Ecuador (2023)

3. Januar (Dienstag)

„Ecuador. Beginnen Sie mit Ecuador.“ Das war, vor vielen Jahren, der Rat eines lateinamerikaerfahrenen Beraters in meinem Reisebüro. „Ecuador ist klein, hat eine gute Infrastruktur und drei völlig unterschiedliche Landschaften: den Regenwald, die Küste, das Hochgebirge. Und Hochgebirge ist wirklich nicht zu hoch gegriffen. Quito liegt auf 2850 Metern Höhe, keine Kleinigkeit. Die Zugspitze auf 2962. Man soll es langsam angehen lassen in den ersten Tagen, heißt es. Und das Kauen von Coca-Blättern wird als Gegenmittel gegen die Höhenluft empfohlen.

Aber erst muss man mal ankommen, am Flughafen von Quito. Der nennt sich der beste Südamerikas. Und tatsächlich: die Wege sind kurz, alles ist hervorragend ausgeschildert, und das Procedere bei Passkontrolle und Zoll ist schnell. Die Koffer laufen schon über das Laufband, als wir dort ankommen.

Zuerst muss ich mir Geld besorgen. Auch das geht schnell. Der Automat spuckt Dollars aus. Ecuador hat 2000 unter seinem Präsidenten Mahuad den Sucre abgeschafft und durch den Dollar ersetzt. Mahuad wurde von seinem Vizepräsidenten Noboa aus dem Amt gedrängt, aber der setzt die Verdollarung fort.

Da ich nur große Scheine bekomme, bestelle ich in einer Cafeteria einen Kaffee und ein Teilchen. Das kostet 7,35 $. Dabei heißt es überall, Ecuador sei ein besonders billiges Reiseland.

Bei der Touristeninformation helfen mir zwei sehr freundliche junge Frauen. Die eine gibt mir einen wirklich brauchbaren Stadtplan, auf dem sogar in einem Ausschnitt meine Straße im historischen Zentrum zu sehen ist, die Galápagos. Die andere erklärt mir, wie ich ins Zentrum komme. Da müsse ich zwei Busse nehmen. Erst den hier vor der Tür zum Terminal Carcelén – das scheint der Busbahnhof zu sein – und dann den Trolleybus in die Stadt, zur Plaza Chica. Auch das ist auf dem Stadtplan alles bestens nachzuvollziehen.

Der Busfahrer sieht mich schon von weitem und ruft ¿„Carcelén? Jaaa, bitte. Er verstaut meinen Koffer und sagt mir, ich solle schon mal reingehen. Bezahlen könne man später. Als es dann losgeht, kassiert er trotzdem nicht ab, erst beim Aussteigen. Zwei Dollar für die lange Fahrt. Der Flughafen liegt weit außerhalb der Stadt, lästig für Reisende, aber gut für die Bewohner.

Es geht über eine moderne Autobahn, aber was für eine Landschaft! Tiefe Schluchten und hohe Berge, mit einem schwarz-weiß-blauen Bilderbuchhimmel. Die Hänge zur anderen Seite sind alle gesichert, von Kopf bis Fuß, und zwar mit Zementplatten. Der Erdrutsch ist hier keine Sache, die man auf die leichte Schulter nehmen kann.

Dann wird es städtisch, mit vielen Industriezonen und vielen Leuten auf der Straße. Dann kommt endlich der Busbahnhof. Ich frage nach dem Trolleybus, ein Mann weist auf die andere Seite des Bahnhofs, und ich mache mich auf den Weg. Plötzlich höre ich eine Stimme hinter mir: „Señor, ¡el pasaje!“ Was, wie? Pasaje? Es stellt sich heraus, dass man Eintritt zahlen muss, um in die andere Hälfte des Bahnhofs zu kommen. 35 Cent. Dafür braucht man dort den Bus nicht zu bezahlen.

Es ist aber noch nicht der Trolleybus, ich muss noch einen Bus nehmen, um zur Station des Trolleybusses zu kommen. Es ist nur eine Station, aber was für eine! Quito muss eine unglaubliche Ausdehnung haben. Ich muss zur Estación Norte. Die Fahrt zieht sich hin, die Gegend ist unschön, und langsam wird es dunkel.

Als wir ankommen, spricht mich ein Mann an, der mitgehört hat, wie ich nach der Estación Norte gefragt habe. Wohin ich denn jetzt wolle. Gut, dann solle ich gleich mit ihm kommen, er nimmt auch den Trolleybus. Er stammt aus Quito und hat gerade seine Frau und seinen Sohn im Norden Ecuadors besucht. Der Sohn studiert dort, Informatik. Mit der Information, dass ich aus Alemania komme, kann er nicht viel anfangen. Muss irgendein fremdes Land sein.

Der Trolleybus hat, jedenfalls auf dem ersten Streckenabschnitt, eine eigene Trasse, so dass es flott vorangeht. Es sind aber noch mal 14 Stationen. Der alte Bus knattert und schaukelt hin und her über die unebene Straße. Bezahlen braucht man auch hier nicht.

Er sagt mir, ich solle keinesfalls zu Fuß gehen, wenn ich an der Plaza Chica ankomme. Gefährlich. Tagesüber kein Problem, nachts nur zu viert. Ich solle gleich gegenüber auf den Platz gehen und ein Taxi nehmen. Er passt auf, dass ich an der richtigen Stelle aussteige selbst fährt weiter. Hat mir sehr geholfen.

Ich habe an der Plaza Chica nur kurz einen Blick für die Umgebung, aber die sieht wunderbar aus mit den weißen, beleuchteten Häusern. Ich bin mitten in der Altstadt gelandet, die meisten Touristen wohnen außerhalb.

Der Taxifahrer muss kurz nachdenken, als ich ihm die Adresse nenne. Ach, da oben. Tatsächlich, es geht steil eine Straße mit Kopfsteinpflaster hinauf. Oben sieht man die erleuchteten Türme einer Kirche.

Der Fahrer weiß nicht genau, wo die Adresse ist, und einmal muss er kurz zurücksetzen, die steile Straße rauf. Das klappt erst im dritten Anlauf.

Als wir die Hausnummer suchen, geht plötzlich direkt vor uns eine Haustür auf. Meine Unterkunft. Eine füllige Frau, in Begleitung einer jüngeren Frau und deren Tochter erscheinen hinter dem Gitter. Ich danke dem Fahrer und gebe ihm zwei Dollar, Trinkgeld inbegriffen.

Die Dame führt mich nach oben. Sie hat selbst genauso viele Schwierigkeiten, die enge Treppe raufzukommen wie ich mit meinem Koffer. Das Zimmer ist gut, hat alles, was man braucht. Dann zeigt sie mir noch voller Stolz die Terrasse oben, mit einem phantastischen Blick hinunter auf die Altstadt. Habe es hier gut angetroffen.

Zu meiner Überraschung macht sich die Frau auf den Weg. Nein sie wohne nicht hier. Sie komme auch nicht mehr, ich solle den Schlüssel einfach im Zimmer lassen am Tag meiner Abfahrt. Sogar dafür gibt es eine eigene Vorrichtung mit Schild neben der Tür.

Nur zu essen gibt es nichts mehr. Hier in der Gegend gebe es nichts, und jetzt rauszugehen, sei zu gefährlich. Glücklicherweise gibt es einen Wasserkocher und ein paar Teebeutel. 

4. Januar (Mittwoch)

Vom Fenster meines Zimmers aus blicke ich direkt auf die Fassade einer Kirche, am Ende einer steilen Treppe gelegen. Es ist die Kirche des Klosters der Augustinerinnen. Schöne Fassade, ganz in Weiß gehalten, mit moderner Rosette und einem Aufsatz, der an unsere Mattheiser-Kirche erinnert. Gestern Abend war sie hell erleuchtet, jetzt sehe ich sie bei Tageslicht. Entgegen der Vorhersagen ist es sonnig und trocken, aber kalt. Die Wollsocken kommen zum Einsatz.

Ich gehe Richtung Stadt, die Galápagos runter. Der obere Teil ist ruhig, im unteren wird es geschäftiger. Vor allem Klempnergeschäfte gibt es hier, eins neben dem anderen. Waschbecken und Kloschüsseln hängen an den Fassaden etwas heruntergekommener Kolonialhäuser.

An einem Haus wird eine Wohnung zur Vermietung angeboten: Arriendo Departamento. Beide Wörter würden in Spanien nicht benutzt.

Die Galápagos geht steil runter, am unteren Ende sind sogar Treppen. Zwei Frauen tragen einen Kinderwagen runter, ein Motorradfahrer schiebt sein Motorrad runter – sieht alles andere als leicht aus – und ein Mann schleppt eine Gasflasche auf dem Rücken hinunter.

Ich komme zum Parque García Moreno, dem Treffpunkt für den Stadtrundgang, mit der imposanten, doppeltürmigen Basilika oben als Abschluss des steil an einem Hügel angelegten Parks.  Am Rande des Parks liegen auf der Wiese zwei Indio-Jungen, in dicke Schlafsäcke und Wolldecken eingehüllt.

Ich frage einen Taxifahrer nach Cafés und Läden. Für die Läden ist es noch zu früh, für die Kaffees soll ich oben in die andere Richtung gehen. Aber auch die Cafés sind noch geschlossen, und in einem gibt es keinen Kaffee.

Dann kommt an einer größeren Straße ein Café, in dem es wie in einer Backstube riecht. Und es sieht auch so aus wie eine Backstube. Das Mädchen serviert mir aus Versehen heiße Milch statt Kaffee. Nehme ich gerne. Als ich rausgehe, nehme ich noch ein Brot und ein Teilchen mit. Die Auswahl ist groß, und alles ist frisch gemacht. Gerade werden aus der Bäckerei Wagen mit frisch gebackenen Waren in das Lokal geschoben.

Auf dem Weg zurück zum Treffpunkt hat man an verschiedenen Straßenkreuzungen einen Blick auf die Hügel der Umgebung. Hoch oben auf einem steht ein geflügeltes Wesen. Das muss der Panecillo sein, und sie muss, wegen der Flügel nicht so leicht zu identifizieren, die Virgen de Quito sein. Der Hügel hat seinen Namen von seiner Form. Sieht wie ein Brötchen aus.

Als ich vor der Basilika wartend herumstehe, werde ich plötzlich von hinten von zwei Frauen angesprochen. Touristenpolizei. Keine Angst, sie wollten mir nur sagen, dass ich gut auf Handy und Geld aufpassen und nachts nicht alleine durch die Straßen laufen soll. Den Pass könne ich im Hotel lassen. Eine Kopie würde genügen. ¡Bienvenido!

Das Bild der Stadt wird bestimmt von Indios und Mestizen, Weiße sind eindeutig in der Minderheit. Vor der Basilika laufen Frauen in traditioneller Kleidung umher, mit schön bestickten Kleidern und den typischen Bowler-Hüten, die in Europa von Männern getragen werden.  Sie bieten selbst gewebte Stoffe und selbst gemalte Bilder an.

Da sich noch nichts tut, sehe ich mir die Fassade der Basilika an. Die hat nämlich etwas Besonderes. Die Wasserspeier an den Traufrinnen sind keine Drachen, sondern einheimische Tiere: Leguane, Schildkröten, Krokodile. Macht Spaß, die zu entdecken.

Eine offensichtlich auch wartende Frau spricht mich an. Sie ist Italienerin und will auch an der Führung teilnehmen. Sie ist schon länger in Ecuador und ist vorher auch schon in Peru gewesen. Sie erzählt, ihre Tochter habe bei der Einreise nach Ecuador Schwierigkeiten gehabt. Sie habe ein Formular zu Corona ausfüllen und einen Nachweis über die Ausreise vorlegen müssen, sonst hätte man sie nicht reisen lassen. Kommt mir bekannt vor. Sie und ihr Mann seien dagegen ohne weiteres eingereist, niemand hätte danach gefragt. Sie hätte ihrer Tochter, die denselben Vornamen hat, in ihrer Not ihr Flugticket zugeschickt, und mit dem habe sie einreisen können.

Unsere Führerin kommt mit reichlich Verspätung. Sie springt für ihren Chef ein. Sie ist sehr jung und hat nicht viel Ahnung, und mit ihrem dünnen Stimmchen fühlt man sich ständig wie in einer Märchenstunde.

Wir gehen erst die Calle de las Siete Cruces entlang, benannt nach den sieben identischen Steinkreuzen, die in dem Vorhof von sieben Kirchen aufgestellt sind. Die Straße heißt jetzt García Moreno. Fast alle Straßen der Altstadt haben zwei Namen, der alte Name ist oft noch in den Mauern in der Form schön gestalteter Kacheln eingelassen. Ich sehe das später bei der Rückkehr auch bei der Galápagos, die früher Guaragua hieß. Da wiederum ist der Name des Lokals, das ich später suche. Das befindet sich aber in der Calle Espejo.

Wir machen Halt an dem Portal eines Klosters, dem Monasterio del Carmen, mit einer geschnitzten Tür. Das ist alles sehr kunstvoll gemacht, und die Motive sehen nicht religiös aus. Es ist wohl das Wappen des Patrons des Klosters. Die Mauern sind aus grauem Vulkanstein, auch einheimisch. Quito hat seinen eigenen Hausvulkan, den Pichincha. Der ist 1999 zum letzten Mal ausgebrochen. Das Wort Pichincha taucht immer wieder auf, es ist auch die Bezeichnung der Provinz, des Bundeslandes sozusagen, zu dem Quito gehört. Auch eine große Bank heißt Pichincha und ein Restaurant.

Der Name Quito kommt aus dem Ketschua und bedeutet so etwas wie ‚ländlich‘, ‚vom Lande‘. Ausgerechnet die Bewohner der Hauptstadt, die quiteños, heißen so.

Wir biegen um die Ecke und stehen plötzlich auf der Plaza Grande, ein Platz, der einem den Atem verschlägt. Auf allen Seiten perfekt erhaltene Kolonialhäuser, alle in Weiß, mit Araukarien und Palmen in der Mitte. Der Platz hat seinen Namen nicht umsonst, er ist wirklich groß. Auf drei Seiten nimmt ein Gebäude die ganze Breite des Platzes ein, der Bischofspalast, der Präsidentenpalast, die Kathedrale. Über dem Präsidentenpalast weht die ecuadorianische Flagge, blau, rot, gelb, dieselben Farben wie die von Kolumbien und Venezuela, Erinnerung an die Zeit, als aus allen dreien (plus Panama) ein einziges Land werden sollte.

Wir gehen in den Bischofspalast und seinen wunderschönen Innenhof. Hier ist heute Gastronomie untergebracht. Wir bekommen ein landestypisches Bonbon zu probieren. Man lässt es auf der Zunge zergehen und dann tritt ein Likör aus. Das Bonbon ist sehr süß, aber bei mir ist statt Likör wohl Schnaps drin, und der bildet einen leckeren Kontrast dazu.

An einer Ecke steht das ehemalige Gebäude der Bank von Ecuador, heute Museum. Die Führerin hat den Wechsel von Sucre zu Dollar nicht mehr mitbekommen, aber ihre Eltern wohl. Sie haben damals die Abschaffung des Sucre bedauert. Da seien eben auch ecuadorianische Motive zu sehen gewesen sein auf den Münzen und Scheinen.

Wir gehen kurz in eine über und über mit Gold ausgestattete Kirche und kommen dann an der extravagantesten Kirche Quitos, ausnahmsweise steinsichtig, vorbei, der Kirche der Jesuiten mit einer tollen barocken Fassade mit salomonischen Säulen.

Dann kommt die ebenso große Plaza de San Francisco, mit der erhöht liegenden Franziskanerkirche, wieder ganz in Weiß, an einer Seite des Platzes. Die Fassade mit den beiden Türmen sieht gar nicht franziskanisch bescheiden aus.

Zur Kirche führt eine Treppe hinauf, an deren Seiten eine Schutzmauer steht. Dort gibt es steinerne Ablaufrinnen für Wasser, sieben auf der einen, acht auf der anderen Seite. Dazu erzählt die Legende, dass ein Junge namens Benjamin wegen seines frechen Betragens und seines Lotterlebens dazu verurteilt worden war, den gesamten Platz vor der Kirche innerhalb eines gesetzten Frist zu pflastern. Die Frist verstrich, und Benjamin wandte sich in seiner Verzweiflung an den Teufel. Der versprach Hilfe, forderte dafür aber Benjamins Seele. Der gab sein Einverständnis, unter der Bedingung, dass kein Stein fehlen dürfe. Der Teufel vollendete sein Werk innerhalb einer Nacht und forderte Benjamins Seele. Der aber hielt den einen Stein in der Hand, den die Teufelchen vergessen hatten, einen Stein der achten Ablaufrinne. Der Oberteufel verwandelte in seiner Wut die Teufelchen in Tauben, und die tummeln sich heute auf dem Platz vor der Kirche.

Auf einem der Pflastersteine vor der Kirche ist eine vierstellige Nummer eingeritzt. Der Stein erinnert an jetzt fast abgeschlossenen den Bau Metro, die auch hierher verläuft. Da der Platz unter Denkmalschutz steht – ganz Quito ist auch Weltkulturerbe – musste jeder einzelne Stein nummeriert und wieder an derselben Stelle eingesetzt werden.

Hinter der Fassade der Kirche verbirgt sich ein riesiger Klosterkomplex mit mehreren großen Kreuzgängen oder Innenhöfen. Hier lebten ehemals bis zu 500 Mönche, jetzt sind es noch 20.

Der nicht bewohnte Teil des Klosters ist jetzt Museum. Hier kann man sogar die ehemalige Brauerei besichtigen, die älteste Quitos. Ein deutscher Mönch namens Ricke hatte die Gerste aus Deutschland mitgebracht. Damit begann die Tradition der Klosterbrauerei. Die Mönche bekamen einen Liter zum Frühstück und einen Liter vor dem Schlafengehen. Es musst also ordentlich gebraut werden.

Man sieht die alten Gerätschaften und verfolgt den Herstellungsprozess. Der unebene Boden mit der Rinne in der Mitte diente dem Transport der Flüssigkeit von einer Stelle zur anderen. An den Wänden hängen alte Bilder, auf denen die Beteiligten, wie der Küfer oder der Brauer, ihre Arbeit beschreiben – auf Deutsch!

Alles ist im Original  erhalten, nur die Flaschen nicht. Man hat keine Beschreibungen oder Bilder von den Krügen, aus denen getrunken wurde. Anhand eines Modells sieht man eine typische Mönchsmahlzeit: Brot, Käse, Suppe, Bier.

Wir kommen durch Räume, in denen die Decken aus Holzlatten und Baumästen besteht. Diese Decken haben alle Erdbeben unbeschadet überstanden.  

Die Kunst, meist sakrale Kunst, aber nicht nur, ist in den endlosen Gängen des Klosters untergebracht. Man sieht ein wunderbar gemachtes Tischchen aus Marmor und Schildkrötenpanzer,  ganz ohne Nägel oder Klebstoff, einfach wie ein Mosaik zusammengesteckt.

Bei einem Abendmahl, eher konventionell, sieht man, wie das Brot in Weidenkörben in großen Stücken aufgetragen wird. Dazu serviert ein Mönch eine Suppe. An der Seite ein großer Krug Bier.

Man sieht eine verzierte Grablege. Hierin wurde der Leichnam des verstorbenen Mönchs drei Tage lang aufgebahrt. Am hinteren Ende eine Uhr, die eine unmögliche Zeit anzeigt, Anspielung auf die andere Zeitregelung, die im Jenseits gilt.

Am interessantesten ist der Ersatz von Holz bei den Skulpturen durch Stoff. Die Stoffe werden tagelang gestärkt, dann in Form gebracht und den Holzskulpturen umgehängt. In einigen Fällen sind nur Kopf und Hand aus Holz, innen, unter dem Gewand, ist alles hohl. Bei einer Christusfigur soll sogar das Bein aus Stoff sein. Man kann es kaum glauben. Bei einigen Figuren ist der Kopf nicht aus Holz, sondern ein echter Menschenkopf. Bei einem Petrus sieht man sogar die Zähne durch leicht geöffneten Mund. Unglaublich!

Wir gehen auf die Empore und sehen in das auf allen Seiten vergoldete Kirchenschiff hinunter. Hier oben ist auch so eine Mosaikdecke angebracht, wie bei dem Tischchen. Darunter steht das große Notenpult für den Mönchsgesang. Das Pult hat ein Eingangstürchen. Dort konnte ein Mönch sich einlassen und das Notenpult drehen, so dass die Mönche auf beiden Seiten mitsingen konnten.

Zum Abschluss steigen wir noch auf den Turm. Der ist jetzt nur noch einstöckig. Der alte zweistöckige Turm wurde bei einem Erdbeben zerstört, wie man auf Photographien sehen kann. Man ging bei dem Wiederaufbau dann auf Nummer Sicher.

Von oben hat man einen schönen Blick auf den Platz, auf die Dächer der Stadt, auf die Marienstatue und auf den Vulkan auf der anderen Seite.

Dort in der Nähe, erklärt die Führerin, habe eine bedeutende Schlacht stattgefunden, aber worum es ging, wann sie stattgefunden hat und wer gegen wen kämpfte, weiß sie nicht. Stattdessen spricht sie gerne über die schwerste Glocke, das größte Gemälde oder die älteste Kirche Quitos.

Wir gehen noch in ein Wohnhaus, wo der Verkaufsraum einer Schokoladenfabrik untergebracht ist. Schokolade mit einem Schokoladenanteil mit bis zu 100%. Ob das schmeckt? Die Italienerin kauft sich eine. Die Schokolade wird als die „beste der Welt“ beworben und ist entsprechend teuer.

