27. August (Dienstag)
Dass Bad Ems nicht an der Ems liegt, sondern an der Lahn, weiß ich noch von einer alten Radiosendung. Dass dafür Rheine nicht am Rhein, sondern an der Ems liegt, weiß ich auch noch von damals.
Es soll von der Quelle bis zur Mündung in Emden gehen. Eine eigentliche Quelle hat die Ems, wie so viele Flüsse, nicht, eher ein Quellgebiet. Ich starte in einem Ort namens Hövelhof, von dem ich noch nie etwas gehört hatte.
Die Touristeninformation, wo ich mein Fahrrad in Empfang nehme, liegt in der Schlossstraße. Die heißt nicht von ungefähr so, denn hier befand sich früher ein Schloss, ein Jagdschloss des Fürstbischofs von Paderborn.
Die Touristeninformation ist in der ehemaligen Küche des Schlosses untergebracht, die sie sich mit dem Pfarramt teilt. Das Gebäude ist ein perfekt saniertes Fachwerkhaus und eins von mehreren alten Gebäuden hier am Platz. In der kleinen Grünanlage davor steht ein Denkmal für die Opfer von Krieg und Gewalt, mehrere konzentrisch angeordnete Steinplatten mit allen Jahreszahlen der beiden Weltkriege, gruppiert um eine Steinplatte mit dem Relief der Köpfe von etwas fremd aussehenden Engeln. Etwas abseits davon steht ein Bronzemodell des ehemaligen Schlosses, und vorne an der Straße eine platte Skulptur eines Radfahrers. Der vermutlich auf den Emsradweg verweist.
Während ich den ganzen Tag im Zug gesessen habe, ist Hermanito schon aktiv gewesen und ist einen „Prolog“ gefahren, von Verl nach Hövelhof, an den Emsquellen vorbei.
Die Wetteraussichten sind gut, und ich bin heute einigermaßen pünktlich angekommen. Ich nehme das mal als gutes Omen.
Am Abend erinnere ich mich an ein Gespräch im Zug, zwei Mädchen auf dem Weg nach Hause von der Schule. Während der ganzen Fahrt geht es nur um ein Thema: Jungs. Vor allem um die Frage, ob Leon der richtige für die eine sei. Oder doch Noah? Was hat Leon denn geschrieben? Die SMS wird laut vorgelesen. Es wird beraten, was die Bedeutung dieser Nachricht sein kann. Am Ende der Zugfahrt ist noch keine Lösung gefunden. Aber sie haben ja noch den Fußweg nach Hause vor sich.
28. August (Mittwoch)
Habe gestern noch einen Abendspaziergang gemacht, bei dem ich mich verlaufen habe. Was den Vorteil hat, dass ich mich jetzt nicht verfahre. Jedenfalls nicht sofort.
Ich bin die Jägerstraße einfach in die falsche Richtung gefahren. Das hatte aber auch sein Gutes, ich konnte noch eine kleine Entdeckung machen, die Bifurkation eines Baches, des Krollbachs. Dass sich Flüsse oder Flussläufe gabeln, ist an sich nichts Besonderes, aber hier vereinigen sie sich nicht wieder. Sie bleiben getrennt. Beide fließen zur Nordsee, aber der eine durch den Rhein, der andere durch die Ems. Der Grund für die Bifurkation war ein eiszeitlicher Block, der dem Bach den Weg versperrte.
Straßenschilder sind hier eine Rarität. Sie müssen wohl aus Fernost eingeführt werden. Ich muss tatsächlich, auf einer größeren Straße, eine Frau vor ihrer Haustür nach dem Namen der Straße fragen. Wir sehen gemeinsam auf meinen Stadtplan und stellen fest: Ich muss den ganzen Weg wieder zurück, wieder durch das Wohnviertel, wo die Unterkunft liegt. Kein Viertel für arme Leute. Lauter Einfamilienhäuser, groß, zweistöckig, nicht von der gediegenen, eher von der vornehmen Art, einige villenartig, entweder aus rotem, gelben oder weißen Ziegeln, viele mit Walmdach, oder, die moderneren, quadratischen, weiß verputzt. In den Vorgärten Banner von Borussia Dortmund, Arminia Bielefeld und Werder Bremen. Hätte schlimmer kommen können.
Heute ist das Ziel dasselbe wie gestern, nur dass ich es gestern nicht mehr geschafft habe, dahin zu kommen: Das Ems-Informationszentrum auf dem Emser Kirchweg, schon außerhalb von Hövelhof. Hier ist der offizielle Startpunkt des Emsradwegs.
Wieder geht es über die Jägerstraße, diesmal in die andere Richtung. Unterwegs erfährt man, warum die so heißt. Das hat wiederum was mit dem Jagdschloss zu tun.
Durch die kühle Morgenluft geht es einen schönen Weg entlang, über eine rau asphaltierte, einsame Kreisstraße. Die Sonne steht tief und beleuchtet die Felder. Es geht an einem Waldrand vorbei, und dort steht unvermittelt ein Polizeiauto – leer. Dann kommt wie aus dem Nichts die Autobahn. Die erste Steigung bei der Auffahrt auf die Brücke.
Hinter der Brücke ein Strommast. Der ergibt, mit der Sonne hinter mir, ein verblüffend schönes Photomotiv.
Dann hört man Schüsse. Jäger? Nein, hier ist ein Truppenübungsplatz.
Ich biege rechts ab und komme zu dem Informationszentrum. Hier ist natürlich noch niemand, aber auf einer Informationstafel kann man erfahren, dass der gesamte Radweg eine Länge von 385 Kilometern hat und an welchen Stationen er vorbeiführt.
Ich fahre erst mal in die „falsche“ Richtung, denn hier in der Nähe befinden sich die Emsquellen, und wenn ich schon einmal hier bin … Ich fahre 3-4 Kilometer über den einsamen Radweg und komme dann dort an. Hier steigt man ab und geht über Planken einen Weg runter und weiter runter. Der geht dann aber wieder rauf. Man muss sich erst mal umgucken, um zu merken, dass man tatsächlich an den Quellen angekommen ist. Es handelt sich nicht um eine aus einem Felsen schießende Quelle sondern um eine Sickerquelle. Hier tritt Wasser an verschiedenen Stellen aus der Erde und sammelt sich zu einem Rinnsal. Nicht spektakulär, aber ganz schön in der grünen Umgebung.
Ich fahre zurück zum Informationszentrum und sehe mir dort noch mal kurz die Schautafel an. Ein vorüberkommender Mann sagt mir, ich müsse in die andere Richtung, also Richtung Emsquellen fahren, nur eben dort links abbiegen und nicht rechts. Tatsächlich habe ich dort Radwegschilder gesehen. Mein erstes Ziel, sagt er, sei Holte-Stukenbrock, und das habe ich tatsächlich ausgeschildert gesehen. Ich fahre in die Richtung und komme an den Ortsrand von Holte-Stukenbrock. Hier gibt es Schilder für Radwege in drei Richtungen, aber keine scheint richtig zu sein, und das Logo des Emsradwegs ist auch nirgends zu sehen. Ich fahre in den Ort rein, komme da aber auch nicht weiter. Also fahre ich wieder zu den Schildern zurück. Eine Radfahrerin steigt ab und sieht auf ihrem Handy nach. Sie ist sich nicht sicher, gibt sich aber viele Mühe und kommt zu dem Ergebnis: Ich muss nach Hövelhof zurück! Resigniert nehme ich das zur Kenntnis und fahre wieder zu dem Informationszentrum. Als ich dort die Richtungshinweise ansehe, kommt ein muskulöser Mann mit dickem Schnäuzer und tätowierten Oberarmen auf mich zu und fragt mich, wohin ich wolle. Auf den Emsradweg, sage ich, und erwähne leichtsinnigerweise den Namen Espeln, den ersten Ort, durch den der Emsradweg führt. Nein, nein, sagt er, weder hin noch zurück, ich müsse hier rechts. Ausgerechnet dahin weist das Emslandlogo nicht. Aber der Mann ist so entschieden, dass ich seine Rat folge: diese Straße runter, dann auf die Landstraße, dann durch ein Industrieviertel, und dahinter links, da gehe es nach Espeln.
