Montevideo – was für ein Name! Ob er wirklich bedeutet, was er zu bedeuten scheint, ‚Ich sehe den Berg‘? Keiner weiß es.
Uruguay ist, wie Paraguay, nach einem Fluss benannt, Brasilien nach dem Holz, Argentinien nach dem Silber, Venezuela nach der Erbauung auf Holzpfählen im Wasser, ‚Klein Venedig‘, Kolumbien und Bolivien nach zwei Männern, die die Geschichte Amerikas geprägt haben, und Ecuador nach seiner Lage am Äquator.
Uruguay hat 3,3 Millionen Einwohner. Davon leben 1,5 Millionen in Montevideo. Das ist ungefähr so, als wenn Berlin 35 Millionen Einwohner hätte.
Der Übergang von Brasilien nach Uruguay (morgens um 4, als die uruguayische Grenzpolizei den Bus kontrolliert) bringt zwei Umstellungen mit sich: die Währung und die Sprache.
Gleich am Busbahnhof in Montevideo, Tres Cruces, bekomme ich zum ersten Mal uruguayisches Geld in die Hand, uruguayische Pesos. Das Verhältnis zum Euro ist ungefähr 40:1.
Vom Bahnhof geht es mit dem Bus Richtung Altstadt. Der Fahrer kennt die Straße nicht, zu der ich will, Circunvalación Durango, aber eine freundliche Frau im Bus hilft mir und sagt mir, wo ich aussteigen muss.
Der erste Eindruck, am Busbahnhof und bei der Busfahrt: Hier ist alles ein bisschen sauberer, moderner, besser in Schuss als in Brasilien. Schon der Busbahnhof sieht anders aus, der Fahrkartenverkauf ist an einem zentralen Schalter, die Toiletten sind in einem besseren Zustand.
Auch der Bus ist moderner, und die Haltestellen werden elektronisch angekündigt. Und die Fahrer halten am Zebrastreifen.
Dieser Eindruck setzt sich in der Altstadt fort. Die Bürgersteige haben weniger Unebenheiten, nicht so viele Häuser verfallen langsam vor sich hin.
Etwas verloren gehe ich durch die am Morgen noch fast menschenleeren Straßen der Altstadt. Keiner kenne die Circunvalación Durango. Warum, das klärt sich später.
Wie durch ein Wunder lande ich in einer Touristeninformation, und die ist sogar geöffnet. Ein äußerst höflicher Portier hält mir die Tür auf, und die beiden Mädels an der Information versorgen mich mit allem, was das Touristenherz begehrt. Sie sind ausgesprochen freundlich und sehr hilfsbereit. Und sprachlich fällt auch was ab. Sie sprechen mich mit vos an und sagen majoría. Als sie erfahren, dass ich aus Deutschland komme, sind sie überrascht. Sie dachten, ich wäre Spanier.
Die beiden finden auch heraus, wie ich zur Circunvalación Durango komme. Ist nicht weit. Die finde ich aber trotzdem nicht. Ich frage zwei Polizisten, die kennen sie aber auch nicht. Sie sind aber sehr hilfsbereit. Sie sehen auf ihrem Handy nach, und der eine lässt mich sogar bei ihm einloggen, damit ich die Wegbeschreibung abrufen kann. Das Handy führt mich zum Ziel, aber hier heißt keine Straße Circunvalación Durango. Ein älterer Herr weiß schließlich Bescheid. Ich muss zur Plaza Zabala. Da war ich schon zweimal. Ja, die Straße die um den Platz herumführt, heißt Circunvalación Durango. Deshalb kennt sie keiner. Alle sprechen einfach von der Zabala. Jetzt leuchtet mir auch circunvalcación ein. Hört sich eher nach Umgehungsstraße und nicht nach Altstadt an.
Die Zabala ist ein schöner, grüner Platz, und jetzt am Morgen in der Stille und bei der Sonne präsentiert er sich besonders schön.
Das Apartment befindet sich in einem alten Haus, im 6. Stock. Die Gastgeberin, Graciela, verabschiedet gerade eine Frau, die bis heute hier übernachtet hat, und hat oben noch ein befreundetes Ehepaar, das am Abend zuvor zu einem Gourmet-Essen hier war und auch hier übernachtet hat. In der Wohnung herrscht ein gemütliches Durcheinander, und zwischen den Füßen laufen zwei Katzen her, die das Talent haben, immer dann aufzutauchen, wenn man nicht mit ihnen rechnet.
Graciela ist eine kultivierte Frau, mit einem besonderen Faible für gutes Essen und für Kunst. Überall hängen Drucke und Graphiken an den Wänden, und mit Begeisterung berichtet sie von den verschiedenen Kunstmuseen, die gleich hier in der Nähe sind. Drei der wichtigsten Maler Uruguays seien hier vertreten. Das sagt mir nicht so viel, da ich bisher noch keinen uruguayischen Maler kenne.
Graciela spricht fließend Französisch, leidlich Englisch, und hat auch lange Russisch gelernt und ist mehrfach in Moskau gewesen. Ihr Russisch will sie dringend wieder aufpäppeln. Mit mir spricht sie Spanisch und wundert sich über den nicht sehr ausgeprägten Akzent. Wie ein Deutscher klänge ich nicht, findet sie. Sie kennt eine Deutsche, die nach 14 Jahren in Montevideo praktisch perfekt Spanisch spricht, aber mit Akzent.
Sie bietet mir Brot an, selbstgebacken, und Kaffee, aus organischem Anbau. Milch hat sie nicht, jedenfalls keine Kuhmilch. Sie trinkt Hafermilch.
Sie ist offensichtlich auch weitgereist und berichtet von ihrer bevorstehenden Reise: Lima – Murcia – Budapest (das sie sehr gut kennt) – Krakau (das sie noch nicht kennt).
Das Zimmer ist noch nicht fertig, und sie lässt sich Zeit damit. In der Zwischenzeit spreche ich mit dem Mann von dem jungen Ehepaar, das als Gast hier ist. Er erklärt mir, dass das Wasser, das man von hier aus sieht, der Fluss ist, nicht das Meer, der Río de la Plata. Der mündet außerhalb von Montevideo ins Meer.
Das Zimmer, als es dann fertig ist, erweist sich als sehr schön hergerichtet. Es gibt Platz für alles und einen stabilen Schreibtisch. Auch vom Zimmer aus sieht man den Río de la Plata, in beide Richtungen. Von einem Fenster aus sieht man auf Durcheinander von Häuserwänden, dazwischen ein Kirchturm und ein weiterer Turm, und dahinter die Hafenkräne. Vom anderen Fenster aus sieht man gleich auf den Platz hinunter.
Nach dem Auspacken mache ich einen ersten Spaziergang, gleich zum Río de la Plata hinunter. Er ist hier so breit, dass man das andere Ufer nicht sieht. Trotzdem hat man nicht das Gefühl, am Meer zu sein. Dazu ist nicht genug Bewegung im Wasser. Der Fluss hat aber auch Strände, wie mir der Mann vorher schon gesagt hat. Und tatsächlich sind direkt vor mir ein paar Badegäste am Ufer und ein paar im Wasser.
Parallel zum Fluss verläuft eine sechsspurige Straße, auf der kaum ein Auto unterwegs ist. Die Straßen der Altstadt sind schachbrettartig angelegt, und immer wieder sieht man am Ende einer der Straßen den Fluss.
Ich gehe eine schnurgerade Straße entlang und komme dabei über die schöne Plaza de la Constitución und die weniger schöne Plaza de la Independencia. Und ich passiere die Straße Treinta y Tres, ein Name, der mich an eine Episode aus Madrid erinnert
Die Suche nach einem Geldautomaten erweist sich als schwerer als erwartet. Es gibt wenige, und einige von denen haben tatsächlich, wie von Graciela angekündigt, am Wochenende geschlossen! Der einzige, den ich finde, akzeptiert meine Geldkarte nicht. Ich gehe noch mal zurück und hole ein paar Euros, dann Wechselstuben gibt es hier alle Nase lang.
Jedes Land hat seine eigenen Daten, und was in Brasilien der 25 November und der 7. September ist, ist hier der 25. Mai, der 25 August und der 18 Julio. Auf die stößt man immer wieder.
Ich komme auch an der Botschaft Nicaraguas vorbei. Die ist passenderweise in dem Haus Rubén Darío untergebracht.
In der Nähe ein Feinkostgeschäft mit Auslagen im Schaufenster. Darunter Clausthaler, Henkell Trocken und Liebfrauenmilch.
Ich erlebe meinen ersten Preisschock, als ich in einem Café einen Saft bestelle und dafür im wahrsten Sinne des Wortes die Rechnung bekomme: 270 Pesos. Das sind über 6 Euro. Und das Trinkgeld ist, wie ausdrücklich betont wird, nicht inbegriffen.
Woimmer ich hinkomme, Busbahnhof, Touristeninformation, Café, sage ich jetzt Obrigado statt Gracias.
Ich warte die Zeit auf einer Parkbank auf der schattigen Plaza de la Constitución ab. Rundherum kleine Verkaufsstände, die alles Erdenkliche anbieten, aber denen vor allem eins fehlt: Kundschaft. Hier, wie überall in der Altstadt, herrscht eine sehr gelassene Atmosphäre. Und es ist ruhig. Ein großer Teil der Altstadt ist verkehrsfrei. Der Stadtrundgang, zu dem ich mich angemeldet habe, beginnt erst um 15.30.
Bei der Führerin stehen nur drei Gäste. Alle drei Brasilianer, zwei Männer und eine Frau, zwei Berufssoldaten und eine Journalistin. Es stellt sich heraus, dass die Führerin fließend Portugiesisch spricht. Jetzt komme ich ihr in die Quere. Wir einigen uns aber auf einen Kompromiss, sie erklärt auf Portugiesisch, ich frage auf Spanisch nach, wenn ich nicht verstehe.
Es wird auch generell kommentiert, wie die Verständigung klappt, wenn einer Spanisch und einer Portugiesisch spricht. Schwerer als man allgemein annimmt, da sind wir uns alle einig. Eier der Männer sagt, er verstehe schnell gesprochenes Englisch besser als schnell gesprochenes Spanisch.
Die beiden Männer sind Berufssoldaten, aus Sao Paulo und aus Santa Catarina, unweit Florianópolis, die Frau aus Minas Gerais. Erst im Laufe der Führung merke ich, dass die drei gar nicht zusammengehören.
Die beiden Männer tragen Fußball-Shirts, einer von ihnen das schwarz-weiße vom FC Santos. Sie waren auch im Fußballmuseum hier haben sich vor dem Helden der Nation, dem Torschützen des 2:1 von 1950, photographieren lassen.
Die Führerin hat länger in Florianópolis gelebt und dort Portugiesisch gelernt. Sie hat auch eine Zeitlang in Chile gelebt und dort einen deutschen Freund gehabt, der ein Lokal mit dem Namen Hotzenplotz betrieb. Ich kann ihr unterwegs sagen, was der Name eines Bekleidungsgeschäfts bedeutet, an dem wir vorbeikommen. Es heißt Frau.
