Paraguay (2022)

16. Dezember (Freitag)

Nach Paraguay sollte man schon deshalb reisen, weil es sonst niemand tut. Aber man muss erst mal reinkommen.

Schon der erste Bus um 6.30 ist bis auf den letzten Platz besetzt, und zwar bis auf den letzten Stehplatz. Je näher wir der Grenze kommen, umso mehr verlangsamt sich die Fahrt, und dann stehen wir im Stau. Schier endlos. Nicht für schwache Blasen. Ich bin etwas unruhig, weil man im Internet und im Reiseführer darauf hingewiesen wird, man müsse selbst dafür sorgen, an der richtigen Stelle auszusteigen. Eine Engländerin war im Bus sitzen geblieben und befand sich auf einmal illegal in Paraguay. Das kann Ärger einbringen und teuer werden. Als wir uns der Grenze nähern und ich Grenzgänger zu Fuß über die Brücke gehen sehe, werde ich nervös. Irgendwo habe ich gelesen, das müsse ich auch tun. Es ist aber alles in Ordnung. An der Grenzkontrolle lässt mich der Busfahrer raus und übergibt mir meinen Koffer. Der Bus fährt weiter, ich bin der einzige, der hier als Ausländer gilt und aussteigen muss.

Dann kommt die übliche Warterei plus Prozedur bei der Grenzkontrolle, aber dann bekomme ich meinen Stempel.

Jetzt gilt es, auf den nächsten Bus zu warten, aber der muss von derselben Gesellschaft sein. Ein Taxifahrer spricht mich an und bietet mir an, mich zum Busbahnhof zu bringen, aber ich will erst mal abwarten, ob der Bus kommt. Der Taxifahrer fragt mich, woher ich sei. Deutschland? Ist das dasselbe wie England? Nee, nicht genau.

Er begibt sich in Lauerstellung und ich sehe die paraguayische Flagge am Grenzübergang und den zweisprachigen Willkommensgruß – Spanisch und Guaraní.

Dann kommt der Bus, schneller als geglaubt. Und er ist – fast leer. Die anderen Passagiere haben ihre Freude daran, wie ich von dem vollen Bus erzähle und von meinen Sorgen, nicht rechtzeitig wegzukommen.

Wir sind in Ciudad del Este, eine Stadt mit schlechtem Ruf. Die Stadt sei einseitig auf Kommerz ausgerichtet, gefährlich und völlig überlaufen. Halb Brasilien kommt hierher zum Einkaufen. Alles ist billiger, vor allem elektronische Geräte.

Tatsächlich reiht sich in der ersten, langgestreckten Straße ein Geschäft an das andere, und vor den Geschäften in mehreren Reihen Verkaufsstände. Es ist voll, aber es herrscht kein Gedränge, die Leute gehen in aller Ruhe die Straße entlang, sogar mit dem Handy in der Hand. Das soll einem angeblich auf der Stelle entrissen werden, hat man mir gesagt. Bald nach der Geschäftsstraße kommt sogar ein ganz schöner Park, es ist ganz ruhig hier, und ich frage mich, warum ich mich so habe ins Bockshorn jagen lassen. Ciudad del Este hat ein Museo Guaraní und den Itaipu-Staudamm, einen der größten der Welt. Das hääte ich mir gerne angehen. Wird unter „verpasste Chancen“ verbucht.

Am Busbahnhof herrscht eifriges Treiben, aber ohne jede Hektik. Und ich habe überhaupt kein Gefühl, irgendwie gefährdet zu sein.

Die Frau am Schalter gibt mir eine ungefähre Ahnung, wie das Verhältnis von Euro und Guaraní ist: 1:7500. Darauf muss man sich erst einmal einstellen. Am Geldautomaten klappt alles perfekt, aber ich stutze, als ich das Geld heraushole. Ich müsste 700.000 Guaraní bekommen habe, habe aber nur 700. Kein gutes Gefühl. Dann sehe ich, dass neben der 100, schräg gesetzt, auch noch das Wort mil steht, also hat der einzelne Schein einen Wert von 100.000, nicht 100.

Bei den Toiletten wird hier kassiert. Da ich nur große Scheine habe, frage ich die Toilettenfrau, ob ich auch mit argentinischen Pesos bezahlen könne. „Sí, señor.“

In der kleinen Cafeteria bekomme ich mein Geld gewechselt, aber bei der Nennung des Preises und beim Wechselgeld habe ich so meine Schwierigkeiten.

Draußen ist viel los. Auf Handkarren werden Säcke in die Busse verladen, Männer laufen umher, die einem das Geld umtauschen wollen, ein Mann bietet an, für den anderen zu beten – gegen Bezahlung, versteht sich – und Frauen laufen herum und bieten Selbstgebackenes an: „Chiiipa, chipa, chiipa“. An den Reifen eines Busses macht sich ein junger Mann zu Schaffen. Er pinselt die Reifen mit einer Flüssigkeit ein. Seine Antwort auf meine Frage, was er da mache, verstehe ich nicht, und er versteht wahrscheinlich auch meine Frage nicht. Ist doch klar, was er da macht. Eins ist auf jeden Fall unbestritten: Die Flüssigkeit, die er da aufträgt, ist genau das, wonach es aussieht: Saft.

Der Bus, mit dem er beschäftigt ist, ist ein Fabrikat von Marco Polo, aber vorne an der Kühlerhaube hat er sich drei Mercedes-Sterne anbringen lassen.

Dann geht die Fahrt los. Unser Bus ist moderner als alle die anderen, die hier angekommen sind, aber nicht gerade ein Luxusbus. Die Sitze sind nicht sonderlich bequem und etwas zerschlissen, und auf vielen liegen noch Krümel von den anderen Passagieren.

Es geht durch eine flache Gegend, mit auffällig rotem Boden. Weite Felder mit jungen grünen Pflanzen. Ob das Getreide ist? Dann kommen Felder mit Mais und Kuhwiesen und Weinfelder. In beide Richtungen kann man unendlich weit sehen. Auf den Feldern stehen Mähdrescher von Claas, und an Betrieben wird Werbung für Stihl gemacht. Auf einem Wahlplakat sieht man das Gesicht des Kandidaten German Solinger.

Die Leute im Bus sehen irgendwie paraguayisch aus, vor allem die Männer. Sie erinnern mich an einen ehemaligen Bundesligaspieler, aber ich weiß nicht mehr, wie er hieß.

An den Haltestellen steigen Leute ein und bieten Wasser, Limonade und Selbstgemachtes an. Und natürlich „Chiiipa, chipa, chiipa.“

Dann kommt das Ziel in Sicht, Encarnación. Über eine große Brücke geht es über den Paraná in die Stadt hinein.

Am Busbahnhof erweist es sich, dass meine Straße, Eduardo Chamorro, die unbekannteste Straße der Stadt ist. Selbst die Taxifahrer kennen sie nicht und geben sich auch keine größere Mühe. Selbst als ich kurz davor bin, weiß keiner Bescheid. Es ist aber noch ein weiter Weg dorthin. Statt der zehn Minuten, von denen der Routenplaner gesprochen hat, dauert es eine geschlagene Stunde. Die Bürgersteige haben richtige Löcher, und ich kann den Koffer häufig gar nicht ziehen oder er bleibt hängen.

Als ich fast da bin, weiß ich das immer noch nicht, denn die Straße hat kein Straßenschild. Eine junge Frau, die ich frage, zeigt nach links, als ich Eduardo Chamorro sage und nach rechts, als ich Edificio MaCar sage. Das nehme ich. Aber die Klingeln, die hier angebracht sind, stimmen nicht mit den Angaben überein, die ich bekommen habe. Ich stehe hilflos vor einem großen Eisentor. Auf gut Glück probiere ich es bei 5, denn die Zahl taucht auch in meinen Angaben auf, aber da meldet sich keiner. Ich bitte in dem benachbarten Geschäft um Hilfe. Eine Frau reagiert ziemlich lustlos, ein Mann bemüht sich sehr, kann aber mit den Angaben auch nichts anfangen. Den Namen der Vermieterin kennt auch niemand. Dann versuche ich es auf gut Glück an einer anderen Klingel, und jetzt kommt die Antwort: Karina? Ja. Sie brauche aber noch fünf Minuten. Das finde ich doch ziemlich komisch. Ich habe Durst und brauche dringend eine Toilette.

Dann erscheint sie, und ich schleppe meinen Koffer in den dritten Stock rauf. Es scheint sich um ihr eigenes Apartment zu handeln. Sie ist noch damit beschäftigt, Teller abzuwaschen und den Tisch zu säubern, für die Bedürfnisse des Angekommenen scheint sie nicht viel Verständnis zu haben. Sie erklärt mir zwar ein paar Dinge, aber nicht genau genug. Wie geht das mit dem Schlüssel, wie funktioniert die Waschmaschine? Auch auf meine Frage nach einem Markt und einem Lokal gibt sie viel zu vage Antworten: Da müssen Sie die Costanera entlanggehen. Ja, und wo ist die Costanera? Wie komme ich da hin? In welche Richtung muss ich gehen?

Am Ende packt sie ihre Siebensachen und verschwindet. Ich richte mich ein bisschen ein und merke dabei, dass der Schrank voll ist. Ich muss aus dem Koffer leben.

Nach einer kleinen Pause gehe ich raus und suche nach der Costanera. Das ist die lange Straße, die kilometerweit am Paraná entlang läuft, ganz nahe an der Unterkunft. Ich habe einen schönen Blick auf den abendlichen Himmel mit dem Fluss und der Brücke.

Die Straße ist breit, aber um diese Zeit kaum befahren. Dafür sitzen auf einzelnen Flecken immer noch, obwohl es schon dunkel ist, Leute auf Klappstühlen und klönen. An einer Stelle ist sogar noch ein Eisverkäufer tätig.

Auf der Suche nach einem Lokal stehe plötzlich vor der modern aussehenden Touristeninformation, gar nicht weit von der Unterkunft. Ein Wachmann steht davor und sagt mir, dass morgen schon ab 7 Uhr geöffnet sei. Was ich denn wissen wolle? „Las ruinas jesuitas“. Er lässt es sich nicht nehmen und schließt auf und gibt mir mehrere Prospekte zu den Ruinen. Wir kommen ins Gespräch, er ist wirklich sehr freundlich und will am Ende wissen, ob ich am Sonntag zu Argentinien oder Frankreich halten werde. Hier seien die meisten für Frankreich.