An der Landstraße angekommen, sehe ich Lastwagen, die hier die Straße runter donnern, einer nach dem anderen, und nur einen schmalen, nicht abgesicherten Streifen für Radfahrer. Nein, das tue ich mir nicht an. Der Mann hat eindeutig das Auto-Gen in seiner DNA, er kann sich in die Lage eines Radfahrers nicht versetzen. Ich flüchte mich in einen Waldweg, der nach Hövelhof führt. Den habe ich vorher aus dem Augenwinkel gesehen. Ich nehme diesen Weg und bin nach anderthalb Stunden und 17 Kilometern wieder genau dort, wo ich hergekommen bin, in Hövelhof. Dort gehe ich erst einmal in eine Bäckerei, in der ich gestern schon mal Halt gemacht habe.
Danach geht es in den Ort, zum Schloss. Hier gibt es Radwegeschilder zuhauf, aber keins für den Emsradweg. Ich irre ein bisschen in der Gegend herum und frage einen jungen Mann. Der reagiert wie der mit dem Schnäuzer auf das Wort Espeln, korrigiert sich aber sofort: Ach nee, Sie wollen ja auf den Radweg. Er führt mich zu einer Gruppe von Rentnern, die vor einem Café sitzen. Darunter befindet sich sein Nachbar. Der weiß tatsächlich Bescheid: Ich muss zurück zu der Bäckerei und dann Richtung Rieke. Stimmt!
Es geht an der Landstraße entlang, dann an Feldern entlang, dann wieder an der Landstraße entlang. Aber immerhin: Ich komme nach Espeln. Aber dort gibt es keinen Emsradweg. Ich fahre durch den Ort und stoße tatsächlich auf den Emsradweg. Richtung Hövelhof. Also wieder zurück. Keine weitere Ausschilderung zu sehen. Ich frage einen Mann, der in seinem Garten arbeitet. Der ist sehr hilfsbereit, erklärt mich, erklärt mir den Weg, korrigiert sich dann, erklärt einen anderen Weg, geht dann ins Haus und holt eine Karte. Die ist genauso ungenau wie meine. Kurzentschlossen holt er sein Rad aus der Garage und begleitet mich. Er ist selbst den Emsradweg schon mal gefahren, bis Emden, mit drei Freunden. Wir fahren die Landstraße runter und kommen zu einem Gedenkstein, von dem er vorher gesprochen hat. Dort ist tatsächlich ein Schild. Das habe ich schlicht und einfach übersehen.
29. August (Donnerstag)
30. August (Freitag)
31. August (Samstag)
1. September (Sonntag)
Relativ früher Aufbruch. Die Zimmerwirtin macht mich auf Schwalben aufmerksam, die über uns fliegen. Ja, hier in der Nähe des Wassers, da gebe es noch reichlich Schwalben, Wasser bedeutet Mücken, und Mücken bedeutet Futter für die Schwalben. Die könnten, sagt sie, nur im Fliegen fressen. Und könnten, genau wie die Mauersegler, nicht vom Boden starten. Interessant. Wusste ich nicht. Was hat sich die Evolution dabei gedacht?
Sie meint, es werde ein schönes Tag werden, und gar nicht windig. Mit dem ersten Teil ihrer Prophezeiung sollte sich recht behalten, mit dem zweiten nicht. Noch an keinem Tag habe ich so sehr mit dem Wind kämpfen müssen wie heute.
Ob ich diesseits oder jenseits der Ems fahren wolle, will sie wissen. Ich wusste gar nicht, dass ich die Wahl habe. Der Einfachheit halber bleibe ich auf dieser Seite, da komme ich ohne weitere Umwege, gleich von diesem Wohnviertel aus, an die Ems.
Und die zeigt sich gleich von ihrer Schokoladenseite. Wunderschöner Weg, direkt am Fluss, leicht zu fahren. Nur vereinzelte Hundehüter begegnen mir, überhaupt keine Radfahrer.
Aber die Herrlichkeit hält nicht lange. Bald geht es vom Wege ab, steil eine Straße rauf, langgezogen, am Ende steige ich ab. Irgendwann geht es dann zurück zur Ems, dann wieder weg von ihr, dann wieder hin. Mehrmals muss die Seite gewechselt werden. Der beidseitige Emsradweg existiert nur in der Vorstellung meiner Zimmerwirtin.
Das letzte Stück vor Steinbild ist wieder richtig schön. In der Böschung am Ufer sitzen Angler, einer nach dem anderen, in regelmäßigen Intervallen, jeder in seiner eigenen Nische im Ufergras. Die meisten sind alleine, alle haben ein Höckerchen und die meisten einen Sonnenschirm.
In Steinbild selbst schlägt die Kirchenglocke, Punkt zehn Uhr, und lädt zu m Gottesdienst ein.
An einem Café an einer Schleuse deckt eine Frau draußen die Tische ein. Ja, einen Kaffee könne ich schon haben. Während sie die Tische mit Besteck, Speisekarten und Blümchen versorgt, kommen wir ins Gespräch. Sie hat heute einen harten Tag vor sich. Sonntags im Sommer ist immer was los. Radler kommen vorbei, vor allem aber auch die Bewohner der Ferienwohnungen der Umgebung. Im Winter machen sie zu, da sei hier nichts los. Erst Ostern geht es dann wieder los.
Sie selbst ist gebürtige Berlinerin, was man ihr aber nicht anhört. Sie spricht aber auch ohne norddeutschen Akzent. Ja, das stimmt, sie sei mit 13 mit ihrer Mutter hierher gekommen, fühe cih aber wie eine Emsländerin.
Das mit der Radtour findet sie gut, das mit Hermanito und Hermanita auch. Sie verabschiedet sich und wünscht noch eine gute Fahrt.
In einem Vorgarten stehen zwei einfache, kleine Figuren aus rostigem Eisen, ein Mann, der ein Buch liest und ein Paar, das gemeinsam ein Rad schiebt.
Kurz danach ist zum ersten Mal Papenburg ausgeschildert. Ich folge dem Hinweis, und das scheint ein Fehler zu sein. Später stellt sich heraus, dass Hermanito fast den ganzen Weg an der Ems entlang gefahren ist. Ich nicht. Manchmal erahne ich sie, manchmal sehe ich ein Schiff, aber kein Wasser.
Ich wähne mich schon in der Nähe von Papenburg, als eine Entfernungsangabe kommt, die mich umwirft: 13 Kilometer. Und die werden mir echt sauer. Zu dem Wein von gestern und dem viel zu starken Kaffee in dem Café an der Schleuse kommt der Wind, der scheinbar ungehindert angreift, obwohl ich links von mir den Deich als Schutz habe. Ich muss immer wieder schieben, und auf dem Fahrrad habe ich eine Geschwindigkeit von 6-7 km/h im Schnitt. Keine Bank, kein Ort, kein Café, nicht einmal ein Baumstamm, um eine Pause zu machen. Nur Wind, Wind, Wind.