Die junge Frau macht ihre Sache ganz gut und bezieht uns alle immer wieder in die Erklärungen ein, fragt auch nach Parallelen in unseren Ländern. Aber die Führung ist eher eine politisch-soziale als eine historisch-architektonische. Sie selbst ist auch wohl sehr engagiert und sagt, Uruguay sei eine sehr politische Nation. Auch die Frau aus Brasilien widmet sich dem politischen Journalismus. Eine aktuelle Debatte, die hier das Land in zwei Blöcke teilt, mit hauchdünnen Mehrheiten auf der Seite einer Koalition, die sehr heterogen ist und sich nicht nach den traditionellen Kriterien rechts und links ausrichtet, betrifft die Frage der Ausstellung von uruguayischen Pässen an Russen und Schweizer, die dazu nicht berechtigt sind. Es handelt sich also wohl um eine Frage der Korruption.
Die Führung beginnt an der Plaza de la Independencia, dem gewaltigen Platz am Schnittpunkt von Altstadt und Neustadt, mit einigen Gebäuden, die man einfach nur hässlich finden kann, auch in der Bewertung der anderen Gäste. Daneben das hochmoderne Gebäude des Präsidenten der Republik, und am anderen Ende ein ganz ungewöhnliches Gebäude, stilistisch kaum einzuordnen, vielleicht so etwas wie Art Deco, das erst auf den zweiten Blick gewinnt, der Palacio Salvo. Es war einst das höchste Gebäude Südamerikas, in den zwanziger Jahren entstanden, und war wohl früher ein Hotel. Heute gehört es einer großen, mehr als tausend Mitglieder umfassenden Eigentümergesellschaft, die sich bemüht, das Gebäude in Schuss zu halten. In den meisten Räumen befinden sich Büros, es gibt aber auch Wohnungen und kleinere Pensionen. Das Gebäude ist für Art Déco eigentlich ein bisschen zu mächtig geraten und auf der einen Seite einen quadratischen Turm, der fast die Hälfte der Fläche einnimmt. Aus irgendwelchen Gründen ist im Zusammenhang mit diesem Gebäude immer von der Commedia Divina die Rede, aber ich verstehe nicht, worin dieser Zusammenhang besteht.
In der Mitte des Platzes steht die gewaltige Reiterstatue des Helden der Nation, José Gervasio Artigas, dem entscheidenden Staatsmann im Kampf um die Unabhängigkeit Uruguays. Die Führerin vertritt die abenteuerliche These, dass Reiterstandbilder, bei denen das Pferd ein Fuß in der Luft hat, symbolisch dafür stehen, dass der Reiter im Kampf gestorben sei. Leider passt die Regel aber hier schon nicht. Artigas ist friedlich in seinem Bett gestorben, und zwar in Paraguay, wo er sich im Exil befand. Seine Überreste wurden dann später hierher gebracht.
Sie befinden sich jetzt in dem von Soldaten bewachten Mausoleum unter der Statue. Dort geht es um die Frage, was denn Uruguay so interessant machte in den machtpolitischen Spielen des 19. Jahrhunderts. Schließlich hatte es weder Gold noch Silber. Es war der Hafen, der natürliche Hafen, den der Rio de la Plata hier bildet. Und der wichtigste Agent war England. Uruguay hatte ich zwar von Spanien gelöst, 1821, und hatte dabei die spanische Schwäche nach den napoleonischen Kriegen genutzt, war dann aber zu Brasilien gekommen und dann erst durch britische Intervention unabhängig geworden.
Oben auf dem Platz weht die uruguayische Flagge, blaue und weißt Streifen und eine Sonne im oberen linken Eck. Was die Sonne zu bedeuten haben, will unsere Führerin wissen. Keine Ahnung. Wir erfahren, dass es die Sonne ein Symbol der Freimaurer war. Die spielten in der Unabhängigkeitsbewegung eine wichtige Rolle. Aus diesem Grunde stehen auf dem Platz auch 33 Palmen.
Am Zugang zur Altstadt stehen die Reste eines Tors der ehemaligen Stadtbefestigung, der Puerta de la Ciudadela, die Zitadelle, die die Stadtmauer, die die Altstadt komplett umschloss, zusätzlich schützen sollte. Von dem Tor ist heute nur noch ein ziemlich kümmerlicher Rest vorhanden. Die Stadtmauer wurde wohl aufgrund der Intervention Brasiliens abgerissen.
Unterwegs kommt irgendwann die Rede auf den ehemaligen Präsidenten Uruguays, Pepe Mújica, den Mann, der die Bescheidenheit an sich verkörpert. Die Brasilianer sagen, er sei ein Freund Lulas. Pepe Mújica kehrte nach dem Ende seiner Präsidentschaft wieder in sein einfaches Haus auf dem Lande zurück, so als wäre er nie Präsident gewesen und lehnte die von allen Seiten angebotenen modernen Schlitten ab, um bei seinem alten VW-Käfer zu bleiben. Glückliches Uruguay, das so einen Präsidenten hatte!
Wir stehen vor dem Theatro Solis, aber sie sagt wenig zu dem Gebäude, eher etwas über die ehemalige Funktion des Theaters, bei dem es um Sehen und Gesehenwerden ging, was zwei Logen zur Seite der Bühne belegen, von denen aus man kaum etwas von dem Schauspiel sehen konnte.
Dann kommt die Rede plötzlich auf Cannabis. Sie hat eine Tüte dabei und lässt uns einmal dran riechen. Cannabis ist in Uruguay legal, wenn auch streng geregelt. Man darf pro Monat in bestimmten Stellen und unter Angabe der persönlichen Daten eine begrenzte Menge kaufen und konsumieren. Sie findet das sehr streng im Vergleich zu Alkohol und Tabak. Das Cannabis wird in Uruguay von staatlichen Stellen angebaut und vertrieben und auch ins Ausland verkauft. Eine zusätzliche Einnahmequelle.
Wir passieren eine Kirche und erfahren bei der Gelegenheit, dass Uruguay ein streng laizistisches Land ist. Sogar das Aufstellen von religiös motivierten Statuen sei verboten. Ob das auch für die Statuen von Heiligen gelte, will ich wissen. Ja, auch für die. In Montevideo gebe es zwar zwei irgendwo, aber die seien eine Ausnahme.
Wir sehen eine besondere Bar, heute geschlossen, mit dem Namen Baar Fun Fun. Hat wohl nichts mit engl. fun zu tun, sondern der gesamte Name soll eine Anspielung auf einen Ausspruch eines Stotterers sein. Die Bar ist in einem hochmodernen Gebäude, bewahrt aber Ausstattung aus den alten Kaffeehäusern.
In einem anderen Gebäude, ebenfalls mit einer Glasfront, ebenfalls geschlossen, sehen wir eine Skulpturengruppe, drei Männer an einem Tisch sitzend. Sie spielen Truco, ein uruguayisches Kartenspiel. Gibt es in Brasilien auch, wie ich erfahre, in einer nördlichen und einer südlichen Variante.
An dem schönen Brunnen auf der Plaza de la Constitución, an dem Daten zur uruguayischen Geschichte angebracht sind, sollen wir Rechtschreibfehler entdecken. Die sollen dem Umstand geschuldet sein, dass der Erbauer Italiener war. Die Aufgabe erledigen wir mit Leichtigkeit.
Vor einem Relief der damals noch ummauerten Altstadt kommt zufällig ein anderes sprachliches Detail zur Sprache. Im Portugiesischen gebraucht man das Wort trem, um auf ein Ding zu verweisen, das man nicht so genau benennen kann, das Pendant zu unserem Dingsbums.
Dann sehen wir noch das wunderbare Jugendstilhaus, wo jetzt eine Buchhandlung untergebracht ist, mit einer gläsernen Fassade, in der sich die Umgebung spiegelt. War mir vorher schon aufgefallen.
Wir kommen zur Plaza Zabala und stehen fast direkt vor meiner Wohnung. Wieder ein Reiterstandbild, diesmal von Zabala, dem Stadtgründer. Das Pferd hat alle Füße auf dem Boden. Also ist der Reiter eines natürlichen Tods gestorben. Diesmal haut es hin.
An dem Sockel stehen, nicht überraschend, die Wörter Uruguay und Montevideo. Das Wort Uruguay stammt, genauso wie Paraguay, aus dem Guaraní, und beide Wörter bedeuten ‚großer Fluss‘, wobei mit Uruguay wohl ‚großer Fluss der Vögel‘ gemeint ist.
Zu Montevideo gibt es dann noch einmal eine abenteuerliche Erklärung. monte – vi – deo. Der sechste Berg von Ost nach West. Wer wohl darauf gekommen ist?
Offen bleibt die Frage nach dem offiziellen Namen des Landes: República Oriental del Uruguay. Wenn es eine República Oriental del Uruguay gibt, müsste es dann nicht auch eine República Occidental del Uruguay geben? Ich hatte das immer politisch verstanden, als Forderung nach Gebieten, die auch zu Uruguay gehören sollten, aber unserer Führerin versteht es rein geographisch. Liegt eben östlich des Uruguay.
Meine Konzentration lässt nach und meine Beine werden müder. Wir gehen aber noch zum Hafen runter. Dort hat man aus der ehemaligen Markthalle eine Fressmeile gemacht, vermutlich eher für Touristen. Vor einem Geschäft, in dem es Spezialitäten von Uruguay zu kaufen gibt, bekommen wir noch Erklärungen zu den Spezialitäten des Landes. Davon bekomme ich aber kaum noch etwas mit. Bei den Getränken Medio & Medio, halb Weißwein, halb Sekt, und bei den Speisen chivito, was, trotz des Namens, nicht Zicklein ist, sondern Rindfleisch.
Nach der Führung setze ich mich auf die Terrasse eines Cafés in der Fußgängerzone und trinke ein Bier, ein uruguayisches Bier der Marke Cabezas Bier. Es ist ziemlich bitter, und ein weiteres, das die Kellnerin mir in einem Probierglas anbietet, ist noch bitterer.
Auf der Straße habe ich Französisch gehört, und hier am Nebentisch höre ich Deutsch. Ein Schweizer Ehepaar, das mit provozierender Langsamkeit miteinander spricht. Dann höre ich hinter meinem Rücken eine Sprache, die ich nicht identifizieren kann. Es ist Hebräisch. Fünf junge Männer, die ihren dreijährigen Wehrdienst hinter sich haben und jetzt auf Reisen sind. Sie sind durch ganz Argentinien gereist und wollen nach Uruguay nach Brasilien. In Argentinien hat ihnen am besten in Bariloche gefallen. Sie geraten geradezu ins Schwärmen, als sie von den Sieben Seen berichten.
Als ich wieder nach Hause komme, erwartet mich noch ein weiteres Spektakel. An der Zabala, direkt vor unserem Haus, wird Candombe gespielt, das uruguayische Pendant zur brasilianischen Samba, ein Tanz mit Trommeln. Im Moment wird aber mehr geübt als gespielt, der ältere Dirigent hält eine längere Ansprache und unterbricht dann immer wieder nach ein paar Takten, um weitere Anweisungen zu geben. Es wird langsam dunkel, und wir Zaungäste – im wahrsten Sinne des Wortes – warten darauf, dass es endlich los geht. Man kann aber ein bisschen erahnen, wie es läuft, es ist ein „Dialog“ der tieferen mit den helleren Stimmen, begleitet von dem „Kommentar“ der Schlagstöcke. Hört sich gut an, aber ich bin zu müde, um weiter zu warten. Später aber, vom Zimmer aus, kann ich hören und sehen, als es richtig los geht. Der Zug setzt sich in Bewegung, begleitet von tanzenden Menschen. Der Rhythmus ist einfach mitreißend.