Die Führung geht zu Ende. Die Führerin bringt mich noch zu dem Lokal, das ich suche, dem Guaragua. Unterwegs kaufe ich einem ambulanten Verkäufer Coca-Blätter ab. Bisher habe ich die dünne Luft allerdings noch nicht gespürt, auch nicht bei dem Aufstieg auf die Türme der Franziskanerkirche.

Das Guaragua ist ein kleines Lokal in der Fußgängerzone, aber abseits der Plätze mit den touristischen Lokalen. Ich nehme das Menu. Es gibt eine Suppe, eine Kartoffel-Gemüse-Suppe mit Kräutern, die Sopa de Abuela heißt und auch in anderen Ländern von der Oma zubereitet sein könnte. Dann gibt es Hähnchen mit Reis und Salat und zum Abschluss ein winziges Papayatörtchen. Das kostet insgesamt 3,25 $. Eine kleine Flasche Bier kostet 3 $.

Auf dem Rückweg gehe ich noch in einen Supermarkt, zur Aufstockung von Tee und Wasser und Keksen. Ich sehe mich noch ein bisschen um. Milch gibt es überhaupt nicht, dafür Joghurt in großer Auswahl. Schinken gibt es auch nicht, nur verschiedene Sorten von falschem Kochschinken, der wie Mortadella aussieht und vermutlich auch so schmeckt. Käse gibt es als Weichkäse, als Hartkäse nur in Scheibenform und teuer.

Dann geht es durch ein unbekanntes Viertel mit viel Volks und Geschäften und Lokalen nach Hause. Am Ende steht der steile Aufstieg die Galápagos hinauf.

5. Januar (Donnerstag)

Der Tag beginnt mit Coca. Ich versuche es erst einmal als Tee, als Aufguss. Schmeckt nach nichts. Da muss wohl eine stärkere Dosis ran.

Das der Wohnung gegenüberliegende Kloster der Augustinerinnen ist noch in Betrieb. Die Nonnen leben zurückgezogen und stellen Süßigkeiten und Fruchtsäfte her. Ursprünglich waren sie in Popayán, in Kolumbien, ansässig, wurden dort aber ausgewiesen und kamen auf Eselsrücken die 600 Kilometer hierher. Der Bischof wies ihnen das von den Augustinern verlassene Kloster zu.

Auf dem Weg in die Stadt komme ich an einer Imbissstube vorbei, die auch Frühstück anbietet. Wieder bekomme ich heiße Milch statt des Kaffes. Jetzt merke ich, was Sache ist: Man bekommt zu der Milch einen Glas mit löslichem Kaffee. Den Milchkaffee bereitet man sich selbst zu. Es gibt Saft, wohl Maulbeersaft, einen Toast und Spiegeleier.

Der erste Weg führt mich zur Touristeninformation, direkt an der Plaza Grande gelegen. Die beiden Mädchen erledigen ihre Aufgabe pflichtschuldig, aber ohne übermäßigen Eifer. Halb zufrieden mit der Information ziehe ich weiter.

Auf dem Weg zum Museo Nacional passiere ich in der Fußgängerzone eine lange Schlange, die bis um die Ecke geht. Ich sehe erst nicht, was das ist. Es ist eine Bank. Ein Mann erklärt mich, was los ist: Man muss eine Gebühr für seine Immobilie bezahlen. Die wird jedes Jahr am Anfang des Jahres fällig.

Neben der Schlange steht eine moderne Bronzeskulptur. Sie stellt einen Architekten dar. Er sieht sehr dynamisch aus, ist in Bewegung und hebt eine Hand in die Höhe, um auf etwas aufmerksam zu machen. In der anderen Hand hält er eine zusammengerollte Zeichnung.

Auf der anderen Straßenseite steht vor einem weiteren Kloster eins der Kreuze, die die Calle de los Siete Cruces ausmachen.  

Ich muss abbiegen auf die Guayaquil, der größten Straße der Altstadt. Sie ist benannt nach Ecuadors größter Stadt, an der Küste gelegen.

Ich frage einem Mann nach dem Weg zum Parque El Ejido. Er besteht darauf, Englisch zu sprechen. Und empfiehlt mir den Trolleybus. Die Haltestelle ist gleich hier. Zwei Stationen. Man zahlt den Fahrpreis, 35 Cent, an einem Kassenhäuschen und geht dann durch ein Drehkreuz. Die Empfehlung des Mannes hat sich gelohnt. Es ist noch ein ganzes Stück weg.

Auch im Park muss man noch ein ganzes Stück gehen. Ich bin jetzt in einem ganz anderen Viertel, La Mariscal, dem zweiten Viertel Quitos von touristischem Interesse.

Die Leute wissen nicht, wo das Museo Nacional ist. Es ist gerade renoviert und neu eröffnet worden, und ich verspreche mir davon, das zu bekommen, was es gestern bei dem Stadtrundgang nicht gab. Zwei junge Leute wissen Bescheid. Und können auch erklären, warum keiner das Museo Nacional kennt.  Es läuft hier unter dem Namen Casa de la Cultura. Sie sagen mir, wo ich lang gehen soll, sagen mir, ich solle vorsichtig sein und nennen zwei Orientierungspunkte: Das Museo Nacional liegt gegenüber von Kentucky Fried Chicken und McDonalds.

Der Park hat einen Triumphbogen mit vielen Figuren, eine moderne Skulptur, die einen Bären darstellt und viele auffällige Bäume, vor allem Platanen und Araukarien (die anders aussehen als bei uns) und Zypressen, die nicht wie Zypressen aussehen, mit einem breiten Stamm, der sich schon in Kniehöhe in verzweigt.

Dann kommt endlich die Casa de la Cultura. Sie ist ein großer Komplex mit Theater, Kino, Konzertsaal und Skulpturengarten und einem alten und einem neuen Gebäude. Man muss um das neue einmal fast rum gehen, um an sein Ziel zu kommen. Ich frage den Wachmann, ob das der Eingang sei. Er nickt, sagt aber „No hay atención“. Es dauert was, bis der Groschen fällt bei mir: Geschlossen. Es gibt kein Licht. Morgen vielleicht wieder.

Blöd. Zumal auch das Lokal, das ich mir rausgesucht habe, hier in der Gegend, in La Mariscal, liegt. Aber fürs Mittagessen ist es zu früh.

Es geht zurück in die Stadt, diesmal mit einem anderen Trolleybus. Beim Eingang gibt es Verwirrung. Der Mann hinter der dunklen Scheibe gibt mir Geld, aber keine Fahrkarte. Es gibt nur Wechselgeld. Man muss das Geld in einen Schlitz vor dem Drehkreuz eingeben.  Ich muss jemanden bitten, mir bei der Identifizierung der Münzen behilflich zu sein: 25 plus 10 Cent.

In der Stadt geht es von einem weiteren Busbahnhof aus zu Fuß eine steil ansteigende Straße rauf Richtung Plaza Grande. In der fußläufigen Straße ist viel Betrieb, ein kleiner Laden reiht sich an den anderen.

Als Ersatz für das Museo Nacional entscheide ich mich für das Museo Numismático, auch aus praktischen Gründen. Ich weiß, wo es ist. Vorher sehe ich mir aber noch die Jesuitenkirche an, La Compañía, mit seiner beeindruckenden Barockfassade. Die wurde von einem deutschen Jesuiten begonnen und von einem italienischen vollendet. Der Baubeginn war 1605, die Einweihung der noch nicht vollendeten Kirche 1613. Als die Jesuiten 1767 ausgewiesen wurden, blieb die Kirche verlassen, bis sie 1807 an einen anderen Orden ging und dann, 1860, an die Jesuiten zurückging.

Hier wird Eintritt genommen, 5 $ für Ausländer, die Hälfte für Einheimische. Dafür darf man nicht photographieren und es gibt keine Broschüre und keinerlei Beschriftungen.

Der Eindruck ist von Beginn an überwältigend, was auch immer man von dieser Kunst hält. An den mächtigen Pfeilern hängen Gemälde, aber alles andere ist vergoldet die Pfeiler, die Säulen, die Kanzel, die Decke, die Orgelbühne, die Altäre, die Brüstungen. Das eigentliche Mauerwerk ist, außer in den Kuppeln, nirgendwo zu sehen.

Eine besondere Wirkung zeigt die Decke. Kreuz, Rose und Jesuitenemblem setzen sich in einer scheinbar unendliche Folge fort, und dazwischen sind Schmuckelemente, die wie die Schriftzeichen einer unbekannten Schrift aussehen, etwas zwischen Hindi und Arabisch. Die Wirkung ist durch den Lichteinfall der Kuppel ganz von vorne ganz anders als von hinten.

Die Gemälde an den Pfeilern stellen Propheten aus dem Alten Testament dar, Jeremias, Habakuk, Daniel, Abdias, mit Spruchbändern in den Händen. Sie sehen athletisch aus und stehen in einer wahrlich alttestamentarischen Landschaft. Die Gemälde und Figuren an den Seitenaltären sind dagegen reiner Kitsch.

An der Kanzel sieht man sehr weltlich aussehende, leicht bekleidete Engelchen und Galionsfiguren zwischen den Heiligen.

Im Westen führt neben dem Ausgang eine Wendeltreppe auf die Orgelbühne. Auf der anderen Seite des Ausgangs hat sie ihr Pendant in einer gemalten Wendeltreppe in trompe-l’œil-Technik.  

Dann geht es gleich zum Museo Numismático. Aus unerfindlichen Gründen muss man draußen Schlange stehen. Dabei ist drinnen kaum jemand. Dann muss man zur Rezeption und sich mit Namen, Ausweisnummer  und Telefonnummer registrieren. Um ein Museum zu besuchen. Eintritt frei, aber nur für Einheimische. Ausländer zahlen einen Dollar.

Es gibt Gegenstände und Materialien aus der Vorzeit, die etwas mit dem Geldgeschäft zu tun haben, aus Perlmutt, Obsidian und Muscheln. Es ist aber umstritten, ob sie eine reguläre Währung bildeten. Es scheint keine Produktionsstätten gegeben zu haben, obwohl einige flache Äxte aus Kupfer so gleichförmig aussehen, als wären sie in Serie entstanden.

Aus der spanischen Zeit gibt es eine Reihe von Münzen, darunter den Maravedí. Die Einheit war nicht 12 und auch nicht 10, sondern 8. Für 8 Maravediés gab es einen Tostón und für 8 Tostón einen Escudo.

In Ecuador gab es schon bald nach der Unabhängigkeit den Sucre, aber ohne eine Zentralbank, die den Geldverkehr und die Geldproduktion in der Hand hatte. Die Zentralbank wurde erst 1926 gegründet, von da an gab es kontrollierte Währung, mit dem Sucre als Einheit und dem Centavo als Untereinheit. In verschiedenen Zeiten wurden verschiedene Geldscheine ausgegeben. Alle haben gemeinsam, dass sie sehr bunt sind und dass die Größe kaum auf den Wert schließen lässt. Die Motive sind bunt gemischt, mal Simón Bolívar, mal ein Wappen, mal eine Schildkröte, mal eine allegorische Figur, mal ein Präsident.

Die wirtschaftliche Lage bestimmt die Währung. In der Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre kam es zu einer Inflation und zur Ausgabe von Geldscheinen bis zu 500 und 1000 Sucre. Die Wirtschaftskrise war bedingt durch den fehlenden einheimischen Absatzmarkt, durch Ausbeutung, instabile Politik und soziale Probleme. Dazu kam zu allem Übel noch ein Krieg mit Peru.

Zu Beginn der vierziger Jahre kam es zu einer leichten Erholung, die typischen Produkte wie Reis, Kaffee, Baumwolle und das Stroh für den Panama-Hut fanden wieder besseren Absatz. Dann kam der große Bananen-Boom. In Ecuador florierte die Gesellschaft, letztlich eine Folge des Niedergangs des Bananenanbaus in Mittelamerika. Jetzt wurden wieder neue Geldscheine herausgegeben.

Dann drehte sich das Blatt wieder in den neunziger Jahre. Es kam erneut zu Krise und Inflation. Geldscheine mit Werten bis zu 50.000 Sucre wurden ausgegeben. Die hießen volkstümlich wegen ihrer Größe sábanas, ‚Betttücher‘. Zur gleichen Zeit wurden auch Münzen geprägt, die nie in Umlauf kamen, wegen der unpopulären Aufrundung der Preise, die sie bedeuten würden. Sie hießen im Volksmund borrachitas wegen der Vorliebe des abgebildeten Präsidenten für Spirituosen.

Über die Einführung des Dollars legt das Museum den Mantel des Schweigens.

Als ich aus dem Museum komme, hat es angefangen zu regnen. Geschäftstüchtige Verkäufer haben sofort Regenschirme im Angebot.

Ich flüchte vor dem Regen in das erstbeste Lokal. Das Menu ist fast identisch mit dem von gestern, erst Suppe, dann Hähnchen mit Reis und Salat. Es gibt keinen Nachtisch, dafür ein paar Bananenstücke und Popcorn. Und das Essen ist noch etwas günstiger: 3 $.

6. Januar (Freitag)

Von den ersten vier Autos, die ich am Morgen sehe, sind drei Taxis. Sie begegnen sich an der kleinen Kreuzung vor dem Haus. Zwei kommen steil runter aus unterschiedlichen Richtungen, eins muss steil rauf auf der schmalen Straße mit den Pflastersteinen.

Es steht ein Ausflug zur Mitad del Mundo an. Ich soll um halb neun abgeholt werden. Um Viertel vor neun bekomme ich die Nachricht, dass der Bus in zehn Minuten komme. Der kommt dann um neun.

Das Warten lässt sich aber gut aushalten. Es ist sonnig und einigermaßen warm. Und von hier an der Ecke hat man einen schönen Blick die Straße runter, der mir sonst entgangen wäre. Auf der rechten Seite hübsche Wohnhäuser in unterschiedlichen Farben, dahinter die weißen Kirchtürme der Stadt und hinten die Berge. Vorne, wie ein Vorhang, das Gewirr der Stromleitungen.

Der Bus ist ein Kleinbus, ganz modern. Hinten sitzen ein Brasilianer und eine Französin mit ihrem kolumbianischen Freund. Wir lernen uns im Laufe des Tages kennen. Sie haben schon gestern eine Stadtbesichtigung mit unserem Reiseführer gemacht und erzählen davon.

Die Fahrt geht durch La Mariscal du dann durch hässliche Außenbezirke, und es geht nur schleppend weiter. Dann fahren wir an eine Tankstelle. Hier soll Alejandro, unser Führer, zusteigen, aber der ist noch nicht da. Wir drehen ein paar Runden um den Block, bloß damit die Zeit vergeht. Ich frage mich langsam, ob es eine gute Idee war, diesen Ausflug zu buchen. Es sind schon zwei Stunden vergangen, seit ich mich vor der Haustür postiert habe. Aber die Befürchtungen erweisen sich als unberechtigt. Es wird ein richtig toller Tag.

Dann kommt Alejandro, ein sympathischer, gewiefter Mann, der zu allem etwas zu erzählen hat. Er fragt mich, wie es vorgestern gewesen sei, und erst dann begreife ich, dass er vorgestern eigentlich die Führung hätte machen sollen, dann aber seine Stellvertreterin geschickt hat.

Wir kommen durch einen Vorort. Dies ist immer noch Quito. Alejandro erzählt, Quito habe eine Nord-Süd-Ausdehnung von 76 Kilometern! Ost-West seien es nur 5 Kilometer. Quito sei wie eine Wurst.

In dem Zusammenhang wird auch die Metro erwähnt. Wir haben vorgestern bei dem Rundgang schon den Eingang zu einigen Metrostationen gesehen, aber die Metro steht erst kurz vor der Eröffnung. Alejandro zufolge wird die Strecke vor allem die südlichen Stadtteile mit dem Zentrum verbinden, der Norden wurde bei der Planung vernachlässigt.

Am Straßenrand sieht man eine Gruppe von Demonstranten mit orangefarbenen Fahnen  und orangefarbenen T-Shirts, Anhänger eines politischen Partei, einer traditionellen, aber heute unbedeutenden Partei. Es stehen Wahlen Gemeindewahlen an. Bürgermeister und Stadtverordnete werden gewählt. Für das Amt des Bürgermeisters gibt es gleich 20 Kandidaten.

Dieser Vorort ist der Geburtstag von García Moreno, den ich bisher nur von dem Straßennamen her kenne. Er ist ein ehemaliger, sehr umstrittener Präsident. Er wurde Opfer eines Attentats, und seine Körperteile sind auf verschiedene Orte verteilt, einer davon die Kathedrale: Que sus piezas descansen en paz – Möge seine Teile in Frieden ruhen.

Jemand fragt nach dem Militärdienst. Ist nicht mehr obligatorisch, seit ungefähr zehn Jahren. Der Fahrer bemerkt, früher, als er noch obligatorisch war, hätten sich alle gedrückt, heute, wo es nicht mehr obligatorisch ist, könne sich die Armee vor lauter Bewerbungen nicht retten.

Wir kommen an der Schule vorbei, zu der Alejandro gegangen ist. Das Schulsystem teilt sich in zweimal sechs Jahre auf, sechs Jahre Primarstufe, sechs Jahre Sekundarstufe.

Langsam kommen wir unserem Ziel näher, es wird ländlicher, kein Verkehr mehr, und dann kommen wir in eine raue, kahle Gebirgslandschaft. Es geht immer weiter rauf, und plötzlich wird es wieder grüner. Die Erklärung gibt es später.

Wir kommen in die Reserva Geobotánica Pululahua. Am Eingang müssen wir uns registrieren, aber nichts bezahlen. Wir kommen an ein Geländer, und unter uns bietet sich ein richtiges Naturspektakel dar. Ein Kessel, umgeben von hohen, grünen Bergen, mit einer großen, flachen Ebene, eingehüllt in Nebelschwaden. Unten in dem Kessel Häuser und Felder. Wir stehen vor einem Vulkan!

Der Vulkan ist vor 2500 Jahren, erdgeschichtlich eine kurze Zeit, ausgebrochen und hat den Krater mit dem fruchtbaren Boden geschaffen. Das erklärt auch, dass es hier grüner wurde, als wir höher kamen. Hier unten werden Agaven angebaut und Beeren und Orchideen. Eine gelb blühende Orchideenart wird besonders mit dieser Gegend verbunden.

Ich frage nach Alexander von Humboldt, den Alejandro vorher mit einem Zitat erwähnt hat. Alejandro berichtet, dass er hier nicht nur die Natur erforsch hat, sondern auch politisch aktiv war im Rahmen des Kampfes für die Unabhängigkeit. Carlos de Mantúfar, Humboldts Freund,  war ein ecuadorianischer Adeliger und einer der Führer der Unabhängigkeitsbewegung. Alejandro erzählt, dass man vermutet, dass ihre Freundschaft keine rein platonische war. Das ist bei Humboldt bei allen seinen Freunden so.

Wir fahren weiter und kommen zur Mitad del Mundo. Hier hat man die Lage am Äquator für touristische Angebote ausgeschlachtet, aber es ist nicht überlaufen, überall herrscht eine angenehme Atmosphäre.

Alejandro erklärt, die ganz genaue Stelle des Äquators befinde sich 300 Meter von hier entfernt, in den Bergen. Wir sind auf dem Längengrad 0,003232. Das ist nah genug.

Hier kann man sich vor oder hinter den Buchstaben Mitad del Mundo photographieren lassen. Das tun wir auch alle.

Wir kommen zu einem Teil, wo man drei unterschiedliche Hütten der Ureinwohner nachgebaut hat, eine aus dem Amazonas, eine aus der Cordillera, eine aus der Küste. Sehr interessant. Auf den ersten Blick sehen sie gleich aus. Sind sie aber nicht. Die Hütte des Amazonas hat leichte Wände aus Rohren, die der Cordillera sind aus Adobe, Ziegeln aus Lehm, Stroh, Sand und Tierkot. Es sind richtig dicke Wände. In der Amazonas-Hütte sind die Betten kurz mit einer Halterung für die Füße. Der Grund ist, dass man sie auch für die Arbeiten benutzt. Dann sitzt man auf dem kurzen Bett und stützt die Beine auf die Halterung davor. In dieser Lage kann man zum Beispiel Kakaobohnen oder Mais mahlen.

An der Wand der Amazonas-Hütte hängen ein Federschmuck und ein Skalpell, der Tzantza. Wenn ein Feind besiegt wurde, wurde der Kopf des toten Anführers des Gegners entleert, sodass nur noch die Gesichtshaut und die Haare übrigblieben. So geschrumpft, konnte er konserviert und an der Wand der Hütte aufgehängt werden.

Die Cordillera-Hütte besteht aus zwei Teilen, einem privaten und einem öffentlichen. Der öffentliche ist rund und hat ein Totem in der Mitte. Um das Totem herum wurde getanzt, in der Präsenz des Diablo Huma, einer doppelgesichtigen ausgestopften und bunt bekleideten Puppe, deren vorderes Gesicht das irdische Geschehen betrachtet und das hintere das geistige Geschehen.

In dem privaten Teil liegt auf dem Bett das Fell eines männlichen Lamas. Das war die Bettdecke.

Um das Feuer in einem Loch im Boden herum stehen drei Steine als Sitzgelegenheiten, für Vater, Mutter und Kind. Jeder von ihnen war beim Kochen nur für eine Sache zuständig, Yucca, Mais, Fleisch oder Ähnliches, denn sie mussten die gesamte Großfamilie versorgen. Arbeitsteilung war angesagt.

Die Cordillera-Hütte hat sogar ein extra Stockwerk, eine Art Mezzanin-Stockwerk. Dort wurden die Lebensmittel verwahrt. Wenn jemand heiraten wollte, war er vorher ein Jahr lang für die Verwaltung und Konservierung der Lebensmittel zuständig. Wenn am Ende des Jahres noch genug da war, hatte er die Probe bestanden.

