwoch)

Am Vormittag bleibt vor der Rückreise noch Zeit für einen kurzen Besuch im Kunstmuseum, das praktischerweise in der Nähe des Bahnhofs liegt.

In der Sonderausstellung geht es tatsächlich um Stillleben. Die habe ich immer im 17. und 18. Jahrhundert verortet, aber es gibt auch moderne. Um die geht es hier.

Das Stillleben galt lange als minderwertig gegenüber der Historienmalerei, der Porträtmalerei, der Landschaftsmalerei und der religiösen Malerei, aber es setzte sich durch als Dekoration in den Häusern wohlhabender Familien, vor allem in Holland und Spanien, oft versehen mit einer moralischen Botschaft, die ihren Ausdruck in Symbolen fand. Als Beispiel ist hier eine Vanitas aus dem 17. Jahrhundert ausgestellt, mit Totenkopf, aufgeschlagener Bibel, Globus, Muschel und Glas.

Solche Botschaften fehlen in dem modernen Stillleben. Die Ausstellung hat viele Blumenarrangements, die es mir nicht so besonders angetan haben. Noch weniger die Blumenarrangements in Keramik.

Schön dagegen ein eher klassisches Stillleben mit Fuchsie, Buch und Tischtuch, alles wie zum Anfassen gemalt. Dieses Bild wird dadurch erweitert, dass es ein Bild im Bild gibt. An der Wand hängt ein Bild, eine ländliche Gegend darstellend, mit einem Lehmweg, Bäumen entlang des Weges, einem Bauernhaus, einem Bauern mit Sense im Vordergrund und einer Kirche ganz hinten. Hier spielt der Maler mit den Gattungen, verbindet Stillleben mit Genremalerei.

Ebenfalls gut gefällt mir ein Bild ganz anderer Machart. Aus der Entfernung sieht man nur eine einzige schwarze Fläche. Aus der Nähe sieht man verschiedene Schattierungen von Schwarz und beginnt, das komplizierte Geäst eines blattlosen Baums zu erkennen. Dieses Bild wurde am Computer entwickelt und beruht auf einer Vektorgraphik.

Noch wieder ganz anders, aber auch sehr schön sind zwei Bilder, die jeweils einen Bücherstapel darstellen, breite Bände mit bunten Einbänden, mit dem Rücken mal zur einen, mal zur anderen Seite.

Nicht so toll finde ich ein Bild, das nichts anderes ist als die vergrößerte Version einer Quittung, einer modernen elektronischen Quittung, wie man sie jeden Tag sieht. Die Quittung, aus Antwerpen, bestätigt den Kauf von Blumen. Der Titel nimmt Bezug auf Breughel, aber was der mit der Quittung zu tun hat, ist nicht zu erkennen, außer dass der Name Breughel als Eigenname auf der Quittung erscheint, vielleicht als Name des Inhabers des Geschäfts.

Mich zieht in erster Linie ein Maler an, dem ein ganzer Saal gewidmet ist, Franz Radziwill. Seine Stillleben ähneln noch am ehesten den alten aus den vergangenen Jahrhunderten, wie das von dem Ausstellungsplakat: eine Kanne, eine Birne, ein Buch und ein Keramiktopf auf einer Tischdecke, phantastisch gemacht in seiner Plastizität und in den Einzelheiten, einem Knick in der Tischdecke, Druckflecken auf der Birne, Lichtreflexe und Schatten auf den Gefäßen, die unregelmäßigen Seiten in dem dicken Folianten.

Radziwill ist auch interessant wegen seiner Karriere. Er stammte aus ganz einfachen Verhältnissen, machte eine Maurerlehre und war als Sanitätssoldat im Krieg im Einsatz, war politisch dem linken Spektrum zugehörig. Doch er wollte Karriere als Maler machen und nutzte die Situation 1933, als Professoren und Direktoren entlassen wurden, die dem Regime unliebsam waren. Er trat in die NSDAP ein und wurde Professor an der Kunstakademie in Düsseldorf. Dann kamen Bilder ans Licht, die er früher gemalt hatte, keine Stillleben, sondern wilde expressionistische Bilder, die ihm den Ruf als „Kulturbolschiwist“ eintrugen. Seine Kunst wurde als „Verfallskunst“ diffamiert. 1935 wurde eine seiner Ausstellungen geschlossen, seine Werke wurden konfisziert, und schließlich wurde er entlassen. Er hatte aber einflussreiche Freunde bei den Nazis, mit denen er seine Rehabilitierung erwirkte. Was dann folgte, zeigt die Widersprüchlichkeit der Kulturpolitik der Nazis. An einigen Orten durfte er ausstellen, an anderen Orten wurden seine Ausstellungen verboten, an wieder anderen geschlossen.  

Zum Schluss kommt noch ein „Knaller“, im wahrsten Sinne des Wortes. Ein Stillleben auf einem Bildschirm, harmlos aussehend: auf einem steinernen Gesims, vor einem schwarzen Hintergrund, liegen ein Kürbis und eine Zucchini. Links davon hängt ein Wirsing an einer Kordel und darüber ein Granatapfel. Das Bild ist unbewegt, ein echtes Stillleben. Dann saust von links mit großer Wucht ein Pfeil oder eine Granate durchs Bild, so schnell, dass man es nicht erkennen kann, und trennt den Granatapfel auf. Der explodiert, wird in zwei Teile geteilt, und der Inhalt zerbirst und tausend kleine rote Segmente fliegen durch die Luft und breiten sich, ganz langsam, in Zeitlupe, auf die anderen Gegenstände aus. Man glaubt nur Bluttropfen zu sehen. Eine Allegorie auf die zersetzende Gewalt des Krieges.  Das ist zumindest eine Deutung. Kann aber auch selbstreferentiell verstanden werden: Das Bild selbst zerstört das Stillleben, das es doch eigentlich sein will.

Das Abenteuer Emsradweg neigt sich dem Ende zu. Auf dem bequemen Rückweg mit der Bahn werden schon Alternativen für die nächste Radtour angesprochen: Spreewald, Südtirol, Ruhrtal.

  1. 28. August (Mittwoch): Hövelhof – Harsewinkel: 00-82 (= 82 km), 7.00-15.30 (= 8,5 Std.)
  2. 29. August (Donnerstag): Harsewinkel – Greven: 82-166 (= 84 km), 8.45-14.45 (= 6 Std.)
  3. 30. August (Freitag): Greven – Lingen: 166-256 (= 90 km), 8.30-17.00 (= 8,5 Std.)
  4. 31. August (Samstag): Lingen – Haren: 256-320 (= 64 km), 8.00-14.30 (= 6,5 Std.)
  5. 1. September (Sonntag): Haren – Papenburg: 320-383 (= 63 km), 8.30-13.00 (= 4,5 Std.)
  6. 2. September (Montag): Papenburg – Emden: 383-445 (= 62 km), 8.30-15.00 (= 6,5 Std.)