Graciela ist noch munter und hat noch vor, zu einem Konzert zu gehen. Gibt mir aber vorher noch ein paar Restaurant-Tipps und erzählt von der bevorstehenden Reise. Ihre Tochter, die bis vor kurzem noch bei ihr wohnte, hat an der Complutense einen Master gemacht und sofort eine Stelle in Madrid bekommen, unter lauter Männern, mit einem Argentinier als Chef. Sie trifft sich mit ihrer Tochter in Murcia und sie reisen zehn Tage lang gemeinsam durch die Gegend, um Weihnachten herum.
Sie bestätigt auch die Sache mit den Preisen. Uruguay sei das teuerste Land Südamerikas, und viele Uruguayos führen am Wochenende hinüber nach Argentinien zum Einkaufen.
Sie erklärt mir auch noch eine Merkwürdigkeit in Bezug auf die Candombe. An dem Platz, an dem sie übten, brannte ein offenes Feuer, auf einer Art Grill. Hat aber nichts mit dem Essen zu tun. Vor dem Feuer werden die Felle der Trommeln erwärmt und dadurch getrocknet. Durch den ständigen Kontakt mit den Händen werden die im Laufe der Zeit feucht.
27. November (Sonntag)
Unselige Erinnerungen an die Zeit in Madrid: Am Morgen geht irgendwo eine Sirene los, und keiner kümmert sich darum.
Der Tag präsentiert sich aber trotzdem freundlich, sonnig und hell, mit einem halb klaren, halb wolkigen Himmel.
Graciela erzählt, das Konzert sei große Klasse gewesen. Eine Sängerin und Pianistin, die seit 25 Jahren nicht mehr in Montevideo aufgetreten sei. Das Konzert fand im Theatro Solis statt, wo wir gestern auch Halt gemacht haben. Sie habe viele alte Bekannte getroffen, bei solchen Gelegenheiten seien immer die gleichen Verdächtigen dabei. Kann man sich gut vorstellen. Danach hat sie dann noch zu Hause bis 4 Uhr einen Film gesehen. Scheint zu stimmen, was sie gestern gesagt hat, die Uruguayos sind die Spanier Südamerikas.
Graciela schwärmt von den Museen Montevideos, beklagt aber, dass es an Mitteln fehle und dass viele am Wochenende deshalb nicht öffneten. Und das sie modernisiert werden müssten. Der Eintritt sei meistens frei, außer bei den privaten, und die hätten auch am Wochenende geöffnet, wie das Gurvich, das sie als Kunstmuseum empfiehlt.
Ich gehe in ein kleines, noch fast leeres Café in der Calle Sarandí. Hier gibt es auch Eis. Eine Kugel kostet 120 Pesos, 3 Euro. Da komme ich mit meine 200 Pesos für Kaffee und Kekse noch gut weg. Als ich mich bedanke, antwortet die Kellnerin Por favor. Ist das eine uruguayische Variante?
Die Sarandí hat ihren Namen von einer Schlacht, wie so vieles hier, einer Schlacht gegen die Brasilianer. All das gilt der Beschwörung der eigenen Geschichte und der Konstruktion einer eigenen Identität.
Die Sarandí ist wohl das historische Zentrum Montevideos und heute die wichtigste Straße der Fußgängerzone.
Auf der Suche nach dem einen Museum, das geöffnet hat, sehe ich an einer Straßenecke in der Fußgängerzone eine interessante Skulptur. Ein Erdball, aus verrostetem Eisen, leicht verzogen, ist einem zarten Baumstamm aufgepflanzt. Der muss die Erde halten.
Dann komme ich zum Museo de Historia Nacional, von Graciela empfohlen und tatsächlich geöffnet. Eintritt gratis. Es ist eine Dependance des Museums, konkret die Casa de Ribera. Der war der erste Präsident der Republik Uruguay. Einen Überblick über die Geschichte Uruguays, wie ich ihn mir versprochen hatte, gibt das Museum nicht. Auch ist von Ribera nur als einer von vielen die Rede. Es gibt ein paar interessante Ausstellungsstücke, aber wenige Erklärungen, vor allem oben.
Einige Exponate erklären sich aber von selbst. Zu Beispiel ein Gemälde gleich zu Anfang der Ausstellung, ein schönes Bild, mit impressionistischen Pinselstrichen gemalt. Es stellt das alte Montevideo dar (XVIII), noch mit der vollständigen Stadtmauer, mit mächtigen Bastionen und der Zitadelle. Nach hinten der Fluss, nach vorne unbewohntes Land. Das Zentrum ist überschaubar, die Türme der Kathedrale sind noch nicht vollendet.
In einer Vitrine sieht man das Schloss und den Schlüssel der Zitadelle, ein Ölkännchen aus einem 1793 untergegangenen Schiff, ein Trinkgefäß (aus Leder), mit Bronzenägeln beschlagen und andere Kuriositäten.
Eine eigene Abteilung ist dem Duellieren gewidmet, mit der Betonung der zivilisierenden Wirkung der Regeln und Verordnungen, die eingeführt wurden, um den Wildwuchs zu beenden. Man sieht mehrere Publikationen, die sich dem Thema widmeten und regelten, wer sich mit wem unter welchen Bedingungen duellieren durfte. Auch die Waffen und deren Gebrauch (entweder Pistolen oder Säbel) wurden reglementiert. Als Folge davon entstanden sogar Fechtclubs, in denen der Gebrauch des Säbels geübt wurde. Man sieht Dokumente über das erste Duell, das so geregelt stattfand, zwischen zwei Offizieren. Der erste starb durch die erste Kugel, die abgeschossen wurde. Fünf Beteiligte wurden nach Argentinien ausgewiesen. Verboten wurde das Duellieren erst 1889. Bis dahin war die Ehre ein solches soziales Kapital, dass ein Duell als erforderlich angesehen wurde, wenn die Ehre in Verruf geriet.
Eine Abteilung widmet sich einzig und allein José Artigas, dem uruguayischen Nationalhelden, dem Jefe de los Orientales. Es geht aber nicht um seinen Lebenslauf oder seine Heldentaten, sondern um seine pluralen Identitäten. Ganz unterschiedliche Darstellung von ihm stehen nebeneinander, eine schwere Bronzebüste, ein Modell des Reiterstandbilds und Gemälde. Man sieht ihn in Uniform und in Zivil, einmal nachdenklich in die Ferne blickend, vermutlich vor einem soldatischen Zeltlager, einmal nachdenklich nach vorne blickend, als Wanderer mit Stock und Umhang auf einem Felsen im Wald sitzend, man sieht ihn in heroisierenden Gemälden als Führer der Orientalen mit seinem ganzen Volk, bei Exodo del Pueblo Oriental (mit biblischen Anklängen), man sieht seine Todesmaske, man ein Art Altersporträt von ihm, ganz in Grau, mit Furchen im Gesicht, aber auf den zweiten Blick noch ganz wach nach vorne blickend, und man sieht ihn in einem modernen Gemälde, wo er in einen heutigen Kontext versetzt wird. Was fehlt sind Bilder aus der Privatsphäre, im eigenen Heim, mit Frau und Kindern, sofern er welche hatte.
Dann gibt es einen Raum zur Rolle der Kirche. Es wird vor allem klar, was für ein Umbruch auch für die Kirche gekommen war mit der Unabhängigkeit. Dazu kamen die Konflikte zwischen den Spaniern und den Kreolen und die zwischen den fortschrittlichen und den konservativen. Schön veranschaulicht wird das durch Bücher, die in einigen Exemplaren vertreten sind – Diderot, Rousseau, Montesquieu – die offiziell verboten waren, sich aber in der Privatbibliothek mancher Kleriker wiederfanden.
Oben ist man schlicht überwältigt von der Vielzahl der Exponate, die alle etwas mit dem Unabhängigkeitskrieg und wohl auch mit dem Bürgerkrieg zu tun haben, die man aber als Fremder nicht richtig bewerten kann: Kurzporträts der wichtigsten Figuren, darunter Ribera, Pistolen, Uniformen, Orden, Epauletten oder auch eine tragbare Druckerpresse. Man kann sich vorstellen, welche Rolle die Propaganda in den Auseinandersetzungen spielte. Und wie wichtig es war, Aktuelles unter die Leute zu bringen.
Am Ende gibt es noch eine Überraschung. Es ist von einem Laguarda Trias die Rede, und ich will mich schon abwenden, als irgendwas mein Auge trifft. Dieser Mann, der irgendwie mit der Medizin und der Armee verbunden ist, wurde im Laufe der Zeit zu einem bedeutenden Kartographen und Etymologen. Er reiste durch halb Europa, um die dort in Bibliotheken schlummernden Karten der frühen Neuzeit (XV/XVI) auszuwerten – und zu kopieren, per Hand, um sie zu Hause auch zur Verfügung zu haben. Er beschäftigte sich besonders interessiert mit den Fortifikationen der Kolonialzeit und den atlantischen Erkundungsfahrten. Besonders interessiert war er an Ortsnamen, und er machte auch Studien zum Namen Montevideo. Den führt er auf eine Inschrift Amerigo Vespuccis hier in Montevideo zurück: VIDI 1501. Diese Inschrift wurde mehr oder weniger totgeschwiegen, und zwar deshalb, weil Vespucci nicht hätte hier sein dürfen, seine Expedition verstieß gegen den Vertrag von Tordesillas. Er selbst hat aber in alten Dokumenten Hinweise auf diese Inschrift gefunden, und diese Inschrift kursierte unter Kartographen und Seefahrern. Aus ihr entstanden dann im Laufe der Zeit Varianten des Ortsnamens wie Monte Vidio, Monte de San Ovidio, Monte Seredo oder Monte Videu. Bis sich schließlich Montevideo durchsetze.
Nach dem Museum gehe ich zur Kathedrale. Wie so vieles andere ist auch die heute geschlossen, an einem Sonntag! Die Fassade ist schlicht, praktisch ohne Figurenschmuck und mit wenig Bauschmuck. Aber die Kirche ist viel zu große für den Platz. Sie passt nicht zu dem Platz, und der Platz passt nicht zu ihr. Sie braucht einen großen Vorplatz, von dem aus man die Fassade unbehindert sehen kann.
Unterwegs fragt ein Radfahrer die Passanten nach der Plaza Zabala. Ich erkläre ihm den Weg, aber er ignoriert mich. Die anderen Passanten wissen es aber nicht, und dann mache ich ihm unmissverständlich deutlich, dass ich den Weg kenne, und jetzt hört er mir zu.
Dann stellt sich heraus, dass auch das Museum Gurvich geschlossen ist, entgegen Gracielas Ankündigung. Ich nehme die Flucht und gehe in die Neustadt, aber da ist noch weniger los. Die Straßen sind hier auch ganz gleichmäßig angeordnet, aber breiter. Es geht an einem monumentalen Denkmal vorbei, wiederum Krieger in einer Schlacht um die Unabhängigkeit darstellend, und dann einer Siegessäule. Ich biege ab Richtung Río de la Plata. Es geht vorbei an einem Platz mit Justizgebäuden, einer Skulptur und Zitaten zu Recht und Gleichheit, die in den Boden eingelassen sind, eins von einem der uruguayischen Unabhängigkeitshelden, eins von einem gewissen Gustav Radbruch.
Dann gehe ein gutes Stück an dem Fluss entlang, über die Rambla, und komme dann wieder in die Altstadt. Ich sehe mir den schönen italienischen Brunnen an, mit drei dünnen Schalen. Das Wasser plätschert von oben und von der Seite, und die Wasserstrahlen begegnen sich. Am Brunnenrand kräftige Putten, die einen großen Fisch gefangen halten, an der oberen Schale kleine Fische, die Wasser ausspucken.