Die Küsten-Hütte steht, aus naheliegenden Gründen, auf Stelzen. Sie ist ganz aus Bambus gemacht, und überall sind Gerätschaften für den Fischfang ausgelegt.

Das Dach ist aus Stroh gedeckt, aus paja toqilla. An der Wand hängt ein Hut. Was hat es mit dem auf sich? Es ist ein handgeflochtener Hut, aus demselben Stroh gemacht. Es gibt unterschiedliche Qualitäten, die wiederum mit der Herstellungszeit zusammenhängen. Die kann bis zu 3-4 Monate für einen einzigen Hut betragen. Diese Hüte stammen aus Ecuador, heißen aber bei uns Panamahut, Für die Verwechslung wird folgende Erklärung angeboten: Ein ecuadorianischer Präsident traf sich mit Roosevelt in Panama und brachte ihm einen Hut aus Ecuador mit. Als Roosevelt nach Hause kam, war das eben der „Hut aus Panama“, der Panamahut. Die Verwechslung hat aber noch frühere Wurzeln, darunter die Regelung, dass Waren aus Amerika nicht direkt in die USA exportiert werden durften, sondern den Umweg über Panama machen mussten.

Dann geht es zurück in die Gegenwart. Wir kommen zu einer Eisdiele. Dort können wir eine Kupferschüssel in die Hand nehmen, um zu sehen, wie schwer sie ist. In dieser Schüssel wird das Eis hergestellt. Nur Fruchtmasse und Eis. Also ein Wassereis. Es gibt eine ordentliche Auswahl an exotischen Früchten: Maracuja, Kokosnuss, Bitterorange, Feige und andere, deren Namen ich nicht kenne oder an die ich mich nicht erinnere, darunter guanabo und taxo. Beim Eisessen entspinnt sich eine lebendige Konversation über exotische Früchte und Vorlieben und Sprache. Die Französin kennt sich gut aus, der Kolumbianer und unser Reiseführer sprechen über verschiedene Bezeichnungen für ein und dieselbe Frucht oder dasselbe Wort mit unterschiedlichen Bedeutungen. Ich bekomme nur mit, dass taxo in Kolumbien curuba heißt. Ich tippe auf Passionsfrucht im Deutschen, aber die Französin meint, das sei noch was anderes. Eine andere Frucht ist wie der Granatapfel, aber von anderer Farbe und Geschmack.

Größere Verwirrung gibt es, Alejandro zufolge, mit den Wörtern guava und guayaba und guanabana. Zwei sind identisch, eine ist anders, und zu allem Übel verwendet das Englische eins der Wörter für eine andere Frucht als das Spanische.

Sie kommentieren auch mein Spanisch und die typischen Wörter und Wendungen, die für sie nach Spanien klingen. Der Kolumbianer hat ein feines Ohr für Unterschiede. Ich frage, ob sie, Ecuadorianer und Kolumbianer, sich auch an der Sprache identifizieren können. Beide sagen ja. Ich höre keinen Unterschied.

Bei der Französin ist mir aufgefallen, dass sie oft chevere sagt. Das hat sie natürlich von ihrem Freund übernommen. Sie bringt mir noch chimba als etwas deftigere Alternative bei. Vorsicht, sagt Alejandro, in Ecuador bedeutet ein ganz ähnliches Wort, chimbo, genau das Gegenteil.

Der Kolumbianer ist Französischlehrer und wohnt jetzt zusammen mit seiner Freundin in Nizza. Er stammt aus Medellín und kennt natürlich auch Sabaneta. Der Brasilianer war Weihnachten dort. Wie er dahingekommen ist, weiß man nicht, aber er scheint ein gutes Netzwerk von Freunden zu haben. Dort fährt er hin, kommt irgendwo billig unter und arbeitet online. Auch hier in Quito arbeitet er. Demnächst will er nach Albanien.

Nach dem Eis kommt das Bier. Wir besichtigen das Biermuseum. Es stellt sich heraus, dass Alejandro viel versteht von dem Geschäft, sogar Biersommelier ist. Er kennt auch ausgefallene Sorten wie Berliner Weiße. Die Erklärungen sind so verwickelt, dass ich den Faden verliere. Interessant die Kontrolle der Temperaturen. Erst einmal muss man wissen, dass Wasser nicht unbedingt bei 100° kocht. Mit größerer Höhe ist eine niedrigere Temperatur notwendig. Beim Brauprozess geht es bei den beiden Fermentationsprozessen auch in erster Linie um die Temperatur. Beim ersten muss die Temperatur, ohne Zugabe von anderen Dingen, von dem Siedepunkt auf 10° gekühlt werden, beim zweiten geht es darum, die Temperatur längere Zeit stabil zu halten. Kleinere Abweichungen würden sofort den Geschmack verändern.

Wir bekommen eine Bierprobe, verschiedene Sorten, dunkle und helle. Mir schmeckt die gängigste am besten.

Dann kommen wir zu dem eigentlichen Punkt, an dem der Äquator bezeichnet ist, mit einem riesigen, viereckigen Klotz in der Mitte, von dem aus in alle vier Richtungen gelbe Streifen einen geraden Weg markieren.

Wir machen verschieden Experimente, die belegen sollen, dass wir am Äquator sind. Glücklicherweise wird uns das Experiment mit dem unterschiedlich abfließenden Wasser erspart, aber auch die anderen grenzen an Hokuspokus. Da behalte ich aber für mich. Wir laufen zum Beispiel mit geschlossenen Augen über die gelbe Linie. Angeblich soll das hier schwieriger sein. Tatsächlich machen die Französin und ich es schlecht, aber der Kolumbianer und der Brasilianer machen es gut.

Interessanter ist eine Sonnenuhr, die nicht die Stunde, sondern die Jahreszeit angibt. Hier wird gefragt, wie die Indios, die Quitos, die ursprünglichen Bewohner der heutigen Provinz Pichincha (die später von den Ketschuas assimiliert wurden), schon wussten, dass sich hier der Äquator befindet. Sie hatten Handelsbeziehungen zu anderen Stämmen, und bei ihren Reisen fiel ihnen auf, dass dort die Tage unterschiedlich lang waren, während hier die tage das ganze Jahr über gleich waren. Der andere Hinweis war der Schatten und wie der sich im Laufe des Jahres verkürzt. An zwei Tagen des Jahres, zur Sommersonnenwende und zur Wintersonnenwende, gibt es für ein paar Minuten gar keinen Schatten. Beide Tage waren für die Quitos Festtage. Diese zwei Linien sind hier an der Sonnenuhr markiert. Je näher man an der Sonnenwende ist, umso kürzer wird der Schatten, bis er auf kurze Zeit ganz verschwindet. Muss ein merkwürdiges Gefühl sein, das zu erleben.

Zum Schluss können wir noch Photos machen, mit den Beinen zu beiden Seiten der gelben Linie stehend, mit einem Bein auf der Nordhalbkugel, mit dem anderen auf der Südhalbkugel.

Auf der Rückfahrt legt der Brasilianer einen Schlaf ein. Ich unterhalte mich mit den beiden noch über Gott und die Welt, über Pünktlichkeit, über Reisen und über Sprache. Sie sind auch verblüfft über den gelassenen Umgang der Ecuadorianer mit Pünktlichkeit. Auch zwischen ihnen beiden ist es ein Thema. Er sei zwar nicht unpünktlich, mache alles aber auf den letzten Drücker. Damit tut sie sich schwer. Sie berichten von ihrer Reise nach Peru.  Dort waren sie mehrere Tage ganz tief im Urwald. Erzählen ganz begeistert davon. Mit ihrer Einreise nach Kolumbien haben sie es clever gemacht. Sie haben für die Ausreise ein Ticket gebucht, das man stornieren kann! Clever gemacht!

Ich hole meinen Reiseführer raus und „teste“ ihn, frage, ob er die umgangssprachlichen Wörter kennt, die dort aufgelistet sind. Er kennt sie alle! Spricht für die Aktualität des Reiseführers. Am besten gefällt mir perico. Das kann sowohl Kokain als auch ein Milchkaffee als auch ein Rührei mit Tomaten sein! Sie sagt von ihm, er sei ein buñuelo, ein schlechter Autofahrer. Kann auch ganz allgemein jemand sein, der ungeschickt ist. Ich habe danach sogar noch Gelegenheit, das Wort selbst an den Mann zu bringen, als er nach Deutschland fragt, Mobilität, regionale Unterschiede, Mentalität. Er stellt kluge Fragen und hört interessiert zu.

Der Fahrer bringt die beiden jetzt noch zum Bahnhof, sie reisen am Abend noch weiter, nach Cotopaxi, südlich von Quito. Wir anderen steigen der Reihe nach aus. Mich lässt der Fahrer an der Plaza Santo Domingo raus, dem dritten größeren Platz von Quito. Auf dem Rückweg mache ich dort ein paar atmosphärische Photos vor dem sich verdunkelnden Himmel, von der Kirche und von dem in der Mitte des Platzes stehenden Sucre, dem Held der Unabhängigkeitsbewegung. Die Photos sehen aus wie Schwarz-Weiß-Photos,

Hier gehe ich eine steile Treppe hinunter, die Ronda, eine der ältesten Straßen der Stadt. Schöne Atmosphäre. Hier gibt es Kunstgalerien, kleine Läden, Cafés und Bars. Ich gehe zu Leña Quiteña, von Alejandro empfohlen.  Das Lokal sieht schon von außen gemütlich aus. Es hat zwei niedrige Stockwerke. Oben eine Terrasse, von der aus man auf die Häuser des Platzes, auf die Dächer des Nachbarviertels und auf die Jungfrau auf dem Hügel blickt.  

Hier zahle ich so viel wie für alle bisherigen Essen zusammen, aber dafür bekomme ich auch gleich zwei der Spezialitäten, die ich ohnehin irgendwann probieren wollte: mote und cuy, eins als Vorspeise, eins als Hauptspeise. Bei der mote handelt es sich um Getreide, das im Wasser gekocht wird, in diesem Falle Mais. Dazu gibt es Salat, eine Süßkartoffel (die außerordentlich gut schmeckt), eine gebratene Banane, eine gebratene Avocado und geröstete Erdnüsse. Bei dem cuy handelt es sich um die landestypische Speise, die wir heute schon unterwegs auf dem Grill gesehen haben: Meerschweinchen. Schmeckt ausgezeichnet, vor allem die knusprige Haut. Das Fleisch ist am Ende nicht so gut abzutrennen mit Messer und Gabel, und da kommt die alte Devise über das Hähnchenessen zu tragen, die man hier auch gelten lassen kann: „Knigge sprach zu seinen Jüngern, Hähnchen isst man mit den Fingern.“

7. Januar (Samstag)

Bedeckter Himmel, kalt, kein Wetter für Quito von oben, weder vom Panecillo noch von der Cruz Loma aus, zu der eine Seilbahn hinauffährt. Eher Museumswetter.

Alejandro hat das Museo de la Ciudad vorgeschlagen, auch, weil es einfach zu erreichen ist. Ich brauche nur immer die Straße runter, bis ans äußerste Ende der Altstadt.

Das Museum ist untergebracht in dem ehemaligen Hospital San Juan de Dios. Es hat einen doppelstöckigen Innenhof, in den man gleich hineinkommt, und einen weiteren Innenhof dahinter. Die Ausstellung folgt einem verwirrenden Pfad durch die Räume entlang der Innenhöfe.

Im Laufe des Umgangs kommt man auch in die Kirche, die dem Hospital angeschlossen war. Von oben blickt man auf die vergoldeten Altäre an den Seiten und im Chor hinunter. Die Kirche ist so angelegt, dass sie auch von außen zugänglich ist und damit neben den Mönchen auch den Gläubigen des Viertels offenstand.

Man sieht auch einen nachgebildeten Krankensaal, auf der Grundlage eines Gemäldes aufgebaut! Alles ist genau nachgestellt, mit Figuren von Mönchen, die den Kranken Arznei und Mahlzeiten bringen und einer Nonne (haben hier wirklich Mönche und Nonnen zusammengewirkt?), die Arzneien zusammenmischt.

Die Kranken liegen in Nischen an den beiden Wänden entlang, mit einem kleinen Fenster zum Innenhof, einem kleinen Heiligenbild und einer Kerze. Jeder hat eine Nische für sich. Vor der Nische ein Vorhang. Und unter den Betten Stauraum für persönliche Objekte und darunter für Schuhe und den Nachttopf.

Auf den Tischchen liegen medizinische Instrumente herum, auch welche, um den Aderlass durchzuführen, die ärztliche Standardmethode der Zeit.

Das Museum ist chronologisch angeordnet. Die Vorgeschichte ist modern und didaktisch aufgebaut, und hier tummeln sich auch die meisten Schüler. Es wird auf die Bedeutung der Beherrschung des Feuers aufmerksam gemacht: Es brachte Wärme, diente zum Kochen und als Schutz vor wilden Tieren.

Dann geht es um die Kenntnis von Pflanzen. Die Menschen lernten allmählich, welche Pflanzen wo wachsen und wann reif waren und dann, wie man wie und wo man deren Samen säen konnte. Das war der vorentscheidende Schritt zur Entwicklung der Landwirtschaft.

Die ersten Erzeugnisse waren Bohnen, Kichererbsen, Mais und Kartoffeln und andere Gemüsearten. Früchte gab es wenige.

Allmählich kam es zu Sesshaftigkeit und Bevölkerungswachstum, immer wieder unterbrochen durch Vulkanausbrüche. Pululahua, Pichincho und Cotopaxi waren alle aktiv, alle in der Nähe von Quito. Man organisierte sich in einem Verbund mehrerer Dörfer von 200-300 Einwohnern in einem sog. Cacigazo, mit einer deutlich hierarchischen Struktur.

Die Berge waren in der Vorstellung dieser Menschen von Geistern bewohnt. Man errichtete ihnen apachitas, kleine Haufen aus übereinandergelegten Steinen. Hier im Museum ist eine Nachbildung zu sehen. Keine Erfindung der Santiago-Pilger.

Dann geht es um den Totenkult. Immer gab es Grabbeigaben, Kleidung, Schmuck und Gefäße. Einige Dinge sind einfach universal. Die Toten wurden in runden Gräbern begraben, vermutlich eine Reflexion der Weltsicht der Indios, bis zu 16 Metern tief. Sie wurden mit angezogenen Armen und Beinen in Hockstellung begraben.

Dann geht es nach oben, und es kommt ein großer zeitlicher Sprung in die spanische Kolonialzeit.

Man stellt sich die Kolonisten als eine homogene Gruppe vor, aber das stimmt nicht einmal für den Klerus. Mönche und weltliche Priester, Pfarrer und Bischöfe und verschiedene Glaubensinstitutionen konnten sehr unterschiedliche Ansichten haben, unterschiedliche Ansätze verfolgen. Dazu kamen die verschiedenen Orden, von den Franziskanern (1534) bis zu den Jesuiten (1586) kamen insgesamt fünf Orden nach Ecuador. Das, was sie alle, bis auf einen gemeinsam hatten, war die Einrichtung von Bildungsanstalten.

In denen wurde nicht nur Lesen und Schreiben gelehrt, sondern auch Handwerk und Musik. Man sieht Nachbildungen von Ausbildungsstätten und Bauhütten, in denen es sehr lebendig zuging.

In einer nachgebauten Küche sieht man die wichtigsten Nahrungsmittel der Zeit. Die kamen aus drei Quellen, den Anden (Bohnen, Lupinen, Meerschweinchen, Lama, Rebhuhn, guayaba, guaba), Europa/Asien (Weizen, Reis, Bananen) und Amerika (Mais, Tomaten, Kakao, Kartoffeln). Man konservierte Lebensmittel durch Trocknen oder Pökeln.

Plötzlich steht man mitten im Museum im Urwald, zwischen Baumriesen und einem Ritter in Ritterrüstung. Hinter dem Urwald geht die Ausstellung weiter.

Es folgt eine Beschreibung des verheerenden Erdbebens von 1587. Darunter wird berichtet, wie das Erdbeben ein Erholungsheim traf, in dem alle ums Leben kamen außer einem Kind, das in den Händen seiner Amme unter einen Schemel Schutz fand.

Auch im Zusammenhang mit einem Erdbeben, dem von 1660, steht die Beförderung der Virgen de la Merced zur Virgen de Quito.

Auf großen Wandbildern sieht man eine Szene von der Errichtung des Monasterio de San Francisco und eine Szene von einem Stierkampf auf einem Platz. In beiden Bildern wimmelt es nur so von Menschen. Der Stierkampf findet in keiner Arena statt, es sind gleich drei Stiere, die auf dem Platz von jungen Männern gejagt werden, ohne Waffen. Wohl eher eine Mutprobe. Auf einer improvisierten Bühne schauen verschleierte Frauen von oben dem Spektakel zu. Weiter oben, vor der Kirche, geht das Leben ganz normal weiter.

Dann geht es um Höhepunkte in der Stadtgeschichte. Dazu zählt die Einrichtung eines Wassergerichts, das sich um die faire Verteilung von Wasser kümmerte, um die Einrichtung des ersten Krankenhauses und um die Einführung einer Pockenimpfung. Es gab viel Widerstand gegen die Impfung, viele weigerten sich, sich impfen zu lassen. Ein vertrautes Bild.

Die Höhepunkte des 21. Jahrhunderts bilden verschiedene Unglücksfälle, darunter die Absenkung eines auf sumpfigem Gelände errichteten Stadtviertels, der Solana. Der Auslöser war vermutlich der Bau der Metro.

Dann werden Gegenstände aus dem Alltagsleben wie Webstühle und eine Vorrichtung zum Kerzendrehen gezeigt sowie Objekte aus dem Haushalt einer reichen Familie wie bemalte Schatullen und vergoldete Pantoffeln, ein Fernrohr und eine Harfe.

Mich zieht es aber weiter, in die Zeit der Unabhängigkeitsbewegung. Es hatte im 18. Jahrhundert, nach 200 Jahren der spanischen Herrschaft, schon einige Aufstände gegeben, meist in Stadtvierteln. Meist ging es um neue Zumutungen der Kolonialverwaltung.

Anfang des 19. Jahrhunderts wurde es dann ernst. Die Grundlage wurde von Intellektuellen, Klerikern und Professoren gelegt. Sie verbreiteten ihre Ideen durch Flugblätter, auf Sitzungen und in informellen Gesprächen.

1809 führte ein Aufstand zur Absetzung von Ruiz de Castilla, des spanischen Gouverneurs. Der kehrte aber nach drei Monaten mit der Unterstützung von Truppen zurück und besetzte wieder seinen alten Posten. Er reagierte mit Repressalien, und das wiederum führte, vor allem nach der Ermordung einiger Anhänger der Bewegung und einiger Unbeteiligter, zum endgültigen Aufstand. Der aber wurde wiederum unterdrückt durch Fernando VII., der nach dem Ende der Napoleonischen Herrschaft in Spanien, auf den Thron zurückkehrte und das Rad der Geschichte zurückdrehen wollte, mit der Wiedereinführung des Absolutismus. Aber die Unabhängigkeitsbewegung war nicht mehr zu stoppen, und der Sieg der Aufständischen in der Schlacht am Pichincha führte endgültig zur Loslösung von Spanien. Quito bildete zuerst, losgelöst vom Rest Ecuadors, eine eigene Republik mit Venezuela und einem weiteren Territorium. Als sich dann der Staat Ecuador bildete, gab es lange Streitigkeiten zwischen den Vertretern eines föderalen und eines zentralistischen Staats, aber einig war man sich, dass der neue Staat eine Republik mit einem repräsentativen Wahlsystem sein sollte.

Danach kommen noch die Hürden, die der neue  Staat zu nehmen hatte, vor allem bei den Verkehrsverbindungen und der Einführung einer Währung. Das sehe ich mir nicht mehr im Detail an. Der ganz große Durchblick ist auch mit diesem Museum nicht gekommen, aber eine ungefähre Ahnung von den Abläufen.

In den letzten Räumen des Museums bekommt man das, was zu erwarten ist: Straßenbeleuchtung, Kühlschränke, die Straßenbahn, Telegraphen. Dann kommt doch noch eine Überraschung: Ecuador hatte eine funktionierende Eisenbahn, von Quito nach Guayaquil. Sie verband also die beiden größten Städte des Landes.

Draußen vom Balkon hat man einen Blick auf  die Berge, auf den Panecillo und  den Pichincha. Der Panecillo war in der Vorzeit ein Ort der Anbetung, in der spanischen Zeit, man mag es kaum glauben, wurde dort Weizen angebaut! Der Panecillo markierte in der Vergangenheit lange das äußere Ende der Stadt. Er war die Quelle eines rötlichen Steins und von purem Wasser.

Durch die Erdbewegung verändert sich die Lage Quitos ganz langsam: Die Stadt liegt jedes Jahr zwei Millimeter höher über dem Tal. Die Erdbewegungen haben in früheren Zeiten regelrechte Gräben geschaffen. So ist die heutige 24 de Mayo entstanden durch die Aufschüttung eines von einem Erdbeben verursachten Grabens.

Nach dem Museum lasse ich mich ein bisschen treiben durch dieses bisher noch unbekannte Viertel Quitos. Hier geht es bunt zu. Ein Gitarrentrio aus drei älteren Herren macht wunderbare Musik, rhythmisch und melodisch gleichzeitig, vermutlich moderne Versionen von Liedern aus den Anden. Sie spielen viel zu gut, um auf der Straße zu spielen. Konkurrenz bekommen sie von einer benachbarten Band, bei der zwei junge Frauen, die ihr Schreien für Singen halten, den Ton angeben.