Irgendwann kommt in der Ferne ein Schiff in Sicht, ein Kreuzfahrtschiff, und der Anblick gibt mir neue Kraft. Es ist die Meyer-Werft von Papenburg, die gerade jetzt Schlagzeilen macht, weil ihr der Konkurs droht. Es wird kontrovers diskutiert, ob der Staat eingreifen soll oder nicht. Hier machen alle Radfahrer Halt und sehen auf die Werft hinüber.
Danach kommt eine Bank zum Ausruhen und dann ein schöner Weg an Bäumen entlang, Richtung Stadt. Und dann endlich Papenburg. Ankunft 13 Uhr. Es wird richtig heiß.
Die Innenstadt zieht sich an einem Kanal entlang, mit Gebäuden zu beiden Seiten. Der Landesherr warb hier Siedler an, die die Verpflichtung eingehen mussten, den Kanal weiterzugraben. Sie waren auch für die Sauberkeit ihres Kanalabschnitts zuständig. Diese Menschen gehörten zu dem, was man heute Prekariat nennen würde. Sie führten als Torfstecher eine prekäre Existenz, die durch schlechtes Klima in Gefahr geraten konnte.
Trotzdem wurde der Ort immer größer, und dieser Tatsache verdankt sich der Bau der neugotischen Nikolaikirche, auch am Kanal gelegen. Bis dahin wurde der Gottesdienst in der Navigationsschule abgehalten. Bis zum Bau der Marktkirche 1965 wurde diese Kirche sowohl von Lutheranern als auch von Freikirchlichen genutzt. Die Nikolaikirche hat ihr Patrozinium erst seit 1980. Sie hieß vorher Kirche am Hauptmarkt. Bei Nikolaus denkt man wohl an den Patron der Seefahrer.
Etwas abseits des Kanals hat man eine alte Mühle renoviert, eine Bockwindmühle, Meyers Mühle, zu ihrer Zeit mit ganz modernen Mechanismen ausgestattet. Den normalen Besucher von heute beeindruckt vor allem die Größe. Und die schöne Lage in der Innenstadt.
Heute ist der Kanal ein Schmuckstück, mit kleinen Zugbrücken, verschiedenen Schiffen, die im Wasser liegen, Bäumen und Blumen. Cafés und Restaurants gibt es reichlich. Fischliebhaber kommen auf ihre Kosten.
Ich mache mich auf die Suche nach der Touristeninformation, erst mit dem Rad, dann zu Fuß. Die ist genauestens ausgeschildert: 500 Meter, 300 Meter, und dann kommt – nichts. Ich versuche es auf und ab und rechts und links – nichts. Ich gehe über die Straße am Rande der Innenstadt, nichts. Ein älteres Ehepaar sagt, ja, dort drüben, in dem Bachsteinbau, das ist sie. Nichts. Ich folge einem Pfeil, von dem man nicht weiß, in welche Richtung er zeigt. Versuche es in beide möglichen Richtungen. Nichts. Dann endlich gehe ich in die Mühle rein. Ist hier die Touristeninformation? Nein, die ist da ganz oben. In der den Pfeilen entgegengesetzten Richtung. Die einzige Erklärung: Sie haben die Touristeninformation verlegt, aber die Schilder noch nicht geändert. Just my luck.
Ich schleppe meine müden Füße in die andere Richtung, den Kanal entlang. Die Touristeninformation liegt auf der „falschen“ Seite, also muss ich erst zu der nächsten Brücke und dann zurück. Ganz hinten auf einem großen Platz in einem riesigen modernen Gebäude, da ist sie. Ich gehe hin und will rein: Sonntags geschlossen. Just my luck.
Glücklicherweise gibt es in der Nähe öffentliche Toiletten. Die brauche ich dringend. Aber auch die sind geschlossen. Sonntags wird nicht gepinkelt. Just my luck.
Ich schleppe mich zu einem Biergarten, den ich unterwegs gesehen habe, und stärke mich mit einer Laugenbrezel. Und natürlich Mineralwasser.
Jetzt steht noch die Fahrt zu der Unterkunft an. Wieder habe ich ungünstig gebucht, in einem Wohnviertel außerhalb. Hermanito hat es besser gemacht, er ist gleich im Zentrum. Zwei Malteser helfen mir, den Weg zu finden, die Erklärung ist perfekt, und trotz der Hitze schaffe ich noch die letzten 3-4 Kilometer. Glücklicherweise kann ich schon ankommen, obwohl ich eigentlich zu früh bin, aber der Vermieter, ein ganz gelassener junger Mann, nimmt das ganz locker. Man kann Wintergarten und Küche benutzen und sich am Kühlschrank bedienen. Mit Mineralwasser natürlich.
Hier in der Gegend gibt es aber nichts zu essen, ich solle a besten wieder in die Stadt fahren, meint er. Morgen früh geht er schon um 5 Uhr zur Frühschicht. Na, ganz so früh will ich doch nicht aufbrechen.
Am frühen Abend – es ist noch richtig heiß – fahre ich noch mal Richtung Stadt. Hermanito sitzt am Museumschiff, gleich gegenüber seinem Hotel. Er hat den besseren Weg gefunden und schöne Photos gemacht. Warum ich an der Meyer-Werft vorbeigekommen bin und er nicht, können wir uns im Nachhinein nicht erklären. Unterwegs, in der Nähe von Steinbild, ist er auf einen Rettungswagen gestoßen. Dort war eine Radfahrerin mit einem anderen Radfahrer kollidiert und musste per Hubschrauber ins Krankenhaus transportiert werden.
2. September (Montag)
Aufbruch um 8.30. Der angekündigte Regen soll jetzt doch erst am Abend kommen. Es ist ideales Wetter zum Radfahren.
Im Zentrum sitzt jemand auf einer Bank und raucht eine Frühstückszigarette. Hermanito. Ich mache kurz Halt, und er erzählt mir von dem üppigen Frühstück, das er in dem Hotel bekommen hat und von seiner Jacke, die er am Abend zuvor in dem Lokal ganz in der Nähe liegen lassen hat. Hat sie aber wieder. Gerade als er hinfuhr, war ein Kellner dabei, sie einzusammeln.
Gleich neben dem Hotel liegt die riesige katholische Kirche von Papenburg, St, Antonius. Das Internet bestätigt: Papenburg hat mehr katholische Einwohner als evangelische. Es gehörte wohl zum Bistum Münster.
Ich bestelle einen Kaffee in einer Bäckerei an dem Kanal. Die freundliche Kellnerin erzählt, sie hätten eine Filiale schon schließen müssen. Wegen Personalmangels. Zu hoher Krankenstand.
Inzwischen habe ich endlich nachgesehen, wofür das Autokennzeichen EL steht: Emsland. Hermanito hatte recht.
Aber, was bedeutet Fehnroute, der Name eines Radwegs, auf dem man hier immer wieder stößt? Der Duden erklärt: Fehn ist die norddeutsche Variante von Fenn, und das bedeutet ‚Moorgebiet‘, ‚Sumpfland‘.
Hermanito hat mir gesagt, ich solle Richtung Weener fahren, das sei der erste Ort auf der Route. Aber hier ist auch schon Leer ausgeschildert. Also richte ich mich danach. Dann biege ich fast falsch ab, merke dann aber, dass es nach Leer in zwei Richtungen geht, die längere Strecke führt über den Emsradweg.