Bei der weiteren Suche nach einem Lokal komme ich in ein Wohnviertel. Auch hier sitzen Leute auf Klappstühlen draußen vor dem Haus. Die Paraguayos verbringen einen guten Teil ihres Lebens sitzend. Hat vielleicht was mit der Hitze zu tun. Ich frage an einem Haus nach Lokalen, und nach einer kurzen Diskussion, wohin sie mich schicken sollen, steht einer eigens auf und zeigt mir den Weg. Das passiert in den nächsten Tagen mehrmals.

Ich lande in der „gastronomischen Zone“, aber hier sind alle Lokale bis auf einen Hamburger-Laden geschlossen.

Dafür  komme ich an einem Laden vorbei, der auch um diese Zeit noch geöffnet hat. Rappelvoll mit Waren, auf Regalen, an der Wand bis oben hin, auf Ständern. Da hängen ganze Reihen von Rucksäcken und Schulranzen, teure Geschenkkörbe stehen neben Putzmittel und die Nivea steht neben dem Smirnoff. Ich bekomme eine Flasche Wasser.

Auf dem Rückweg komme ich an einer ganz einfachen, etwas schmuddeligen Imbissbude vorbei. Drinnen ein paar Jugendliche aus dem Ort. Draußen, an der Straße, stehen zwei kleine Tische. Ich setze mich erschöpft hin und bestelle eine Art Schnitzelbrötchen, das schrecklich schmeckt, aber den Hunger stillt und ein Bier, das den Durst löscht. Beim Wechselgeld taucht dann zum ersten Mal eine Münze auf: 1.000 Guaraníes.

17. Dezember (Samstag)

Diesmal gehe ich in die andere Richtung. Hier im Viertel gibt es wirklich gar nichts. Ich muss steil rauf über die brüchigen Bürgersteige bis zur Avenida. Die erwähnen hier alle, scheint ein wichtige Durchgangsstraße zu sein. Auffällig hier die vielen Betriebe, die mit Autos zu tun haben, Autohändler, Ersatzteillager, Reparaturwerkstätten. Fällt mir in den nächsten Tagen in Paraguay immer wieder auf. Irgendwo habe ich gelesen von einer Rallye, der gefürchteten Trans-Chaco-Ralley gelesen die hier jedes Jahr stattfindet, im Chaco, dem dünn besiedelten Teil des Landes westlich des Paraguays. Ob die Präsenz von so viel Autounternehmen etwas damit zu tun hat?

Da komme ich aber zu einem schönen, modernen Café, dessen geschmackvolle Einrichtung mit der kitschigen Weihnachtsdekoration kontrastiert.

Auf dem Weg zur Touristeninformation komme ich an einem Stadion vorbei, in Flussnähe, eine gerade, breite Asphaltbahn mit Tribünen zu beiden Seiten. Was mag das nur sein?

Der junge Mann bei der Touristeninformation ist bemüht, aber die Auskunft ist eher mager. Organisierte Ausflüge zu den Ruinas Jesuitas gibt es nicht, man muss selbst sehen, wie man dorthin kommt. Am besten mit dem Bus.

Also mache ich mich auf den Weg zum Busbahnhof. Dabei komme ich durch ein Wohnviertel und sehe vor einem Haus ein Tischchen mit allerlei säuberlich angeordneten Kräutern darauf. Davor ein großes Schild mit der Aufschrift tereré. Eine junge Frau kommt die Treppe hinunter und erklärt mir bereitwillig, was es damit auf sich hat und lässt mich ein Photo machen. Das sind die Kräuter, die die Leute zusätzlich in ihren tereré, das Nationalgetränk, mischen, aus Gründen des Geschmacks und aus gesundheitlichen Gründen oder Gründen des Wohlbefindens. Sie selbst kauft die Kräuter auch. Und zerkleinert sie für die Kunden mit einem Stößel. Was das denn alles sei, will ich wissen. Das weiß sie auch nicht. Die Kunden wüssten das und suchten selbst aus, was sie brauchen. Interessantes Geschäftsgebaren und schöne Begegnung.

Am Straßenrand einer der auffällig orangefarben blühenden Bäume, die man hier immer wieder sieht. Irgendwann bekomme ich das mit den Bäumen auseinandergedröselt: Die orangefarbenen, die heißen chivato, die violetten heißen jacaranda, die gelben lapacho. Sie sind alle auffällig und beleben das sonst etwas triste Stadtbild.

Dann taucht auf einmal eine orthodoxe Kirche auf, mit der typischen Kuppel und dem typischen Kreuz, in hellen, etwas kitschigen Farben gehalten. Die Inschriften über dem Eingang sind in kyrillischer Schrift. Die orthodoxen Kirchen hier zeugen von der starken Einwanderung aus der Ukraine.

Am Busbahnhof die bekannte Betriebsamkeit. Kleine Läden, davor Verkaufstische mit Billigkleidung, Männer, die laut rufend Fahrkarten anbieten oder Devisen und natürlich „Chiiipa, chipa, chiipa“.

Mein Bus steht abfahrbereit, im letzten Moment erwische ich noch eine Flasche Wasser, aber als ich im Bus sitze, bekomme ich den Verschluss nicht auf. Das nennt man Pech. Dann kommt eine Frau hinein und verkauft Wasser. Das nennt man Glück.

Es kann losgehen. Der Bus füllt sich immer mehr. Am Ende muss eine Frau stehen, nicht jung, aber jünger als ich. Ich biete ihr meinen Platz an, und sie nimmt ohne die üblichen Abwehrbewegungen an. Jetzt sitzen in dem Bus lauter Paraguayos, und ich als einziger Ausländer stehe. Dann steht aber ein Mann für eine deutlich ältere Frau auf.

Hinter mir sprechen zwei Männer Guaraní. Ich versuche, irgendwelche Charakteristika herauszuhören, kann das aber nicht. Ich könnte nicht einmal sagen, wie die Sprache klingt.

Vorne an der Fahrertüre stehen die zehn Gebote. Das dritte Gebot lautet hier: Santificar las fiestas – Du sollst die Festtage heiligen!

Dann kommt Trinidad, ich steige aus, alle anderen fahren weiter.

Ich bin noch nicht da. Es geht durch ein Tor und dann einen langen, schattenlosen Weg entlang bis zum Eingang. Dort ist das Empfangsschild auch zweisprachig, genauso wie später alle Schilder auf dem Gelände. Die Aufpasser sprechen alle Guaraní untereinander.

Es gibt zuerst einen Einführungsfilm. Ich bekomme ihn auf Deutsch. Auffällig der Gebrauch von urtümlich statt ursprünglich und die Übersetzung des Leitspruchs der paraguayischen Touristenbehörde: Paraguay – hay que sentirlo. Paraguay – man muss es hören. Gemeint ist wohl eher Paraguay – man  muss es fühlen.  

Draußen ein Modell der ehemaligen Anlage. Man sieht sofort, wie groß sie war. Zur Hochzeit lebten 608 Familien hier. Insgesamt gab es 60 solche Dörfer, das erste wurde 1609 gegründet, dieses hier, Trinidad, 1706. Mit der Ausweisung der Jesuiten hatte die Sache ein Ende. Die Führerin erzählt später, die Dominikaner hätten versucht, von den Jesuiten zu übernehmen, aber die Indios hätten ihnen nicht vertraut. Sie waren emotional an die Jesuiten gebunden. Das Gelände lag dann 150 Jahre lang brach.

Die Haupterwerbsquellen des Dorfes waren Viehzucht und Keramik. Es wurden aber auch für die Selbstversorgung Felder bestellt, Gemüse und Getreide.

Der Tag begann um 4 Uhr und hatte einen festen Rhythmus.

Die Kinder lernten lesen und schreiben und sangen und beteten auf Spanisch, Guaraní und Latein.

Was mich am meisten überrascht: Auf die 3.000 Indios kamen nur 2 Jesuiten. Das heißt, die Jesuiten hatten zwar das Heft in der Hand, die Mission war die Antriebsfeder, aber das Dorf war ein Dorf für die Indios. Das bedeutet auch, dass Führungsaufgaben auch von den Indios übernommen wurden. Auch die Lehrkräfte kamen aus den Reihen der Indios. Die Indios wurden hier im Dorf, in einer entfernten Ecke des spanischen Imperiums, auch der spanischen Staatsmacht entzogen und vor Versklavung  und Krankheiten geschützt. Diese Dörfer kamen dem jesuitischen Ideal der Civitatis Dei nahe. Die Bewohner sollten Autonomie, Wohlstand, Gleichheit genießen.

Das größte Vermächtnis der Jesuiten ist aber die Sprache. Sie haben das Guaraní studiert und aufgezeichnet und ihm (vermutlich) auch erst eine Schriftform gegeben. Damit haben sie genauso wie durch die Dörfer zum Erhalt der Sprache beigetragen.

Dann werde ich zusammen mit einem argentinischen Ehepaar über das Gelände geführt. Wir kommen zuerst zur Kirche, bis auf das Dach, das aus Holz war, relativ gut erhalten. Die Kirche ist dreischiffig und groß. Schön sind der aus einem Stein gehauene, verzierte Taufstein, ebenso die Kanzel. Im Chor hoch oben ein schöner Fries mit musizierenden Engeln.

Hinten im Langhaus gibt es im Seitenschiff ein Fenster zu einem anderen Gebäude. Das war das Gefängnis. Durch das Fenster verfolgten die Indios die Messe.

Besonders schön, wie immer bei solchen Ruinen, der Blick durch die Fenster auf den blauen Himmel dahinter.

Wir sehen ein cleveres Bodenheizungssystem mit Steinen, die mit Dampf erwärmt werden, und ein cleveres Bewässerungssystem, bei dem das Wasser aus dem Brunnen – Regenwasser und Grundwasser – mittels dünnen Röhren auf die Felder geleitet wird.

Dann kommen wir zu der alten Kirche, der Vorgängerkirche. Sie ist einschiffig und kleiner, und hier stehen nur noch die Außenmauern.

Die Bewohnungen der Caciques, der Häuptlinge der Indios, sind in Grundmauern erhalten, die anderen Bewohnungen nicht, weil sie nicht aus Stein waren, sondern aus Lehmziegeln.

Auch vom Kreuzgang ist nichts erhalten. In dessen Mitte steht ein prächtiger Baum. Was für ein Baum das ist, verstehe ich nicht, aber er gilt wohl als Nationalbaum Paraguays und tritt auch oft symbolisch auf, auch im Bauschmuck der Kirche. Was ich nicht verstehe, auch als ich mich später noch im Museum umsehe, ist der Einfluss der Indios auf den Bauschmuck. Ich kann da keine Züge erkennen, die von dem abweichen, was wir kennen.