Allgegenwärtig Frauen, die ihr Produkt an den Mann bringen wollen. Die eine verkauft Kaffeefilter, die andere Gummihandschuhe, die nächste Bohnen und Erbsen. Der gängige Preis scheint ein Dollar zu sein: „¡Dolar, a dolar!“ Ich kaufe Kirschen von einer Verkäuferin. Was kosten die? Einen Dollar! Schmecken ausgezeichnet.

An einer Ecke steht eine Frau mit einem Kochtopf. Ich frage, was das sei, verstehe aber ihre Antwort nicht. Ich nehme trotzdem einen Becher. 50 Cent. Es ist ein lauwarmes Getränk, süßlich, trübe. Darin schwimmt etwas. Aber was? Vielleicht gekochte Getreidekörner. Ein daneben stehender Mann sagt mir, das sei  chaguarmishqui. Sehr gesund. Soll die Nieren reinigen.

In einer kleinen Schreibwarenhandlung, in der die Hefte in den Regalen auf Millimeter genau übereinandergestapelt sind, bekomme ich Nachschub für meine Notizhefte.

Dann gehe ich noch in das Museo Casa de Sucre. Gar nicht so einfach zu finden. Es befindet sich in einem Eckhaus, aber der Eingang ist zur Straße hin. Bei der Suche stoße ich in einem Eckhaus auf die botica y drogería alemana, vor der eine lange Schlange steht.

Im Museum muss ich eine Stunde warten, dann gibt es die nächste Führung. Am Ende hat sich eine ganze Menge an Leuten angesammelt, die an der Führung teilnehmen wollen. Wie so oft in Ecuador, muss man sich registrieren. Ein Offizier trägt die Personalausweisnummer in kleinen Buchstaben umständlich handschriftlich in ein winziges Heft ein.

Wir werden in den Innenhof geführt, schön, doppelstöckig, ganz spanisch aussehend. In der Mitte steht ein achteckiger Brunnen. Die Zahl 8 tritt immer wieder auf, sie wurde von den Bewohnern als magische Zahl gegen das Unglück angesehen. Auch die Kapitelle der hölzernen Stützen sind achteckig, und der Eingang, mit Kieselsteinen und Tierknochen gepflastert, hat ein achteckiges Muster. Und oben, im Salon, hat die Balkendecke ein achteckiges Gewölbe, das wie ein Spinnennetz aussieht. Am Kopf des Brunnens befinden sich vier Frösche, in vier Himmelsrichtungen blickend, ausdrücklich auf den Wunsch des Hausherrn hier angebracht. Es gibt aber keine Erklärung dafür.

Unten ist der ehemalige Pferdestall zu einem Vortragssaal umgebaut worden. Ein interessanter Raum ist die Küche, die Führerin macht das ganz famos, bindet die Leute immer wieder mit ein und lässt raten, was für einen Zweck  die verschiedenen Gefäße wohl gehabt haben könnten und wie sie heißen. Die Leute machen freudig mit. Für mich sind das alles böhmische Dörfer. Sehr schön ein ausgehöhlter poröser Stein, unter dem ein Topf steht. Der Stein ist aus Bimsstein. In oberen Topf wird Wasser gefüllt, das dann in den unteren Topf läuft. Dabei wird das Wasser gereinigt. Interessant auch der Herd. Der ist so gemauert, dass er vier getrennte „Herdplatten“ hat, mit einem eigenen Fach unter jedem für das Feuer. Unter diesem wiederum ein Fach, in dem Fach, in dem das Brennholz gestapelt wird.

Der schönste Raum ist der Salon oben, hell und schön möbliert. Er erstreckt sich über beide Straßenseiten und hat eine Unzahl von Fenstern. Es gibt verschiedene Sitzecken mit schönen Holzmöbeln. Die Trennwände zu den angrenzenden Räumen sind aus Adobe, also mit Stroh, Kot und Sand vermischte Lehmziegel. Diese wände werden dann, wie alle Wände des Hauses, mit Kalk verputzt, zum Schutz gegen Keime und Schimmel. Macht außerdem die Räume heller. Die Adobe-Wände gehen nur bis zur Mitte, dann kommt eine Schicht aus waagerechten Ästen mit Zwischenräumen, dann wieder Wand, dann wieder die Äste. Es wird nicht erklärt, was das ist, aber ich vermute, es dient der Durchlüftung. Sieht außerdem schön aus.

Aber was hat das Haus mit Sucre zu tun? Um den ging es mir ja eigentlich. Er hat hier eingeheiratet, hat sich die Tochter einer adeligen Familie geangelt. Das Paar hat dann aber nur zwei Jahre hier gewohnt. Von hier aus ist er wieder in den Kampf gezogen, in ein Gebiet im heutigen Kolumbien, und ist auf dem Rückweg in einem Waldstück ziemlich brutal ermordet worden. Auf einem naiven Bild eines anonymen Malers wird die Szene dargestellt, in der er hier mit Frau und Kindern zusammen ist, bevor er ins Gefecht zieht. Der Ausdruck auf dem Gesicht seiner Frau ist besorgt, traurig, sie wollte tatsächlich nicht, dass er noch mal in den Kampf geht.

Es ist bis heute nicht geklärt, wer die Attentäter waren, vermutlich Revolutionäre anderer Fraktionen, vermutlich welche, deren Neid er provoziert hatte, weil Bolívar ihn offen zu seinem Nachfolger gekürt hatte. Wir sehen nachher einen Auszug aus dem Brief, in dem er alles in seine Hände legt. Vielleicht gab es aber auch politische Motive. Welche Bedeutung Sucre für Ecuador hat, lässt sich schon daraus schließen, dass er der Namensgeber der früheren Währung war. Auch sein Wiedererkennungswert ist groß. Wenn die Führerin raten lässt, wer auf einem Bild dargestellt ist, liegen die Besucher bei Sucre immer sofort richtig. Erkennungsmerkmale sind die große Hakennase und die überlangen Koteletten.

Er ist, genauso wie die anderen Freiheitskämpfer, meist in Galauniform dargestellt. Man sieht, dass die Revolution keine Revolution der Unterschichten war. Alle Aufständischen kamen aus dem Adel oder dem Bildungsbürgertum.   

Auch interessant die „Internationalität“ der Unabhängigkeitskämpfer. Sucre wurde im heutigen Venezuela geboren, wurde später der erste Präsident Boliviens und auf eigenen Wunsch in der Kathedrale von Quito begraben.

Jemand fragt nach Francisco de Miranda, der auch auf einem Porträt dargestellt ist. Ja, das sei eine Generation früher gewesen, sagt die Führerin. Er ist der einzige, der in Zivil dargestellt ist. Er war Diplomat, Schriftsteller und Humanist. Aber er war auch Soldat, und was für einer! Er hatte in der Amerikanischen Revolution und in der Französischen Revolution gekämpft, und war dann der Vordenker des Aufstands gegen die spanische Kolonialmacht. Auf ihn sollen die Farben der drei Länder, Bolivien, Ecuador und Venezuela,  zurückgehen. Auch er war gebürtig aus Venezuela. Seine Vorstellung ging über alles hinaus, was man sich heute vorstellen kann: ein einheitliches Reich vom Mississippi bis Feuerland, Brasilien eingeschlossen. Sein Name sollte Colombia sein. Er stellte sich als ideale Regierungsform eine Erbmonarchie vor. Der Kaiser sollte Inka heißen.

In einem kleinen Lokal mit einem sehr diensteifrigen Kellner bekomme ich ein Essen, schon auf dem Weg nach Hause. Das Lokal ist voll von Plakaten, Ornamenten, Krimskrams, Kalendern, Bildern und ähnlichen Sachen, darunter eine Abendmahl von Leonardo, das zur Hälfte von einer Bierreklame überklebt ist. Wenn man das Lokal auf Vordermann bringen wollte, müsste man alles rausschmeißen, außer einem alten Maschinenteil aus Eisen, das zu einem Kerzenständer umfunktioniert worden ist.

Das Essen ist aber in Ordnung. Bei der Rechnung bekomme ich eine Überraschung, als für das Bier 3 $ berechnet wird. Auf der Flasche steht doch 2 $. Ja, das sei der Einkaufspreis. Nicht schlecht, eine Gewinnmarge von 50%. 

8. Januar (Sonntag)

Wieder Wolken, wieder kalt. Wird wohl nichts mehr mit dem Aufstieg zur Virgen oder gar auf die Cruz Loma. Ich versuche stattdessen mein Glück mit der Kathedrale. Vergeblich. Es gibt zwar keine Schlange heute, man kann aber nur eintreten, um die Krippe zu sehen. Nein, die Kirche können Sie nicht besichtigen. Höchstens später, um neun, durch das andere Portal. Dann fängt die Messe an. Ja, aber ich will doch die Kathedrale nicht während der Messe besuchen. Ich gebe es auf.

Da bei uns oben noch alles ausgestorben ist, versuche ich es hier mit dem Frühstück. In der Venezuela reiht sich ein Café an das andere. Alle haben dasselbe Frühstücksangebot: Desayuno Continental – Desayuno Serrano – Desayuno Completo. Da es heute lange vorhalten muss, nehme ich das Desayuno Completo. Es treten auf: Kaffee, ein getoastetes Sandwich, eine Scheibe Melone, Reis, eine Hähnchenkeule, Salat, Saft. Meine Befürchtung, dass hier abgezockt wird, weil man in unmittelbarer Nähe der Kathedrale ist, erweist sich als gegenstandslos: 2,50 $.

Die Wolkendecke reißt auf, und in der Sonne wird es plötzlich warm. Ich versuche vielleicht doch den Aufstieg auf den Panecillo. Als ich in die Richtung gehe – die Statur sieht man überall in der Stadt – kommen mir  auffällig viele Radfahrer entgegen. Bisher habe ich nur ganz vereinzelt jemanden gesehen, der sich diese Steigungen antut. Dann fallen mir die gelben Bänder auf. Die Stadt ist heute autofrei, es ist Radfahrersonntag. Väter mit Söhnen, ganze Familien, einzelne Athleten haben ihre Freude an den Abfahrten und Steigungen. Ein Taxi ist hier nicht zu bekommen.

Weiter die Straße hoch finde ich dann doch eins. Der Fahrer fährt Slalom, um die Unebenheiten der Straße zu umgehen. Es geht enge Kurven rauf, oben wird es richtig grün und fast einsam. Dann stehen wir plötzlich auf dem Platz.

Die Virgen ist wirklich ziemlich seltsam. Sie sieht aus wie in quadratisch gemustertes Packpapier eingepackt, von Kopf bis Fuß. Ihr Gewand verdeckt den ganzen Körper und auch den Kopf bis auf das Gesicht. Auf ihren Lippen ein zufriedenes Lächeln. Ein Flügel steht aufrecht, einer hängt herab. Eine Hand hält sie wie zum Gruß erhoben, die andere hält eine dicke Eisenkette. Was sie mit der wohl macht? Füße scheint sie keine zu haben, untenrum sieht sie eher wie eine Meerjungfrau aus. Aber das ist eine Täuschung. Später, von unten, sieht man, dass sich ein Drache um ihre Füße wickelt, und den hält sie mit der eisernen Kette gefangen.

Der Ausblick von hier oben ist nicht unbedingt schön, aber beeindruckend. Man sieht weit in die Ferne. Und man sieht, wie groß Quito ist. Häuser, wohin man blickt, 360°, bis auf die Hügel hinauf. Nur hinten sind ein paar Hügel oben (noch) nicht bebaut, und der Pichincha und seine Nachbarberge auch nicht.

Wenn man weiter runter geht, sieht man klar die Konturen der Altstadt. Rechteckige Stadtanlage, obwohl die Straßen nicht schnurgerade verlaufen. Als erstes er kenne ich die Basilika, weiter hinten, erhöht, dann die Plaza San Francisco, dann die Plaza Grande.

Ich habe Glück gehabt, genau die eine Sonnenstunde erwischt für den Panecillo. Oben steht ein Taxifahrer, der mich nur bis nach unten zur Stadt bringen kann, nicht nach Hause. Sonst müsste ich Aufschlag zahlen. Wegen der Radfahrer.

Er ist sehr gesprächig, fragt mich, wo ich schon überall gewesen sei und wohin ich noch wolle und gibt mir Tipps für die Weiterreise. Und ob mir Quito gefalle. Ja, die Altstadt sei wirklich ein Schmuckstück, sage ich ihm. Das sei alles nur Correa zu verdanken, dem Präsidenten Ecuadors, von 2007 bis 2017. Die Daten wiederholt er mehrmals. Correa habe endlich was für das Land getan, ihm sei zu verdanken, dass Quito sich heute in diesem guten Zustand befinde. Später habe er viel Gegenwind bekommen, aber das sei nur deshalb gewesen, weil er links gewesen sei. Das habe den Rechten nicht gefallen.

Als wir bei der Abfahrt kurz Halt machen, damit ich ein Photo machen kann, sagt er, dies sei ein wichtiger Ort für die Ecuadorianer. Ich weiß schon, was kommt: Batalla de Pichincha. „Die Spanier dort, wir hier. 24. Mai 1822.“

Ob ich wisse, was Alexander von Humboldt über die Ecuadorianer gesagt habe. Ja, das weiß ich: „Los ecuatorianos son seres raros: duermen tranquilos en medio de crujientes volcanes, viven pobres en medio de incomparables riquezas y se alegran con música triste – Die Ecuadorianer sind seltsame Wesen: Sie schlafen ganz ruhig mitten unter knisternden Vulkanen, sie leben arm inmitten von unermesslichen Reichtümern und sie freuen sich über traurige Musik.“

An dem Platz, wo er mich rauslässt, fällt mir ein Haus mit allen möglichen, sehr ordentlich angebrachten Bildern, Symbolen und Aussprüchen auf, darunter un mundo donde quepan muchos mundos, follow dreams not orders und el arte es un camino. Gleich gegenüber der Eingang zu einer Metrostation, die nur darauf zu warten scheint, geöffnet zu werden.

In der Stadt ist das Leben inzwischen erwacht. Ein paar Musiker laufen mit ihren Instrumenten zwischen den Leuten her, und dann kommen ganz Heerscharen von Mädchen in traditionellen Kleidern. Eine Frau erklärt mich, was das ist: Ein Umzug der Schulkinder, sie feiern die Geburt des Christkinds. Nur die aus den katholischen Schulen, fügt sie vielsagend hinzu.

Dann geht es ein letztes Mal die Galápagos rauf. Wo ich schon mal dabei bin, gehe ich gleich noch einen Block weiter zur Basilika. Dort mache ich noch einmal Photos von den Wasserspeiern. Rechts gibt es auch Affen, Pumas und Ameisenbären. Damit schließt sich der Kreis. Ich bin wieder da, wo ich am Dienstag angefangen habe.

Dann kommt mein Taxi, von der Vermieterin in Tena empfohlen, unserem Zielort. Er holt mich vor der Haustür ab. Er ist der erste Ecuadorianer, der sich für seine Verspätung entschuldigt. Stau. Wegen der Radfahrer.

Wir kommen sofort ins Gespräch, es geht um ecuadorianische Küche und ums Essen insgesamt. Was meinen Salzkonsum angeht, gibt er Entwarnung: Wir müssten viel Salz essen, gerade weil wir so viel trinken. Das Wasser entzieht dem Körper Salz, und da muss nachgelegt werden. Was machen die Araber, wenn sie die Wüste durchstreifen? Trinken sie Wasser? Nein, sie nehmen Salz zu sich.

Wir fahren die Vororte Richtung Flughafen. Ich warte die ganze Zeit darauf, dass wir irgendwo anhalten, um weitere Fahrgäste zu uns zu nehmen, aber das scheint nicht der Fall zu sein. Ganz geheuer ist mir das nicht. 20 $ für eine Fahrt über 200 Kilometer? Meine Verwirrung wird noch größer, als er davon erklärt, der Transfer vom Flughafen in die Innenstadt koste 30 $. Am Ende, nach einer fünfstündigen Fahrt über die Berge, zahle ich tatsächlich nur 20 $. Und der Fahrer freut sich sogar noch über ein kleines Trinkgeld, das er sich wahrlich verdient hat. Er fährt schnell, aber unheimlich sicher, kennt die Strecke wie seine Westentasche. Auch bei Unebenheiten auf der Fahrbahn, die ich kaum erkenne, ist er immer aufmerksam, fährt an ihnen herum oder bremst ab. Es gibt aber auch hin und wieder richtige Schlaglöcher und auf mal faldas, das sind Risse in der Straße, die durch die Erdbewegungen verursacht werden. Insgesamt ist die Straße aber gut, erst drei- oder vierspurig, im zweiten Teil dann zweispurig, aber wir haben meist nur Gegenverkehr, und es wenige Lastwagen unterwegs.

Hinter dem Flughafen sind wir plötzlich in einer ganz einsamen Landschaft, eine schöne, grüne Gebirgslandschaft, nicht idyllisch, eher imposant. Einzelne Baumgruppen, aber meist sind die Felsen nur mit Gras oder Gestrüpp bewachsen. Aber alles grün. Umso besser kommen die einzelnen Stellen zur Geltung, wo der nackte Felsen zum Vorschein kommt.

Auf dem ganzen Weg begegnet uns ein Fluss, mit kristallklarem Wasser und dicken, hellen Felsbrocken sowie Kieselsteinen im Flussbett, manchmal in weiter Entfernung, höher gelegen, manchmal passieren wir ihn über eine Brücke.

In den Bergen immer mal wieder ganz  schmale Wasserfälle, die wie in silbriges Band den Felsen runterlaufen.

In Papallactos haben wir den Pass erreicht. Von da an geht es bergab. Tema liegt auf 500 Metern Höhe, 2300 Meter tiefer als Quito.

Am Straßenrand immer wieder Hinweisschilder, wenn wir nahe am Wasser sind, man möge keinen Unrat in den Fluss werfen, man möge das Wasser schonen, denn davon würden wir alle leben.

Dann kommen Hinweisschilder auf wilde Tiere, vor allem Brillenbären.  Ich frage den Fahrer, ob er schon mal welche gesehen hat. Ja, schon oft. Wir haben heute aber kein Glück.

Auf der ganzen Strecke gibt es keinen Ort außer Baeza, eher einer Ansammlung von Häusern mit Geschäften und Verkaufsständen. Irgendwo ist unterwegs eine Thermenanlage, aber ansonsten kein Zeichen menschlicher Zivilisation.

Zwei tapfere Radfahrer kommen uns entgegen, und einmal überholen wir zwei Fußgänger. Wohin die wohl gehen?

In Baeza machen wir eine Pause. Es ist warm hier, richtig heiß.

Zwischendurch spricht der Fahrer in sein Handy und gibt, in einer sehr formalisierten Sprache, der Zentrale seinen Standort an: „Keine Vorkommnisse“. Sie fahren dreimal am Tag von Quito nach Tena und zurück, um fünf Uhr morgens, um zwölf und um fünf am Nachmittag. Ob er heute noch zurück muss, weiß er noch nicht. Kommt drauf an, ob es Kundschaft gibt. Dann wird es doch schon dunkel sein? Nicht so toll zum Fahren. Die Dunkelheit mache ihm nicht so viel aus, meint er, schlimmer sei der Nebel.

Er ist nur durch die Pandemie zum Fahren gekommen. Von Hause aus ist er Techniker, ich verstehe nicht genau, was. In dieser Funktion ist er ein Jahr auf den Galápagos gewesen. Und? Wie war’s? Das Beste, was er je gesehen habe.

Er ist auch zwei Jahre in Spanien gewesen, in der Extremadura und in Murcia. Da hat er Aufzucht von Schweinen für die Produktion von Schinken gelernt  und den Anbau von Obstbäumen. Er ist sehr ökologisch eingestellt, vor allem spricht er immer von Nahrungsmitteln ohne Zusatzstoffe und den Einsatz von Chemikalien beim Anbau. An der Küste hat er ein Projekt laufen für ein Haus mit Selbstversorgung bei der Energie und Platz und Möglichkeiten zur Lebensmittelproduktion für die eigene Versorgung. Immer wieder preist er die Vielfalt von Früchten in Ecuador. Er weiß genau, wie viele Sorten es von Bananen oder Bitterorangen gibt.

Dann, erst kurz vor Tena, verändert sich die Landschaft. Wir kommen in eine Ebene, mit Bambus, Bananenstauden, großen Farnen, Palmen. Und es beginnt zu regnen. Je näher wir Tena kommen, umso stärker regnet es. Man kann kaum noch den Weg vor sich sehen.

Dann beginnt die Suche nach der Unterkunft. Die Vermieterin hat sich strikt geweigert, mir die genaue Adresse zu geben, ich habe nur den Namen der Straße. Und den einer Minibar in der Nähe. In der ganzen Gegend sieht es aber etwas unheimlich aus, es stehen höchstens ein paar Baracken herum mit matschigen Wegen davor. Dem Fahrer ist das nicht ganz geheuer. Er ist regelrecht besorgt. Ich hätte ja seine Adresse, ich könne ihn jederzeit kontaktieren. Ob die Vermieterin denn einen kolumbianischen Akzent gehabt habe? Das weiß ich nicht. Jedenfalls scheint er das als kein gutes Zeichen zu deuten.

Wir fahren wieder zurück in die Stadt. Die Vermieterin hat mir in letzter Minute aufs Band gesprochen er solle mich am Redondel Jumandi herauslassen. Dort würde sie mich schon sehen. Das ist leichter gesagt als getan. Schon beim Aussteigen bin ich knöcheltief im Wasser, und dann muss ich noch über die Straße. Und dann stehe ich wie bestellt und nicht abgeholt unter meinem Regenschirm, der hier auch nicht viel nutzt, in der Mitte des Kreisverkehrs. Dann winkt mich der Fahrer zu sich. Er hat die Vermieterin inzwischen erreicht. Sie steht in einer Apotheke. Wir drehen noch eine Runde, ich verabschiede mich und schleppe meinen Koffer durch die Wasserlachen in die Apotheke.