Dann fahre ich auf eine rote Ampel zu. Lange Schlange, Autos, Radfahrer, Fußgänger, Angestellte der städtischen Gartenbetriebe. Was ist hier los? Dann sehe ich: Die Brücke ist nach oben geklappt, ein Schleppkahn fährt durch, mit einem hohen Hebekran, von dem ein Brückenteil herunter hängt. Er fährt so langsam durch die enge Stelle, dass man die Bewegung kaum wahrnimmt. Ein echtes Spektakel, alle schauen hin und machen Photos. Dann senkt sich die Brücke wieder, ganz, ganz langsam.
Wieder geht es erst im allerletzten Augenblick in die richtige Richtung , als ich nach Weener geradeaus fahren will, dann aber merke, dass der Emsradweg nach Weener rechts abgeht. Man muss höllisch aufpassen.
Ich komme in eine einsame Gegend. Hinter einer Brücke ist nur die Dollardroute ausgeschildert, sonst nichts, kein Pfeil, kein Logo, kein Ort. Was soll man machen, wenn man auf dem Emsradweg ist und bleiben will? Geradeaus oder rechts der Dollardroute folgend? Ich biege rechts ab, und das ist richtig, aber reiner Zufall, und ich merke erst nach mehreren einsamen Kilometern, dass ich auf dem richtigen Wege bin, als mir ein Radfahrer zuruft „Immer der Strrooße lang“.
Weener ist ein hübscher, kleiner Ort mit Backsteinhäusern und Backsteinkirchen. Es ist 10 Uhr, und ich bin inzwischen bei Kilometer 400.
Ich drehe eine Runde durch den Ort und komme dann bei der Weiterfahrt an einen Kanal, ganz ähnlich dem von Papenburg. Hier hat man den Törffrieren ein Denkmal gesetzt, den Torffrauen. Man sieht zwei Frauen, eine jüngere, eine ältere, mit Kopftuch, Schürze und Holzschuhen, die Briketts in einen vor ihnen liegenden Korb füllen. So ein Korb fasste 100 Liter. Er wurde bis zur Hälfte gefüllt, dann gerüttelt, dann komplett gefüllt. Man arbeitete im Team. Eine weitere Frau trug den Korb weg, eine vierte lud ihn auf das bereitstehende Pferdefuhrwerk. Ein Denkmal für Frauen, die harte Arbeit leisteten, so wie es sie bei uns heute gar nicht mehr gibt.
Hinter Weener geht es immer am Deich entlang. An einer Stelle steige ich nach oben. Auf der anderen Seite fließt die Ems, aber die bekommt man vom Radweg aus nicht zu sehen. Oben auf dem Deich grasen Schafe, schöne Tiere, mit schwarzen Beinen und schwarzen Köpfen. Als ich ein Photo machen will, läuft das eine weg, das andere richtet seinen Hinterteil auf mich und verrichtet sein Geschäft. Kein Respekt vor dem Schäfer.
Hermanito berichtet später, dass er auch mehrmals auf den Deich gestiegen ist und dabei einen Mann gesehen hat, der das Deichgras mit einer Sense bearbeitete. Mit Muskelkraft.
Ich komme in einen Ort, Bingum. Dort spricht mich ein Mann an, der auf einer Schubkarre eine Waschmaschine durch die Gegend fährt. Ob es da hinten ein Café gebe, will er wissen. Habe keins gesehen. Hier, auf der Dorfstraße, gibt es eins, aber die haben montags Ruhetag.
Als ich, um einem parkenden Lastwagen aus dem Weg zu gehen, ein paar Meter auf dem schmalen Bürgersteig fahre, kommt plötzlich aus einer Haustür ein junger Mann auf die Straße gelaufen. Ich fahre ihn fast über den Haufen. Ich bremse, steige ab und entschuldige mich. Freundlich lächelnd hebt er die Hand und geht weiter. Zu Hause wäre ich angemotzt worden. Die beiden anderen berichten später beim Eis ähnliche Erlebnisse. Kein Ahnung, warum die Leute im Norden den Ruf haben, verschlossen oder unfreundlich zu sein.
Es geht an einer Hauptverkehrsstraße entlang Richtung Leer. Das lasse ich aber links liegen, es liegt nicht direkt am Radweg. Hermanito berichtet später, dass er reingefahren ist und sich einen Tee nach ostfriesischem Ritual geleistet hat.
An einem Wehr setze ich mich kurz auf eine Bank und mache Pause. Mein nächstes Ziel, Ditzum, ist schon ausgeschildert. Ditzum, Bingum, Jemgum, Critzum und natürlich Borkum. Viele Ortsnamen enden hier auf –um. Das ist die korrumpierte Form von –heim, wie sie auch in Bochum und Beckum zu finden ist.
Weiter geht’s. Einmal lande ich unverhofft zwischen zwei Gehöfte, einmal auf einem Deichweg, der ins Nichts führt, aber sonst geht es immer geradeaus, immer am Deich entlang. Öde Strecke, keine schöne Landschaft. Auf den letzten Kilometern Richtung Ditzum mache ich noch einmal Tempo, es geht auf das Ziel zu. Auf diesem Abschnitt kommt man gut voran, aber es macht tack-tack, tack-tack, wie früher auf den alten Autobahnen.
Der Wind bewegt die unendlich vielen Windräder in der Distanz und fährt durch das Schilfgras am Rand, aber er ist heute nicht so heftig wie gestern und macht sich nur an einzelnen Stellen bemerkbar.
In Ditzum muss ich das Rad ein paar Stufen runter und dann wieder rauftragen und merke jetzt erst, wie viel das Gepäck ausmacht. Ich höre, wie sich zwei Sommergäste und zwei Einheimische über die vielen Touristen beschweren, die hier zu bestimmten Zeiten einfallen, wie gestern, am Sonntag. Da habe man keinen Fuß an den Boden bekommen. Heute dagegen sei es herrlich ruhig.
Ich mache Pause in der Schiffsbörse am Hafen, eins von vielen Lokalen, die sich die ganze Straße entlang ziehen. Suppe und Mineralwasser, da kommt man zu neuen Kräften.
In Ditzum geht es zum Hafen und dann auf die Fähre. Damit habe ich gar nicht gerechnet. Die Fähre fährt nur einmal pro Stunde, und die letzte ist natürlich gerade abgefahren. Die Wartezeit wird mir lang, so kurz vor dem Ziel.
Dann kommt die Fähre. Es dauert zwanzig Minuten bis zur anderen Seite. Ich habe mein Portemonnaie schon gezückt, aber Radfahrer zahlen hier nicht, nur die Autofahrer. Die Erwachsenen wollen einem Baby die Fähre zeigen, das Wasser, die Schiffe, die andere Seite, aber das Baby brüllt und will ins Auto zurück.
Auf der anderen Seite – noch 11 Kilometer bis Emden – geht es auf einer Schotterpiste an der Ems entlang, mal ganz nahe dran, mal weiter davon entfernt. Immer wieder geht es über Brücken, oft moderne Brücken, aus Eisengittern, ganz steil, immer wieder muss ich absteigen und schieben.
Dann kommt der erste Hinweis Richtung Innenstadt. Ich bin unschlüssig, ob ich erst zum Hotel oder erst zur Touristeninformation fahren soll. Irgendwo wartet Hermanita seit Stunden in einer Eisdiele und will uns abfangen. Da komme ich aber nicht vorbei.