Die Führerin erzählt, in viele Paraguayos lebten in Argentinien. Sie fänden hier einfach keine Arbeit. Hier in Paraguay gebe es eine neue Welle von Einwanderern aus Deutschland. Die kauften Grundstücke und errichteten Häuser. Das sei alles sehr günstig zu haben, und auf diese Weise würden Arbeitsplätze geschaffen. Die Argentinier erwähnen einen Ort hier in der Nähe, wo mehr als die Hälfte der Bewohner Deutsch spricht. Sie wollen später noch dahinfahren. Zum Abschied drücke ich ihnen noch die Daumen für morgen.

Zurück geht es durch die Hitze zur Bushaltestelle. Obwohl es eine Haltestelle im eigentlichen Sinne nicht gibt. Einen Fahrplan schon gar nicht. Aber ein Dach, unter dem man Schutz vor der Sonne suchen kann.

Die Autos, vor allem Lastwagen, rauschen vorbei, und immer wenn einer oben an der Kuppe erscheint, glaube ich, dass es der Bus ist. Ist es aber nicht.

In der Zwischenzeit sehe ich mir die Dorfjugend an, wie sie auf ihren Mopeds krachend losfahren und eine Runde drehen. Einen Helm trägt fast niemand.

Ich weiß nicht so recht, wo ich fragen soll und gehe am Ende wieder zurück zu den Jesuiten. Die Führerin ist inzwischen nach Hause gegangen. Die junge Frau an der Rezeption sagt, einen Busfahrplan gebe es nicht. Aber des komme schon. Allerdings verkehre der am Wochenende seltener. Na ja, Hauptsache es kommt noch einer. Doch, das kann sie mir versichern.

Als ich zurückkomme, sitzt an der Haltestelle auf einem Stein eine junge Frau. Hoffnungsfroh spreche ich sie an, aber sie versteht kein Spanisch. Wenig später kommt ihr Sohn, noch ein Kind, mit einer Einkaufstüte heran und dann erscheint ihr Mann auf einem Moped. Zu dritt rauschen sie ab.

Dann sehe ich, wie ein Taxi einen Fahrgast absetzt, etwas weiter, an einem Hotel. Ich versuche, den Taxifahrer zu mir heranzuwinken. Der kommt tatsächlich, ist aber nicht frei.

Das Warten in der Sonne am Rand der Straße geht weiter. Immerhin gibt es einen Stein, auf den man sich setzen kann. Ich komme mir vor wie mitten in einem Film.

Dann kommt der Bus! Große Erleichterung. Der Schaffner ist derselbe wie heute Morgen. Es kommt zu mir und will kassieren: 20.000. Was, frage ich, 20.000? Heute Morgen habe ich 15.000 bezahlt. Ja, die Preise seien gestiegen, meint er. Wie, seit heute Morgen?

Ich nutze die Gelegenheit, mir die Geldscheine anzusehen und die Zahlwörter. Auf Guaraní ist sa su 10.000, popa su ist 50.000.

Am Abend geht die obligatorische Suche nach einem Lokal wieder los. Nachdem ich schon mehrmals in die Leere geschickt worden bin und ein halbes Dutzend geschlossener Lokale gesehen habe, darunter eins mit dem Werbespruch Nosotros sabemos cocinar, treffe ich auf eine junge Frau, die sich auskennt: Entweder ein russisches Lokal auf der 14  de Mayo oder das Vicio’s, hier weiter runter. Sie weiß aber nicht, ob das jetzt geöffnet ist. Ich probiere es und habe Glück.

An der Tür zum Restaurant fällt mir auf, dass hier Estire gebraucht wird. Ist in Spanien Tire und in Kuba Hale.

Das Lokal ist riesig, mit einer hallenartig hohen Wand und Uhren, die die Zeit in den Metropolen der Welt angeben. Die Kellner sind uniformiert, und alle Tische sind eingedeckt. Aber das Lokal ist leer. Und bleibt es auch, bis ich gehe. Ich muss mich der etwas aufdringlichen Freundlichkeit der beiden Kellner erwehren, bekomme aber ein passables Essen zu einem passablen Preis.

Auf dem Stadtplan sehe ich mir an, wo die 15 de Mayo mit dem russischen Lokal ist, stoße dabei aber auf die 14 de Mayo. Hab ich vielleicht falsch in Erinnerung. Oder doch nicht? Es gibt beide Straßen! Das hat was mit der paraguayischen Geschichte zu tun. Als 1911 die Unabhängigkeitsbewegung ihren Höhepunkt erreichte und man in den Palast des spanischen Gouverneurs eindrang, da war es noch Abend, 14. Mai. Der Gouverneur erbat sich Bedenkzeit und unterschrieb seinen Rücktritt dann im Morgengrauen. Am 15. Mai. Also feiert Paraguay den Jahrestag seiner Unabhängigkeit im Doppelpack.

Auf der Straße höre ich unter den Bäumen wieder die Vögel, die sich lautstark bemerkbar machen. Klingt auf jeden Fall anders als bei uns. Was ist das? Gezeter? Geschrei? Gekreische? Nicht unangenehm, aber kein Gesang und auf jeden Fall laut. Verzweifelt versuche ich unter dem Baum auch nur einen einzigen Vogel zu entdecken. Keine Chance. Dabei scheinen sie gleich über meinem Kopf zu sein. Ich versuche es auch noch in einem kleinen Park, vielleicht sind die Chancen bei mehr Bäumen besser. Auch hier: Fehlanzeige.

18. Dezember (Sonntag)

Am Morgen komme ich zur Plaza de Armas, dem Stadtzentrum, einem palmenbestandenen Platz mit einem Sammelsurium von kleineren Denkmalen über den Platz verstreut. In der Mitte steht eine Art Obelisk, an einer Seite befindet sich ein japanischer Garten mit rotem, geschwungenem Eingangstor, in einer Vitrine eine aufgeschlagene Bibel, an einer Seite eine schöne, weiße Statue einer Mutter mit Kind, dem Monumento a la Madre, und einem Baum, einem Curupay, dem man hier auch die Funktion des Monumento al Arbol zugeschrieben hat. Der Baum, ein Curupay, war einer der Ausgangspunkte des Marsches für die Unabhängigkeit. Hier wird ihm auf einer Tafel von 1980 gedankt für 195 Jahre Schatten spenden, in Paraguay ein wichtiges Gut.

Der Platz ist nicht sonderlich schön, hat aber eine angenehme Atmosphäre. Familien wandern umher, ein paar Touristen sogar, ein wandelnder Eisverkäufer und unter einem Sonnenschirm ein Verkäufer von Panchos. Ich bin neugierig, was das wohl sein kann und frage den Mann. Eine Wurst in einem Brot – ein schlichter Hot Dog. Ich lehne erst ab, aber dann tut mir das leid und ich kaufe doch einen. Schmeckt scheußlich.

An einem Colegio, an dem ich gestern schon vorbeigekommen bin, ist das Tor geöffnet, und im Innenhof stehen Leute an verschiedenen Türchen Schlange. Was die da wohl machen? Ich frage eine Frau am Ende einer Schlange. Es ist ein Wahllokal. Heute sind die internen Wahlen für die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr. Intern bedeutet, alle Parteien stellen verschieden Kandidaten auf, die dann den Präsidentschaftswahlkampf bestreiten werden. Die internen Wahlen sind eine Art Vorentscheidung, denn normalerweise stellen die Colorados den Präsidenten. Sie sind schon einmal 70 Jahre ohne Unterbrechung an der Macht gewesen. Der Ehemann der Frau kommt auch dazu und befragt mich nach meiner Reise. Zeigt sich erstaunt, fast beeindruckt. Ich bedanke mich und gehe wieder zu dem Tor, da kommt er noch mal hinterher und erklärt mir, dies sei eine öffentliche Schule, eine Schule für 5.000 Schüler. Von dieser Schule gebe es in allen größeren Städten Paraguays eine, sie gehörten zu den besten des Landes. Sie gehen noch auf die Ära Stroessner zurück. Am Ende will er auch noch wissen, ob ich heute zu Frankreich halte.

Ich komme a Centro Municipal de Arte vorbei, laut Schild heute geschlossen, aber die Tür steht offen. Ganz am Ende des Gangs ein Aufpasser. Auch er sehr gesprächig, fragt auch nach der Reise. Ja, das Zentrum sei heute geschlossen, es beherbergt auch eine Musikschule und ein Lernzentrum, aber die Ausstellung könne ich mir gerne ansehen. Es ist eine Ausstellung von Bildern, die von Schülern gemalt worden sind. Gar nicht schlecht, eine Flusslandschaft mit Bäumen, eine nächtliche Waldszene mit einem Hirsch und leuchtenden Sternen, zwei flirtende Vögel auf einer Wäscheleine. Am besten gefällt mir ein Stillleben mit Birnen und Trauben. Wunderbar, wie hier Licht und Schatten wiedergegeben sind, wie die Früchte perspektivisch angeordnet sind und wie man die Qualität der Schalen geradezu erfühlen kann.

Es wird Zeit für das Endspiel. Ich komme zum Busbahnhof und erkunde mich nach den Fahrtzeiten für morgen, nach Asunción. Bei der Gelegenheit frage ich, wo man wohl das Spiel sehen könne. Die junge Frau weist auf das andere Ende des Platzes und sagt: Da drüben läuft es schon.

Es ist ein überdachter Verkaufsstand in einer ganzen Reihe von Verkaufsständen. Im Halbkreis sitzen Männer auf Plastikstühlen vor dem erhöht stehenden Bildschirm. Die Verkäuferin sieht mich und rückt mir wortlos einen Stuhl zurecht. Ich habe nicht nur irgendeinen Platz, sondern einen privilegierten Platz. Ich frage, ob sie Tereré habe. Sie nickt, serviert ihm mir wortlos und rückt ebenso wortlos ein Höckerchen zurecht auf das die Gerätschaft gestellt werden kann. Dann zeigt sie mir noch, immer noch schweigend, wie es geht. Aus dem großen Krug gießt man ganz vorsichtig, vorsichtiger als ich das mache, das eiskalte Wasser in den mit der Mate gefüllten Becher, und zwar ganz am Rand. Man trinkt, ebenso vorsichtig, mithilfe des stählernen Strohhalms, der dazu serviert wird. Von Zeit zu Zeit gießt man Wasser nach. Die meisten Männer um mich herum trinken auch Tereré. Er schmeckt erfrischend, aber bitter. Oder bitter, aber erfrischend. Ich bitte die Frau noch, ein Photo von mir zu machen. Auch das tut sie ohne Worte.