Die Vermieterin ist Clara, Apothekerin. Die Apotheke hat heute nicht geöffnet, aber sie seien dort, weil sie etwas umgeräumt hätten. Sie fragt beherzt und interessiert nach meinen Reisen, meinem Spanisch und meinem Alter. Empfiehlt mir für die Weiterreise Cuneca, ihre Heimatstadt. Sehr freundlich, aber ich würde jetzt am liebsten sehen, wo die Unterkunft ist. Aber wir sollen erst mal den Regen abwarten. Was mir ziemlich optimistisch erscheint.

Der Regen hört auch tatsächlich nicht auf, und der Mann, der die ganze Zeit stumm daneben gestanden hat, winkt mich zu seinem Auto. Man Herz sinkt mit jedem Kilometer, den wir uns weiter vom Ort entfernen.

Sobald wir im Auto sitzen, wird er gesprächig. Er kenne Frankfurt, da sei er auf dem Weg nach Katar gewesen, zur WM. Tolle Erfahrung. Was die da alles aufgebaut haben, in kürzester Zeit. Sie hätten bis zur WM nur ein Stadion gehabt, und jetzt neun. Die seien alle ganz nahe beieinander.  Sie hätten an einem Tag drei Spiele gesehen. Ecuador sei ja leider ausgeschieden, mit vier  Punkten, genauso wie Deutschland. Ein Mann, der wegen einer Behandlung zwei Jahre in England gewesen sei, hätte bei seiner Rückkehr sein Land nicht mehr wiedererkannt.

Wir kommen von der Straße ab und fahren einen Schotterweg hinunter, voller Schlamm. Dann stehen wir vor dem Eingangstor von Zahara, der Ferienanlage, in der ich unverhofft gelandet bin. Aber der Mann will noch nicht aussteigen, wir sollen erst den Regen abwarten. Er redet gerne. Als es dann doch nicht aufhört, gehen wir durch die Pfützen zum Tor. Das wird geöffnet von Sara, der Tochter Claras, eine junge Frau, die etwas dümmlich aussieht. Und es wohl auch ist.

Ich kann in mein Zimmer gehen und die nassen Sachen an die Seite legen. Etwas später kommt Sara mit einer Tasse Kaffee. Ich frage sie, warum es kein Wasser im Bad gibt. Sie hat vergessen, den Haupthahn aufzudrehen. Das macht sie. Aber es kommt kein Wasser. Irgendwas an der zentralen Wasserversorgung, ganz Tena sei betroffen. Aber es kommt bestimmt gleich wieder. Hoffen wir das Beste! In der Zeit habe ich meinen heimlichen Spaß an der absurden Situation: Von oben kommt Wasser, aus der Leitung keins.

Ich frage nach Laden und Lokal. Es stellt sich heraus, dass die Anlage selbst ein Restaurant hat. Umso besser. In einer Stunde.

Die Anlage ist ganz schön, und das „Restaurant“ befindet sich an einem Ende des Innenhofs unter einem großen Ziegeldach. Platz gibt es reichlich. Ich bin der einzige, und langsam dämmert es mir: Ich bin der einzige Gast auf der ganzen Anlage. Sie sind offensichtlich noch in der Eröffnungsphase.

Es gibt ein sehr leckeres Essen, sogar mit Vorspeise, und dann dem ecuadorianischen Standard: Suppe gefolgt von Hähnchen und Reis. Die Köchin ist Adriana, eine junge Frau, mit Indio-Zügen. Sie vermeidet Augenkontakt und antwortet immer nur einsilbig. Grenzt an Unhöflichkeit, aber sie vermutlich einfach schüchtern.

Sie ist die einzige, die tatsächlich hier wohnt. Sara verabschiedet sich. Sie sagt mir noch, man könne hier schön zum Fluss spazieren, der sei ganz nah. Ich frage, was für ein Fluss das sei, und sie antwortet, der käme von den Bergen herunter. Ja, aber ob der auch einen Namen habe. Sie denkt lange angestrengt nach, dann erhellt sich ihr Gesicht und sagt: „Río Tena“. Ich glaube nicht, dass sie versteht, warum ich das witzig finde.

9. Januar (Montag)

Bis zum frühen Morgen hat es geregnet, dann hat der Regen aufgehört. Fürs Wecken sorgen die Hähne. Die sind schon vor 4 Uhr aktiv, dabei ist es zu der Zeit noch stockdunkel. Der Tag ist auch hier ziemlich genau zwölf Stunden lang und dauert von sechs bis sechs.

Die Berge liegen im Dunst, es ist stark bewölkt, aber ganz hinten klart es etwas auf.

Ich setze mich unter das Dach des Lokals, die Luft ist frisch, aber man kann draußen sitzen. Dann kommt schon die Indio-Frau, obwohl wir eine spätere Zeit fürs Frühstück vereinbart haben. Sie serviert mir ein opulentes und richtig leckeres Frühstück: Omelette mit Schinken, Pfannkuchen, Bananen und Trauben (ob die auch hier wachsen?), Kaffee und einen Saft. Der ist von der tomate de árbol. Davon habe ich in den letzten Tagen schon häufiger gehört. Ich habe erst an Strauchtomaten gedacht, es ist aber was ganz anderes und heißt auf Deutsch Baumtomate, eine Frucht. Der Saft ist zähflüssig, cremig, trüb, schmeckt ein bisschen nach Banane. 

Adriana übernimmt auch meine Wäsche. Wird die bis morgen trocken? Ja, sie meint, heute werde es nicht regnen, es hätte ja gestern schon geregnet. Sie hängt tatsächlich ihre Wäsche draußen auf. Für den Fall der Fälle habe sie auch einen Trockner.

Sie bietet sogar von selbst an, mir den Weg zur Bushaltestelle zu zeigen. Wir gehen den Schotterweg hinunter. An einer Stelle hält sie plötzlich an. Hier sei die Haltestelle. Tatsächlich kommt kurz darauf ein Bus, der sich in diesen Winkel der Welt verloren hat. Auf dem Rückweg erzählt sie, sie arbeite hier erst seit einem Monat. Das Kochen hat sie von Oma und Mama gelernt. Sie hat einen Sohn. Der sei jetzt in der Schule.

Dann kommt mein Führer, von Sara vermittelt. Er heißt Luis, hat offensichtlich reichlich Erfahrung und detaillierte Kenntnisse. Er erklärt genau, welche Möglichkeiten es gibt und macht mir auch eine genaue Rechnung auf. Ein teurer Spaß. Die Alternative ist Baja Amazonía oder Alta Amazonía. Wir sind in der Alta Amazonía. Ich nehme die Baja Amazonía, obwohl das die teurere Variante ist. Aber das kommt mir eher als etwas vor, was ich bisher noch nie gesehen habe. Ich spreche meine Sorge wegen der Kleidung an. Kein Problem, er hat Stiefel, 50 Paare. Und er werde sich an die Pacha Mama wenden, damit es morgen nicht regne. Dann würden es auch meine Sportschuhe oder Sandalen tun. Wir verabreden uns für acht Uhr in Tena.

Wir gehen beide gleichzeitig raus und gehen gemeinsam zur Bushaltestelle. Wir nehmen nicht die erste beste, sondern gehen bis zur Straße. Er kennt jeden Baum und jeden Strauch und hat einen guten Blick für Früchte. Er zeigt mir hoch oben zwei verschiedene Sorten von guaba, die so unterschiedlich sind, dass man kaum glaubt, dass sie was miteinander zu tun haben.  Wir pflücken mehrere Früchte von den Bäumen, darunter eine guayaba. Er isst nur das Fruchtfleisch, nicht die Kerne, obwohl die auch essbar sind. Er isst aber die kleinen Maden, die sich zwischen den Kernen befinden. Die seien gesund, und es gebe sie auch als Spezialität in Lokalen. Dann zeigt er mir Kürbisse an einem Baum. Die hätten die Eingeborenen als Trinkgefäße genutzt. Einfach in der Mitte durchschneiden und das Fruchtfleisch entfernen. Von einem gelb blühenden Strauch pflückt er eine Blüte ab. Das sei die copa de obispo. Warum die so heiße? Er zupft die äußeren Blütenblätter ab und übrig bleibt – ein Kelch!

Mit dem Bus fahren wir ins Zentrum, an einer Schule mit einem riesigen Schulgelände vorbei, dem einer der renommiertesten Schulen der Gegend. Guter Orientierungspunkt.

Im Zentrum will er mich nicht aussteigen lassen, sondern will bis zum Busbahnhof fahren. Von dort führt er mich zu einer Bank mit Geldautomat. Und dann in eine touristische Zone, die er als besonders schön ankündigt. Hier hat man drei Brücken hintereinander angelegt, allesamt Fußgängerbrücken. Die verbinden zwei Flussufer und die Flussufer mit einer Insel inmitten des Flusses. Er sagt mir noch, wo ich später einsteigen muss und verabschiedet sich. Ich gehe auf den Aussichtsturm auf der Insel. Von hier aus kann man zumindest erahnen dass man im Amazonas ist. Deutlicher ist das weiter unten, dort befindet sich der Eingang zu einem Naturpark. Ein Wärter nimmt einen in Empfang. Ich dürfe nur bis zum Eingang gehen, weiter nur mit Führer, aus Sicherheitsgründen. Aber es lohnt sich sogar, bis zum Eingang zu gehen. Hier führt ein enger, dunkler Weg in den Dschungel. Das hat schon was von Amazonas. Und die Luft ist auch anders.

Ich gehe noch einen Kakao trinken in ein von Luis empfohlenes Café. Das Café ist schön eingerichtet, aber der Kakao schmeckt nicht besonders. Genauso wenig wie die churros, die ich später unterwegs kaufe.

Das mit der Rückfahrt ist gar nicht so einfach. Erst bin ich auf der falschen Seite der Brücke, dann auf der falschen Straßenseite, dann kommt immer nur die 1, und als die 2 endlich kommt, steige ich nicht ein, weil sie nicht nach San Pedro fährt. Darauf solle ich achten, hat mir Adriana gesagt. Ich nehme dann aber die nächste 2, und nachdem ich erst einige Zweifel habe, ob es richtig ist, taucht die Schule auf, und kurz danach sind wir am Eingang zum Schotterweg. Dort befindet sich auch ein kleiner Laden. Warum hat mir davon keiner was gesagt? Ich bekomme für wenig Geld etwas Obst und die Information, dass sie morgen schon um 7 Uhr öffnen. Da kann man dann noch mal in letzter Minute was kaufen.

Als ich Adriana am Nachmittag um einen Kaffee bitte, serviert sie mir im Anschluss unaufgefordert einen Saft, einen aus aguayusa, wenn ich das richtig verstanden habe. Gestern hat es schon einen aus jamaica gegeben.

Dann erlebe ich mein Wunder, als ich aufs Zimmer gehe. Der ganze Boden steht unter Wasser. Der Wasserhahn, aus dem vorher kein Wasser kam, ist jetzt nicht mehr zu schließen. Glücklicherweise ist es kein Holzfußboden. Und meine Sachen sind auch nicht in Mitleidenschaft gezogen worden. Adriana regelt die Sache erst einmal, indem sie den Haupthahn zudreht.

10. Januar (Dienstag)

Auch hier gibt es Wahlkampf, auch hier geht es um das Bürgermeisteramt. Das sieht man an den Wahlplakaten an der Bushaltestelle. Hier kandidiert Omar Constante (Blau) gegen Lenin Grifo (Rot). Wird noch doller, wenn man weiß, dass grifo ‚Greif‘ heißt.

Wir fahren am dem Fußballplatz vorbei. Der ist jetzt wieder trocken. Dieser Tage bei der Ankunft stand er unter Wasser. Vorne linke und  vorne rechts wachsen Grasbüschel. Das sind die Teile des Feldes, wo am wenigsten gespielt wird.

Als wir kurz vor dem Busbahnhof sind und ich mich noch mal vergewissern will, ob wir richtig sind, frage ich die Frau vor mir. Es ist Adriana. Warum hat sie nichts gesagt? Sie muss gesehen haben, wie ich eingestiegen bin.

Ganz pünktlich bin ich nicht. Luis wartet schon. Und nimmt mich mit einem kräftigen Handschlag in Empfang. Wir gehen schnellen Schrittes zu einer anderen Bushaltestelle. Hier fährt unser Bus ab. Man bekommt eine Fahrkarte mit ausgewiesenem Platz. Es ist nicht das letzte Mal heute, dass ich für beide zahle.

Während wir warten, kauft er Biskuit. Ich zögere erst, nehme dann ein Stück und dann noch eins. Schmeckt echt gut. Und hat mit Zwieback nichts zu tun, wie das Wort erwarten lässt.

Die Fahrt dauert eine Stunde nach Ahuano dauert eine Stunde. Unterwegs erzählt er mir, dass er zusammen mit drei Universitätsprofessoren Initiator eines Antrags ist, bei der UNESCO den Status des Weltkulturerbes zu erlangen. Der erste Antrag wurde abgelehnt. Teils zählen auch Details, wie das Logo, das immer und überall präsent sein muss, immer in derselben Form. Ja, die UNESCO ist streng. Ich erzähle ihm von den Auseinandersetzungen in Dresden und im Mittelrheintal, von der mühevollen Bewerbung  Hamburgs. Er hört interessiert zu. Völlig sprachlos ist er, als er erfährt, dass ich in einer Stadt wohne, die auch zum Weltkulturerbe gehört.

Er erzählt mir, er gehöre zum Stamm der Kichwa. Im Laufe des Tages merkt man, wie sehr er sich mit dem Stamm und seinen Traditionen identifiziert. Er isst deshalb auch kein Schweinefleisch. Das ist bei den Kichwa Tabu.

Immer wieder erklärt er auch, was einzelne Wörter bedeuten. Über Jumandi, den Helden der Kichwa, erzählt er, dass das die spanische Form des Namens sei. Auf Kichwa heiße der Humandi, aber das konnten die Spanier nicht aussprechen. Humandi bedeutet so etwas wie ‚kluger Kopf‘. Jumandi, dessen Statue am Rondell Jumandi steht, an dem ich vorgestern angekommen bin, ist der erste, der sich gegen die spanische Herrschaft aufgelehnt hat, als Indio, lange vor der Unabhängigkeitsbewegung der Weißen.

Ahuano liegt am Napo. Hier sollen wir unser Boot besteigen. Es hat mit einem Kanu, das Luis angekündigt hat, wenig zu tun. Es ist ein größeres, wenn auch schmales Schiff mit Überdachung und Motor, mit Sitzbänken, auf denen ein halber Kegelclub Platz findet. Und es gibt einen Fährmann. Luis steuert nicht selbst. Als es losgehen soll, höre ich irgendwas von Niedrigwasser in einem kurzen Austausch zwischen den beiden.

Es geht los. Für das richtige Urwaldgefühl ist der Fluss etwas zu breit, und das Flussufer ist zwar bewachsen, aber sehr exotisch sieht das nicht aus.

Immer wieder schrammt der Rumpf des Bootes an Steinen entlang, und nach zehn Minuten stehen wir. Vor uns ein Hindernis, ein breites Bett aus dicken Kieselsteinen, zwischen denen so gerade noch das Wasser zu sehen ist. Ende des Ausflugs?

Zu meiner Überraschung steigen die beiden aus und schaffen Steine an die Seite. Sieht nach einem unmöglichen Unterfangen aus. Weiter hinten auf der Steinbank ist ein Mann auch schon damit beschäftigt. Ich soll sitzen bleiben. Nach einiger Zeit versuchen sie, das Boot zu bewegen. Vergeblich. Dann steige ich auch aus und schiebe mit. Kein Erfolg. Weitere Steine werden weggeräumt, wir versuchen es wieder und kommen immer mal wieder ein paar Zentimeter voran. Dann auf einmal einen ganzen Schub. Dann ist Schluss. Die Männer besorgen Pfähle – weiß der Kuckuck, woher sie die haben – und legen sie unter das Schiff.  Es geht mühsam weiter, immer wieder wird die Lage der Pfähle unter dem  Boot neu ausgerichtet. Wir versuchen es mit allen Kräften, auf Kommando. Es geht weiter, aber dann stecken wir wieder fest. Aber es kommt Hilfe. Vom anderen Flussufer kommen zwei Männer in einem Boot zu uns herüber, stehend, mit Stechpaddel. Jetzt sind wir schon zu sechs, und dann kommen wir in ein paar großen Schüben weiter und erreichen den anderen Fluss. Der Ausflug findet doch statt.

In schneller Fahrt geht es über den trüben, breiten, einsamen Fluss. Es riecht nach Regenwald, sieht aber nicht danach aus. Das ändert sich schlagartig, als wir an einer kleinen Lehmstelle am Ufer anhalten und aus dem Boot krabbeln. Man macht ein paar Schritte und steht mitten im Urwald! Phantastisch! Hohe Bäume zu allen Seiten, Büsche zu beiden Seiten des schmalen Weges, der kaum auszumachen ist. Sattes Grün überall, ganz dichte Bewachsung.

Gleich kommt der erste Hammer: An einem Baum sieht man am unteren Ast eine Art Kropf, wie aus vielen kleinen Ohren bestehend. Was kann das nur sein? Ein Ameisenhaufen! Oben am Baum. Die Ameisen heißen Ohrenameisen, wegen der auffälligen Form, die ihre Haufen haben. Die Indios zerdrücken die Ameisen und reiben sich mit ihnen die Haut ein. Schützt gegen Moskitos.

Dann kommt ein Termitenhaufen, auch nicht sofort als solcher zu erkennen.  Luis malt mit einem Finger ein lachendes Gesicht in den Haufen. Die Indios verbrennen die Termiten, auch als Schutz gegen die Moskitos.

Dann sehen wir eine merkwürdige Palme, mit einer ganzen Reihe von dünnen „Beinen“, die schräg von dem Stamm abstehen, wie die Beine eines Stativs. Es ist eine Wanderpalme. Sie „wandert“, indem sie immer neue Beinchen ausbildet. Sie braucht sie als Stütze, weil sie schnurstracks nach oben wächst. Die Rinde der Füße ist stachelig und kann als Reibe in der Küche verwandt werden.

Dann pflückt Luis irgendwo drei große Blätter, alle in unterschiedlicher Größe, und legt eins auf das andere. So wird hier das Essen gegart. Man legt einen Fisch in das kleinste Blatt, klappt die ganze Sache von mehreren Seiten zu und legt sie dann zum Garen auf glühende Kohlen. Es müssen immer drei Blätter sein, so gart die Speise gleichmäßig und nicht zu stark. Der Baum, von dem diese Blätter stammen, heißt Achitra, volkstümlich auch Blumenrohr, spanisch bijao. Man nennt die Blätter auch natürliches Aluminium.

An einem Baumstamm wachsen weiße Pilze. Sehen eher wie Blüten aus. Sie sind umschwärmt von winzigen Fliegen. Schon zu spät fürs Sammeln, sagt Luis, man müsse genau den richtigen Zeitpunkt erwischen. Dann erklärt er, weiße Pilze dienten zum Verzehr, farbige als Medizin, schwarze als Rauschmittel. Ob das stimmt?

Er erklärt, wir kämen durch zwei Bereiche des Urwalds, den primären und den sekundären. In den habe der Mensch schon eingegriffen. Ich sehe aber keinen Unterschied.

An einem Baum sehen wir eine dicke Frucht, die Luis als Kürbis bezeichnet, calabaza. Die Indios teilen sie quer in der Mitte, entfernen das Fruchtfleisch und haben zwei Trinkbecher.

Es ist unglaublich, was der Mann alles kann, sieht und weiß! Irgendwo reißt er eine Blüte ab, zupft ein paar Blätter ab, drückt sie zusammen und heraus kommt ein Vogel! Dann erntet er irgendwo den Ast eines Baums mit sehr biegbarem Holz. Schnell hat er daraus einen Kreis gemacht, schlägt die Blätter nach innen und setzt ihn mir auf, als Krone für den König des Urwalds. Später bastelt er im Handumdrehen eine Angel, und unterwegs findet er ein stacheliges rundes Etwas, ein natürlicher Kamm. Funktioniert wirklich!

Wir sehen „falsche Bananen“, sie sind rot und wachsen nach oben.

Dann kommt der Baum der Bäume. Von dem hat er schon vorher gesprochen. Es ist ein Kapokbaum, ceibo oder ceiba (habe ich schon mehrmals gesehen, aber nicht in dieser Größe). Das ist der größte Baum des Dschungels, vielleicht sogar der größte Ecuadors. Er hat überirdische Wurzeln, Brettwurzeln, die stehen wie Wände vom Stamm ab und dienen dem Baum als Stütze. Der Zwischenraum ist so groß, dass man hier ein ganzes Haus einrichten könnte. Und die Indios haben den Baum tatsächlich als provisorische Behausung genutzt. Man braucht nur Blätter für das Dach, schon ist die Behausung fertig. Die Rinde des Baumes ist ganz glatt, und die Wurzeln wurden früher für alle möglichen Zwecke genutzt, weshalb der Baum, der den Indios heilig war, lange Zeit gefährdet war. Ist er jetzt aber nicht mehr. Wie groß der Baum tatsächlich ist, sieht man auf dem Photo, auf dem ich zwischen zwei Wurzeln stehe und zwischen denen regelrecht verschwinde.

Hier durch die Gegend zu streifen kann man einfach nur genießen. Wir sind die ganze Zeit über alleine. Luis kann gut Vogelstimmen nachmachen. Sie antworten ihm, aber lassen sich nicht sehen. An einem schmalen Steg vertreibe ich aus Unaufmerksamkeit einen großen schwarzen Schmetterling, der sich auf einem Ast niedergelassen hat.