Auf einer Parkbank mache ich im Schatten eine Pause und werde von zwei Frauen nach dem Weg gefragt, Damen im besten Alter, gut gekleidet, ganz in Weiß. Sie wollen wissen, wie man zum Mercado kommt. Eine von ihnen kommt aus Salta, das ist oben bei Paysandú, die andere ist hier aus Montevideo. Dass sie den Weg trotzdem nicht weiß, liegt daran, dass sie die Ecke um den Hafen herum eher meidet. Da fühle man sich als Frau alleine nicht so wohl. Aber ihrer Freundin wolle sie den Mercado doch zeigen. Ich kann ihnen nur die Richtung weisen, erst später fällt mir ein, dass ich ja einen Stadtplan bei mir habe. Bevor sie sich verabschieden, sagt die eine: Moment mal, wir haben uns jetzt die ganze Zeit auf Spanisch unterhalten. Haben Sie nicht gesagt, Sie wären aus Deutschland?
Ich spaziere ein bisschen weiter und komme wie durch eine magische Hand geführt zu den orangefarbenen Fahrrädern, die ich vorher vergeblich gesucht hatte, ganz in der Nähe der Skulptur mit dem Globus von heute Morgen. Wer denn dafür verantwortlich sei, frage ich eine Kellnerin. Der Mann dort, der da vor dem Haus sitzt. Sehr freundlicher Mann. Morgen früh ab 10 Uhr. Alles gebongt.
Bei dem weiteren Streifzug durch die Stadt komme ich an der Kirche vorbei, deren Turm ich vom Zimmer aus sehe, San Francisco de Asis. Hier hat Garibaldi geheiratet! Man traut seinen Ohren nicht. Der ist tatsächlich hier gewesen, in Uruguay, hat hier mehrere Jahre gelebt und sich seine militärischen Sporen verdient. Vorher war er schon in Brasilien gewesen, auch mehrere Jahre lang. Hier in Uruguay hat er sich dem Partido Colorado angeschlossen, obwohl er in mehreren Punkten nicht mit dessen Prinzipien übereinstimmte. Auch seine Frau war in die revolutionäre Agitation verwickelt. Was in Montevideo, in seiner vornehmen Gesellschaft, nicht gerne gesehen wurde.
Garibaldis Wohnhaus ist auch Museum, aber es ist geschlossen, und es gibt keine Öffnungszeiten am Eingang. Später lese ich, dass das Museum wegen Renovierung vorübergehend ganz geschlossen ist. In diesem Zusammenhang lese ich, dass Garibaldi kirchlich geheiratet hat, obwohl er Atheist war.
Dann, als ich die Hoffnung schon aufgegeben habe, komme ich doch noch zu einem weiteren Museum, ganz in der Nähe des ersten von heute Morgen. Auch hier befindet sich eine Dependance des Museo de Historia Nacional, hier ist es die Casa Lavalleja, ein kleines Museum mit einer Reihe von Kuriositäten.
Das Haus hat einen schönen, sonnenbeschienenen Innenhof mit einer hohen Palme, die beide Stockwerke umfasst, und einem Umgang mit hölzernem Geländer im zweiten Geschoss.
Im nächsten Hof stehen zwei Skulpturen, von denen die kleinere von vornherein meine Aufmerksamkeit erregt. Sie spielt später bei der Besichtigung der Räume eine Rolle.
Mit Lavalleja hat das wohl alles nichts zu tun, vielleicht ist es einfach sein Wohnhaus zu sehen. Was ausgestellt ist, ist das Ergebnis der Sammelleidenschaft eines Mediziners, der sich für die ländliche Alltagskultur, die der Gauchos, interessierte. Ausgestellt ist unter anderem ein kleiner Behälter, ein Phantasietier darstellend. Der Körper ist aus Kokosnuss, mit geometrischen Formen verziert, die Füße sind aus Knochen, die Augen aus Glas, Schnauze und Schwanz aus Kuhhorn. Das Behältnis diente vermutlich zur Aufbewahrung von Tabak.
In einer anderen Vitrine drei Kugeln aus Elfenbein, wie Billardkugeln aussehend. Sie wurden an einer Schnur befestigt, mit der man, auf dem Pferd sitzend, die Rinder trieb. Die Version aus Elfenbein ist die Luxusversion.
Ein weiteres Behältnis, wie ein kleiner Tragekorb, ist aus dem Panzer eines Gürteltiers gefertigt, mit zwei Kordeln aus demselben Material zum Tragen.
Dann gibt es „Schuhe“ für Pferdehufe, schwarz, schwer zu sagen, aus welchem Material, man könnte fast meinen, es wäre Seide, aber das kommt für den Zweck wohl nicht in Frage. Sie wurden nämlich über die Pferdehufe gestülpt, einerseits als Schoner bei langen Distanzen, andererseits, um den Lärm der Pferdehufe zu dämpfen, wenn Truppen in der Nähe waren. Ingeniös!
Am Schluss kommt die Skulptur, die mir schon draußen aufgefallen war. Hier drinnen das Original, aus Terrakotta, „El Gaucho Oriental“. Der Gaucho wird, mit nachdenklichem Gesicht, einen Becher in der Hand, sich auf einen Pfeiler aufstützend, dargestellt. In der anderen Hand hält er ein nicht zu definierendes Gerät, das irgendeinen Zweck bei der Viehzucht haben muss. Auf dem Kopf sitzt etwas schräg ein Hut, es könnte Santiago sein, aber es ist ein einfacher Gaucho, in seiner ganzen Würde dargestellt. Die Augen sind aus Glas, auch das passt zu der religiösen Analogie, denn solche Augen wurden nur bei religiösen Figuren verwendet. Die Skulptur war ein Beitrag Uruguays zur Weltausstellung in Wien 1873. Und war hier äußerst umstritten. Experten und Journalisten waren der Meinung, das sei keine würdige Darstellung eines kultivierten Landes wie Uruguay.
Bin froh, das Museum noch erwischt zu haben, und finde dann auch noch eins von den von Graciela empfohlenen Lokalen – alle anderen sind geschlossen – La Fonda. Hervorragendes Essen, eine Salat mit Äpfeln und Blauschimmelkäse, der seinen Namen verdient, und Pasta, im Hause hergestellt, Sorrentinos, wie große Ravioli, gefüllt mit Ricotta, Pinienkernen und einer Kräutermischung.
Zwischendurch kommt der Wirt raus und berichtet, Deutschland habe ein Tor geschossen, aber das sei aberkannt worden.
Als ich am Abend noch einmal in die Altstadt gehe, um ein Bier zu trinken, fragt die Kellnerin, als ich zahlen will, „¿Quiere abonar?“ Das ist entweder eine vornehme oder eine uruguayische Ausdrucksweise.
In der Nähe der Bar befindet sich eine andere, heute geschlossen, mit dem Namen Ojalá.
28. November (Montag)
Ein einsamer Vogel beginnt am Morgen mit einem schönen, aber eintönigen Zweitongesang, dann kommen die anderen dazu, und es wird ein echtes Konzert. Die Vogelstimmen kommen gleich vom Park, unter dem Fenster.
Als ich am Morgen durch die Straßen gehe, um irgendwo einen Kaffee zu bekommen, erwacht die Stadt noch. Viele Cafés sind noch geschlossen, aber es gibt auch viel weniger als in Brasilien.
In dem Café, das ich schließlich finde, läuft der Fernseher. Fußball gibt es jetzt zum Frühstück, wegen der Zeitverschiebung. Kamerun schießt gerade das 3:3 gegen Serbien.
Bevor es auf Radtour geht, bekomme ich noch die Sozialgeschichte des Viertels geliefert, von Graciela, im Zeitraffer. Ja, die Altstadt sei schön, und auch beliebt. Das sei aber nicht immer so gewesen. Früher war sie eher das Vergnügungsviertel. „Rotlichtviertel“. Dazu trug auch die Hafennähe bei. Die Mittelschicht wohnte in Cerro, einem Stadtviertel am Rande der Stadt (das nicht umsonst ‚Hügel‘ bedeutet), weit vom Fluss entfernt. Strand war nicht in. Als der Strand dann Mode wurde, kaufte die Mittelschicht sich in Pocitos ein. Dort hatte man ein Sommerhaus, den Winter verbrachte man weiterhin in Cerro. Die Altstadt blieb sich selbst überlassen. Das änderte sich erst vor kurzem, vor allem mit der Ankunft wohlhabender Europäer – Schweden, Engländer, Schweizer – die genug Geld hatten, sich hier eine Wohnung zu kaufen, aber nicht genug für eine Wohnung in Paris oder Mailand. Die Wohnungspreise waren günstig. Sie selbst, Graciela, hat davon profitiert, einmal privat, weil ihre Wohnung jetzt zehnmal so viel wert ist wie früher, sondern auch, weil sie als Maklerin leichtes Spiel hatte und Wohnungen in der Altstadt im Dutzend verkaufte. Den Europäern gefiel Montevideo, weil es so europäisch war, und verhältnismäßig sicher. Das machte aus der Altstadt ein internationales Viertel. Das wurde jetzt durch die Einwanderung von Kubanern und Venezolanern noch verstärkt. Auch die zieht es in die Altstadt. Sie sind legal hier, in Uruguay kommt man leicht an eine Aufenthaltserlaubnis. Und die Kubaner und Venezolaner, die sich eine Reise nach Uruguay leisten können, gehören nicht zu den Ärmsten der Armen. Mittelschicht. Vor allem viele Ärzte. Die fehlen natürlich in ihren Ländern.
Jetzt wird es aber Zeit, dass ich mich auf den Weg mache. In der Innenstadt fällt mir ein prächtiges Haus auf, mit einem eigenwilligen neogotischen Stil. Habe ich bisher übersehen. Montevideo hat eine unglaubliche Bausubstanz.
Der Mann vom Fahrradverleih steht bereit, die meisten Fahrräder sind schon verliehen. Die 450 Pesos verschwinden ohne weitere Maßnahme im Privatportemonnaie.
Das Fahrrad ist ein altes Modell, schwer, mit Rücktritt, ohne Licht, ohne Klingel und mit einer Gangschaltung, bei der nur die Gänge 2 und 3 funktionieren. Glücklicherweise ist die Strecke flach, nur später bei der Rückkehr in die Innenstadt habe ich zu kämpfen.
Es geht immer an der Rambla entlang, meist direkt am Ufer. Die Rambla ist so breit, dass man sich nicht in die Quere kommt.
Der Fluss geht fast unmerklich ins Meer über. Nur die Farbe ändert sich, und die Gezeiten sind zu spüren. Aber wo genau die Flussmündung ist, kann man nicht erkennen.
Es ist sehr angenehm zu fahren, die Hitze wird durch den Wind abgemildert. Ich fahre bis nach Pocitos, gehe dort zum Strand runter und stecke die Füße ins Wasser. Hier sieht es ganz nach Meer aus, der Strand erstreckt sich über die ganze Bucht.
Auf dem Weg habe ich an einem Café mit Terrasse mit direktem Blick aufs Meer Halt gemacht. Am Nebentisch ein brasilianisches Paar. Er fragt den Kellner, nach brasilianischer Art, nach dem Namen. Mariano. Das sei in Uruguay ein geläufiger Name, aber nicht mehr in seiner Generation. Dann macht der Brasilianer einen Kommentar dazu, aber den versteht der Kellner schon nicht mehr. Er will ihm sagen, dass es auch einen Marianen-Orden gibt.