Einige der Männer um mich herum – es sind nur Männer da, und alle trinken Tereré – lassen dicke Bündel von Geldscheinen durch die Hand gleiten. Sie haben eine kleine Tragetasche um den Hals. Später erfahre ich, dass sie Geldwechsler sind, mit offizieller Lizenz.

Das Spiel läuft, Argentinien spielt Frankreich an die Wand, führt zur Halbzeit schon 2:0, mit einem wunderbar herausgespielten zweiten Tor. Frankreich hat in der ganzen Zeit keinen einzigen Torschuss.

In der Pause bestellen einige der Männer ein Bier. Der Mann der Verkäuferin serviert es. Immer wieder holt er in Plastik verpackte Eisblocks aus der Kühltruhe und zerschlägt die auf dem Tisch. Mit den Eisstückchen werden der Tereré und das Bier gekühlt. Ich bestelle auch ein Bier und frage nach Essen. Die Frau führt mich schweigend zu einem Grill vor dem Nachbarstand. Ich bestelle einen Fleischspieß.

Die zweite Hälfte geht weiter wie die erste aufgehört hat. Argentinien dominiert nach Belieben. Frankreich kommt kaum einmal dem Tor nahe. Man wartet auf das 3:0. Dann bekommt Frankreich einen Elfmeter und gleicht eine Minute später aus. Das Spiel ist auf den Kopf gestellt.

Verlängerung. Ich nutze die Pause, um weiterzuziehen. Als ich die Frau nach der Rechnung frage, gibt sie zum ersten Mal einen Laut von sich.

Auf dem Rückweg komme ich an einem modernen Feinkostgeschäft vorbei. Drinnen läuft der Fernseher. Lauter junge Leute, Männer wie Frauen. Ob ich gucken könne, frage ich. Ja, selbstverständlich, sehr freundlich wird mir ein Platz offeriert. Hier stehen überall auf den Regalen erlesene Getränke und Konserven herum. An der Seite hängen Trinksprüche auf Portugiesisch.

Das Spiel geht weiter, Chancen auf beiden Seiten. Die Leute hier teilen sich auf in frenetische Anhänger von Argentinien und frenetische Anhänger von Frankreich. Sind das vielleicht Brasilianer, die Argentinien nichts Gutes gönnen?

Messi erzielt per Abstauber das 3:2, aber Frankreich bekommt noch einen Elfmeter und gleicht zwei Minuten vor dem Ende aus.

Elfmeterschießen. Bei jedem erfolgreichen oder verschossenen Elfmeter rennen die jungen Leute wie von der Tarantel gestochen durch den Raum oder auf die Straße.  Argentinien schießt nicht sonderlich platziert, aber alle vier Elfmeter gehen rein. Frankreich verschießt zwei Elfmeter, und Argentinien ist Weltmeister. Hochverdient. Nach einem 1:2 im Auftaktspiel gegen Saudi-Arabien.

Am Abend komme ich zufällig an einem Lokal vorbei, das wohl typisch paraguayisch ist, außer dass es geöffnet ist. Draußen vor dem Eingang liegt Fleisch auf dem Grill. Man kann dort schon wählen. Ich nehme das Hähnchen. Das Lokal ist etwas schmuddelig, mit etwas klebrigen Plastiksets, aber das Essen ist wirklich gut, Maniok und Salat und vor allem das Fleisch. Als kleine Beigabe landet noch ein Stück Rippchen auf dem Tisch. Ein Gedicht!

Im Fernseher läuft etwas ohne Bilder, nur mit wechselnden Zahlen. Erst glaube ich, es wäre irgendein Tippspiel, aber es ist die Berichterstattung über den Ausgang der Wahlen. Wahlkreis für Wahlkreis wird durchgegangen mit dem Ergebnis und einem kurzen Kommentar.

Auf dem Rückweg komme ich an einem Haus vorbei, vor dem auf der Terrasse unter einem Schutzdach eine Gruppe von Menschen sitzt. Erst glaube ich, es wäre ein Lokal, aber es ist ein Consultorio Psicológico. Die Psychologin hält eine flammende Rede und bekommt lauten Beifall.

Dann komme ich an einer Autowerkstatt vorbei. Hier steht jetzt noch ein Mechaniker in Schutzkleidung und lackiert ein Auto!

19. Dezember (Montag)

Am Morgen schleppe ich meinen Koffer zum Busbahnhof. Ich hoffe, vor der langen Fahrt noch einen Kaffee zu erwischen, aber das schöne Café von vorgestern hat geschlossen.

Dafür sehe ich auf der gegenüberliegenden Seite improvisierte Verkaufsstände: Honigmelonen, Mais, Apfelsinen, Zitronen, Tomaten, Mandioka. Ein schönes buntes Bild. Aus einem Topf staken Hühnerbeine heraus, und aus einem Sack grüne Strunks, die ich nicht identifizieren kann. Das sei choclo, wird mir gesagt. Eine Maissorte.

Als ich kurz vor dem Bahnhof, um auf Nummer Sicher zu gehen, eine Frau noch mal nach dem Weg frage, strahlt sie mich an. Wir kennen uns doch. Was? Ja, Sie haben mich gestern schon mal nach dem Weg gefragt.

Am Bahnhof gibt es schnell eine Fahrkarte. Nach Asunción fahren alle Busunternehmen.

Am Ausgang fällt mir dieses Schild auf: Taxis – Colectivos. Hier das gängige Wort für die örtlichen Busse, in Spanien nie gehört.

Mit dem Bus geht es jetzt sogar über die dritte Brücke. Nach der Brücke kommt Land und dann wieder Wasser zu beiden Seiten. Der Paraná breitet sich hier so aus, dass die Stadtteile lauter Halbinseln oder sogar Inseln sind.

Es geht durch weite Ebenen mit einzelnen Palmen, dann Kuhweiden und schlanke, in Reihen angebaute Bäume, wie die Pappeln bei uns.

Dicke weiße Wolken hängen bewegungslos am Himmel, so als wären sie nicht echt.

„Chiiipa, chipa, chiipa“. Diesmal kommt ein Mann in den Bus, mit der chipa in einem Korb unter Tüchern versteckt, damit sie warm bleibt. Diesmal nehme ich eine. Schmeckt hervorragend, besser als alle anderen, die ich in den nächsten Tagen probiere. Die chipa ist eine Kugel (oder auch ein Ring) aus Mandioka-Mehl, mit geschmolzenem Käse gefüllt. Später frage ich eine Passagierin, was der Verkäufer da gefragt hat, als er die chipa anbot. Die Frage lautet tradicional oder so’o. Die Variante tradicional ist die mit Käse, die andere ist die mit Fleisch. Jedenfalls bleibt „Chiiipa, chipa, chiiipa“ die Erkennungsmelodie von Paraguay.

Die Fahrt zieht sich hin, auch wegen der vielen Haltestellen. Glücklicherweise können wir Lastwagen und Viehtransporter überholen, weil die Straße schnurgerade verläuft und auf viele hundert Meter einsehbar ist.

Am Ende sind es sieben statt sechs Stunden, und ich bin froh, am Ziel zu sein. Mit dem Taxi geht es zu der Unterkunft. Der Taxifahrer spricht auch Guaraní. Er nennt als Beispielsatz Woher kommen Sie? Das sagt er auf Spanisch und auf Guaraní. Und erwartet wohl, dass ich auf Guaraní antworte.

Die Unterkunft ist ein ganzes Haus, in dem auch der Vermieter wohnt. Den bekomme ich aber die ganze Zeit nur einmal zu sehen. Man lässt sich selbst mit einem Code ins Haus ein.

Hier stehen auch Küche und Waschmaschine zur Verfügung, das Zimmer ist klein, hat aber einen Schreibtisch und eine hervorragende Klimaanlage. Es stehen heiße Tage bevor.

Trotz der langen Fahrt mache ich mich noch auf den Weg in die Innenstadt. Es ist alles andere als schön hier. Aber das Panorama ändert sich fast schlagartig, als ich zur Plaza Uruguaya komme. Die wird in den nächsten Tagen zu einem Orientierungspunkt. Sie ist grün, und auch hier wieder sind die Vögel zu hören, aber nicht zu sehen.

Dann kommt die Kathedrale, weiß, Neoklassik. Am Rande an einer Mauer eine Inschrift, die ich nicht verstehe, irgendwas von einem Fluss, der hier vorher verlief. Daneben ein Wahlplakat, auf dem eine Partei für ihre Kandidatin Rosa Bella wirbt.

Dann kommt das Regierungsviertel mit einem schweinchenrosa Gebäude und einem weiteren Gebäude, in etwas milderem Rosa gehalten.

Den Paraguay sehe ich in der Ferne, weiß aber nicht, wie ich hinkommen kann. Und es wird auch schon dunkel.

Den Rückweg schaffe ich bis zur Plaza Uruguaya, dann bin ich verloren. Nach einigem Suchen komme ich zu einer breiten Freitreppe zwischen Bäumen. Oben leuchtet der Himmel rötlich. Ich gehe einfach rauf. Dahinter kommt ein Gebäude in Sicht, vor dem die Leute Schlange stehen. Es ist ein Theater. Die Frau am Ende der Schlange gibt mir Bescheid. Ich bin ganz falsch und muss wieder zurück. Zu Fuß sei das etwas weit. Ich solle lieber einen Bus nehmen.

An der Bushaltestellt steht ein Mann, zahnlos, wie sich herausstellt. Den frage ich,  wie das alles geht und welche Busse in Frage kommen. Ich kann nicht beim Fahrer bezahlen, man muss eine Karte haben, die man aufladen kann. Er bietet mir sogar an, mich mitzunehmen auf seiner Karte, das ist hier, wie sich in den nächsten Tagen herausstellt, ganz üblich. Man gibt dann dem Kartenhalter den entsprechenden Betrag. Da aber kein Bus kommt, der für mich in Frage käme, verzichte ich darauf und mache mich zu Fuß auf den langen Weg. Glücklicherweise immer geradeaus.