Wir kommen am anderen Ende des Weges raus, und unser Fährmann wartet dort schon auf uns. Wir fahren den Fluss weiter hinunter und kommen zu einer Anlegestelle. Hier befindet sich eine Auffangstation für Tiere des Urwalds. Wir werden zusammen mit einer Gruppe, die uns schon erwartet, durch das Gelände geführt, von einem jungen Mann, der sehr gut erklärt und ständig ein Lächeln auf den Lippen hat, auch wenn er sagt, dies oder das Tier sei aggressiv oder wenn er sagt, dies oder das Tier habe ihm schon mal den Arm zerkratzt. Er nimmt die Tiere einfach, wie sie sind. Akzeptiert sie als Tiere. Typisch seine Reaktion, als er gefragt wird, ob die Tiere Namen hätten. Nein, mit Ausnahme eines großen Affen nicht. Man solle Tieren keine Namen geben. Sehr reif für so einen jungen Mann.

Zuerst sehen wir eine Anakonda. Das heißt, wir müssen uns den Hals verrenken, denn sie liegt am äußersten Rand des Beckens, zusammengerollt. Man sieht ihr ihre acht Meter nicht an. Das ist wenig führ ihr Alter. Wenn sie in Freiheit lebte, wäre sie schon größer. Die Anakondas fressen nur in großen Intervallen, und dann ordentlich. Eine Anakonda kann ein ganzes Schaf und oder einen Tapir verdrücken. Hat dann für Wochen genug. In der Natur scheint es alles zu geben.

Dann sehen wir ein Tapir, getrennt von zwei anderen auf der anderen Seite des Wassers. Sie scheinen sich nicht so gut zu verstehen, ein Thema, das immer wieder vorkommt. Tiere müssen getrennt werden, weil sie sich gegenseitig attackieren. Das Tapir ist das größte Tier Südamerikas, ist aber Vegetarier. Und Menschen gegenüber ganz friedlich. Seine Jungen sind gestreift, wie unsere Frischlinge. Überhaupt hat es irgendwie das Aussehen eines Wildschweins. Es lebt an Land, aber seine Notdurft verrichtet es nur im Wasser! Deshalb haben die Gehege hier Zugang zum Wasser.

Dann sehen wir einen Kaiman, genau genommen nur seine Schnauze, die so gerade aus dem Wasser ragt. Die Kaimane sind im allgemeinen nicht gefährlich, greifen Menschen nicht an. Der junge Mann erzählt, er habe sich einmal plötzlich im Wasser an der Seite eines Kaimans wiedergefunden. Er sei ruhig geblieben, ganz langsam weggeschwommen, nichts sei passiert.

Ein Kapuzineräffchen befindet sich ganz alleine in einem großen Gehege. Die Kapuzineräffchen gelten als die klügsten Affen. Dieses hier könne zum Beispiel eine Verriegelung öffnen, um an Nahrung zu kommen. Einmal sei es einer Freiwilligen entwischt, die das Tor nicht richtig verschlossen hatte. Es sei drei Tage im Dschungel gewesen, dann aber wieder aufgetaucht. Merkwürdig: Zieht es die Gefangenschaft der Freiheit vor? Kann durchaus sein. Hier ist es sicher und bekommt immer Nahrung. Da kommen einem Parallelen zu uns Menschen in den Sinn.

Auf dem Weg kommen uns immer wieder einzelne Schildkröten entgegen. Wir lassen sie in Ruhe passieren. Dann sind es auf einmal zwei, ein Männchen und ein Weibchen. Das Weibchen flüchtet vor den Nachstellungen des Männchens. Wie bei uns Menschen.

Dann kommen wir an ein großes Gehege mit einer ganzen lärmenden Affenschar. Unser Führer erzählt, die Jungen der Affen würden in der Regel nach ein paar Wochen ausgesetzt, die Muttertiere blieben dagegen hier. Sie hätten sie auch mal ausgesetzt, aber dann wieder eingefangen, weil sie die Besucher attackierten. Er attestiert den Besuchern aber auch falsches Verhalten. Sie liebkosten die Affen und wollten sie dann wieder loswerden, wenn die Affen ihnen lästig würden. Das würden die sich aber nicht gefallen lassen. Genauso kritisch sieht er das Halten von wilden Tieren als Haustiere. Die seien am Anfang ganz niedlich, aber wenn sie dann größer würden, würden sie aggressiv und gefährlich. Und landen dann oft hier.

Schließlich sehen wir noch einen Tukan. Der war auch früher gefährdet, weil er wegen seines bunten Schnabels gejagt wurde. Der wurde für medizinische Zwecke verwendet. Der Führer erzählt, der Schnabel des Tukans, der ganz hart aussieht, sei in Wirklichkeit ganz weich, das sei alles nur Gewebe. Auch wenn er ziemlich harmlos aussieht, ist der Tukan ein echter Allesfresser. Neben Blättern und Insekten verdrückt er auch gerne andere Vögel oder deren Eier. Das Tapir ist Vegetarier, der Tukan Allesfresser. Sollte man nicht glauben.

Wieder am Ausgang, machen wir auf einer Bank vor der Auffangstation Rast. Luis schlägt eine große Frucht mit gelber Schale vom Baum und spaltet sie dann mit ein paar Schlägen auf der Bank in zwei Teile. Zum Vorschein kommt eine weiße, flauschige Masse, mit gelblichen Samen zwischen den beiden Hälften. Was das sei, will  er wissen. Keine Ahnung. Kakao! Danach sieht es wirklich nicht aus.  Wir greifen zu und lutschen die weiße süßliche Masse ab und zum Vorschein kommen die Kakaobohnen.

Der junge Mann von der Führung kommt und setzt sich dazu. Sie unterhalten sich über die Auffangstation. Luis selbst hat auch hier gearbeitet, erst als Freiwilliger, dann als Mitarbeiter. Genauso wie der junge Mann. Als Mitarbeiter bekommt man einen kleinen Lohn, als Freiwilliger nicht. Jede Woche werde im Wechsel jemand abgestellt, der das Essen für die ganze Kohorte kocht. Die Arbeitsbedingungen seien ganz schön hart, und viele gäben nach kurzer Zeit auf.

Dann geht es ins Wasser. Wir ziehen uns an statt aus, denn wir müssen die Rettungsjacke anlegen. Allzu sehr braucht man sie nicht, denn man kann fast überall stehen, und die Strömung ist eher schwach.

Unser Fährmann fährt voraus und wir springen ins Wasser.  Die Temperatur ist ideal, weder kalt noch warm, und es ist ein Genuss, sich einfach treiben zu lassen und die Gegend anzusehen. Gelegentlich kommen Boote vorbei. Die Leute sehen uns mit großen Augen an. Luis meint, ich sei eine Ausnahme, die meisten würden das Angebot zum Schwimmen ablehnen. Tatsächlich haben wir im Laufe des Tages sonst keine Schwimmer gesehen. Am Rande des Flusses sieht man auch gelegentlich Fischerboote der Einheimischen.

Luis erzählt von seinen Fünftagetouren in den Dschungel, drei Tage hin, zwei zurück. Der letzte Rest der Strecke wird mit dem Bus zurückgelegt. Es hört sich alles verlockend an. Und ich nehme mir vor, das irgendwann nachzuholen. Wie ist es mit dem Gepäck? Kein Problem, das fährt im Kanu mit. Das Kanu ist er ständige Begleiter der Exkursion.

Als wir an der Stelle mit einem umgestürzten Baum ankommen, der unser Ziel markiert, bemerkt Luis auf einmal, als wir uns umziehen, dass ich an einem Bein lauter Mückenstiche habe. Nur an einem? Erst sieht es so aus, aber nee. An beiden. Nur an den Unterschenkeln. Die sind regelrecht übersät mit Einstichen. Wie haben die Viecher es nur geschafft, darein zu kommen, zwischen Stiefeln und langer Hose?

Wir sind auf einer Insel gelandet, der letzten Station des heutigen Tages. Wir gehen zu einem Kichwa-Dorf mit runden Hütten und Häusern auf Stelzen. Die Kichwa hier leben frönen ihren Traditionen, aber sie sind völlig vertraut mit der modernen Zivilisation. Es gibt noch zwei Stämme hier in der Gegend, die fernab von aller Zivilisation leben und Fremden gegenüber feinselig sind. Sie greifen alles an, was in ihre Nähe kommt.

In einer Hütte bereitet Maria, eine Indio-Frau, das Feuer vor. Währenddessen versuchen wir uns an dem traditionellen  Jagdinstrument, dem Blasrohr, der cerbatana. In einiger Distanz wird auf einem Pfahl eine hölzerne Eule aufgestellt. Luis zeigt mir, wie das Blasrohr mit seinem breiten Mundstück aufgebaut ist und aus welchen Materialien es besteht. Dann demonstriert er, wie es geht. Er betont, dass man nicht gerade stehen und das Blasrohr vor sich halten darf, sondern in die Hocke gehen muss, und das Blasrohr seitlich vom Körper hält. Der Pfeil kommt rein, er nimmt Maß und – zack, Volltreffer! Dann bin ich an der Reihe. Ich habe Sorge, ob ich den Pfeil überhaupt herausbekomme, aber es geht ganz leicht und – Volltreffer! Anfängerglück? Ja, denkste, der zweite Pfeil sitzt auch!

Indessen bemüht sich Maria darum, die Glut zum Brennen zu bekommen, aber es funktioniert nicht so recht. Luis nimmt sich der Sache mit zwei, drei Griffen an, und das Feuer lodert.

In einem Topf werden die Bohnen, die vorher ein paar Tage lang getrocknet worden sind, ohne weiteren Zusatz geröstet. Man muss ordentlich rühren. Die Bohnen sind fast schwarz, als wir sie vom Feuer nehmen. Jetzt wird die Schale entfernt. Gar nicht so einfach, die heißen Bohnen anzufassen. Erst gelingt es mir gar nicht, dann klappt es auf einmal. Man muss nur feste genug auf die Bohnen drücken. Die geschälten Bohnen kommen auf eins der großen Blätter. Sieht sehr dekorativ aus. In einem Topf wird Wasser erhitzt, und in das erhitzte Wasser mit Zitronenblättern und Zimt kommen die Bohnen. Wieder muss gerührt werden, dann entsteht eine braune, zähflüssige Masse. Die wird über Bananen und Erdbeeren geschüttet, und fertig ist der Lohn für die getane Arbeit. Lecker!!

Als wir beschäftigt sind, erzählt Luis, Maria spreche Deutsch. Sie ist bis jetzt schüchtern-zurückhaltend gewesen und hat nur einsilbig geantwortet, aber als ich sie auf Deutsch anspreche, wird sie fast gesprächig. Sie hat mehrere Jahre in der Schule Deutsch gelernt, aber jetzt schon seit elf Jahren nicht mehr weiter gelernt. Dafür kommt sie wirklich ganz gut zurecht. Später höre ich vor der Hütte noch einen ihrer Verwandten, der ebenfalls Deutsch spricht. Es gibt wohl eine Schule in der Nähe, die als erste Fremdsprache Deutsch unterrichtet.

Ich frage sie, ob die auch Kichwa spreche. Ja, natürlich dumme Frage. Kichwa ist für alle die Muttersprache, die Sprache, die zu Hause gesprochen wird. Zur Demonstration machen die beiden einen kurzen Dialog auf Kichwa. Luis erzählt, seine Mutter spreche nicht besonders gut Spanisch.

Maria ist inzwischen wieder tätig geworden. Sie hat einen Topf mit gekochter Jukka mitgebracht. Sie will uns zeigen, wie chicha hergestellt wird, das traditionelle Getränk der Kichwa, mal als Bier, mal als Schnaps bezeichnet. Sie reibt eine andere Knolle klein, wobei sie tatsächlich die Rinde der Wanderpalme benutzt. Geht ihr leicht von der Hand. Die geriebene Masse wird mit der Jukka vermischt und mit einem hölzernen Gerät, das auch direkt aus dem Dschungel zu kommen scheint, zu einem Püree gestampft. Das kommt jetzt in einen Topf mit kochendem Wasser und wird mit dem Wasser verrührt. Heraus kommt eine weißgelbliche Flüssigkeit. Fertig ist die chicha. Das heißt, nicht ganz. Im normalen Leben wird sie jetzt noch gekühlt. Dabei fermentiert die Flüssigkeit. Von der Zahl der Tage hängt es ab, wie stark der Alkoholgehalt ist. Nach vier Tagen ist die chicha so weit, dass sie bei Festen getrunken wird und eine leicht anregende Wirkung hat. Ein sanftes alkoholisches Getränk für die ganze Familie. Wir bekommen eine siebentägige chicha, Luis in einem großen, ich in einem kleinen Becher. Er haut sich das Zeug sofort rein und bestellt gleich noch mal nach.  Die chicha wird serviert in der Schale eines in der Mitte geteilten Kürbisses, wie wir ihn vorher im Dschungel gesehen haben.

Zum Abschluss gehen wir noch zur Lagune der Kaimane. Auf den ersten Blick ist nichts zu sehen in dem trüben Wasser, dann registriert man mehr und mehr, wie an verschiedenen Stellen die Spitze einer Schnauze und ein Paar Augen zum Vorschein kommen. Wir stehen auf einem Steg, Luis hat Futter mitgebracht, Lunge von der Kuh, der Leibspeise der Kaimane. Er wirft die Teile mit Wucht in verschiedene Teile des Wassers, und im Nu ist jemand da und schnappt sich die Beute. Dann bastelt er sich eine Angel und reizt die Kaimane mit dem Fleisch, das am Ende der Angel hängt. Jetzt zeigen sich die Kaimane, springen in die Luft, um an die Leckerbissen zu kommen. Jetzt ist nur noch ein Teil da. Er wirft es in das Wasser vor uns, und wieder ist sofort jemand da, um sich das Stück einzuverleiben. Aber kein Kaiman, sondern eine Schildkröte! Sie lebt friedlich vereint mit den Kaimanen im selben Wasser.

Als wir wieder in Ahuano sind, gehen wir in das Restaurant direkt an der Anlegestelle. Luis erklärt mir, was es mit dem Saft auf sich hat, den Adriana mir serviert hat. Es ist guayuso, eine wahres Wunder von Getränk, so etwas wie ein natürlicher Energy-Drink. Er soll alle möglichen positiven Wirkungen haben. Für die gibt es noch keine wissenschaftliche Erklärung, aber die Wissenschaftler sind der Sache auf der Spur.

Dann kommt noch der bekannte spanische Trinkspruch auf Kichwa. Ich versuche mich daran, beim ersten Mal nicht so gut, beim zweiten Mal schon ganz passabel. Wir machen es dann zweisprachig: Ahuama – Aiipama – Chaupina – Upishun und Arriba – Abajo – Al centro – Adentro.

11. Januar (Mittwoch)

Sogar die Hähne halten sich am Morgen zurück, so sehr plästert es.

Was macht man im Regenwald, wenn es regnet? Erst mal abwarten. Als der Regen ein wenig nachlässt, fahre ich doch noch in die Stadt.

Im Bus und in der Stadt sieht man immer wieder junge Frauen, die ihre Kinder in einer Schlinge um den Hals tragen. Scheint ein ganz einfaches Prinzip zu sein. Die Kinder sitzen weder vorne noch hinten, sondern an der Seite. Man wundert sich, dass sie nicht rausfallen.

In Tena steige ich aus und habe gleich an der Haltestelle einen Mann vor mir, der eine auffällig bunte Schürze trägt. Auf der Schürze sieht man den Bundesadler mit seinem roten Schnabel und den Deutschlandfarben im Hintergrund. Er weiß, dass es das deutsche Emblem ist und lässt sich bereitwillig photographieren.

Auf dem Weg zum Park komme ich an einem Lokal  vorbei, an dem draußen die Gerichte gegart werden, in Blätter eingeschlagen, genauso, wie Luis es mir gestern gezeigt hat. In den flachen Paketen befindet sich Fisch, das Hähnchen ist in kleinen oben zugeschnürten Säckchen.

Am Park kommt mir gleich ein Parkwärter entgegen. Er stellt sich als Cleve vor und bietet an, mich herumzuführen. Con mucho gusto.

Noch draußen vor dem Eingang sehen wir Zierblumen, rote. Die sind der Anziehungspunkt für Kolibris. Die sehen wir allerdings jetzt nicht, sie kommen regelmäßig zwischen 16 und 17 Uhr nachmittags und holen sich ihre Portion Nektar. Verrückte Natur! Woher wissen sie, wie spät es ist?

Daneben ein Strauch mit schönen, gelben Blüten. Die schließen sich nachts und öffnen sich morgens wieder.

Im Park lebt ein friedlicher Tapir. Der zeigt sich aber nicht. Bei dem Wetter zieht er sich lieber zurück. Ebenso wie die Affen, die hier leben.

Es gibt zwar ein paar Stege, aber man ist trotzdem sofort im Urwald, sobald man in den Park kommt. Mitten in der Stadt!

Auch hier wachsen die Wanderpalmen von gestern. Auch Cleve spricht davon, wie die verschiedenen Teile genutzt werden. Die Blätter sind wasserundurchlässig und werden für Dächer gebraucht.

Ein ganz besonderes Erlebnis haben wir am Termitenhaufen. Cleve macht mir vor, wie man es macht. Man hält die offene Handfläche drauf, die Termiten kleben fest, man leckt sich die Hand ab für eine kleine Zwischenmahlzeit, schüttelt die restlichen Termiten ab und reibt sich dann mit den Handflächen die Haut ein. Ist gesund und schützt gegen Moskitos. Hätte ich gestern schon mal machen sollen.

Es ist überall rutschig, und man muss aufpassen, dass man nicht fällt. An einem kleinen Loch zwischen zwei Stegen reicht Cleve mir die Hand, aber statt einen Schritt zu machen, springe ich und stürze unter den Steg. Ist aber noch mal gut gegangen. Er ist sehr besorgt, weil ich eine ordentliche Schramme abbekommen habe und etwas blute. Er will von seiner Regel eine Ausnahme machen und den Drachenblutbaum anschneiden, um Medizin für mich zu gewinnen, aber ich winke ab, und er ist einverstanden.

Er hat eine Machete dabei, die er immer wieder geschickt einsetzt. Im Nu hat er mir einen Stock geschnitten, auf den ich mich stützen kann.

Immer wieder betont er den Geruch der unbekannten Pflanzen. Er zerreibt ein Blatt mit den Fingern und lässt mich riechen. Alles riecht sehr intensiv.

Plötzlich hat er im Vorübergehen ein Blatt gepflückt, das er mir in die Hand gibt. Zu einer Kugel knüllen, in den Mund stecken und kauen. Es ist Coca. Zum ersten Mal bekomme ich die Flüssigkeit heraus und bekomme den leicht bitteren Geschmack zu spüren. Also nix mit unter die Zunge legen. Kauen.

Dann kommen wir zu einem Strauch, wieder mit großen grünen Blättern. Wenn man sie herumdreht, sieht man, dass sie auf der anderen Seite eine rote Zunge haben. Aus diesen Blättern bereiten sich Frauen einen Aufguss, den sie bei Menstruationsschmerzen trinken. Ob die rote Farbe die Indios wohl dazu gebracht hat?

Cleve hat mal wieder einen Ast abgeschnitten. Mit geschickten Bewegungen flicht er daraus ein schönes, grün und weiß gemustertes Stirnband und setzt es mir auf den Kopf.

Auch hier sehen wir wieder eine Würgefeige mit dem sprechenden Namen matapalo, ein besonders beeindruckendes Exemplar, wie gestern, wo man sieht, wie die dünnen Wurzeln sich langsam um den Wirtsbaum wickeln. Diese Form der Annäherung wird hier abrazo mortal genannt, tödliche Umarmung. Man denkt unwillkürlich an die Parallele zu uns Menschen. Man erfährt hier aber noch ein interessantes Detail: Die Würgefeige nutzt den Wirtsbaum gar nicht zur Nahrung. Sie klettert nur an ihm hoch, um nach oben, ans Licht zu kommen. Tötet sie, ohne es zu wollen?

Dann zerteilt Cleve mit den Machete eine am Boden liegende Guava, eine längliche, dickliche, gelbe Frucht. Die Kerne sind mit einer weißen Watteschicht bedeckt, gar nicht so anders als gestern bei dem Kakao. Man kann die leicht süßliche Watte essen, und übrig bleibt ein schwarzer Kern. Leider verpasse ich die Gelegenheit, mir ein paar Samen oder Steine einzustecken und sie mit zurück in die Heimat zu nehmen.

Dann kommen wir an einen großen Baum. Cleve schneidet einen Zweig mit drei Blättern ab. Wieder ein Blatt nehmen, eine Kugel draus machen und ab in den Mund. Was ist das? Ich kann es kaum glauben – Zimt! Schmeckt ganz intensiv nach Zimt. Hätte nicht gedacht, dass der auf Bäumen wächst!

Ich verabschiede mich mit einem dicken Wort des Dankes. Das war eine instruktive Führung.

Durch den wieder einsetzenden Regen gehe ich über die Brücke auf die andere Seite. An der Stelle, wo die beiden Flüsse, Pano und Tena, zusammenfließen, herrscht eine starke Strömung. Das kann man mit bloßem Auge sehen.  Die früheren Brücken wurden immer wieder zerstört durch die Strömung. Seit 1979 trotzt diese Brücke den Attacken durch das Wasser. Das erklärt wohl auch den Stolz der Stadt auf das jetzt hier stehende Brückentrio. Auf den ersten Blick nichts Besonderes.