Die Frage Hotel oder Touristeninformation erledigt sich dann von selbst. Ganz zufällig, noch bevor ich in die Nähe der Altstadt komme, überquere ich eine Straße, deren Name mir auffällt: Friedrich-Ebert-Straße. Hier ist das Hotel. Angekommen. Geschafft. Nach 5 Etappen, 445 Kilometern und 33 Stunden im Sattel.
Als ich das Fahrrad in einem Schuppen hinter dem Hotel abstelle, kommt ein weiterer Radfahrer rein. Hermanito. Reiner Zufall. Zwei Minuten nach mir. Er ist eine ganz andere Strecke gefahren.
Ich bringe gleich das Rad zur Touristeninformation, obwohl sie laut Vertrag das Rad vom Hotel abholen sollten. Da will man von nichts wissen. Man habe überhaupt keinen Platz, um Fahrräder abzustellen, und vom Hotel hole man sie schon gar nicht ab. Das müsse ein Missverständnis sein. Glücklicherweise habe ich den Vertrag dabei. Kleinlaut sagt die Frau, ach so, ja das sei ja schon so lange her, das sei inzwischen in Vergessenheit geraten. Na toll. Etwas widerwillig nimmt sie das Rad entgegen.
Ich mache mich auf den Weg Richtung Innenstadt. Hier gibt es keine Eisdiele und keine Hermanita. Die wartet in einer Eisdiele nahe der anderen Touristeninformation, beim Rathaus. Sie hat vergeblich auf uns gewartet.
Jetzt sehen wir uns aber auf dem großen Platz und steuern, sobald Hermanito auch eingetroffen ist, eine Eisdiele an. Hermanita lädt zu einem Eis ein. Und wir erzählen von unseren Erlebnissen in den letzten Tagen.
Hermanita erzählt, Emden habe drei bekannte Söhne. Henri Nannen, den Stifter der Kunsthalle, Wolfgang Petersen, den Regisseur, und Otto, den Komiker.
Dann bekommen wir gratis eine Stadtführung. Es sind nur ein paar Schritte von hier zum Kanal. Dort wehen die Fahnen der Stadt Ems, Gelb-Rot-Blau. In der Mitte das Wappen, mit Wasserwellen, einer Zinnen und einer Harpyie.
Im Wasser liegen verschiedene alte Schiffe, darunter ein fahrender Leuchtturm und ein Seerettungsschiff.
Auf dieser Seite des Kanals Dat Otto Huus mit einem Ottifanten an der Fassade. Die Fußgängerampel hat bei Grün einen Otto als Ampelmännchen. Vielgesuchtes Photomotiv.
Auf der anderen Seite des Kanals das Rathaus, asymmetrisch. Der Durchgangsbogen und der Turm mit Turmuhr und einer hohen, von weitem sichtbaren goldenen Bekrönung, sind nicht mittig angebracht. Der Grund dafür ist die beim Bau des Rathauses bereits existierende Straße.
Unten der Wahlspruch der Stadt, Concordia res parvae crescunt – Durch Eintracht wachsen kleine Dinge. Der Name Emden bedeutet ‚Flussmündung‘, und das dazugehörige Adjektiv ist Emdner, wie Dresdner.
Hier am Kanal heißt alles Delft, die Straße selbst und ein Hotel und eine Apotheke und ein Schnellimbiss. Was ist eigentlich ein Delft? Das Internet verrät es: Delft bedeutet eigentlich ‚Graben‘.
Eine vielbeachtete Skulptur steht gleich vorne am Kanal. Drei Männer lehnen lässig an einem Geländer, in verschiedene Richtungen blickend. Das sind die Kanalspucker. Sie führten ein müßiges Leben, verbrachten stundenlang am Kanal und kauten Kautabak. Den spuckten sie, wenn der durch war, ins Wasser. Zwei von ihnen haben, wie der Koblenzer Schengel, ein kleines Rohr im Mund und spucken hin und wieder – Wasser allerdings, keinen Kautabak.
Wir kommen zu einem Schnellimbiss, wo es Matjesbrötchen gibt. Hermanito probiert eins. Urteil: Fisch gut, Brötchen schlecht. Hermanita erzählt, dass der Hering für den Matjes aus Norwegen kommt! Er macht dann noch Halt in Rotterdam, wo er irgendwie bearbeitet wird. Zum Matjes wird er erst in Emden.
Nebenbei erfahren wir, dass Emden die Stadt der Produktion des Passats von Volkswagen ist (oder war). Nach den neueren Produktionsmethoden wird an jedem Standort immer nur ein Typ produziert. Wenn der alte ausgelaufen ist und der neue nicht erfolgreich ist, hat man schlechte Karten.
Ebenfalls erfahren wir, dass es gleich in der Nähe von Emden eine kleine Erhöhung gibt, die aber schon aus der flachen Landschaft heraussticht. Hierher kommen Fahrschüler aus der gesamten Umgebung, um das Anfahren am Berg zu üben!
Noch ein kurioses Detail: Emden steht auf Pfählen, hat einen feuchten Untergrund. Das hat, wie Hermanita bei der Stadtführung erfahren hat, zur Folge, dass ein Sarg durch den Druck des Wassers von unten an die Oberfläche gespült wurde. Eine Besucherin sagte, sie würde sich auf dem Friedhof nicht bestatten lassen. Die Stadtführerin antwortete, das könne ihr auf jedem Friedhof in Emden passieren.
Wir verlassen die Straße am Kanal und stoßen auf der anderen Straßenseite auf die Emsmauerstraße. Die Ems floss einst hierher, und die Emsmauer schützte die Stadt. Der Verlauf der Ems änderte sich durch eine Sturmflut. Sie ist jetzt hier nicht mehr zu sehen.
Wir kommen zu einem Bunker. Emden wurde im 2. Weltkrieg stark zerstört, vermutlich wegen der Schiffsbauindustrie, und schützte sich durch 60 Bunker. Von denen stehen immer noch 30. Dieser hier ist ein grauer Klotz, der sich von den Backsteinbauten der Innenstadt unvorteilhaft absetzt. Später kommen wir zu einem Bunker, dessen Fassade von einem argentinischen Künstler phantasievoll bemalt ist.
Zu diesen Backsteinbauten gehören die Pelzerhäuser, zwei der ältesten Häuser der Stadt, einst Sitz der Pelzhändlerfamilien. Sie haben sehr schön gestaltete Fassaden mit Volutengiebeln, zwei besondere Vertreter der Backsteinrenaissance.
Wir kommen zur evangelisch-reformierten Kirche, einem Riesenbau, ganz untypisch für diese Konfession. Emden ist, erfährt man, gehört neben Wittenberg und Genf zu den einflussreichsten Städten der Reformation. Das hat was mit den spanisch-niederländischen Kriegen zu tun, denn damals fanden viele „Täufer“ aus den Niederlanden Zuflucht in Emden.
In dieser Kirche ist heute eine Bibliothek untergebracht, die Johannes-a-Lasco-Bibliothek, benannt nach einem polnischen Reformator, eine Spezialbibliothek mit Tausenden von Bänden und einem historischen Buchbestand, mit dem Schwerpunkt auf Geschichte und Theologie. Hermanita kennt die Bibliothek von einem früheren Besuch in Emden und empfiehlt den Besuch.