20. Dezember (Dienstag)

Diesmal gehe ich über etwas anderen Weg in die Stadt. Und es lohnt sich. Ich komme sofort an einem Café vorbei, dem Bana Bana Dort gibt es einen sehr guten Kaffee und dazu einen knatschtrockenen Kuchen, bata flora. An der Tafel steht, neben einem selbstgemalten Weihnachtsbaum Confía en la magia de los nuevos comienzos. Ich frage nach der Karte für den Bus. Die bekäme ich gleich nebenan. Dort ist ein kioskartiger kleiner Laden. Nein, wird mir dort gesagt, sie hätten keine. Ich solle es in dem Supermarkt weiter unten in der Straße versuchen, dem 24 Horas. Vorher komme ich aber noch zu einem weiteren Kiosk. Der junge Mann hat auch keine und sagt mir, weiter unten in der Straße würde ich keine finden. Das könne er mir garantieren. Ich solle abbiegen. Das will ich aber nicht, weil dieser Weg mich zur Touristeninformation führt. Also versuche ich es in dem 24 Horas. Nein, haben wir nicht. Auf der anderen Straßenseite ist ein Chinese. Der schüttelt nur den Kopf. Ich komme an einer Bäckerei vorbei, aus der es wunderbar nach frisch Gebackenem riecht. Kindheitserinnerungen. Das sage ich dem Bäcker und verspreche, später wiederzukommen. Jetzt brauche ich erst einmal die Karte für den Bus. Die bekäme ich bei Biggie, dem Supermarkt weiter unten auf der Straße. Bei Biggie spricht man sein Bedauern aus, man könne hier zwar die Karte aufladen, aber nicht kaufen.  Dann kommt noch ein Chinese. Kopfschütteln. Ich versuche es in einer Apotheke. Auch nichts. Ich solle es doch bei Biggie versuchen. Da war ich schon. Ungläubiges Staunen. Noch eine Apotheke. Auch nichts. Aber in dem Supermarkt, dem Paraná, weiter unten in der Straße, da hätten sie welche. Auch der Paraná hat keine, und ich entschließe, Asunción eben zu Fuß zu erkunden.

Die Bürgersteige hier in Asunción haben Flicken und Schlaglöcher, aber auch lose Steine und richtige Löcher, mit Abfall, Bauschutt, Pfützen. In einer wird mir ein Kabel bald zum Verhängnis.

Ich komme an einer Tierhandlung vorbei. Dort gibt es Wellensittiche, Kanarienvögel, Papageien. Jetzt weiß ich auf einmal, woran mich das Gekreische der paraguayischen Vögel erinnert.

Auffällig im Stadtbild sind die bunten Busse, teils noch mit nach vorne herausragender Kühlerhaube, und die vielen Tankstellen, immer an einer Straßenecke, alle groß. Erst im Laufe der Zeit merke ich, warum sie so groß sind: Die Zapfsäulen stehen in weitem Abstand zueinander. Die würden wir auf dem halben Platz unterbringen.

Ich frage mich zur Touristeninfo durch. Ein nettes Mädel gibt mir einen Stadtplan una erklärt, wo die Museen sind. Die Stadtrundfahrt gibt es leider nicht mehr, gerade dafür wollte ich so früh hier sein. Schön sei ein Gang zur Costanera, zum Paraguay hinunter, aber nicht jetzt, dort gebe es keine Bäume, kein Schatten.

Beim Weitergehen komme ich an einem wunderschönen Innenhof vorbei, ehemaliges Haus eines italienischen Geschäftsmanns, der in Asunción reich wurde. Das Haus war später Sitz der paraguayischen Telefongesellschaft.

Dann noch ein schöner Innenhof. Hier ist ein Lokal untergebracht, das Munich. Es gibt Wasser und Kaffee unter einem Baum, der aus der Wand herauszuwachsen scheint und den ganzen Innenhof bedeckt.

Wieder auf der Straße kaufe ich noch einen Obstsalat. Sehr lecker der Saft.

Vor einem Brunnen steht No pisar. Ich mache ein Photo wegen der Verwechslungsgefahr mit dem Deutschen, wo man an was anderes als Nicht Betreten denkt.

Die Suche des Museo Etnográfico gestaltet sich schwierig. Auf dem Stadtplan sieht es nicht so schwer aus. Das Museum ist nur ein Stück abseits eines größeren Platzes, aber wo genau, ist nicht herauszubekommen. Das Museum ist gerade außerhalb des Kartenabschnitts, und ich habe keine Adresse. Interessant auch die Reaktion der Leute. „¿Etnográfico?“ Scheint kein geläufiges Wort zu sein. Wenn sie das Wort Museum hören, wollen mich alle zum Eisenbahnmuseum schicken, das hier an dem Platz liegt. Das kennen alle. Selbst als ich endlich auf der richtigen Straße, der Avenida España und nur fünfzig Meter vom Eingang entfernt bin, scheint die Sache noch zu scheitern. Eine Frau, die hier einen Verkaufsstand hat, hat noch nie von dem Museum gehört und sagt mir ich sei sowieso falsch. Dies sei nicht die Avenida España, sondern die Avenida Estados Unidos.  

Endlich im Museum, das Eingangsportal ist offen, stehe ich vor einem verschlossenen Gitter. Es gibt aber eine Klingel. Nach einiger Zeit hört man Schritte, ein Mann kommt und schließt mir auf.

Das Museum ist in einem altehrwürdigen Gebäude untergebracht und ziemlich altmodisch. Sein erster Museumsdirektor war ein gewisser Max Schmitt aus Berlin. Der legte die Grundlagen. Die zweite Direktorin, Branislava Susnik, sorgte dann für die Fortführung. In der Eingangshalle wird ihr Wirken dokumentiert, sowohl, was die Feldforschung als auch, was die Publikationen angeht. Genaue Studien zur Phonetik und Grammatik der Sprache verschiedener Stämme, vor allem der Maká.  Beeindruckend. Sie hat ihr Leben den Indios und ihrer Erforschung gewidmet. Und kräftig gesammelt. Das Ergebnis sieht man hier.

Es geht los mit großen, schön mit Schnurtechnik verzierten Tonkrügen. Die waren für die Bestattung bestimmt. Die Toten wurden in Hockstellung hineingesetzt. Die Maká glaubten nicht an ein Leben nach dem Tod, wohl aber an die Wiedergeburt. Der Erhalt der Gebeine war deshalb von Bedeutung.

Dann kommen Körbe aller Art und Größe, aus Palmenblättern gefertigt. Die dienten zum Sammeln von Früchten. Sehen erstaunlich fest aus.

Bunter Federschmuck folgt, und dann ein Kanu, mit erhöhtem Bug und Heck. Das diente zum Fischfang, aber auch für Raubzüge in feindlichem Gebiet im Chaco. Dort wurde nach Herzenslust geraubt, geplündert und geschändet. Von friedfertigen Indios keine Spur.

Beeindruckend die Palette von Pfeilspitzen für die Jagd. Je nach Tier gibt es unterschiedlich lange und unterschiedlich geformte Pfeile. Einige haben eine Art Spirale, andere sind glatt. Die Pfeile selbst sind lang, zwei bis zweieinhalb Meter lang. Sie mussten immer größer sein als der Jäger selbst.

Persönlicher Schmuck ist aus Wolle gefertigt und sehr bunt, mit einem leuchtenden Rot als Grundfarbe. Es gibt Gürtel, Umhängetaschen, Stirnbänder, Armreifen, Kopfschmuck.

Dann kommt die Sammlung Max Schmitt. Hier gibt es Exponate von anderen Stämmen zu sehen. Man sieht das auf den ersten Blick, alles ist weniger bunt, gedämpfter. Der Kopfschmuck des Caciques ist hier nicht bunt, wie bei den Maká, sondern schwarz-weiß.

Am interessantesten ein „Altar“, nicht sofort als solcher erkennbar. Auf drei dünnen Stäben ruht ein Schiff, und auf dem Schiff wiederum drei Kreuze, mit haarartigen Verzierungen an allen drei Enden. Ein perfektes Beispiel für den Synchronismus, das christliche Kreuz in Verbindung mit dem Schiff des mythischen Tupa, mit dem er vom Regen im Osten in den Westen fährt, wo das Fest des Mais stattfindet.

Ganz kurios auch die Ausstattung für ein Spiel, das unserem Hockey ähnelt. Es gibt gestopfte Bälle und zwei Arten von Schlägern, einen einfachen und einen, bei denen der Schläger in zwei Enden ausläuft, die mit Bändern verbunden sind. Vielleicht macht man mit denen den Abschlag.

Sehr gelungen eine Maske aus Holz mit offenem Mund und kleinen Zähnen. Sieht richtig furchterregend aus.

Der Wächter lässt mich raus und befragt mich noch kurz zu meinen Reiseplänen. Dann schließt er das Gitter wieder hinter sich. Man hat nicht den Eindruck, dass er es noch mal öffnen muss.

Wo ich schon einmal in der Gegend bin, sehe ich mir auch noch das Eisenbahnmuseum an. Es ist in dem alten Bahnhof untergebracht, einem Kopfbahnhof. Die  Bahnhofshalle ist wirklich ansehnlich. Es gibt nur zwei Bahnsteige. Die Schienen sind breiter als bei uns, da ist man wohl dem spanischen Modell gefolgt.

Auf den Gleisen steht eine alte Dampflok mit Führerstand im Freien und unterschiedlich großen Rädern. Woanders ein paar alte Waggons, von denen man einen besichtigen kann, den Speisewagen. Breite Ledersitze und eine praktische hölzerne Vorrichtung zum Halten von Flaschen und Gläsern an den Tischen. In der Bar Whisky, Rum, Cognac.

In dem Museum lernt man etwas von der Geschichte der Eisenbahn, eine Geschichte voller Hürden und Hindernisse. 1861 gab es das Dekret zur Schaffung der Eisenbahnlinie Asunción – Villarica, 1999, erst 1999, wurde die Eisenbahnlinie endgültig geschlossen. Es gab von vornherein Finanzierungsprobleme und Auseinandersetzungen zwischen dem britischen Investor und dem paraguayischen Staat, und als die Strecke zumindest teils fertig war, wurde sie während des Kriegs der Triple Alianza niedergelegt, dann wiederaufgebaut. Die endgültige Schließung erfolgte nach einer Überflutung der Strecke.

Im Museum ausgestellt eine riesige Bahnhofsglocke und eine ebenso riesige Schlussleuchte – hatte schon vergessen, dass es die mal gut – sowie ein alter Fahrkartenautomat, der Fahrkarten auf schmalen, dicken Pappstreifen ausgibt.