Als ich auf der Suche nach dem von Luis empfohlenen Lokal Las  Delicias bin – ich erinnere mich nur noch, dass es irgendwo in der Nähe der Busstation war – werde ich von zwei Schülern angesprochen, auffällig gut gekleidet. Sie wollen wissen, ob ich hier auf Reisen bin. Und woher ich komme. Ich lasse sie raten: „¿Estados Unidos? – No, de Europa. – ¿Inglaterra? – No, de Centroeuropa. – ¿Suecia? – No. – ¿Israel? – No. – ¿Marruecos? – No, Alemania.“ Hört sich verrückt an, aber man frage mal einen deutschen Mittelstufenschüler nach den Ländern Südamerikas. Sie sind Kolumbianer, aus der Nähe von Cucutá, gehen aber hier zur Schule. Warum? Ihre Mutter sei als Touristin hierhergekommen und hier hängen geblieben. Sie wollen meinen Namen wissen und meine Telefonnummer bekommen.

Dann finde ich doch noch Las Delicias. Kein Schlemmerlokal, wie von Luis angekündigt. Solide Hausmannskost, würde man sagen. Aber es ist schön, hier unter dem Schutzdach draußen zu sitzen und den Regen auf die Straße prasseln zu hören.

Als ich die Hauptspeise bestellt habe und nach einer Suppe frage, heißt es, sowieso mit drin. Ein Essen ohne Suppe scheint für die Ecuadorianer unvorstellbar zu sein.

In der Suppe ein dicker, fast fleischloser Knochen. Ich teile ihn in zwei Stücke und gebe  eins dem Straßenhund. Ich denke, er wird ein bisschen daran herumknabbern und ihn dann liegen lassen, aber er beißt so lange darauf herum, bis der Knochen ganz verschwunden ist. Zur Belohnung bekommt er auch noch den zweiten Teil.

An der Haltestelle steht Adriana mit ihrem Sohn und dem Mädchen, ihrer Cousine, das auch bei ihr auf der Anlage wohnt. Wir warten und warten und warten, es kommen immer neue Busse, nur unserer nicht.

Neben uns eine alte Frau, in ein langes Kleid gehüllt, mit Hut und einer Maske, die ihr halbes Gesicht verdeckt. Sie hat ein Buggy zum Verkaufswagen umgebaut und verkauft Kaugummi und Zigaretten. Da bin ich leider kein Abnehmer für sie. Sie fragt nach meiner Reise und wie es mir in Ecuador gefalle. Und macht ein paar Bemerkungen zum Land. Ecuador habe viele Schätze, aber sie würden nicht gut gepflegt. Es gebe viele Menschen, die sich nicht um die Natur und die Geschichte kümmerten. Aber die müssten gepflegt werden.

Das Mädchen aus der Anlage, Adrianas Cousine, sieht mich unverwandt an. Dann merke ich, dass ich immer noch Cleves Stirnband trage. Ich frage das Mädchen, ob es ihm gefällt. Sie sagt ja, ich nehme es ab und setze es  ihr auf. Steht ihr viel besser als mir mit ihrer braunen Haut und dem pechschwarzen Haar.

12. Januar (Donnerstag)

4.14 Uhr. Der Fahrer ist eine Minute vor der vereinbarten Abfahrtzeit da. Ich stehe bereit, kann aber nicht raus. Adriana hört mein Klingeln nicht. Ich habe Glück, die Verbindungstüren zu ihrem Bereich sind nicht abgeschlossen, und auf mein Rufen kommt ein verschlafenes „Ya voy“. Na, Gott sei Dank.

Die Fahrt geht los. Der Fahrer brettert über den rumpligen Weg ohne große Rücksicht auf das Auto.

In der Stadt holen wir eine junge Frau ab-. Ohne Gepäck. Sie ist Pendlerin, arbeitet in Tena, wohnt in Quito. Dann kommt noch eine zweite Frau hinzu, auch ohne Gepäck. Und kurz vor Quito nehmen wir noch eine weitere Frau auf, aus einem anderen Wagen.

Wir fahren in die Nacht hinein. Schon außerhalb des Ortes überholen wir eine Mopedfahrerin, mit Helm, aber ohne Licht. Hier ist die Straßenbeleuchtung aber noch gut. Dann kommen uns irgendwann Fußgänger entgegen. Mit Stirnlampen.

Dann verschwindet die Straßenbeleuchtung. Aber die Seitenstreifen sind gut markiert, mit Leuchtdioden. Plötzlich steht eine Kuh auf der Straße, quer zur Fahrtrichtung. Der Fahrer hat sie rechtzeitig gesehen.

Gegen sechs Uhr dämmert es. Der Fahrer drückt auf die Tube. Er fährt schon mal 80, wo die Geschwindigkeitsbegrenzung 40 ist. Und schneidet alle Kurven. Einmal müssen wir fünf Tankzüge in einem Zug überholen. Geht gut. Ein Taxi vor uns bahnt uns den Weg.  

Wir sind bald schon kurz vor Quito. Ob ich den Bus um 9 Uhr noch kriege? Ja, auf jeden Fall, sagt der Fahrer, aber er hat die Rechnung ohne die Rushhour gemacht. Es geht nur schleichend weiter. Dann gibt es noch Uneinigkeit über die Stelle, an der eine der Frauen aussteigen soll, und als wir in Carcelén ankommen, sind die Busse weg. Um 9 Uhr herum gibt es gleich drei, von verschiedenen Unternehmen.

Ich soll, dem Vermieter in Tonsupa zufolge, am besten mit Esmeralda fahren, das seien die bequemsten Busse. Ich muss zwei Stunden warten, es ist kalt, und es gibt keinen Raum, in dem man warten kann. Die durchnummerierten kleinen Essstände haben nur Plätze draußen. Ich nehme trotzdem ein Frühstück, kein Leckerbissen.

Mir gegenüber eine Frau, die mich fragt, ob ich als Tourist hier sei. Sie selbst wohnt an der Küste. Sie könnte hier nicht leben, viel zu kalt. Sie ist in eine dicke Wolljacke gehüllt. Ich habe nur ein T-Shirt an.  Da, wo sie herkomme, gebe es die besten Bananen der Welt. Sie arbeitet in einer Fabrik, die die Bananen zu Püree verarbeitet und exportiert, vor allem nach Europa. Was macht man denn mit Bananenpüree? Der wird als Bestandteil von Backwaren verwendet. Sie will mir erklären, wo das ist, und fängt mit Guayaquil an. Nicht schlecht. Nördlich oder südlich? Das weiß sie nicht. Plötzlich wendet sie sich an den Mann ihr gegenüber, neben mir. Der gehört zu ihr. Hat die ganze Zeit schweigend danebengesessen. Der weiß aber auch nicht, ob ihr Ort nördlich oder südlich von Guayaquil ist. Wir einigen uns darauf, dass es weit von meinem Zielort entfernt ist, von Tonsupa, in Esmeraldas.

An einem der mit Waren vollgepfropften Verkaufsständen besorge ich mir Biskuit. Schmeckt aber längst nicht so gut wie das, was Luis dieser Tage gekauft hat. Die Verkäuferin lässt sich gerne photographieren und setzt dazu ihr schönstes Lächeln auf. Die Verkäufer preisen, wenn man vorübergeht, ihre Ware an: „A la orden.“

Es ist etwas wärmer geworden. Beim Warten fällt mir das Hinweisschild auf die Fahrkartenschalter auf: Boletería. Das wäre in Spanien Billetería.  

Auf dem Bahnsteig sitzend, sehe ich gleich gegenüber eine ganze Flotte der bunten ecuadorianischen Reisebusse, alle vom gleichen Fabrikat.

Stunde um Stunde geht es durch grüne Gebirgslandschaft. Schön, aber: Wo bleibt die Küste? Das Meer kommt erst zum Vorschein, als wir nur noch fünf Minuten von Tonsupa entfernt sind.

Die Gegend um die Haltestelle an der Durchgangsstraße sieht nicht gerade einladend aus. Aber das kompensiert das mototaxi, mit dem es zur Unterkunft geht. Erinnerungen an Havanna und die gelben cocos.

Der Mann in dem zum Taxi umgebauten Moped fährt gleich hier in die unbefestigte Seitenstraße rein, und biegt dann ab, den exzellenten Anleitungen von Gonzalo, meinem Vermieter folgend. Die ganze Gegend sieht sehr heruntergekommen aus. Umso mehr sticht das Haus hervor, in dem ich unterkomme: Inti Wasi

Die Begrüßung durch Gonzalo, einem schmächtigen älteren Herrn mit einem gewinnenden Lächeln, könnte herzlicher gar nicht sein. Man kommt sich wie ein Freund und nicht wie ein Besucher vor.

Am Ende des Eingangs kommt man in einen Innenhof, und plötzlich hört man das Rauschen des Meeres. Er ist,, als wäre es mitten im Haus. Durch einen Lattenzaun hindurch sieht man die wilden Wellen. Gonzalo öffnet ein Törchen, und wir stehen gleich am Strand. Sagenaft!

Das Meer hier ist sehr wild, und Schwimmen ist gefährlich. Das bestätigt Gonzalo auch. Aber es hat seine Tage. Jetzt sei es ganz wild, aber in den nächsten Tagen werde es wieder zahmer.

Dann lerne ich auch Raquel kennen, seine Lebensgefährtin. Sie begrüßt mich genauso herzlich.

Nachdem ich mich kurz eingerichtet habe, setzen wir uns oben auf den Balkon und trinken ein Bier. Wir sprechen vom Reisen und von Begegnungen mit Menschen in anderen Ländern. Es sind die Alltagssituationen, die es ausmachen, da sind wir uns einig. Und die Länder, die nicht ganz so hoch auf der Favoritenliste der Touristen stehen. Gonzalo spricht von seiner Reise nach Bolivien und den islas flotantes auf dem Titicacasee. Was genau das ist, bekomme ich nicht mit. Seine dünne Stimmt at es schwer, gegen die Wellen anzukommen.

Vor ihren Hunden bräuchte ich keine Angst zu haben. Es sind auch nur vier, nicht fünf, wie ich anfangs bei all dem Gebell dachte. Die Mutter lebt oben, in ihrem Bereich, ihre Kinder unten, in meinem Bereich, hinter einem Lattenzaun. Einer von ihnen ist angebunden. Der ist wohl nicht ganz so friedlich wie die anderen.

Ich solle immer, wenn ich rausgehe, eine Mototaxi nehmen. Sie hätten die Nummer und könnten mir jederzeit eins rufen. Das Handy keinesfalls mit zum Strand nehmen. Morgen würden wir einen Ausflug zu dem Leuchtturm machen, den man auf einem Felsen in der Distanz aufblinken sieht. Diese Seite sieht sehr schön aus, auf der anderen sieht man auf eine Bettenburg, in drei Kilometern Entfernung.

13. Januar (Freitag)

Die ganze Nacht über hat mich das Rauschen des Meers begleitet. Manchmal wird es für einen Moment still, dann fängt es wieder an zu rauschen.

Wir bekommen ein leckeres Frühstück serviert. Wir, das sind Gonzalo und ich. Raquel steht in der Küche. Sie kommt erst zu uns, als sie mit allem fertig ist. Er muss aber nachher den Abwasch machen. Es habe eine Zeitlang gedauert, bis sie ihn so weit hatte, sagt sie.

Vor dem Balkon, Richtung Strand, kreuzen sich die Äste von zwei Bäumen so sehr, dass man meinen könnte, es wäre ein und derselbe, wenn ihre Blätter nicht so unterschiedlich wären. Der mit den kleineren Blättern ist ein adormidera, auf Deutsch finde ich dafür Schlafmohn. Er legt sich nachts schlafen, seine Blätter kräuseln sich zusammen, fast wie die Nadeln eines Nadelbaums. Jetzt, am Morgen, stehen sie weit auseinander. Der andere Baum ist ein Mandelbaum.

Das Dach der Terrasse ist mit Toquila-Stroh gedeckt, dem Stroh, aus dem die sog. Panamahüte sind.

Das Geländer des Balkons ist aus ganz dicken Bambusstämmen gefertigt. Das haben sie selbst gemacht. Es sieht schön und sehr stabil aus.

Auch das der Lattenzaun zum Strand in ist eigene Produktion. Er kann wohl nur die Funktion haben, unerbetene Gäste abzuhalten. Das Wasser hält er nicht auf. Das kommt aber bis auf ein paar Meter an das  Grundstück ran. Früher sei das nicht so gewesen, da hätte das Meer auch bei Flut mindestens zehn Meter mehr Abstand gehabt.

Gonzalo zeigt mir zwei Bilder, die er von seiner Reise nach Bolivien mitgebracht hat. Die Reise scheint ihn sehr beeindruckt zu haben.

Ich frage, wie lange sie sich kennen. Seit zwanzig Jahren. Er hatte beruflich in Santo Domingo zu tun, es ging um eine Art Kooperative, und die Treffen fanden auf verschiedenen Gehöften statt. Auf einem von denen hat er dann die schöne Tochter des Gutsbesitzers entdeckt. Ihre Eltern betrieben damals Rinderzucht. Sie wohnen noch heute da, aber machen jetzt Kakao.

Wie sind sie dann hierher gekommen? In Santo Domingo wohnten sie zur Miete, wollten aber ein Haus kaufen. Wieder kam der Zufall zu Hilfe. Wieder war er beruflich hier, und diesmal sah er ein Schild an diesem Haus. Das stand zum Verkauf an. Und er wollte schon immer am Meer wohnen. Hat geklappt.

Die beiden fahren mit der alten Hündin- sie lebt oben, die anderen drei unten – zum Tierarzt. Ich sitze auf dem Balkon und genieße die Meeresluft und das Rauschen des Meeres. Raquel hat gemerkt, dass ich huste, und sofort bekomme ich einen Ingwer-Aufguss mit Zimt und Honig serviert.

Am Nachmittag machen wir einen Strandspaziergang. Mit drei Hunden. Jeder kriegt einen an der Leine. Ich bekomme den artigsten. Ist auch gut so. Er zieht immer nach oben, vom Wasser weg. Dort riecht er an Steinen und Hölzern und hinterlässt nach intensiver Prüfung seie Duftmarke.

Es sind tatsächlich ein paar Leute im Wasser. Sie haben ganz schön zu kämpfen mit der Strömung. Es sind auch zwei Kinder dabei, sie verschwinden unter den Wellen, tauchen dann aber wieder auf. Ganz wohl ist mir bei dem Gedanken nicht. Ihre Eltern sind zwar da, aber weiter hinten im Wasser.

In unserem Bereich ist der Strand leer, weiter hinten gibt es Bars, Sonnenschirme, Eisverkäufer, Musik.

Die Hunde kommen mit heraushängender Zunge von unserem Spaziergang zurück. Wir nicht.

14. Januar (Samstag)

Zu den Verwaltungseinheiten Ecuadors gehören, wie ich auf der Hinfahrt gesehen habe, auch die Kantone. Tonsupa liegt im Kanton Atacames und in der Provinz Esmeraldas. Die Ecuadorianer denken aber in Provinzen.

Merkwürdig: Im Deutschen ist das Adjektiv ecuadorianisch, im Spanischen ecuatoriano.

Beim Frühstück erfahre, ich was Inti Wasi bedeutet, der Name dieses Hauses: Haus der Sonne.

Mir ist dieser Tage der hohe Benzinpreis an der Tankstelle aufgefallen: 2,50 $ für die billigste Variante. Aber hat Ecuador kein Erdöl? Doch, im Osten. Hier in der Nähe führen Tanker ab, die das ecuadorianische Öl in alle Welt verschifften. Es ist das alte Leid: Die Bodenschätze sind da, aber es fehlen Technik und Inverstoren, damit das Öl im Land selbst raffiniert werden kann. Die Profiteure sitzen im Ausland.

Ich frage danach, wie sie es mit den Hunden halten, wenn sie auf Reisen gehen. Einer bleibt immer zu Hause. Das sei eine echte Einschränkung, gestehen sie beide. Raquel fährt morgen nach Quito und bleibt dort gleich einen ganzen Monat. Ende Januar ist der Stichtag für die Geburt ihres ersten Enkelkinds. Sie haben eine eigene Wohnung dort, und da werden die Winterklamotten verwahrt. Sie kann also mit leichtem Gepäck fahren.

Vom Balkon aus sieht man in den Garten des Nachbarn. Dort steht ein Baum mit Papaya-Früchten. Sie schlingen sich oben um den Stamm herum.

Raquel kommt zeigt mir zwei gelbe Früchte. Ob ich die kenne. Nein, keine Ahnung. Es ist Maracuja. Die Früchte selbst isst man in der Regel nicht, sie sind sehr bitter. Sie macht aber mit Hafermilch einen Saft daraus, und der schmeckt sensationell gut! Cremig, nicht zu süß, ganz große Klasse, einer der leckersten Säfte, die ich jemals getrunken habe.

Gonzalo erzählt, sie hätten früher in Santo Domingo selbst Maracuja angebaut. Die müsse man züchten, sie wüchsen an Stäben hoch, so wie Bohnen, stelle ich mir vor. Es dauere sechs bis sieben Monate, bis die ersten Früchte kämen, und von da an gäbe es immer Ernte – jeden Tag!

Wir machen einen Ausflug mit dem Auto. Zuerst geht es durch Tonsupa. Das ist nicht mehr als eine Ansammlung von Gassen, die alle, wie stolz vermeldet wird, schnurstracks zum Strand führen. 54 Häuserblöcke. Man wundert sich, worauf man so alles stolz sein kann.

Dann kommen wir nach Atacames. Die Hauptstraße hat nichts Besonderes zu bieten. Hingewiesen wird auf ein Fußballfeld, immerhin mit Rasen, und auf di langgezogene Friedhofsmauer. An der sind in grellen Farben Bilder angebracht, die Wesen zeigen, die aus einer amerikanischen Science-Fiction-Serie stammen könnten.

Wir kommen ins Zentrum von Atacames. Hier herrscht eifriges Treiben, man hat sofort den Eindruck, in einem lateinamerikanischen Ambiente zu sein.

Wir fahren weiter, nach Súa, zu einem Felsen, der Peñon del Suicida heißt, ‚Felsen des Selbstmörders‘. Der Name steht überraschenderweise in großen bunten Lettern über dem Abhang. Steil abwärts geht es hier wirklich. Allerdings ist der Selbstmord das tragische Ende einer Legende, die von der Liebe zwischen der Prinzessin Súa und dem Prinz Tonsupa handelt. Der Prinz musste in den Krieg ziehen. Es verbreitete sich das Gerücht, er sei im Kampf ums Leben gekommen. Súa stürzt sich vom Felsen in den Tod. Tonsupa kehrt zurück und stürzt sich ebenfalls von dem Felsen. Um bei ihr zu sein. Pyramus und Thisbe. Romeo und Julia.

Die Bucht ist wirklich schön. Auf der einen Seite sieht man hinüber zu unserem Strand, ganz und ganz Sandstrand und ganz und ganz bebaut. Wir sind jetzt sieben Kilometer vom Haus entfernt. Die beiden berichten, sie seien die ganze Strecke schon mal mit den Hunden abgegangen.

Zur anderen Seite sieht man auf eine völlig natürliche Bucht mit einem Felsen, der aus dem Wasser ragt. Schönes Photomotiv.

Es geht weiter nach Tonchigüe, ein Fischerdorf. Je weiter wir kommen, umso mehr merkt man das Fehlen von Wasser. Am Anfang ist der Gesamteindruck noch grün, dann kommen immer wieder Flächen mit kahlen Bäumen mit weißen Stämmen, bräunlich-graue Blätter unter ihnen, die den ganzen Boden bedecken. Dann kommen ganze Waldstücke, die wie unsere absterbenden Wälder aussehen.

Auch heute ist es wieder trocken, auch wenn die Sonne nicht herauskommt. Aber es ist warm, um die 25°.

In Tonchigüe halten wir an einem ganz einfachen Stand, an dem Fisch verkauft wird. Auf dem Tisch liegen einige wenige Fische, darunter ein großer grauer Fisch, eine Goldbrasse, dorada. Raquel bleibt hier, um Fisch zu bestellen, wir fahren zum Strand, einem Strand mit grauem Kies und grauem Meer. Am Ufer liegen ein paar blaue Fischerboote, oben am Kai sitzen die Fischer und plaudern.

Über dem Himmel kreisen große schwarze Vögel, und drei von ihnen machen sich am Strand über ein Stück Fisch her. Es sind Geier. Mit vorsichtigem Abstand stehen ein paar Möwen daneben und hoffen, noch etwas von der Beute abzubekommen.

Ich sehe mich nach Muscheln an und finde ohne Mühe ein paar Prachtexemplare, ganz anders als gestern an unserem Strand.

Wir sammeln Raquel wieder ein. Sie hat dorada gekauft. Die Verkäuferin hat ihr den Fisch filetiert und kochfertig zubereitet. Die Ausbeute beim Fischfang sei diesmal mager gewesen. Bei der heftigen Flut zögen sich die Tiere weiter ins Meer zurück. Für ein Pfund dorada zahlt man vier bis fünf Dollar.

Preise werden in Ecuador in Pfund angegeben. Als ich irgendwann mal ein halbes Kilo von etwas bestelle, versteht die Verkäuferin mich nicht.

Ich habe gebeten, in Atacames aussteigen zu dürfen. Dort begleiten sie mich aber noch zum Geldautomaten und nehmen das Geld an sich, zur Sicherheit. Sie sind wirklich um mich besorgt.

Ich frage, wie ich mich bemerkbar machen könne, wenn ich wieder zurückkomme. Eine Klingel gibt es nicht, und den Schlüssel habe ich stecken lassen. Kein Sorge, Du brauchst gar nichts zu machen. Die Hunde kümmern sich darum, uns auf Dich aufmerksam zu machen.

Ich sehe mir das Treiben rund um den Parque an, der hier, wie überall, kein richtiger Park ist, sondern eine Verbindung von einzelnen Bäumen und Statuen und Spielplätzen. Hier ist sogar ein Teil des Rasens Kunstrasen.  