In der Nähe dieses Cafés sehe ich eins der rätselhaftesten Häuser der ganzen Reise. Sehr schmal, rundlich, rötlich, an einem viel höheren, hässlichen Hochhaus angelehnt, in einem fast disneyartigen Burgenstil, mit Teilen weißer klassischer Statuen an der Hausmauer.
Am Meeresufer ein Büste Gandhis. Die kommt hier so überraschend wie ein Holocaust-Denkmal. Dessen zentrales Stück ist eine Mauer, die in der Mitte auseinanderbricht, mit zwei Mauerteilen, die nach rechts und nach links auf den Boden zu fallen scheinen.
Bei einem weiteren Monument mache ich Halt, weil es so rätselhaft ist. Es besteht aus drei Teilen, zwei Steinblöcke, aufeinandergesetzt, und ein Stück aus Eisen. Das Monument ist einem uruguayischen Gitarristen gewidmet, Abel Carlevaro, einem Gitarristen von internationalem Renommee. Von dem heißt es, er habe uruguayische Kultur in die Welt getragen und aus Montevideo ein Zentrum der Gitarrenkunst gemacht. Ich stehe vor dem kubistisch verfremdeten Denkmal und überlege mir, ob es einen Gitarristen (Rumpf, Kopf, Gitarre) oder eine Gitarre (Korpus, Hals, Saiten) handelt.
Vor der Rückkehr nach Montevideo mache ich Halt in einem Vorortviertel. Dort geht es zur Bar Tinkal, von Graciela empfohlen. Dauert was, bis ich sie finde. Sie liegt in einem Wohnviertel und erscheint plötzlich da, wo man sie kaum vermutet.
Schon draußen wird hier klar gemacht, dass es um den berühmten chivito geht und wie man ihn isst: El chivito se come con la mano. So mache ich es auch, obwohl auch Besteck mitgeliefert wird, als er serviert wird. Schmeckt wirklich gut, vor allem sehr saftig, aber ich hatte mir schon noch was Besondereres vorgestellt. Es ist wieder mal ein besserer Burger, besser wirklich, weil er mit richtigem Rindfleisch und Speck serviert wird. Wieder mal astronomische Preise.
Am Fernseher läuft Brasilien gegen die Schweiz. Am Kühlschrank ein Aufkleber mit einem weit hergeholten Wortspiel: Hacé Qatarsis en el Tinkal.
Als ich wieder nach Hause komme, fange ich mir erst mal eine Rüge an. Wegen fehlender Kopfbedeckung während der Fahrt. Wie Europäer würden das immer unterschätzen, die UV-Strahlen seien hier viel stärker als bei uns. Sie habe zahlreiche Freundinnen mit Hautkrebs.
Am Nachmittag spielt Uruguay. Auf den Straßen ist es ruhig, hier sieht man Fußball in der Bar. Oder zu Hause. Obwohl ich ein paar Minuten zu spät komme, finde ich noch ohne Probleme Platz. Knapp 20 Zuschauer, darunter nur eine Frau.
Die Zuschauer verfolgen das Spiel erstaunlich ruhig, ohen Kommentare, fast lautlos. Viel gibt es in der ersten halben Stunde auch nicht zu sagen. Dann kommt Stimmung auf bei zwei Großchancen von Uruguay. Dann erst wieder, als plötzlich das Bild weg ist. Keine Verbindung zum Internet. Als das Bild wieder da ist, bekreuzigen sich einige.
In der Halbzeit 0:0, wie zu erwarten war. Bisher stand es neunmal zur Halbzeit 0:0, bei sechszehn Spielen.
In der Werbung wird auch der voseo gebraucht: ¿Tenés todo lo que necesitas? Mafalda lässt grüßen.
Die zweite Halbzeit ist interessanter, und Uruguay hat viele Chancen, kassiert aber zwei Tore. Am Schluss Stille und enttäuschte Gesichter. Zu recht. Nicht schlecht gespielt und doch verloren. Und noch keinen Punkt geholt.
Als ich am Abend noch mal rausgehe, erwische ich nur noch den halben knallroten Sonnenball, der am Río de la Plata untergeht. Sehr schöne Szenerie, aber in Zeit von nichts ist alles vorbei und die Sonne hinten am Horizont verschwunden.
In einem kleinen Lokal spreche ich die Kellnerin auf die Unsitte an, dass ausdrücklich auf das fehlende Trinkgeld hingewiesen wird. Man muss ausdrücklich nein sagen, wenn man kein Trinkgeld geben will. Ich finde das unangenehm. Sie findet es normal. Bei Bezahlung mit der Karte, erfahre ich, wird automatisch 10% Service draufgeschlagen, sofern man zustimmt. Über die Höhe bestimmt man also auch nicht. Könnte dann genauso gut von vornherein Teil des Preises sein.
29. November (Dienstag)
Nach den unvermeidlichen geschlossenen Lokalen lande ich in einer Konditorei in einer Seitenstraße nahe der Plaza de la Independencia. Durch eine Scheibe kann man sehen, wie hier alles hergestellt wird, handwerklich.
Die Kellnerin weiß den Weg zu der Skulptur mit den Karten spielenden Männern. Sie ist im Präsidentenpalast selbst. Man kann ohne Kontrolle rein.
Und es lohnt sich, reinzugehen. Aus der Nähe bietet sich einem ein ganz anderes Kunstwerk an. Dies ist keine Folklore, keine harmlose Darstellung eines Freizeitvergnügens. Die Spieler werden verzerrt dargestellt, karikiert. Der eine, ein Pummel, sieht leicht selbstzufrieden aus, ein anderer im wahrsten Sinne hochnäsig, der dritte, der gerade eine Karte auf den Tisch haut, mit weit aufgerissenem Mund und tiefen Höhlen in den Augen, ist völlig außer sich, aus Verärgerung oder aus einer Art aggressivem Triumph. Die Figuren sind zusammengesetzt aus einzelnen Blechteilen, oft grob aufeinandergesetzt, gröber als es in Wirklichkeit der Fall ist.
Von hier aus geht es gleich ins Gurvich, eher zufällig, weil es gerade auf dem Weg liegt und jetzt gerade öffnet. Es lohnt sich.
Das Museum ist hochmodern, und die Bilder gefallen mir ausgesprochen gut. Die Hängung ist chronologisch, von oben nach unten, sodass man die Entwicklung gut nachvollziehen kann, von einem anfänglichen Stillleben bis zu einem langen Gemälde, das nur aus weißen, roten und schwarzen Flächen besteht und die ganze Wand der unteren Etage einnimmt. Erst wenn man näher hinsieht, erkennt man, dass die Formen an zwei Stellen Buchstaben bilden, aus denen die Wörter Cerro und Uruguay entstehen. Gurvich hatte das Bild für ein Unternehmen in Cerro gemacht.
Das Stillleben, mit Obst, Eiern, Karaffen und Krügen, hat man unter dem Bild nachgestellt, mir realen Objekten, in genau derselben Verteilung wie auf dem Bild. Sehr gute Idee. Man sieht, wie die Kunst die Wirklichkeit nicht einfach abbildet, sondern verfremdet, schon deshalb, weil das Bild zweidimensional ist. Aber auch die Konturen sind anders, und die Farben haben eine andere Qualität.
Gurvich kam aus einem litauischen Schtetl nach dem Krieg nach Uruguay, als Kind jüdischer Eltern. Schon als Schuljunge fertigte er Zeichnungen für seine Klassenkameraden an. Seine andere Leidenschaft war die Musik. Es heißt, dass er eines Tages ein Musikinstrument neben ein Bild aufhängte und dann entschied, dass die Kunst sein Ding war.
Im Laufe seines Künstlerlebens reiste er auch nach Israel, was wiederum seinen Niederschlag in der Kunst fand. In der Ausstellung sieht man eine Darstellung des Lebens im Schtetl, nicht als realistische Darstellung, sondern als Andeutungen, die das Gewimmel und die Bewegung im Schtetl wiedergeben.
In der späteren Phase kommen auch dreidimensionale Gemälde hinzu, wie ein Flachrelief und ein Hochrelief, die aus ausgeschnittenem Karton bestehen, gräulich, bräunlich, Farben, wie man sie bei Braque finden kann. Man sieht die Konturen von Männern, Frauen, Gebäuden, Fischen, Augen, und dazwischen einige Wörter wie Fe, Montevideo, Vida, Calle. Eins der beiden Gemälde heißt Constructivo en blanco y negro, das andere Constructivo Montevideo.
Ein anderes Gemälde, ganz farbenfroh, ein Durcheinander von scheinbar nicht zusammengehörigen Objekten, erinnert an Magritte, ein anderes an Klimt. Der Körper eines Menschen, vermutlich einer Frau, steht dem eines anderen gegenüber, der auf dem Kopf steht. Das Gewand der Frau, golden leuchtend, ist übersät mit Objekten und Köpfen, Händen, Häusern und Figuren, die teils über den Rand des Gewandes hinausgehen.
Am besten gefällt mir ein Bild aus einer früheren Phase, eine Vase mit einer einzigen Blume vor den geöffneten Fensterläden, die den Ausblick auf die Straße gewähren. Brauntöne beherrschen das Bild, von denen sich die weiße Vase und die rote Blume absetzen.
Dann wird es Zeit für die Rückkehr in die Wohnung und das Kofferpacken. Auf dem Weg zum Bahnhof erlebe ich im Bus meinen ersten Stau in Montevideo. Außerhalb der Innenstadt ist dichter Verkehr, und am Ende wird es fast knapp mit der Abfahrt, als der Bus vor dem Bahnhof noch eine große Runde dreht und ich dann erst in ein riesiges Shoppingcenter gelange. Dann kann ich den Bahnsteig nicht finden, weil ich die Angaben auf der Fahrkarte nicht mit denen auf der Abfahrtstafel zusammenbringen kann, aber dann hilft ein freundlicher Aufseher und zeigt mir den Weg.
Am späten Nachmittag erreichen wir Paysandú. Es liegt am Uruguay, dem namengebenden Fluss. Auf der Fahrt mit dem Taxi zur Unterkunft durch die geschäftige Innenstadt sieht man in der Ferne die Brücke, die auf die andere Seite führt – nach Argentinien.
Die Unterkunft liegt in einem Wohnviertel mit niedrigen Häusern. Zum ersten Mal überhaupt bin ich in einem Haus untergebracht, das nicht durch ein Gitter von der Straße abgesperrt ist. Man öffnet die Haustür und ist drinnen.
Im Haus, einem Bungalow, herrscht ziemliches Durcheinander. Überall stehen Dinge herum, die besser irgendwo verstaut wären.
Die Vermieterin, Cecilia, eine Jüdin mit einem Faible für Deutschland, springt sofort auf meine Frage nach der Brücke nach Argentinien an. Da könnten wir hinfahren. Wann denn? Heute noch. Die Uruguayos fahren ständig rüber nach Argentinien, zum Einkaufen, zum Essen und zum Tanken.
Dann dauert es aber. Zuerst geht es um das Einloggen ins Internet. Das klappt nicht, weil sie den Code nicht weiß. Der ist auf ihrem anderen Handy gespeichert, und das ist kaputt. Wir müssen uns beim Nachbarn einwählen. Am besten mit dem QR-Code. Das scheitert aber, vermutlich an meinem Handy. Irgendwann leuchtet es dann in ihren Augen. Sie erinnert sich wieder an den Code.