Nach dem Museum gehe ich kurz in eine Apotheke und dann in die Bäckerei vom Morgen. Dort gibt es ein Gebäck, das budin heißt, ein Wort, das eine Variante unseres Puddings ist. Es ist ein Brot, das wie Kuchen schmeckt, etwa wie eine weichere Variante von Stollen. Das gibt es in zwei Versionen, mit Schokolade oder mit Früchten gefüllt. Auf Empfehlung des Bäckers nehme ich das mit den Früchten.

Auf dem Rückweg komme ich vom Weg ab, aber es lohnt sich. Am Wegesrand fällt mir ein Mann auf, der sich an irgendetwas zu schaffen macht, irgendetwas herzustellen scheint. Dann sehe ich am Straßenrand lauter Krippen, die er auch im Angebot hat. Aber was macht er denn da? Er bastelt eine Art Schiffchen aus der Schale der Kokosnuss, in die er wiederum etwas hineintut, das wie Getreide aussieht, aber wohl auch von der Kokosnuss stammt. Dieses Schiffchen wird dekorativ vor die Krippe gelegt, es riecht gut und es bringt Glück.

Die Frau und der Sohn des Mannes kommen näher und verfolgen unsere Unterhaltung. Die Frau nickt bestätigend zu allem, was der Mann sagt. Dann fällt mein Blick auf den Sohn. Er trägt ein gelbes Fußballtrikot. Und was für eins! Das vom BVB. Es folgen Lachen, Schulterklopfen, Photos. Die Reise nach Paraguay hat sich gelohnt.

Ich frage mich wieder durch nach Speiselokalen. Bekomme mehrere, eher vage Hinweise. Und die typisch ausholende Handbewegung, bei der man nie genau weiß, ob man abbiegen oder weitergehen soll. Genauso bei dem Wort cruzar, das auch gebraucht wird, wenn es nichts zu kreuzen gibt.

Am Ende habe ich aber Glück: La Farola, ein großes Lokal, an einem Straßeneck gelegen. Es ist rappelvoll. Gegessen wird hier nach brasilianischem Vorbild, mit Buffet und Waage. Das Essen ist nicht billig, aber sehr schmackhaft, mit knusprigem Hähnchen und Kartoffeln in einer leckeren Sahnesoße.

Als ich zu Hause ankomme, merke ich, dass ich vergessen habe, Wasser zu kaufen. Ich versuche es in unserem Viertel, in der entgegengesetzten Richtung. Es gibt zwar ein paar kleine Läden, aber alle haben ein Gitter runtergelassen. Ich stelle mich vor eins der Gitter, es kommt eine Frau, ich bestelle Wasser und sie reicht mir das Wasser durch eine kleine Luke in dem Gitter. Gerettet!  

21. Dezember (Mittwoch)

Im Hotel Guaraní, gleich im Zentrum von Asunción, treffe ich mich mit Lili Müller, meiner Reiseführerin. Sie spricht trotz ihres Namens kein Wort Deutsch. Ihre Urgroßeltern sind aus Deutschland hierher eingewandert. Sie sprachen nur Deutsch und Guaraní. Sie selbst spricht auch Guaraní und macht davon im Laufe des Tages immer wieder Gebrauch, indem sie Ortsnamen und im Original nennt und übersetzt. Hier in Paraguay habe es keine Versklavung gegeben, und das sei der Grund dafür, dass sie so viel von dem indigenen Erbe behalten hätten, sagt sie, darunter eben die Sprache. Ihr deutscher Name, sagt sie im Laufe des Tages, habe ihr manche Türe geöffnet. Deutsche Namen haben positive Assoziationen.

Sie macht alles im Schnelldurchlauf, wir kratzen immer nur an der Oberfläche herum, einen Einblick in die Geschichte der Stadt oder gar des Landes bekomme ich nicht. Aber es wird ein erlebnisreicher Tag.

Das Hotel Guaraní liegt an dem zentralen Platz von Asunción, eigentlich einem Ensemble von vier Plätzen, der Plaza de los Héroes. Um den Platz herum liegen einige der wichtigsten Gebäude der Stadt.

Asunción wurde, wie es heißt, auf sieben Hügel errichtet, dem römischen Mythos folgend. Wir befinden uns an der Stelle des Loma de Cabras, des Ziegenhügels.

Wir besichtigen, ohne unnötig Zeit zu verlieren, die Kathedrale, eine Apotheke, deren ältester Teil zu einem Museum umgebaut worden ist, und das Pantheon. Ein Zentralbau mit Kuppel, der wie eine Kirche aussieht. Und ursprünglich war es auch eine Kirche, das Oratorio Nuestra Señora de Asunción, der Marienfigur, der die Stadt ihren Namen verdankt. Ihr werden die üblichen Wunder zugeschrieben. Ihre Statue, mit voller Bekleidung und Schwert, steht hier erhöht in hinter Glas in der Apsis.

Nach dem Vorbild des Invalidendoms von Paris wurde die Kirche dann umgestaltet und zur Grablege der bedeutendsten paraguayischen Herrscher. Das sind, Lili zufolge, diese drei: Rodríguez de Francia, Carlos Antonio López und dessen Sohn, Francisco Solano López, der hier meist Mariscal López heißt.

Wir gehen in eine Eisdiele, wo wir die einzigen Gäste sind. Die landestypische Sorte ist leider ausverkauft. Wir nehmen beide nur eine Kugel, aber die ist so groß, dass sie liegend auf einem Pappteller serviert wird. Lili lässt sich gerne einladen. Das führt zu einer ausgedehnten Diskussion über den Verhaltenskodex von Männern Frauen gegenüber, ob man die Tür aufhalten oder in den Mantel helfen oder zum Eis einladen erlaubt ist oder nicht. Sie findet, das müsse erlaubt sein.

Ich versuche, mit ihrer Hilfe etwas Licht in die paraguayische Geschichte zu bringen. Der erste der genannten Präsidenten, Rodríguez de Francia, war der erste Präsident Paraguays überhaupt, nach der Unabhängigkeit (1811) zum Präsidenten gewählt (1814). Schon wenig später (1816) erklärte er sich zum Präsidenten auf Lebenszeit und wurde für fast dreißig Jahre Paraguays erster Diktator und isolierte das Land vom Ausland. Das habe zu großem Wohlstand geführt, meint Lili, aber das will mir nicht so recht einleuchten. Wenn es Wohlstand gab, dann wohl eher aufgrund der von ihm vorangetriebenen Industrialisierung, und ob die für die Landbevölkerung so ertragreich war, könnte man auch bezweifeln. Dann kam Carlos Antonio López und dann dessen Sohn, der Mariscal. Den findet Lili besonders toll. In seine Zeit fiel aber der verhängnisvolle Krieg der Triple Alianza, bis heute für Paraguay eine traumatische Erfahrung. Ein Krieg gegen die Dreierallianz von Brasilien, Uruguay und Argentinien. Wie es dazu kam, verstehe ich nicht, aber die Konsequenzen waren verheerend. Paraguay verlor einen Großteil seines Territoriums (und wohl auch den Zugang zum Meer) sowie unglaubliche 70% seiner Bevölkerung.

Es folgte ein weiterer Krieg, La Guerra del Chaco, diesmal gegen Bolivien. Hier ging es wohl um Ölvorkommen. Auch hier war Paraguay der Verlierer.

Zwischen den beiden Kriegen lagen allerdings 52 Jahre, bei Lili hört es sich so an, als folgte der eine direkt auf den anderen. Das Ergebnis aber war, wie sie sagt, dass acht Frauen auf einen Mann kamen. Sie glaubt, das erkläre die Stärke und Selbständigkeit der paraguayischen Frauen. Die hätten einfach viele Aufgaben und Arbeiten übernommen, die sonst nur in den Händen von Männern lagen.

Eine Erklärung bekomme ich aber noch, die ich dieser Tage schon vergeblich versucht habe, dem Taxifahrer abzuringen: Wie heißt Asunción eigentlich auf Guaraní? Es heißt Paraguaŷ, und das unterscheidet sich in der Orthographie und in der Aussprache von dem Namen des Flusses, Paraguay.   

Wieder auf der Straße, macht Lili mich auf einen Orangenbaum mit noch unreifen Früchten aufmerksam, einen Naranja Hái, eine Art Bitterorange, mit wohlriechenden Blättern. Wir reiben ein paar Blätter zwischen den Fingern, und der volle Duft entfaltet sich.

Dann schleppt sie mich zur Touristeninformation und zeigt mir die vielfältigen Souvenirs, die hier angeboten werden, Schmuck und Holzfiguren, sehr geschmackvoll gemacht. Auch ein Schachspiel gibt es zu sehen, in denen die Figuren Bezug nehmen auf die Guerra de la Triple Alianza. Erstaunlich, dass ein so verheerender Krieg so in die Folklore Eingang findet.

Vor der Touristeninformation steht ein Weihnachtsbaum mit typisch paraguayischem Schmuck. Sieht ganz anders aus als bei uns.

Wir kommen zur Casa de la Independencia, einem der ältesten Gebäude der Stadt. Hier trafen sich die Promotoren der paraguayischen Unabhängigkeit in geheimen Sitzungen. Heute sind Objekte aus der Zeit ausgestellt. Die interessanteste Skulptur ist eine Heiligenfigur, mit leicht indigenen Zügen (vor allem einer auffällig dreieckigen Nase) und leicht unproportionierten Händen. Diese Figuren wurden von den Indios hergestellt, und zwar in Zusammenarbeit. Verschiedene Künstler stellten verschiedene Teile her, die dann zusammengesetzt wurden.

Im Innenhof dieses schönen Gebäudes steht ein blühender Jasmin, groß wie ein Baum.

Dann geht es zum Centro Cultural Manzana de la Rivera, einem ganzen Komplex von kleineren Museen in einem alten Gebäude. Im Museo Memoria de la Ciudad gibt es Texte, Karten, Alltagsgegenstände, Grafiken, Gemälde aus verschienen Zeiten zu sehen. Hier könnte man einen ganzen Tag verbringen.

Interessant zwei Modelle, die die Stadtentwicklung veranschaulichen. Der erste Stadtplan richtete sich nach den Flüssen aus, die Straßen verliefen entsprechend unregelmäßig. Dann gab es einen größeren Eingriff – lässt entfernt an das Paris Hausmanns erinnern – bei dem die Flüsse unterirdisch verlegt und die Straßen begradigt wurden.