In einer vom Parque abgehenden Seitenstraße findet Wahlkampf statt, in der Nähe der Parteizentrale der Gelben. In Jeeps und in einem Leiterwagen sitzen Anhänger der Partei mit gelben Mützen, gelben Hemden und gelben Fahnen. Aus dem Leiterwagen dröhnt Reggae-Musik, mit Texten, in den Wörter wie Bürgermeister und Zukunft und Atacames vorkommen.

Das Stadtbild wird bestimmt von den wunderbaren bunten knatternden Mototaxis. Ich versuche, möglichst viele auf einmal auf ein Photo zu bekommen, aber das ist gar nicht so einfach.

In einer vom Parque abgehenden Seitenstraße findet ein kleiner Wochenmarkt statt. Die Verkäufer, auf niedrigen Schemeln sitzendend, haben die Ware vor sich auf dem Boden ausgelegt. Ich frage nach dem Preis von Erdbeeren, Trauben und Kirschen. Die Kirschen sind am teuersten. Sie kämen von weiter her. Ich nehme Erdbeeren für Raquel und Weintrauben für mich mit.

Vor allem werden Bananen angeboten, grüne und gelbe, einzeln und in großen Stauden. An einem Moped hängt hinten links und rechts jeweils eine Bananenstaude.

An einem Stand sitzt eine Frau mit länglichen Netzen vor sich. Was mag da nur drin sein? Als ich näher hinsehe, merke ich, dass sich da was bewegt. Ich frage nach: Es sind Krebse. In einem Käfig daneben hat die Frau ein paar Reserveexemplare. Ziemlich groß, mit roten Zangen und einem unwirklich aussehenden blauen Panzer.

Am Rand des Platzes ist ein Lokal, das Gonzalo mir empfohlen hat, aber dort gibt es kein Mittagessen mehr. Der Wirt zeigt mir aber den Weg zu einem Lokal um die Ecke. Alle Plätze besetzt. Als ich mich umsehe, winkt mich ein Ehepaar zu sich. Ich solle mich ruhig dazusetzen. Als ich bestellt habe und nach Bier frage, stellt sich heraus, dass sie kein Bier haben. Aber die Kellnerin erklärt sich bereit, welches zu besorgen. Sie kommt unverrichteter Dinge zurück. Man hat ihr als Angestellte eines Lokals kein Bier gegeben. Ich frage, ob ich mir das Bier selbst holen dürfe, aber schon bietet der Mann an, das für mich zu erledigen. Ich drücke ihm zwei Dollar in die Hand, und bald kommt er mit einem kalten Bier zurück.

Inzwischen haben wir uns schon ein bisschen kennengelernt und uns vorgestellt. Sie heißt Gladys, er heißt Ramón. In seinen Fragen und Erzählungen taugt immer wieder China auf. Er sollte als 13-jähriger Junge auf Veranlassung eines chinesischen Verwalters, väterlichen Freunds oder Vormunds – wie das Verhältnis ist, weiß ich nicht genau – aber daraus ist nichts geworden. Heute betreiben sie eine Garnelenzucht. Auch hier spielt China eine Rolle, denn sie haben das Gelände von einem Chinesen gepachtet.  Irgendwann habe es eine starke Einwanderungswelle von China nach Ecuador gegeben, vermutlich zur Zeit der chinesischen Revolution, und die Chinesen hätten peu à peu überall Grundstücke gekauft. Auch heute sei das beliebt bei Ausländern, Amerikanern und Europäern. Die Grundstückspreise seien niedrig hier.

Sie fragen nach meiner Reise, und ich sage ihnen, das Schönste an der Reise seien diese persönlichen Begegnungen. Und dass es sich lohne, auch in nicht so von Touristen überlaufene Orte zu gehen. Atacames ist zwar ein Ferienort, aber die Gäste sind am Strand, nicht hier im Zentrum.

Während Ramón unterwegs ist, fragt mich Gladys, ob ich verheiratet sei. Nein? Sie habe noch ein paar unverheiratete Töchter. Warum ich das witzig finde, scheint sie nicht zu verstehen. Wie viele Töchter sie denn habe. Acht. Und zwei Söhne. Sie will mich auf die Schüppe nehmen. Nein, das stimme. Als Ramón zurückkommt, bestätigt er das. Ja, er sei Vater von zehn Kindern. Jetzt will ich doch genauer wissen, wie das sein kann. Sie sehen viel zu jung dafür aus, sie vor allem. Das sei so alle zwei Jahre passiert. Die älteste Tochter ist jetzt 30, die jüngste 10. Ich bin platt.

Als ich aufstehe und bezahlen will, hat er das schon für mich erledigt.

Ich will sie noch in die Eisdiele einladen, aber sie müssen weg. Wollen sich aber wieder melden.

In die Eisdiele gehe ich dann alleine. Die Bestellung ist so kompliziert wie bei einem Drei-Gänge-Menu. Aber das Eis schmeckt richtig gut.

Nach Hause ist es dann mit einem knallgelben Mototaxi gefahren. Der Fahrer kennt die Adresse nicht. Wieder kommt mir Gonzalos genaue Wegbeschreibung zugute, mit Bildern von jeder Abbiegung. Wir knattern über die Straße, der Wind bläst einem ins Gesicht. Am Ende lässt der Fahrer bereitwillig ein Photo von sich und seinem Gefährt machen.

Raquel erzählt, sie hätten mal eine indische Besucherin gehabt. Die sei ganz begeistert gewesen und habe immer „Tuck-Tuck“ gerufen. Die Mototaxis waren eine Erinnerung an ihre Heimat.

15. Januar (Sonntag)

Am Morgen bellt der angebundene Hund mich zum ersten Mal nicht an, und die alte Dame oben begrüßt mich schon wie einen alten Bekannten. Einer der Hunde knurrt, er fordert sein Frühstück, bekommt aber nichts. Er geht mit auf Reise, nach Quito.

Von dem Balkon aus sehen wir, wie gestern Abend, ein kleines Fischerboot, nicht viel mehr als ein schwarzer Punkt, hinten im Meer. Raquel sagt, das seien einfache Boote, ohne Motor. Die Fischer fahren morgens und abends aus. Der Fang besteht fast ausschließlich aus kleinen Fischen und dient der Selbstversorgung.

Der Kaffee wird hier nicht mit Zucker gesüßt, sondern mit panela. Die ist auch aus Zuckerrohr gemacht, aber nicht raffiniert und gilt deshalb als „gesund“, wie die beiden immer wieder betonen, bei allem, was wir zu uns nehmen. Die panela wird aus dem Saft des Zuckerrohr gewonnen, der lange gekocht und dann gepresst wird, zu kleinen Quadern. Hier gibt es ihn aber in Pulverform. Für den Kaffee ist das praktischer, da kann man besser portionieren.

Raquel macht sich auf die Reise nach Quito, und Gonzalo schlägt einen Ausflug vor. Er will mir ganze Wälder von gelb blühenden Bäumen zeigen. Er ist aber nicht ganz sicher, ob die jetzt schon oder noch blühen. Mir schwant nichts Gutes, bei so was kommt man immer zur falschen Zeit. Und ich sollte Recht behalten.

Für eine Fahrt zu gelb blühenden Bäumen, die gerade nicht blühen, sind wir verdammt lange unterwegs, meist aus Schotterpisten. Ich habe vor der Abfahrt nicht richtig nachgefragt, was auf dem Programm steht, und jetzt bekomme ich die Quittung.

Am Ortsausgang von Atacames passieren wir ein größeres Gelände mit Baracken, notdürftig zusammengeschustert. Hier, auf dem Gelände einer aufgegebenen Finca, haben sich Leute aus der Sierra niedergelassen, die es an die Küste verschlagen hat. Niemand hat sie daran gehindert, aber niemand hat ihnen auch dabei geholfen. Kanalisation gibt es hier bestimmt nicht.

Dann kommt eine Palmenplantage, zur Produktion von Palmöl. Sie haben aber offensichtlich den falschen Ort dafür ausgewählt, wie Gonzalo auch sagt, die Palmen sehen armselig aus und viele sind vertrocknet.

Die Landschaft ist nicht sonderlich schön, der Weg wird bestimmt von Bananenstauden, oft auf beiden Seiten, aber zwischendurch gibt es immer wieder echte Lichtblicke, wenn sich plötzlich die Sicht öffnet und man unerwartet in eine Meeresbucht oder ein grünes Tal hinunter blickt.

Dann befinden wir uns plötzlich in einer geisterhaften Umgebung. Hier hat es gebrannt. Tausende von dünnen Stämmen ohne Äste und ein verkohlter Boden. An den wenig übrig gebliebenen Ästen hängt noch ein vereinzeltes Blatt, wie eine Erinnerung an eine Zeit vor dem Untergang.

Diese Waldbrände entstehen nicht aus Unachtsamkeit oder durch das Wirken der Natur, sondern werden gelegt, wie Gonzalo erklärt. Man will damit Ungeziefer und Krankheitskeime vernichten.

Immer wieder biegen wir in kleine Fischerdörfer ab, deren Namen Gonzalo bedeutungsvoll ankündigt, so als wäre von Amsterdam, Venedig oder Paris die Rede.

Die Dörfer sind alle ziemlich nichtssagend, und man spürt eine lähmende Atmosphäre, aber die Buchten und die Blicke aufs Meer sind phantastisch.

Raquelita habe diese kleinen Abstecher nicht so gerne, sagt Gonzalo, die wolle lieber zügig weiter. Leider steht sie zur Unterstützung heute nicht zur Verfügung.

Ein Dorf hat einen ganz schönen Strand, aber der ist voller Strandgut. Und ganz verlassen. In einem anderen Dorf hat das Meer Verwüstung angerichtet. Die ganze Uferbefestigung ist auseinandergebrochen, Betonklötze und Steine liegen quer übereinander, die Uferböschung sieht aus, als ob ein Riese darein gebissen hätte. Man ist überwältigt von der Gewalt des Meeres.

Gonzalo hat einen guten Blick für einzelne Pflanzen und zeigt mit Zuckerrohr, einen Mahagonibaum und die toquilla, den Baum, der das Stroh für den Panamahut liefert. Er hat einen dünnen grünen Stamm und fächert sich nach oben aus, wie ein Regenschirm.

Auch hier findet in den Dörfern und auch auf den Straßen überall Wahlkampf statt. Ganze Autos und ganze Häuserfassaden sind mit den in den Farben der jeweiligen Partei und den Namen der Kandidaten versehen worden. Es finden Kommunalwahlen statt und Wahlen für die Provinz Esmeraldas, also so was wie Landtagswahlen. Die Kandidaten, unter ihnen viele Frauen, treten immer im Doppelpack auf. Es gilt, zwei Ämter zu vergeben, eins mit Zuständigkeit für das Land, das andere für die Stadt. Die Bezeichnungen sind verwirrend, klingen eher nach Bürgermeister als mach Ministerpräsident.

Mitten auf der Landstraße kommen uns immer wieder streunende Hunde entgegen, dann blockieren Kühe (mit schönen krummen Hörnern) die Straße, und dann kommen drei Esel die Straße hinauf, voll bepackt, aber ohne Begleitung. Sie scheinen den Weg zu kennen.

In einem etwas größeren Ort, wo mehr los ist, überholen wir ein Moped, auf dem gleich vier sitzen, vermutlich Geschwister, der ältere Bruder am Steuer.

Nach mehreren vergeblichen Anläufen in den Orten fahren wir in die Anlage einer Kooperative zum Essen. Man muss sich anmelden und Eintritt bezahlen, um überhaupt hineinfahren zu dürfen. Ich finde das eher lästig und nicht gerade einladend, Gonzalo feiert es als Zeichen von Seriosität.

Das Restaurant liegt oben, erhöht auf einem Hügel, da kann man nur zu Fuß hin. Das Restaurant, in der Form einer traditionellen Hütte gebaut, mit Bambus und Stroh, aber im Großformat, ist ausgesprochen schön, und der Blick hinunter auf die Bucht und das Meer ist phantastisch.

Wir bekommen ein Essen, das nicht sonderlich gut, aber dafür teuer ist. Gonzalo hat Garnelen, ich bekomme Reis mit Bohnen.

Hinter uns tagt eine Gruppe, wohl auch eine Art Kooperative, lauter Schwarze, lauter Männer bis auf eine einzige Frau. Sie kommen aus dem Norden Ecuadors. Der Vorsitzende gibt lautstark Anweisungen, wie die Sitzordnung ist und wie das Procedere sein wird. Dabei verweist er immer wieder auf die Satzung. Dann kommen Beiträge von anderen, immer sehr emphatisch, oft von Beifall unterbrochen. Gonzalo zufolge ist das alles heiße Luft, es ist noch nichts Konkretes besprochen worden, das meiste hat Appellcharakter.

Auf dem Rückweg kommen wir auf eine gut ausgebaute Landstraße, und Gonzalo drückt auf die Tube. Wir unterhalten uns über das triste Leben der Leute, vor allem der jungen Leute, in den Fischerdörfern, ein Leben ohne viel Abwechslung und ohne große Perspektiven. Er selbst findet auch, dass es da Initiativen geben müsste, Versuche, etwas Inhalt in das Leben der Dörfer zu bringen, aber da fehle es an Anregungen.

16. Januar (Montag)

Heute machen wir Männer das Frühstück selbst.  Gonzalo ist noch unbeholfener als ich, aber gemeinsam kriegen wir es im wahrsten Sinne des Wortes gebacken.

Das Brot wird auf einer flachen Pfanne geröstet, ohne alles. Sie haben die Pfanne von einem Italiener geerbt.

Gonzalo erzählt von einem deutschen Ingenieur, den sie zu Besuch hatten, ein großer Freund von Pizza. Er wollte eigentlich nur zwei Tage bleiben, blieb dann aber fünf. Der Ofen funktionierte nicht, ein Teil war defekt, und dafür gab es kein Ersatzteil mehr. Der Mann experimentierte so lange an dem Ofen herum, bis er wieder funktionierte und machte ihnen dann eine wunderbare Pizza.

Mit dem Mototaxi geht es nach Atacames. Gonzalo lässt es sich nicht nehmen, mich zur Straße zu bringen und dem Fahrer Anweisungen zu geben.

Unterwegs lesen wir noch eine junge Frau mit Kind auf. Die fahren zum Parque, ich zum Strand. Wir bezahlen beide, so lohnt sich die Fahrt für den Fahrer mehr. Es scheint in den Mototaxis nur männliche Fahrer zu geben.

Ich gehe ein ganzes Stück den Strand entlang. Junge Männer balancieren auf ihren Schultern Tabletts mit Bechern mit klein geschnittenem Obst. Sie gehen mit Leichtigkeit über den Sand und durch das Wasser, während ich mich im Wasser kaum aufrecht halten kann.  Einer bückt sich sogar und hebt eine Muschel auf, die er dann in einem Eimer legt.

An eine Häuserwand hat jemand Hecuador geschmiert. Ist das ein Scherz? Oder ein Rechtschreibfehler? Ist wie Däutschland.

Ich leiste mir einen Liegestuhl. Der Mann sagt erst ein Dollar, will dann aber zwei. Das will ich aber nicht. Da gibt es sich mit einem zufrieden.

Von einem vorübergehenden Käufer bekomme ich einen Becher Kokosmilch. Sehr süßlich, aber mit viel Eis.

Ein Hutverkäufer trägt seine Ware auf dem Kopf, 6-7 aufeinandergestapelte Hüte.

Es ist heiß, aber hier merkt man das wegen der Brise vom Meer nicht so sehr wie später in der Stadt.

Die Straße, die parallel zum Strand verläuft, ist eine echte Touristenmeile. Hier muss in der Hochsaison der Bär los sein. Aber jetzt stehen die Wirte und Verkäufer gelangweilt herum, es sind fast nur Einheimische vertreten. Hier gibt es viele Schwarze unter den Einheimischen, mehr als bei meinen vorherigen Stationen in Ecuador.

Auf der linken Seite reiht sich ein Lokal an das andere, auf der rechten Seite Geschäfte. Ich kaufe etwas in einer Apotheke, und die Verkäuferin warnt mich vor den Mädchen, die Massagen anbieten. Die ließen nachher nicht mehr locker und zögen einem das Geld aus der Tasche.

In der Luft wieder diese wunderbaren Vögel, mit auffällig schmalem Körper für die langen, geschwungenen Schwingen. Sie schweben in der Luft, ohne einen einzigen Flügelschlag, manchmal scheinen sie fast in der Luft zu stehen. Einmal sehe ich sechs in direkter Reihe hintereinander, die meisten fliegen aber alleine.

Überall wird encebollada angeboten, das Standardgericht der Region, ein Fischgericht mit Zwiebeln. Ich bekomme irgendwo in einer großen, fast leeren Gaststätte eine Hähnchenkeule mit dem unvermeidlichen Reis mit Bohnen. 6 Dollar. Dafür bekommt man in Quito fast zwei Essen.

Am Parque warte ich auf Ramón und Gladys. An den Spielgeräten machen sich Schulkinder in Uniform zu schaffen, Blau und Grau, Blau und Weiß und (am schönsten) Braun und Weiß. Sieht alles sehr gepflegt aus. Die jüngeren Mädchen tragen Röcke und Krawatten, die älteren lässige Hosen.

Heute ist wieder Wahlkampf, diesmal unter Einsatz von Tröten, Trommeln und Trompeten.

Pünktlich um zwei erscheinen die beiden. Statt in die Eisdiele wollen sie in eine benachbarte Bar, wo es Milchmixgetränke gibt. Merkwürdigerweise bestellen sie einen Toast dazu. Diesmal lassen sie mich die Rechnung übernehmen. Sie sprechen ausführlich über Atacames und benachbarte Orte, über das Leben in Ecuador und seinen reichen Vorrat an Früchten. Ramón ist der Wortführer, was Gladys einmal zu einer ironischen Bemerkung veranlasst. Er scheint internationale Freunde überall zu haben, Aussiedler, die hier leben und andere, in der Schweiz, in Barcelona und in Deutschland – in Johannisburg. Nee, meine ich, das sei nicht in Deutschland. Doch, er ist sich da ganz sicher, dann kommen Zweifel auf. Eine große Stadt mit Hafen. Hamburg? – Ja, Hamburg!

Es geht auch um Geld. Immer wieder nennt Ramón Grundstückspreise in Ecuador, so als wenn ich ein potentieller Käufer wäre. Dann kommen die Fragen, auf die ich nie eine Antwort habe: Was kostet ein Grundstück in Deutschland? Was kostet ein Haus in Deutschland?

Er erzählt auch immer wieder von Reisen nach Kolumbien, die er plant oder durchgeführt hat, so ganz klar wird mir das nicht. Ja, die Ecuadorianer führen gerne nach Kolumbien. Da sei alles billiger. Das wundert mich. Ja, sagt er, sie hätten ja den Dollar. Das war mir noch nie klar geworden, dass der Dollar nicht nur Landeswährung, sondern auch Devise ist. Davon profitieren die Ecuadorianer. Für mich ist der Dollar nicht relevant, und Ecuador eher billiger als Kolumbien.

Er bestätigt auch, dass Quito innerhalb von Ecuador am günstigsten sei. An der Küste und im Dschungel sind die Preise durch die Touristen wohl höher.

Dann kommt zufällig eine ihrer Töchter vorbei. Sie ist 21 und hat selbst auch schon zwei Kinder. Sie möchte gerne im Ausland arbeiten, Chile und die USA sind ihre Favoriten. Wir sprechen darüber, wie man so etwas angeht und welche Hürden es gibt. Am besten bekommt man von einem potentiellen Arbeitgeber eine Einladung. Das erleichtert die Sache. Ich weiß, dass viele Ecuadorianer in Spanien leben. Das bestätigen sie. Ob es da Abkommen zwischen Ecuador und anderen südamerikanischen Ländern mit Spanien gibt? Und welche Auswirkungen hat das auf das Aufenthaltsrecht in anderen Ländern der EU?

Sie fragen nach meiner Reise morgen und begleiten mich noch zum Busbahnhof, damit ich eine Karte kaufen kann. Der frühe Bus fährt aber nicht hier in Atacames ab, sondern in Esmeraldas. Da muss ich selbst sehen, wie ich dahin komme.

Als wir aus dem Bahnhof kommen, fällt mein Blick auf etwas in grüne Blätter Eingewickeltes an einem Verkaufsstand. Ich will eigentlich nur wissen, was das ist, aber im Handumdrehen haben sie mir zwei gekauft. Wir verabschieden uns, aber nicht ohne vorher das obligatorische Photo gemacht zu haben.

Am Nachmittag habe ich dann endlich doch noch mal Gelegenheit, ins Meer zu gehen. Gonzalo sorgt dafür, dass die Hunde nicht entwischen.

Man hat das Meer direkt vor sich, und diesen Strandabschnitt für sich alleine.  Das Wasser ist weder kalt noch warm. Die Wellen kommen niedrig rein, haben aber ganz schön Kraft. Um im Notfall ein SOS absetzen zu können, gehe ich rüber zu einer Gruppe von Jugendlichen, die etwas weiter Richtung Ort im Meer sind. Drei Jungen bauen sich immer gegenseitig eine Brücke mit den Händen, wie bei der Räuberleiter, so dass einer drauf steigen kann und dann im hohen Bogen in die Wellen geworfen wird. Die anderen lassen sich einfach von den Wellen erfassen und umwerfen. Über uns wieder die eleganten Vögel, jetzt sogar einmal in Formation. Einen sehe ich von ganz nahe, er hat einen weißen Kopf, der Körper ist schwarz. Der Himmel über uns ist gescheckt, und es wird langsam windiger. Gerade rechtzeitig gekommen. Keine schlechte Art, eine Reise zu beenden.