Aber wir können noch nicht los. Sie wartet noch auf einen Mann von der Reinigung. Ihre Waschmaschine ist kaputt. Außerdem muss sie noch in die Stadt, um Plastikbeutel zu kaufen. Die frisch gewaschene Wäsche ist für ihren Sohn, der in Montevideo lebt. Sie lässt mir Geld da, damit ich den Reinigungsmann bezahlen kann, für den Fall, dass der kommt, während sie weg ist. Der ist aber immer noch nicht da, als sie zurückgekommen ist. Nach ein oder zwei Telefonaten erscheint er dann. Jetzt könnten wir eigentlich los. Aber nein, sie wartet auch noch auf einen Schreiner. Der soll ein paar „Möbel“ bringen, sagt am Ende aber ab. Er komme morgen.
Dann kann es endlich losgehen. Wir passieren das Amphitheater am Flussufer, eine moderne Einrichtung, ein offenes Theater für Aufführungen. Sie berichtet stolz, dass es 20.000 Zuschauer fasst und nennt allerlei Berühmtheiten, die hier schon aufgetreten sind. Die ich aber nicht kenne.
Weiter geht es. Es sind nur fünfzehn Kilometer bis zur Grenze, aber dort stehen wir am Ende einer langen Schlange. Die Pässe werden kontrolliert und gestempelt, und es ist nur ein Mann dafür da. Zwischendurch scheint sich die Schlange gar nicht weiter zu bewegen. Es ist inzwischen dunkel geworden und mein Magen ist auf halb acht.
Sie erzählt inzwischen von sich und ihrem Land. Das tauge nichts, zu viel Unzuverlässigkeit, zu schlechte Erziehung. Sie will auswandern. Nach Israel. Sie könnte schon jetzt auswandern, aber das scheitert an finanziellen Mitteln. Sie wartet auf die Bestätigung des israelischen Staats, die Bewilligung zur Teilnahme an einem halbjährigen Eingliederungskurs. Der wird ganz von Israel finanziert. Ihr Sohn, der auch auswandern will, hat schon eine Art freiwilliges Auslandsjahr in Israel verbracht.
In Deutschland zu leben, kann sie sich auch vorstellen. Nur scheitere das an der Sprache. Ich frage vorsichtig nach, wie es denn mit ihrem Hebräisch aussieht. Sieht nicht unbedingt nach Erfolgsgeschichte aus. Sie hat ein paar Brocken gelernt, und kann viele Dinge der jüdischen Kultur und des Alltagslebens auf Hebräisch benennen, aber das ist es dann auch.
Eine selbständige Frau ist sie auf jeden Fall. Sie ist alleine durch Peru, Ecuador und Bolivien gereist, und die USA kennt sie auch sehr gut, ganz verschiedene Ecken. Sie möchte unbedingt mal nach Colorado. Am besten kennt sie Miami, da könne man immer wieder hinreisen. Und da sei es so billig, dass sie immer mit einem leeren Koffer hinreise und mit einem vollen Koffer zurückkomme.
Ihr gutes Verhältnis zu Deutschland resultiert aus verschiedenen Reisen. Vor allem Berlin hat es ihr angetan. Deutschland stelle sich seiner Vergangenheit, da hätte man als Jüdin keinerlei Vorbehalte. Eine ganz besondere Erinnerung ist eine Reise nach Berlin mit der Mutter einer Freundin. Die war mit sieben Jahren als Jüdin aus Berlin nach Uruguay gekommen und wollte unbedingt noch einmal in ihre Geburtsstadt. Sie sprach immer noch fließend Deutsch und hatte in Deutschland keinerlei Verständigungsschwierigkeiten. Sogar ihr Elternhaus hat sie noch wiedergefunden. Das hatte den Krieg überlebt.
Endlich sind wir an der Reihe und kommen durch die Passkontrolle. Erst müssen wir aber noch tanken. An der ersten Tankstelle ist das Benzin ausgegangen, es gibt nur noch Super. Sie tauscht aber schon mal uruguayische Pesos gegen argentinische Pesos bei dem Tankwart. Sie erhält ein ganzes Bündel an Geldscheinen, Tausende von Pesos. Das Tauschen ist hier an der Tagesordnung.
An der zweiten Tankstelle gibt es dann Benzin. Endlich fertig. Aber sie muss jetzt erst noch die Scheiben reinigen. Als sie gerade dabei ist, bittet der Tankwart sie, vorzufahren, um den nächsten Kunden dranzulassen. Das tut sie, und dann geht die Scheibenreinigung weiter.
Ob wir noch was zu essen bekommen? Es ist schon kurz nach zehn. Ja, kein Problem, dies sei nicht Deutschland, meint sie. Dann biegt sie noch einmal auf der dunklen Straße falsch ab, aber dann erscheint tatsächlich irgendwo das Lokal.
Schon von außen sieht es gut aus, und das Innere hält, was das Äußere verspricht. Schöne Einrichtung, mit viel Holz und kunstfertig hergestellten Lampenschirmen.
Und das Essen ist ein Gedicht. Kotelett, hauchdünne, knusprige Kartoffelscheiben und eine Art Ratatouille, über das Fleisch verteilt. Ihr Gericht, ein Entrecote, sieht genauso gut aus. Die Unterhaltung geht derweil weiter, über Gott und die Welt. Das Warten hat sich gelohnt.
30. November (Mittwoch)
Am Morgen bietet Cecilia mir ein Frühstück an, Tee und Kekse. Das dauert aber was, immer wieder ist sie zwischendurch abgelenkt.
Sie selbst trinkt Mate, und jetzt verstehe ich, dass der Mate, den ich in Brasilien getrunken habe, nur ein müder Abklatsch des echten Mate ist. Und ich verstehe, was all die Menschen getrunken haben, die ich seit Tagen überall mit diesen merkwürdigen Bechern sehe.
Cecilias benutzt für ihren Mate keine der traditionellen, sondern moderne Gerätschaften, aus Stahl, die den Mate besser warm halten. Das eine ist eine Thermoskanne. Aus der wird immer wieder Wasser nachgegossen. Sie hat noch Ingwer in das Wasser geschnitten. Das andere ist der Becher, aus dem getrunken wird. Der ist bis zum Rand mit Mate gefüllt. Man gießt immer nur einseitig ganz vorsichtig Wasser nach. Getrunken wird durch einen Strohhalm, in diesem Fall einen stählernen Strohhalm. An dessen unteren Ende befindet sich ein Sieb, das verhindert, dass die Mateblätter mit durch den Strohhalm gelangen.
Ich frage nach den Colorados und den Blancos, die ich immer in die Zeit der Unabhängigkeitskriege verortet habe. Aber die gehören ebenso, oder hauptsächlich, in die Zeit des Bürgerkriegs. Der habe Familien gespalten und Freunde getrennt. Es habe Fälle gegeben, wo man den eigenen Freund oder den eigenen Bruder getötet habe. Sie selbst ist noch indirekt Zeuge dieser Auseinandersetzungen geworden. Ihr Großvater mütterlicherseits war Blanco, ihr Großvater väterlicherseits war Colorado.
Bei ihren Erzählungen benutzt sie immer wieder capaz. Durch den Kontext und die Wiederholungen kann man, ohne nachzufragen, schließen, dass es ‚vielleicht‘ bedeutet. So lernen Kinder ihre Sprache.
Ich frage sie, ob sie auch einen hebräischen Namen habe. Ja, Sara. Nach dem biblischen Vorbild. Ihr Sohn hat es da einfacher. Er heißt sowieso schon Rafael.
Ich frage nach dem Uruguay und ob und wo der ins Meer mündet. Nein, meint sie: “En el Río de la Plata, ¿no?” Ganz sicher scheint sie nicht zu sein. Ist auch nicht so eindeutig. Der Uruguay verbindet sich mit dem Paraná und wird dann zum Río de la Plata.
Als wir noch zusammen sitzen, kommt der Schreiner von gestern mit den „Möbeln“. Handgemacht. Sehr schön, helles Holz. Sieht sehr stabil aus. Eins der Möbel ist ein ausklappbarer Tisch, für den Strand oder ein Picknick oder so. Aber das andere? Es ist wie ein hölzerner Tragekorb, mit zwei runden Löchern und einem länglichen dazwischen. Wofür können die nur dienen? Scheint eindeutig zu sein. Das eine runde Loch für den Mate-Becher, das andere für die Mate-Kanne. Und das längliche? Fürs Handy!
Sie erzählt, wie ihr Vater dieses Haus gebaut hat und wie bedacht er dabei vorgegangen ist und wie es sie hier nach einigen Jahren in Montevideo wieder hierhergezogen hat. Das Häuschen ist richtig schön, hat eine gute Aufteilung, verschiedene Durchblicke zwischen den Zimmern, eine Wand aus Ziegelsteinen, und geht hinten auf einen Hof hinaus. Der Blick ist nicht sonderlich schön, aber daraus könnte man was machen, wie überhaupt aus dem Haus. Sie weiß das auch, es fehle dem Haus an ein bisschen amor, mit anderen Worten dinero. Stimmt, aber auch mit amor könnte man schon was verbessern.
Es gibt auch einen offenen Kamin, sicheres Zeichen dafür, dass es hier im Winter kalt ist. Was man sich jetzt nicht so gut vorstellen kann.
Ich gehe zum Fluss hinunter. Das ist die schönste Stelle in Paysandú. Bäume, Vögel, Sandstrand, klares Wasser (es wirkt nur so braun durch den Untergrund), ein paar fest installierte Bänke und Sonnenschirme und die Brücke in der Ferne.
Die Vögel sind hier besonders aktiv. Nicht umsonst bedeutet Uruguay ‚Großer Fluss der Vögel‘. Besonders gut vertreten sind Vögel, die wie kleine Tauben aussehen, aber nicht gurren. Wenn sie fliegen, kann man ihr schönes Federkleid von unten sehen, schwarz mit einem weißen Zickzackstreifen am Ende.
Das Wasser ist nicht kalt. Vor mir baden ein paar Leute im Fluss. Ich gehe nur bis zu den Knien rein.
Unter einem der Bäume kann man in aller Ruhe sitzen und sich die Gegend ansehen. Es ist warm, etwas zu warm für den Morgen, aber die Bäume spenden Schatten.
Dann entdecke ich auf einer Wiese daneben eine ganze Serie von Holzfiguren, jede kunstvoll aus einem einzigen Baumstamm geschnitzt. Aus einem Baumstamm ist eine Parkbank geworden. Man nimmt Platz zwischen einem Gürteltier auf der einen und einem ??? auf der anderen Seite, und ganz am Rand schlängelt sich eine Schlange durch das Gebüsch. Unter den anderen Figuren gibt es Tiere, ein Pferd, eine Eule, und Gestalten, die aus Legenden oder Märchen stammen könnten
Dann entdecke ich eine Touristeninformation. Eine gut aussehende junge Frau beugt sich über den Stadtplan und zeichnet mir umständlich die Wege ein, die ich nehmen soll. Mit dem Effekt, dass man nachher die Straßenamen nicht mehr lesen kann. Sie benutzt, wie andere auch, das Wort agarrar, wenn sie sagt, ich solle die und die Straße nehmen. Man ergreift eine Straße. Sie weist mich auf ein paar kleinere Museen hin und die Plaza de la Constitución und den Alten Friedhof.