Vor dem Eingang der Kirche, wie vor anderen Gebäuden, ein Stolperstein, aber ein Stolperstein der besonderen Art. Er erinnert an einen Pastor, Hermann Immer, einem Pastor der evangelisch-reformierten Kirche, der sehr volksnah war, sich um die Nöte der Gläubigen kümmerte und der Bekennenden Kirche nahestand, obwohl er nicht im Widerstand war. Er war dennoch dem Regime ein Dorn im Auge und wurde verhaftet. Dagegen regte sich Widerstand, vor alle auf Seiten der Emdner Arbeiterschaft im Emdner Hafen. Die Verhaftung von Pastor Immer verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Emden. Gleich am nächsten Morgen erschien der Kranführer Jan Klaassen beim Oberbürgermeister und forderte im Namen der Hafenarbeiter: „Wenn Hermann Immer nicht am nächsten Sonntag wieder in der Großen Kirche zu sehen ist, dann gifft‘ Skandal bi uns in Hafen!“ Das hätte Streik bedeutet. Das Regime lenkte ein, Immer erhielt allerdings ein Verbot jeder Tätigkeit.
Zum Schluss kommen wir in der Fußgängerzone noch an einer Skulptur vorbei, die eine Frau mit Besen und Schüppe zeigt. Ein ganzes Leben lang fegte sie hier die Straße, noch bis in die sechziger Jahre.
Beim Abendessen haben wir schon abgesprochen, wann wir uns morgen treffen wollen, um die Bibliothek zu besichtigen, als Hermanito noch mal auf der Website der Bibliothek weiter nach unten scrollt und ganz am Ende feststellt: Die Bibliothek ist diese Woche geschlossen!
Auf einer Karte zeigt uns Hermanito, was es hier mit der Ems auf sich hat. Sie mündet ein ganzes Stück außerhalb von Ems in die Nordsee, genau genommen in eine Bucht, den Dollart. Davor befindet sich ein großes, aufwendig angelegtes Auffangbecken, beinahe quadratisch, das die Überflutung der Stadt verhindert.
3. September (Dienstag)
Immer noch kein Regen, obwohl der erst für gestern Nachmittag, dann für gestern Abend angesagt war. Zum ersten Mal eine Radtour ohne einen Tag, an dem ich klatschnass geworden bin.
Als ich mich auf den Weg in die Innenstadt mache, hält ein Radfahrer neben mir und spricht mich an. Hermanito. Der hat schon eine Runde gedreht. Und mich ganz zufällig gesehen. Er wiederum ist ebenso zufällig von Hermanita gesehen worden, die aus der Distanz nicht sicher war, ob er es war. Es fehlten Helm und Zigarette. Er war es aber.
Als erstes passiere ich die große Kirche mit dem hohen Dachreiter, die als Orientierungspunkt für das Hotel dient. Es ist die Neue Kirche (XVII), eine evangelisch-reformierte Predigerkirche, aus Backstein, aber mit Sandstein in den Gesimsen, gebaut nach dem Vorbild einer Amsterdamer Kirche. Um die Kirche herum der Kirchhof mit Gräbern aus verschiedenen Zeiten. Der Grundriss ist das eines griechischen Kreuzes, angeblich, wie es hier heißt, typisch für protestantische Kirchen. Der mit einer goldenen Kugel bekrönte Kirchturm ist ein Hingucker. Die Kirche ist geschlossen, in den Seitenportalen gibt es schöne, farbige Wappen, zinnenbewehrter Mauer, den Wellen der Ems, Sanduhr, Totenschädel, einer Flamme und einer barbusigen Harpyie.
Ich gehe zum Landesmuseum, will etwas über die Entwicklung von Emden erfahren. Das Museum ist im Rathaus untergebracht, in einem modernen Erweiterungsbau. Unterwegs fällt mir auf, wie viele Ladenlokale leer stehen. Es ist immerhin eine Einkaufsstraße in der Fußgängerzone, die direkt ins Zentrum führt.
Die Frau am Empfang im Landesmuseum sagt, ich könne das Museum gerne besuchen, nur eine Abteilung sei geschlossen: die über Emden. Just my luck.
Ich gehe trotzdem rein. Im ersten Ausstellungsraum gibt es Karten und Atlanten aus der Frühzeit der Kartographie, einige farbig und sogar mit Relief. Die geht eigentlich auf Ptolemäus zurück, aber von dem sind nur Beschreibungen, keine Karten erhalten.
Die ersten Karten von Friesland stammen aus der frühen Neuzeit. Sie stellen Ostfriesland noch verzerrt dar, und die Lage und Entfernung der Städte sind noch ungenau. Eine weit verbesserte Karte stammte dann von einem friesischen Gelehrten, Ubbo Emmius. Dessen Karte war 200 Jahre lang das Maß aller Dinge. Erst dann merkte man, dass er zwei unterschiedliche Maßstäbe für Ostfriesland und Westfriesland verwendet hatte.
Ubbo Emmius stammte aus Greetsiel, wurde aber Professor in Groningen, ein Indiz dafür, dass Friesland eigentlich eine Einheit über die heutigen Ländergrenzen hinaus war.
Im oberen Stockwerk wird die Entwicklung von Emden über drei Seiten eines Raum kontinuierlich durch kleine Figuren und Landschaften dargestellt, von den ersten niedrigen Warften, Erdaufschüttungen zum Schutz vor dem Wasser mit einfachen Riethäusern, bis zur Anlage des Sperrwerks zum Schutz vor Überschwemmungen. Deiche gibt es erst seit den dreißiger Jahren. Das Sperrwerk hat nicht nur die Funktion des Schutzes, sondern dient auch der Durchfahrt der Ozeandampfer aufs offene Meer.
Einige Objekte aus den mittelalterlichen Haushalten dieser Gegend sind ausgestellt: Löffel und Brettchen aus Holz, Messer aus Eisen, Kochgeschirr aus Keramik. Gabeln gab es noch keine. Glas war ein Luxusgut. Das hier ausgestellte grüne Glas stammt vermutlich aus den Niederlanden.
In einer weiteren Abteilung geht es um die „Friesische Freiheit“, ein wichtiges Element des Sozialsystems. Letztlich bedeutet das die Abwesenheit von Adel. Die Ausstellung relativiert das aber. Es gab durchaus soziale Abstufung, basierend auf einem Häuptlingswesen, das klare Hierarchien ausbildete.
Die einzelnen Territorien, sog. „Herrlichkeiten“, waren wie autonome Länder, aber es gab ein übergreifendes Rechtssystem, dessen Regeln wohl auf Niederdeutsch abgefasst waren.
Die Friesen widersetzten sich lange der Missionierung, die sie als ein Mittel zur Unterwerfung ansahen. Erst ab der karolingischen Zeit setzte sich das Christentum allmählich durch. Es gibt schön gestaltete Taufsteine aus Sandstein zu sehen und geschnitzte Figuren, alle aus Eichenholz, die wie Stein aussehen. Sehr schön ein Reliquienschrein, ebenfalls aus Eichenholz, verziert, aber ohne den ursprünglichen Figurenschmuck, dessen Konturen man aber noch sieht. Da waren bilderfeindliche reformierte Christen am Werk.
Eine Abteilung, die sofort die Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist die mit der Moorleiche von Bernutsfeld. Man sieht das (für einen Laien) gut erhaltene Skelett mit pechschwarzen Knochen in zusammengekauerter Stellung in einer Vitrine liegen.