Eine ganz große Rolle spielt hier die Harfe. Die wird hier wohl als das Nationalinstrument angesehen. Harfen verschiedener Machart sind ausgestellt, und in Videos kann man Kostproben zuhören. Im Zentrum steht die Wasserharfe, aber trotz Nachfrage verstehe ich nicht, welche Funktion das Wasser hier hat. In einem Video sieht es fast so aus, als hätte die Harfe keine eigentlichen Saiten, sondern als wären Wasserstrahle die Saiten.

Ein ganz anderes Thema greifen Zeichnungen der christlichen Missionare über die Gewohnheiten der Eingeborenen auf. Auf den Bildern sieht man, dass es sich um Menschenfresser handelte. Die Opfer wurden den Göttern dargebracht. Es waren oft erfolgreiche Krieger. Verschiedenen Schichten des Stammes kamen dann verschiedene Körperteile zu. Das Herz war sehr begehrt weil damit die Eigenschaften des Kriegers auf den Konsumenten übergingen.

Lili wird überall freundlich begrüßt von den Aufpassern. Sie ist bekannt und trägt trotz der Hitze eine Jacke mit dem ihrem Namen und dem Emblem des Tourismusverbandes.

Wir besuchen auch einen Raum, der sich mit Medien beschäftigt, Schallplatten und Filmkassetten und alte Filmrollen sind ausgestellt. Sie zeigt mir zwei CDs mit Filmen, die in Paraguay spielen und dann die Schallplatte eines Sängers, der Heldenstatus genießt, José Asunción Flores, der Schöpfer des Guarania, eines Musikgenres. Seinen zweiten Vornamen hat er sich zugelegt, es ist eine Art Künstlernamen. Er wuchs in einem Armenviertel von Asunción auf und verdingte sich als Schuhputzer und Zeitungsjunge. Er experimentierte aber schon als Junge mit verschiedenen Versionen eines alten paraguayischen Liedes und begann dann, eigene Lieder zu schreiben. Durch die Zusammenarbeit mit einem paraguayischen Dichter kam dann der Durchbruch. Die Texte sind auf Guraraní, aber es gibt auch spanische Versionen. Sein emblematischstes Lied ist “Recuerdos de Ypacaraí“ (auf das wir im Laufe des Tages noch stoßen werden). Dann kam es zu politischen Verwicklungen, und er wurde in der Ära Stroessner des Landes verwiesen. Er starb im Exil, wurde später aber rehabilitiert. Seine sterblichen Reste wurden nach Asunción überführt und an einem Platz, der jetzt seinen Namen trägt, beigesetzt.

Wir gehen noch auf die Terrasse hinten am Gebäude. Von hier hat man einen schönen Blick auf die Rückfront des rosafarbenen Regierungspalasts und seine Gärten. Der Palast wurde unter dem älteren der López errichtet. Er kontraktierte einen englischen Architekten, um einen Hauch von Europa nach Paraguay zu bringen.

Lili meint, weil ich die anderen Museen schon gesehen hätte, sollten wir lieber einen Ausflug machen, in ihrem Auto, zum Lago Ypacaraí. Das Benzin müsste ich allerdings bezahlen. Das sei teuer in Paraguay. Zähneknirschend stimme ich zu. Was Sie mir nicht erzählt, ist, dass später auch noch Mautgebühren dazukommen. Mautgebühren?  Die fallen in Paraguay an, wenn man von einer Region in eine andere wechselt. Nicht gerade wirtschaftsfördernd, sollte man meinen.

Wir fahren erst in die Richtung ihres Wohnorts, Louque, am Paraguay entlang. Hier sind der paraguayische Sitz der FIFA und der Sitz des paraguayischen Olympischen Komitees.

In der Ferne sieht man die Pfeiler einer im Bau befindlichen Brücke, die den Verkehr nach Argentinien erleichtern soll.

Die Tankstelle wird von der Kette Petropar betrieben. Ja, bestätigt sie, Paraguay habe Erdöl und eben auch sein eigenes Erdölkonzern.

Stolz verweist sie darauf, Paraguay sei zu dem grünsten Land Südamerikas gekürt worden. Ebenso stolz verweist sie auf einen zweispurigen Radweg, der zwischen den Trassen der Straße angelegt worden ist. Der werde morgen eingeweiht, und zwar von ihr, der einzigen Radführerin Paraguays.

Ihre Gäste seien meistens Argentinier, sagt sie. Aber auch Brasilianer. Die Argentinier sagen immer, alles sei cheto.

Wir kommen auf die Wahlen zu sprechen, und sie erklärt, viele Wähler verkauften ihre Stimme. Der gängige Preis liege bei 100.000 Guaraníes. Eine Tankfüllung.

Wir fahren nach Areguá und dort zum Cerros Koi y Chorori. Diese Felsen sind bekannt als eine Besonderheit der Natur. Sie sind durch größere magmatische Bewegungen vor Jahrmillionen entstanden und habe röhrenartige Formen ausgebildet, wie man sie in Europa aus Basalt findet. Hier ist es roter Sandstein.

Wir müssen uns registrieren, um den Park besichtigen zu können. Es geht steil rauf, auf steinigen Wegen, zwischen den Felsen und Gestrüpp her. Manchmal bilden die Felsen schieferartige, aufeinandergeschichtete Platten. Die Sonne brennt. Wir machen ein paar Mal Halt. Lili will, wie während des gesamten Tages, Photos machen, von mir, von ihr, von uns beiden. Irgendwann sage ich, jetzt sei es gut.

Oben angekommen hat sieht man auf den riesigen, blauen See. Hier holt sie das Handy raus und spielt „Recuerdos de Ypacaraí“. Dessen Text nimmt genau auf diese Stelle Bezug, allerdings, wie sich das gehört, auf eine Vollmondnacht. Die Angebetete sang auf dem Weg hierher traurige Lieder auf Guaraní.

Uns steht jetzt der Abstieg bevor. Danach geht es zur Erholung in ein schönes Lokal in Areguá mit so was wie einem Biergarten. Hier zahlt sich Lilis Ortskenntnis aus. Wir genießen den Schatten. Und essen eine Empanada, die fast ein komplettes Mittagessen ersetzt. Sie erzählt, Stroessner, der langlebigste Diktator Südamerikas – er blieb 34 Jahre an der Macht – habe auch heute noch seine Anhänger, 33 Jahre nach seine Absetzung. Ihre Mutter lasse nichts auf ihn kommen. Er sei der beste Präsident, den Paraguay je gehabt habe. Nach Stroessners Entmachtung 1989 erklärte sich Paraguay zur Republik.

Ich würde am liebsten noch sitzen bleiben, aber sie will mir mit aller Macht auch noch San Bernardino zeigen, die zweite Sommerfrische am Yparaguí. Wir steigen ins Auto. Um das Lokal herum stehen Bäume, bei denen die Äste von der Last der Mangos herunterhängen. Am Boden liegen Dutzende verfaulte Früchte herum.

In San Bernardino hat sie eine Freundin, die ein deutsches Lokal betreibt, das sie mit ihrem ehemaligen deutschen Freund gegründet hat. Der hatte selbst ein Lokal namens Hotzenplotz, ein Wort, das Lili akzentfrei und ohne Nachdenken produzieren kann. Die Freundin hat jetzt einen neuen Freund, auch einen Deutschen. Sie selbst, erzählt sie freimütig, habe auch schon eine siebenjährige Ehe hinter sich. Der Mann sei sehr sportlich gewesen und habe sie zu sehr eingebunden und in seine sportlichen Aktivitäten involviert. Sie ist auch schon einen Marathon gelaufen. Will sie aber nicht noch mal machen. Ihren jetzigen Freund werde sie nur so lange tolerieren, wie der ihre Freiheitsliebe akzeptiere. 

In San Bernardino müssen wir feststellen, dass das Lokal der Freundin nicht geöffnet hat. Es liegt sehr schön, fast direkt am Strand. Der See sieht hier ganz und gar wie ein Meer aus, mit Sandstrand und Palmen und Sonnenschirmen aus Bast. Im Sommer und an Wochenenden soll es hier rappelvoll sein. Heute ist es aber ganz ruhig.

Wir gehen ein Stück am See entlang und kommen zu einer Stelle, wo eine ganze Reihe von silbernen Pfeifen aufgestellt ist, eine neben der anderen. Wenn man mit der Hand an denen entlangfährt, erklingt „Recuerdos de Ypacaraí“.  Nach ein paar Versuchen gelingt uns das ganz gut. Allerdings haben wir Konkurrenz von einem Presslufthammer einer Baustelle an der Straße.

Auf dem Rückweg lächelt ein Junge mich an, der auf einem Mäuerchen mit seiner Schwester und seiner Mutter sitzt. Er grüßt auf Deutsch. Ich grüße zurück und stelle eins, zwei Fragen. Möchte gerne wissen, woher er weiß, dass ich Deutscher bin.

Wir müssen aber unbedingt noch in die Panadería Alemana. Lili hat mir die ganze Zeit von den leckeren bollos erzählt, die es hier gibt. Trotz Erklärung habe ich nicht verstanden, um was es geht. In der Bäckerei erfolgt die Auflösung an einem großen Plakat in den deutschen Nationalfarben. Darauf steht: Berliner Pfannkuchen.

Dann merkt Lili, dass ihr ihre rote Tasche fehlt, mit Kreditkarte und Ausweis. Wir durchsuchen das Auto. Fehlanzeige. Sie muss sie in dem Lokal über dem Stuhl haben hängen lassen. Es geht nach Areguá zurück. Unterwegs hat sie schon eine Freundin beauftragt, nach der Tasche zu sehen. Dann kommt die Erfolgsmeldung: Die Kellnerin hat die Tasche an der Theke abgegeben. Lili kann sie abholen.

22. Dezember (Donnerstag)

Das Museo de Bellas Artes finde ich ohne Umwege. Das Museum befindet sich in einem schönen, einstöckigen Bau, etwas von der  Straße versetzt, mit dunkelblauer Fassade und einer etwas unpassenden Kuppel. Man drückt die Klinke runter und steht gleich vor den ersten Ausstellungsstücken. Kein Aufseher, keine Rezeption. Da fühle ich mich doch etwas unwohl. Gehe wieder raus, suche jemanden:  Ja, kein Problem, man kann alles so besichtigen. Eintritt frei. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Ich gehe aber noch schnell auf der anderen Straßenseite einen Kaffee trinken. Bei den Preisen verwirre ich den jungen Mann hinter der Theke, weil ich 100 und 1000 verwechsle.