Ich gehe gleich ins Museo Histórico. Eine junge, leicht gehbehinderte Frau nimmt mich in einem schönen Innenhof in Empfang. Sie begrüßt mich freundlich, fragt mich woher ich käme, fragt nach meiner Reiseroute und erklärt mir, was es zu sehen gibt. Sie kommt dann hinter mir her in die Ausstellung und bietet weitere Erklärungen an.
Zuerst geht es um den Namen Paysandú. Die gängige Erklärung führt den Namen auf einen Jesuitenpater zurück, den Padre Sandú, wobei padre die alternative Form pae auftritt. Dafür scheint es aber keine Belege zu geben, was mich ein bisschen wundert. Es gibt aber auch alternative Erklärungen, darunter eine, die besagt, der Name gehe auch Padre forcado zurück, auf einen erhängten Priester. Jemand hat auch herausgefunden, dass pai auf Guaraní auch ‚erhängen‘ bedeutet. Dann ist es kein ‚erhängter Priester‘, sondern ein erhängte Erhängter.
Die Lage am Fluss hat die Entwicklung von Paysandú gefördert. Das kann man sich vorstellen. Auch wenn die Parallelen, die hier gezogen werden, ein bisschen dicke aufgetragen sind – die Babylonier an Euphrat und Tigris, die altindische Kultur am Indus, Altägypten am Nil, Rom am Tiger – es belegt eindrucksvoll, welche Rolle die Flüsse spielen.
Dann kommen, in einem anderen Flügel des Gebäudes, Objekte aus der Welt der gutbürgerlichen Schichten des 19. Jahrhunderts, darunter ein Klavier, mit einem aufgeschlagenen Liederbuch. Das Lied, das man sieht, heißt El Sitio de Paysandú. Die Heldengeschichte der Stadt hat auch Eingang in die Musik gefunden. Der Titel bezieht sich auf die Belagerung von Paysandú durch die Truppen des Generals Venancio Flores und die verbündeten brasilianischen Truppen. Ihnen leistete eine weit unterlegene Truppe aus Paysandú unter dem General Leandro Gómez Widerstand und besiegte sie am Ende entscheidend. Dieser heldenhafte Widerstand ist der Kern der historischen Erzählung von Paysandú, und man begegnet ihr überall. Auch das Denkmal auf der Plaza de la Constitución ist Leandro Gómez gewidmet. Und hier im Museum ist eine peineta ausgestellt, der traditionelle Zierkamm der Frauen der besseren spanischen Gesellschaft, auf der das Porträt von Gómez abgebildet ist.
Desweiteren sieht man einen großen, auf Füßen stehenden Abacus mit zwei unterschiedlichen Hälften, ein Opernglas, eine tragbare Waage mit ganz feinen Werkzeugen zum Wiegen von Goldfunden und ein wunderbares Ruderschiff, das ein verstecktes Schreibgerät ist, der Rumpf ist das Tintenfass und die Ruder sind die Federn.
Als ich mich auf den Weg mache, verabschiedet sich die junge Frau ganz herzlich. Sie hofft, mich am nächsten Tag wiederzusehen. Während der ganzen Zeit bin ich der einzige Besucher gewesen, mit Ausnahme einer jungen Frau, die kurz durch die Ausstellung gehuscht ist.
Am Nachmittag mache ich mit der Hilfe von Cecilia auf die Suche nach einem Geldautomaten. Davon gibt es genug, aber überall wird der komplizierte Vorgang irgendwann abgebrochen. Ich bitte sie, sich neben mich zu stellen, um nichts falsch zu machen, aber auch das nutzt nichts, auch an den Automaten, die ausdrücklich ausländische Kreditkarten zulassen. Wir ziehen von Bank zu Bank, und dann, als wir schon beide nicht mehr glauben, dass es klappen wird, klappt es doch. Anschließend lade ich sie zu einem Eis ein. Die Kugeln sind so groß, dass die Hörnchen auf einem kleinen Pappteller serviert werden. Die Preise sind entsprechend.
Am Abend gehe ich noch mal zum Fluss runter. Es ist drückend heiß, die Sonne geht unter, der Himmel zeigt sich zur Stadt hin schwarz-weiß-blau, zum Fluss hin schimmert er golden. Und dann fängt es endlich an zu regnen. Ich stelle mich mit ausgebreiteten Armen in den Regen und genieße die Tropfen auf der Haut und die frische Luft beim Atmen.
1. Dezember (Donnerstag)
Ich mache mich auf den Weg zum Alten Friedhof, der hier Monumento a la Perpetuidad heißt. Cecilia meint, ein Friedhof wäre nichts, was man besichtigen könne. Dahin würde sie nur gehen, wenn es unbedingt sei müsse. Sie findet auch, das wäre zu weit zum Laufen, aber ich mache es trotzdem.
Es geht schnurstracks eine Straße entlang. Die Häuser sind alle niedrig, ein- oder zweistöckig. Und dabei ist alles vertreten, langgestreckte, blockartige Häuser, nichtssagende Durchschnittsbauten und sehr schöne, gut erhaltene ältere Häuser mit einem zurückgesetzten zweiten Stockwerk. In der Ferne sieht man das im Bau befindlich Hochhaus, das etwas abseits der Plaza de la Constitución entsteht, sehr schön, rund, mit reifenartigen Verstärkungen, die die Stockwerke voneinander absetzen.
An einem Baum hat jemand den Boden einer Holzkiste recycelt. Auf der Rückseite (der eigentlichen Vorderseite) steht ein frommer Bibelspruch. Jetzt wirbt die andere Seite für leibliche Genüsse: Milanesa de Soja.
Näher an der Stadt wirbt eine Sprachschule mit einem eigenwilligen Namen für ihre Dienste: Be English.
Bei der Touristeninformation an der Plaza de la Constitución erfahre ich, dass der Alte Friedhof geschlossen ist. Ein paar Bäume sind umgestürzt, und man musste ihn für Besucher sperren. Ich solle zum Neuen Friedhof gehen. Da gebe es auch interessante Grabmäler, und dorthin würden ohnehin Grabmäler aus dem Alten Friedhof überführt.
Es ist ein guter Fußmarsch, immer die 18 de Julio entlang, die danach ihren Namen ändert. Dort kommt man an Geschäften und Unternehmen vorbei. An einem Geschäft steht Cerrado. Que pena. Autozubehör gibt es bei Juan Müller. An einem anderen Geschäft heißt es Mate – luego existo.
Wenn man dann zum Friedhof abbiegt, ist man schlagartig in einer anderen Welt, ohne Bebauung, ruhig.
Der Friedhof ist nicht so neu, wie sein Name nahelegt. Und die Besichtigung lohnt sich. Der Friedhof hat den Charme des Verfalls, Schmutz an den Grabsteinen, Rost an den Schlössern, verwelkende Blumen (selbst die künstlichen sehen verwelkt aus), Risse an den Wänden. Außer mir sind nur zwei Friedhofsgärtner da, und wenn die auch nicht da wären und es dämmern würde, könnte man sich wie in einem Schauerroman fühlen.
Um die hohen Zypressen schwirren auch hier Vögel herum, auch wieder viele wie die vom Strand.
Unter den Namen der Toten stehen die Siri, Palazzi, Amighetti, Toscanini für die italienische Tradition Uruguays. Aber es gibt auch eine Familie Brasil, deren Nachnamen vermutlich auf ihre Herkunft verweist.
Erstaunlich gut einige der Grabskulpturen an den Gräbern der Reichen. Ganz beeindruckend die tiefe Trauer im Gesicht einer Frau, die neben einem geflügelten Engel steht. An anderer Stelle eine kniende Frau, mit gefalteten Händen, mit schwerem Umhang, die fast ausdruckslos in die Ferne sieht, am Grabmal vorbei. Dann kommt eine Frau, deren Gesicht man gar nicht sieht und die die Trauer mit ihrer Körperhaltung ausdrückt. Sie hat das Gesicht in den Händen verborgen, die auf den Knien liegen. Eine Haarsträhne hat sich gelockert und hängt an der Schläfe herunter. Obwohl man ihr Gesicht nicht sieht, erahnt man, dass sei jung sei muss.
Einer der Friedhofsgärtner, der mich beobachtet hat, kommt auf mich zu und zeigt mir weitere Denkmäler, vor allem Engel, einen streitbaren Engel mit Schwert und einen, der ganz oben auf einem Grabmal thront und sich in dunklem Grau von dem hellen Grau des Himmels absetzt. Er gehört zu den Menschen, die sich völlig mit ihrer Arbeit und ihrem Arbeitsplatz identifizieren, und es macht Freude, ihm dabei zuzuhören. Am Ende verabschiedet er sich noch mit Nennung seines Namens: Lucas.
Auf dem Rückweg fällt mir auf, dass die Geschäfte geschlossen sind. Erst überlege ich noch, warum wohl, dann sehe ich auf einem Schild: Mittagspause von 12-15 Uhr.
Im Zentrum liegt an einer Ecke El Bar, ein Lokal, das im Reiseführer empfohlen wird: große Speisekarte, Jung und Alt, schöne Atmosphäre. Kann man im Groben bestätigen.
Ich bestelle eine milanesa, die es hier in allen denkbaren Variationen gibt. Es stellt sich heraus, dass es einfach die südamerikanische Abart vom Wiener Schnitzel ist.
Bei der Frage nach dem WC korrigiere ich mich jetzt selbst, aber die Kellnerin hat auch so verstanden: Wenn ich lavabo sage, meine ich baño. Das hat in den letzten Tagen ein paarmal für fragende Gesichter gesorgt.
Dann geht es nach Hause zum Kofferpacken und weiter zum Busbahnhof. Die letzten Minuten des letzten Vorrundenspiels laufen gerade, als wir einsteigen. Als wir im Bus sind, ist es perfekt: Wir sind schon wieder nach der Vorrunde raus.
Der erste Teil der Strecke geht durch flaches, grünes Land. Kein Dorf, kein Haus weit und breit. Alles Weide und Wald. Und wir sehen bestimmt ein paar tausend der 12 Millionen Rinder Uruguays. Die stehen auf den Weiden, laufen aber auch, offensichtlich ohne Einzäunung, am Waldrand herum.
Man sieht bis zum Horizont. Der Himmel ist bedeckt, lauter grauer Wolken. Nur ganz hinten, am Horizont, ein leuchtend heller Streifen, die ganze Breite des Horizonts entlang. Der Kontrast hat etwas ganz Besonderes. Dann wird der Streifen rot, und dann wird es ganz dunkel.
Die zweite Hälfte der Fahrt geht durch alle möglichen Orte. Eine Haltestelle nach der anderen, deshalb dauert die Fahrt so lange. Als wir dann in Colonia ankommen, sind wir nur noch zu dritt im Bus. Es ist fast Mitternacht geworden.
Ich muss noch durch die nächtliche Stadt zur Unterkunft laufen. Es stürmt und es regnet. Ein einsamer Mann am Busbahnhof hat mir gesagt, ich solle lieber ein Taxi nehmen, aber der Taxifahrer sagt, da könne ich hinlaufen. Es ist wirklich nicht weit.
Die Vermieterin, Inés, holt mich am Gitter des Wohnblocks ab und begrüßt mich trotz der späten Ankunft sehr freundlich. Das Zimmer ist gut, hat fast alles, was man braucht.
Inés hat eine eigene kleine Firma, Design für Einladungen, Broschüren, Briefköpfe, Visitenkarten. Sie arbeiten für Firmen, aber auch für private Kunden.