Die Leiche wurde 1907 von Torfstechern entdeckt, die sie sofort wieder bedeckten und ihren Fund meldeten. Sie müssen einen gehörigen Schrecken eingefahren haben. Die Leiche wurde dann von Experten begutachtet. Man geht davon aus, dass es sich um einen Mann handelte – meistens sind Moorleichen Männer und nicht Frauen oder Kinder – der im 7. Jahrhundert lebte. Eine der offenen Fragen ist die, warum keine Haut bewahrt ist. Dafür gibt es verschiedene Erklärungen. Es könnte sein, dass der Mann erst noch an der Oberfläche lag und erst später, als die Haut schon verwest war, endgültig ins Moor gesunken ist. Ob der Mann im Moor begraben wurde oder dort eingesunken ist, ist offen.
Die Besonderheit dieses Fundes ist die Kleidung des Mannes, hier in verschiedenen Vitrinen ausgestellt: eine Art Tunika mit langen Ärmeln du Stehkragen, aus Schafswolle, ein Patchwork, ein Musterbuch der Webkunst des frühen Mittelalters, dazu ein Schultertuch, ein Wollmantel und Wickelbinden für die Beine. Erhalten ist die lederne Messerscheide, aber nicht die Klinge. Eisen zersetzt sich im Moor.
Am Ende der Besichtigung kann man noch auf den Turm steigen. In einem Zwischengeschoss gibt es Informationen über Nachtwächter und Turmwächter. Ausgestellt sind Hellebarden und verschiedene Blasinstrumente, alle erstaunlich groß. Zunächst gab es eine Art von der Stadt organisierter Bürgerwehr, jede Familie war in bestimmten Intervallen dran und musste nachts durch die Straßen patrullieren. Später wurde eine Art Spezialtruppe ausgebildet, die diese Aufgabe übernahmen. Das Amt des Turmwärters beinhaltete ebenfalls Kontrolle, vor allem aber Warnung bei Bränden. Zur Entwarnung wurde jede Stunde das Horn geblasen.
Dann steigt man nach oben. Man steht auf dem Rathausturm, den wir schon gestern immer wieder gesehen haben, und von dort hat man einen Blick auf den Innenhafen gleich hier, den Außenhafen in der Ferne, den Verkehrsplatz unter einem und die Dächer der Häuser und die Türme der Kirchen der Stadt.
Nach der Besichtigung mache ich Pause in einem Lesecafé ganz in der Nähe des Museums. Es gibt Milchkaffee und einen leckeren Crumble mit Eis.
Ich gehe dann einmal ganz den Wall entlang, jetzt eine schöne, schattige Promenade, früher Teil der Verteidigungsanlage. Das erste Ziel ist der Wasserturm. Architektonisch klingt er an den Jugendstil an und dient noch heute als Wasserreservoir. Er wurde 1910 von einer Gelsenkirchener Firma errichtet und fasst 1000 cbm Wasser. Damals ersetzte er einen älteren Wasserturm, der bei der 1885 nach der Kanalisation Emdens in Auftrag gegeben worden war.
Dann kommt der Chinesentempel, der so heißt und so aussieht, aber kein Tempel ist, sondern eine Toilettenanlage. Jedenfalls als solche angelegt war. Scheint jetzt leer zu stehen. Schade. Daraus könnte man was machen. Die Besonderheit des Baus ist, dass hier alles rund ist.
Dann kommt eine Bockwindmühle. Die steht auf dem Terrain einer einstigen Bastion. Man kann heute noch gut ermessen, welche Dimensionen sie hatte.
Der Weg führt an einer Skulptur einer französischen Künstlerin vorbei, eine metallene Erdkugel, auf die in den verschiedensten Sprachen der Satz Wasser ist Leben eingraviert ist. Die Kugel hat zu zwei Seiten einen Ausguss, aber leider kommt kein Wasser raus.
Schließlich erreiche ich, fast am anderen Ende des Walls, die Kesselschleuse. Eine Besonderheit, denn hier werden vier „Flussläufe“ gleichzeitig vereinigt, an der Kreuzung des Ems-Jade-Kanals mit dem Stadtgraben. Dabei wird ein Höhenunterschied von über zwei Meter überwunden. Die Schleuse ermöglicht den Schiffsverkehr in vier Richtungen. Der „Kessel“ in der Mitte dient also nicht nur zur Angleichung der Wasserhöhe, sondern auch als Wendemöglichkeit für die Schiffe.
Ich habe Glück, es wird gerade ein Tor geschlossen, und dann wird Wasser in den Kessel gelassen, damit er die gleiche Höhe des Kanals erreicht. Und dann öffnen sich die Tore, um ein kleines Schiff durchzulassen. Obwohl es eine kleine Schleuse ist, ist das Ganze ein echtes Spektakel, vor allem dann, wenn das Wasser an der Oberfläche zu blubbernbeginnt und dann regelrechte Wirbel verursacht und dabei immer lauter wird. Toll, wie sich Menschen so was ausgedacht haben.
Wir treffen uns im Henri’s, dem Café des Kunstmuseums. Es ist benannt nach Henri Nannen, der der Initiator des Kunstmuseums war und es dann zusammen mit seiner Frau auf die Beine stellte. Die Keimzelle des Museums war eine Malschule für Kinder. Die gibt es heute noch. Sie ist jetzt in einem eigenen Gebäude untergebracht, dort, wo auch das Café ist.
„Nein, es ist keine Uhr“ steht auf einem Schild am Eingang zum Café. Das bezieht sich auf zwei „Zeiger“ an der Fassade, die ständig in Bewegung sind und gelegentlich wie die Zeiger einer Uhr aussehen. Es ist aber keine Uhr, sondern ein kinetisches Kunstwerk, das nur willkürlich vom Wind angetrieben wird. Es ist keine Elektrizität im Einsatz. Wir fragen uns, ob die Zeiger bei Windstille auch mal still stehen, und am nächsten Tag sieht das einer der beiden anderen tatsächlich.
Henri Nannen war von 1949 an 31 Jahre lang Chefredakteur des Sterns, der eine Zeitlang die auflagenstärkster Zeitschrift Deutschlands und sogar der Welt war. Als die Hitlertagebücher veröffentlicht wurden, 1983, war er bereits ausgeschieden. Nannen hat keineswegs Publizistik, sondern Kunstgeschichte studiert und von Beginn an Kunst gesammelt, ohne besonderen Schwerpunkt, einfach nach persönlicher Vorliebe.
Wir sitzen gemütlich an einem Arm der Ems oder eines Kanals und erzählen. Hermanito ist mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und hat dabei auch den Jüdischen Friedhof besichtigt. Hermanita ist wie ich den Wall entlang gegangen.
Hermanita bestellt einen Stachelbeerkuchen mit Baiser. „Ihhh“, finden wir beide, was für eine Kombination! Und sind uns einig, das Stachelbeeren und Rhabarber zu den Höchststrafen unserer Kindheit gehörten.
Hermanito erzählt von der Ausstellung im Kunstmuseum. Es geht um Stillleben, Stillleben der modernen Art. Begeistert zeigt er ein Photo von einem Bild von einer norddeutschen Landschaft mit einem breiten Himmel voller kleiner Wolken. Weniger angetan ist er von einigen „Installationen“, in denen – scheinbar willkürlich – jede Menge Küchengeschirr dicht gedrängt aufeinander gestapelt ist.
Hermanito schlägt vor, ein Photo von uns dreien mit den Kanalspuckern zu machen. Wir kommen hin und bitten einen Passanten, das Photo von uns zu machen. Gerade in dem Moment, als das erledigt ist, fängt es sturzflutartig an zu regnen. Wir können uns im letzten Moment unter einen Sonnenschirm flüchten, nur der arme Photograph wird für seine gute Tat komplett durchnässt.