Das Museum ist richtig gut. Ich kenne keinen einzigen der ausgestellten Maler, aber es gibt viele schöne Gemälde. Auch Skulpturen gibt es, aber die ziehen mich nicht so an.

Die Sammlung geht zurück auf einen Mann namens Juan Silvano Godoy (verwandt mit dem Godoy?), er will die Kunst in Paraguay etablieren, und seine Sammlung gilt als Anschauungsmaterial. Es ist alles vertreten: Porträts, Landschaften, Genre-Szenen, Stillleben, Veduten, historische Szenen.

Das Museum besteht aus zwei Teilen. Im ersten ist europäische Kunst ausgestellt, die Godoy nach Paraguay gebracht hat, im zweiten Teil sind paraguayische Künstler ausgestellt. Es gibt jeweils drei kleine Säle.

Godoy selbst ist mit einem wunderschönen Porträt vertreten. Ernster Blick, Stirn in Falten, gezwirbelter Schurbart, Buch fest in der Hand haltend, so als wolle es ihm jemand wegnehmen. Ein Charakterporträt.

Tolle Szene mit einem Jäger im Boot auf einem Fluss, Flinte in der Hand. Vorne in dem Boot sein Hund, in Lauerstellung. Die Sonne schimmert im teils mit Pflanzen bedeckten Wasser des Flusses, herrlich gescheckter Abendhimmel. Das Opfer der beiden Jäger ist nicht zu sehen, befindet außerhalb des Bildes. Die Spannung ist förmlich zu spüren.

Sehr schön auch das Porträt eines Mädchens am Klavier. Ihr weißes Kleid kontrastiert mit ihren dunklen Augen und mit dem schwarzen Klavier. Der Hintergrund, nur angedeutet, wird erst sichtbar, wenn man länger hinsieht.

Dann eine bunte italienische Straßenszene mit Musikern vor einem Haus, einem tanzenden Paar, neugierig aus dem oberen Stockwerk zuschauenden Frauen, einem Bettler, der unbewegt neben der Haustür sitzt die Beine von sich gestreckt, zwei Frauen, die nur halb von hinten zu sehen sind, mit schönen, hochgesteckten Haaren und bestickten Schultertüchern. Die Gitter des Hauses sind leicht verrostet, der Putz blättert ab und lässt die Ziegelsteine dahinter erkennen.

„Il terzo incomodo“ ist der Titel einer weiteren Genreszene. Ein Mann, auf einem Stuhl sitzend, lehnt sich weit zu der neben ihm sitzenden Frau hinüber. Die Frau, mit langem Rock und schönem Haar, Wäsche vor sich auf Boden vor sich liegend, blickt ihn charmant an, lehnt sich aber in einer Art Abwehrhaltung zurück. Neben ihr eine weitere Frau. Die versucht angestrengt, wegzugucken, den Kopf auf die Hand gestützt. Die Szene ist ihr peinlich. Sie ist die dritte, die im Titel des Bilds erscheint. Als Betrachter kann man sich in sie, aber auch in die beiden anderen versetzen.

Godoy hatte offensichtlich ein Faible für Frauen, zumindest als Gegenstand von Gemälden. Das zeigt sich an einer stillenden Madonna mit demütigem Blick genauso wie an einer Maritornes in Marseille, verächtlich und doch aufreizend zwei Männer anblickend, von denen sie sich gerade entfernt. Dann das Porträt einer fein gekleideten Frau mit Rüschen und Kopfzier und charmantem, bescheidenen Lächeln.

Der Höhepunkt aber der Akt einer halb von hinten dargestellten Frau mit feiner Nase, feinen Ohrringen und hochgestecktem Haar. Ihr fülliger Körper nimmt fast das ganze Gemälde ein. Körperrundungen und Haut sind so gut dargestellt, dass man sie fast erfühlen kann. Sie hat den Kopf auf die Hand gestützt und ist abgelenkt, denn sie sieht sich Drucke oder Zeichnungen an, die vor ihr auf dem Bett liegen Daher der Titel des Gemäldes, „La distracción de la modelo“.

Die nächsten Säle widmen sich der paraguayischen Kunst. Sie konnte sich auf zweierlei Weise entwickeln, durch europäische Maler, die hierher kamen oder durch paraguayische Maler, die ein Stipendium für einen Studienaufenthalt in Europa bekamen.

Die Techniken sind weitgehend europäisch, aber dafür werden einheimische Themen in Angriff genommen. Ein Bild zeigt die Kathedrale von Asunción. Sieht hier ganz anders aus als heute. Dann gibt es eine Stadtansicht von Asunción vom Meer aus gesehen, mit rauchenden Fabrikschornsteinen. Über dem Oratorium weht die paraguayische Flagge im Abendlicht.

Die Indios erscheinen in einem großen Gemälde, Indios der Parejabara. Sie sind entweder bei einer Zeremonie oder einer Zusammenkunft. Einige stehen, andere hocken, alle sind nur leicht bekleidet. Nicht eindeutig zu erkennen, ob es alles Männer sind. Einer trägt eine geflochtene Umhängetasche, einer raucht Pfeife, einer trägt eine Halskette aus Tierzähnen, einer den Federschmuck des Häuptlings. Vor ihnen auf dem Boden liegen verschiedene Objekte, die man nicht identifizieren kann. Da wüsste man gerne, was hier dargestellt wird.

Dann gibt es Bauern bei der Arbeit, an der Presse in einem Hof beschäftigt. Es ist nicht genau zu erkennen, was sie machen, aber die Kraftanstrengung, die nötig ist, um die Presse mittels zweier Holzbalken zu bewegen, kommt voll heraus.

Sehr gelungen die Porträts, alle Dargestellten sind Paraguayos: ein selig nach oben blickender Junge, ein junger Mann, selbstbewusst den Betrachter anblickend, ein trauriger alter Mann, der in die Ferne blickt, ein Mann mit Brille, dem man den Intellektuellen ansieht, ein unsicher  und schüchtern dreiblinkender junger Mestize, ein alter Mann mit zerfurchtem Gesicht und geschlossenen Augen, dem nur noch das Lebensende bleibt.  

Wieder einmal habe ich die Erfahrung gemacht, dass die besten Museen die sind, in denen man alleine ist und sich alles in Ruhe ansehen kann.

Auf dem weiteren Weg komme ich an Lo de Osvaldo vorbei, einer Kneipe. Auf dem Wirtshausschild ein dribbelnder Ochse, mit dem Ball am Fuß.

Dann kommt eine ehemalige Rock-Kneipe, in einem alten, jetzt etwas verfallenden Haus, mit Gitarre und Musiknoten als Graffiti an der Fassade. Ist zu vermieten.

Der letzte Tag in Paraguay wird zum Tag des Konsums. Zuerst komme ich an ein Kleidungsgeschäft vorbei. Die ältere Dame wartet nach Kundschaft. Ich frage nach einer kurzen Hose. Da muss sie im Bestand im Keller nachgucken. Kommt mit einer Hose rauf. Die ist wohl zu groß für sie. Ist sie nicht. Die nehme ich. 60.000 Guaraníes. Auf der mühselig handschriftlich ausgestellten Rechnung steht Bermudas.

Dann gibt es einen leckeren Obstsalat bei einer Straßenverkäuferin, mit viel Flüssigkeit. Ich esse ihn an einer schattigen Stelle der Plaza de los Héroes. Dort lässt sich Atmosphäre einatmen: Verkaufsstände mit Keramik und Kleidung, gelangweilte Schuhputzer, improvisierte Essstände, ambulante Verkäufer von Gürteln und Sonnenbrillen, Leute, die zusammen sitzen und Tereré trinken, ein Chipa-Verkäufer, der seine Ware auf dem Kopf trägt. Und Männer bei einem Brettspiel. Ich frage, was da gespielt wird: Dame! Hätte man auch drauf kommen können. Als Spielsteine nehmen sie die Verschlusskappen von Wasserflaschen. Blau gegen Rot. Sie erklären mir, es gebe zwei Varianten. Die Brasilianer spielten anders. Tatsächlich spielen die Männer hier anders als wir. Man kann auch rückwärts und im Zickzack spielen. Die Spielzüge erfolgen ganz schnell aufeinander, die Spieler scheinen nicht nachdenken zu müssen.

Dann kommt ein Essen in dem von Lili empfohlenen Bolsi. Drinnen sind alle Plätze besetzt. Es gibt keine Tische, alle sitzen an vier Seiten um die quadratische Theke herum. Draußen ist Platz. Ich bestelle das empfohlene Bori bori, eine Art Suppe mit einem Hähnchenschenkel drin und mehligen Klößen. Dazu ein Bier vom Fass, das ich bisher noch nicht probiert habe: Sajonia. Ist mir zu bitter.

Dann finde an einem Stand ein knallrotes T-Shirt mit einem Trinkspruch auf Guaraní (leider mit englischer Übersetzung). Das habe ich gestern schon zusammen mit Lili gesehen. ich frage nach dem Preis. Der ist in Ordnung, aber man kann nur bar bezahlen. So viele Guaraníes habe ich nicht mehr. Ich zähle der Verkäuferin vor, was ich noch habe, und damit gibt sie sich zufrieden.

Auf der Plaza de los Héroes gibt es dann noch einen wunderbaren, kalten, frisch gepressten Saft: durazno – Pfirsich. Und auf dem Rückweg in der Bäckerei eine Flasche Wasser. Der Bäcker kennt mich schon.

Dann komme ich doch noch an den Paraguay. Zufällig. Plötzlich liegt er vor mir. Ich gehe zum Flussufer hinunter. Hier ist der Hafen, man sieht auch eine Zollstation, aber sonst nicht viel. Von der anderen Seite kommt eine Fähre hinüber. In der Ferne sieht man die Pfeiler der im Bau befindlichen Brücke, die den Verkehr mit Argentinien und Brasilien verbessern soll.

Der Paraguay teilt das Land in zwei ganz unterschiedliche Teile. Der Chaco, der etwas größere, aber ganz dünn besiedelte Teil liegt westlich des Paraguay. Da komme ich jetzt doch nicht mehr hin, weil ich bei der Buchung einen Fehler gemacht habe. Schade. Hier kommt man so schnell nicht wieder hin.

Als ich auf dem Rückweg bin, kommt eine Frau aus einem Geschäft, blickt mich kurz an und sagt „Adiós“. Adiós.