Als der Schauer vorbei ist, fliegen Stare zu Hunderten wie wild geworden um das Rathaus herum, ohne erkennbare Richtung. Sie besetzen die gesamte Länge des Dachfirsts, sitzen dort wie auf einer Stange, dann sind sie alle auf einmal wieder weg. Vielleicht finden sie in den hohen Bäumen auf dem Vorplatz ihre Nachtruhe.
Wir gehen in ein italienisches Lokal, in dem wir von einer Kurdin aus dem Irak bedient werden und ich die erste vegetarische Lasagne meines Lebens esse. Und wohl auch die letzte. Das Mädchen schafft es spielend, das alkoholfreie Weizen von dem mit Alkohol zu unterscheiden.
Hermanita friert, was uns beiden ein Rätsel ist. Auf dem Rückweg sehe ich auf einer Anzeige, dass es 23,5° warm ist.
4. September (Mittwoch)
Am Vormittag bleibt vor der Rückreise noch Zeit für einen kurzen Besuch im Kunstmuseum, das praktischerweise in der Nähe des Bahnhofs liegt.
In der Sonderausstellung geht es tatsächlich um Stillleben. Die habe ich immer im 17. und 18. Jahrhundert verortet, aber es gibt auch moderne. Um die geht es hier.
Das Stillleben galt lange als minderwertig gegenüber der Historienmalerei, der Porträtmalerei, der Landschaftsmalerei und der religiösen Malerei, aber es setzte sich durch als Dekoration in den Häusern wohlhabender Familien, vor allem in Holland und Spanien, oft versehen mit einer moralischen Botschaft, die ihren Ausdruck in Symbolen fand. Als Beispiel ist hier eine Vanitas aus dem 17. Jahrhundert ausgestellt, mit Totenkopf, aufgeschlagener Bibel, Globus, Muschel und Glas.
Solchen Botschaften fehlen in dem modernen Stillleben. Die Ausstellung hat viele Blumenarrangements, die es mir nicht so besonders angetan haben. Noch weniger die Blumenarrangements mit Keramik. Schön dagegen ein eher klassisches Stillleben mit Fuchsie, Buch und Tischtuch, alle wie zum Anfassen gemalt, das dadurch erweitert wird, das im Bild ein weiteres Bild an der Wand hängt, mit einer ländlichen Gegend mit einem Lehmweg, Bäumen entlang des Weges, einem Bauernhaus, einem Bauern mit Sense im Vordergrund und einer Kirche ganz hinten. Hier spielt der Maler mit den Gattungen, verbindet Stillleben mit Genremalerei.
Ebenfalls gut gefällt mir ein Bild ganz anderer Machart. Aus der Entfernung sieht man nur eine einzige schwarze Fläche. Aus der Nähe sieht man verschiedene Schattierungen von Schwarz und beginnt, das komplizierte Geäst eines blattlosen Baums zu erkennen. Dieses Bild wurde am Computer entwickelt und beruht auf einer Vektorgraphik.
Noch wieder ganz anders, aber auch sehr schön sind zwei Bilder, die jeweils einen Bücherstapel darstellen, breite Bände mit bunten Einbänden, mit dem Rücken mal zur einen, mal zur anderen Seite.
Nicht so toll finde ich ein Bild, das nichts anderes ist als die vergrößerte Version einer Quittung, einer modernen elektronischen Quittung, wie man sie jeden Tag sieht. Die Quittung, aus Antwerpen, bestätigt den Kauf von Blumen. Der Titel nimmt Bezug auf Breughel, aber was der mit der Quittung zu tun hat, ist nicht zu erkennen, außer dass der Name Breughel als Eigenname auf der Quittung erscheint, vielleicht als Name des Inhabers des Geschäfts.
Mich zieht in erster Linie ein Maler an, dem ein ganzer Saal gewidmet ist, Franz Radziwill. Seine Stillleben ähneln noch am meisten den alten aus den vergangenen Jahrhunderten, wie das von dem Ausstellungsplakat: eine Kanne, eine Birne, ein Buch und ein Keramiktopf auf einer Tischdecke, phantastisch gemacht in seiner Plastizität und den Einzelheiten, einem Knick in der Tischdecke, Druckflecken auf der Birne, Lichtreflexe und Schatten auf den Gefäßen, die unregelmäßigen Seiten in dem dicken Folianten.
Radziwill ist auch interessant wegen seiner Karriere. Er stammte aus ganz einfachen Verhältnissen, machte eine Maurerlehre und war als Sanitätssoldat im Einsatz, war politisch dem linken Spektrum zugehörig. Doch er wollte Karriere als Maler machen und nutzte die Situation 1933, als Professoren und Direktoren entlassen wurden, die dem Regime unliebsam waren. Er trat in die NSDAP ein und wurde Professor an der Kunstakademie in Düsseldorf. Dann kamen Bilder ans Licht, die er früher gemalt hatte, keine Stillleben, sondern wilde expressionistische Bilder, die ihm den Ruf als „Kulturbolschiwist“ eintrugen. Seine Kunst wurde als „Verfallskunst“ diffamiert. 1935 wurde eine seiner Ausstellungen geschlossen, seine Werke wurden konfisziert, und schließlich wurde er entlassen. Er hatte aber einflussreiche Freunde bei den Nazis, mit denen er seine Rehabilitierung erwirkte. Was dann folgte, zeigte die Widersprüchlichkeit der Kulturpolitik der Nazis. An einigen Orten durfte er ausstellen, an anderen Orten wurden seine Ausstellungen verboten oder geschlossen.
Zum Schluss kommt noch ein „Knaller“, im wahrsten Sinne des Wortes. Ein Stillleben auf einem Bildschirm, harmlos aussehend: auf einem steinernen Gesims, vor einem schwarzen Hintergrund, liegen ein Kürbis und eine Zucchini. Links davon hängt ein Wirsing an einer Kordel und darüber ein Granatapfel. Das Bild ist unbewegt, ein echtes Stillleben. Dann saust von links mit großer Wucht ein Pfeil oder eine Granate durchs Bild, so schnell, dass man es nicht erkennen kann, und trennt den Granatapfel auf. Der explodiert, wird in zwei Teile geteilt, und der Inhalt zerbirst und tausend kleine rote Segmente fliegen durch die Luft und breiten sich, ganz langsam, in Zeitlupe, auf die anderen Gegenstände aus. Man glaubt nur Bluttropfen zu sehen. Eine Allegorie auf die zersetzende Gewalt des Krieges.
Das Abenteuer Emsradweg neigt sich dem Ende zu. Auf dem bequemen Rückweg mit der Bahn werden schon Alternativen für die nächste Radtour angesprochen: Spreewald, Südtirol, Ruhrtal.
- 28. August (Mittwoch): Hövelhof – Harsewinkel, 00-82 (= 82 km), 7.00-15.30 (= 8,5 Std.)
- 29. August (Donnerstag): Harsewinkel – Greven, 82-166 (= 84 km), 8.45-14.45 (= 6 Std.)
- 30. August (Freitag): Greven – Lingen: 166-256 (= 90 km), 8.30-17.00 (= 8,5 Std.)
- 31. August (Samstag): Lingen – Haren: 256-320 (= 64 km) ,8.00-14.30 (= 6,5 Std.)
- 1. September (Sonntag): Haren – Papenburg: 320-383 (= 63 km), 8.30-13.00 (= 4,5 Std.)
- 2. September (Montag): Papenburg – Emden : 383-445 (= 62 km), 8.30-15.00 (= 6,5 Std.)