Ganz wichtig: Wasser steht bereit, und sie zeigt mir, wo ich Nachschub holen kann. Dabei sorgt heladera einen Moment für Stutzen bei mir, aber es wird schnell klar, dass es nevera ist.
2. Dezember (Freitag)
Die ganze Nacht hat es gestürmt, gegen Morgen lässt es nach. Es ist noch etwas windig und kühl, aber dann wird es ein richtig schöner Sommertag.
Der erste Weg führt zum Hafen. Inés hat geraten, möglichst bald eine Fahrkarte für die Fähre zu buchen. Man könne nie wissen. Alle führen zum Einkaufen nach Buenos Aires.
Die Abfertigungshalle am Hafen, nur ein paar Minuten von hier entfernt, ein großes, hohes Gebäude mit einer gläsernen Fassade, lässt einen mit den Ohren schlackern. Es fühlt sich wie am Flughafen an. Drinnen dichtes Gedränge und eine lange Schlange zum Check-in.
Ich informiere mich an zwei Schaltern – verschiede Firmen – über Abfahrtszeiten und Preise, aber die tun sich nicht viel. Teuer sind sowieso beide. Als ich das Ticket dann kaufen will, geht es nicht. Reisepass erforderlich. Wieder nach Hause, und dann klappt es.
Dann geht es Richtung Altstadt. Die sieht auch auf der Karte schon anders aus, ein dichtes Gewirr von Gassen, ganz unregelmäßig verlaufend. Sie befindet sich am äußersten westlichen Ende der Stadt. Östlich davon die „Neustadt“, die sich aber nur durch die regelmäßigere Straßenanordnung von der Altstadt unterscheidet. Auch hier lauter schöne Häuser und hohe Bäume zu beiden Seiten der Straße. Nur ist die Altstadt, das Casco Viejo, autofrei.
Dann folgt die unvermeidliche Suche nach einem Café, einem geöffneten Café. Auf dem Weg komme ich zu einer Stelle, wo ein Mann auf einer Bank sitzt, umgeben von blühenden Sträuchern und Bäumen. Durch die hindurch sieht man auf den Fluss. Eine idyllische Szene.
Ich finde ein geöffnetes Café an einem Platz. Die Kellnerin, nach dem Namen des Platzes gefragt, schüttelt den Kopf. Sie arbeitet seit zehn Jahren hier, aber wie der Platz heißt, das weiß sie nicht.
Es ist die Plaza de Armas, die Keimzelle Colonias, einer portugiesischen Gründung. Als Gegengewicht gründeten die Spanier dann Montevideo. Auf dem Platz sieht man die Überreste, nicht viel, aber genug, um die Größe zu erkennen, des Gouverneurspalasts, des einzigen größeren Gebäudes der portugiesischen Stadt. Der Gouverneurspalast hatte eine Aussichtsplattform, um die Umgebung zu überwachen. Wegen ihrer strategischen Lage im Delta des Río de la Plata war sie ständig umkämpft, von ihrer Gründung 1680 bis zu dem Jahr, als sie endgültig spanisch wurde, 1777.
An einer Seite des Platzes die Basilika, eine Kirche, der man ansieht, dass sie oft umgebaut wurde. Die Kacheln an den Türmen und die Fassade, aus Stein und Lehm bestehend, gelten als typisch portugiesisch. An der Seitenwand erlauben zwei Fenster ganz oben den Blick auf die meterdicke Mauer der Kirche.
Ich komme auf die General Flores, eine breiten Straße, die als einzige große Straße die Altstadt durchschneidet.
Hier ist die Touristeninformation. Der junge Mann rattert routiniert Informationen herunter, aber viel weiter bin ich am Ende auch nicht.
Von dort geht es wieder in die Altstadt, und diesmal komme ich zur Plaza 25 Mayo, von der viele der kleinen Gässchen abgehen. Ein langgezogener Platz, mit vielen Bäumen und blühenden Sträuchern, alten Häusern zu allen Seiten, ein Stück der alten Stadtmauer an einer Längsseite und dem Durchblick auf den Fluss von verschiedenen Gassen der Breitseite. Einfach schön. Beim Herumstreifen wird mir deutlich, was Colonia so besonders attraktiv macht. Erstens ist auch die Neustadt schön, nicht nur die Altstadt, zweitens gibt es zwar Tourismus und Souvenirläden und Straßenverkäufer und Lokale, aber überhaupt keinen Rummel. Nirgendwo steht jemand vor einem Lokal und versucht, einen reinzulocken, die Straßenhändler sitzen ruhig auf ihren Stühlen und warten, ob jemand kommt, der Interesse hat, und man sieht kaum einmal ein größere Gruppe von Touristen.
Ich sehe mich noch etwas um, und dann geht es zu einem Stadtrundgang. Wir sind international aufgestellt: ein Franzose, zwei Mexikaner, zwei Brasilianer, ein Nicaraguaner und ich. Die Führerin macht es nicht besonders gut und die Erklärungen kommen völlig unstrukturiert, von einer Jahreszahl zu einer Legende und zu einem typisch uruguayischen Gericht. Ich kann nur schwer folgen, und ich glaube, dem Franzosen geht es auch nicht besser. Als sie irgendwann fragt, ob alles klar sei, antwortet der Mexikaner für uns alle zusammen: Ja, alles klar. Ich verstehe etwas nicht, was sie über Kanonen sagt, die hier ausgestellt sind, nur, dass sie aus dem Meer geborgen worden sind, nicht aber, was es mit ihnen auf sich hat. Dann frage ich aber nach piedra seca, ein Begriff, der immer wieder auftaucht. Das sind Mauern, die nur aus nicht bearbeiteten Steinen bestehen, ohne Mörtel, großen Steinen, zwischen die kleinere aus Gründen der Statik kleinere gesteckt werden.
Der Weg ist kurz, eigentlich nur von der Plaza 25 Mayo bis zur Plaza de las Armas. Unterwegs wird immer wieder das portugiesische Erbe betont. Die Stadt wurde von Rio de Janeiro aus gegründet, als portugiesisches Gegenstück zu Buenos Aires, und wurde dann zum Zankapfel zwischen Spanien und Portugal.
Mehrmals verweist die Führerin auf die Mauern von Häusern, aber ich verstehe lange nicht, was sie meint, bis ichzufällig an einem Haus eine Hauswand hinter einer Hauswand sehe. Nur ein kleines Stück ragt hervor. Dieses Stück gehört zu der portugiesischen Hauswand, steinsichtig, davor haben die Spanier eine zweite Hauswand gesetzt, verputzt, vermutlich, um das portugiesische Erbe unsichtbar zu machen!
Wir gehen über eine hölzerne Ziehbrücke, an deren Seite Reste der Stadtmauer stehen. Beide sind vermutlich neu wieder aufgebaut, aber sie repräsentieren den wehrhaften Charakter, den die Stadt in früheren Zeiten hatte.
In einer der vielen Volten kommt die Führerin plötzlich auf die Gegenwart und die ökonomischen Verhältnisse zu sprechen und den größten Arbeitgeber der Stadt: Pepsi Cola. Das Firmengelände befindet sich irgendwo am Stadtrand. Hier ist die Zentralstelle von Pepsi Cola für ganz Südamerika.
Zwei interessante Details über Uruguay kommen zur Sprache, mit denen die Mexikaner bereits vertraut sind. Der Präsident Uruguays muss verheiratet sein, als Junggeselle hat man keine Chance. Es gab mal einen Präsidenten, der sich hat scheiden lassen, und der musste sich dann wieder verheiraten, um im Amt zu bleiben.
Das andere Detail betrifft die Lokale: Die Wirte dürfen kein Salz auf den Tisch stellen. Es sei denn, der Gast fragt ausdrücklich danach.
Die meistphotographierte Gasse Colonias ist die Calle de los Suspiros. Erklärungen für die Seufzer in dem Namen gibt es, aber keine ist letztlich erwiesen und alle klingen irgendwie nach Folklore. Die Calle de los Suspiros hat dickes Kopfsteinpflaster und führt abschüssig zum Fluss runter. In der Mitte eine Rinne für Unrat. Die Anlage dieser Straße geht noch auf die portugiesische Zeit zurück.
Immer wieder sieht man blühende Bougainvillea an den Häusern. Am Rande des Platzes sehen wir einen Baum, den Ceibo, der der typische Baum des Landes sein soll.
Irgendwann kommt es zwischendurch wie aus heiterem Himmel auch die Rede auf uruguayisches Essen. Auch sie nennt den chivito, und bei den Getränken grapa-miel, am besten gegen die Kälte im Winter.
Angebaut wird canola im großen Stil in Uruguay, was auch einige schlechte Folgen hat, aber welche, bekomme ich nicht mit. Ich verstehe auch nicht, was canola ist, aber dann wird mir durch die Beschreibung klar, das muss colza sein, Raps.
Am Nachmittag spielt Uruguay. Ich laufe durch die Altstadt auf der Suche nach einem Lokal, wo das Spiel übertragen wird. Gar nicht so einfach, im ersten gibt es nur eine Radioübertragung, in den meisten gar keine, und in einem sind alle Plätze besetzt. Dann finde ich eine einfache Bierkneipe, in der nur ein halbes Dutzend Gäste sitzt. Platz genug.
Diesmal macht Uruguay es gut, drängt von vornherein auf ein Tor und ist auch bald erfolgreich. 2:0 zur Pause. Sieht gut aus. In der zweiten Halbzeit ist das Spiel verteilt, aber Uruguay fühlt sich benachteiligt, weil ein Foulelfmeter nicht gegeben wird. Und inzwischen ist ein drittes Tor notwendig, weil sich die Sache in dem Parallelspiel gedreht hat. Am Ende hängende Köpfe. Uruguay ist auf dieselbe Art ausgeschieden wie Deutschland, mit einem Unentschieden, einer Niederlage und einem Sieg am letzten Spieltag, der aber wertlos ist durch das Ergebnis des anderen Spiels.
Ich habe während des Spiels zwei Bier getrunken. Die gibt es im Doppelpack, zwei Glas, jeweils 0,5 Liter, für satte 400 Pesos – 10 Euro!
3. Dezember (Samstag)
Am Morgen erzählt Inés, sie sei jetzt bis Januar praktisch ausgebucht. Um diese Jahreszeit herum sei die Nachfrage am stärksten. Im Winter kämen jetzt aber immer mehr Gäste zum Arbeiten. Arbeiten? Gibt es denn hier größere Firmen, Unternehmen? Nein, die kämen, um online zu arbeiten, auch Lehrer, die Fernunterricht erteilen. Die nutzen die Gelegenheit, um neben der Arbeit eine schöne Stadt zu besichtigen.
Für mich führt der erste Weg zu Viaggio, zum Fahrradverleih. Hier geht es professioneller zu als in Montevideo, und das Fahrrad ist auch etwas besser, hat allerdings auch keine Klingel, und eine der Bremsen funktioniert kaum.
Es geht direkt auf die Rambla, und dann die Rambla runter, immer am Fluss entlang. Wenige Menschen sind unterwegs. Der Radweg ist breit und bequem, und es gibt sogar Entfernungsangaben.
Die Strecke ist schön, aber nicht traumhaft schön. Man fährt direkt neben der Straße, die zu dieser frühen Zeit aber kaum befahren ist, und etwas entfernt, leicht erhöht vom Fluss, der manchmal wie ein Fluss, manchmal wie das Meer aussieht. Es gibt ein paar Strände, pure Sandstrände.
Irgendwann bin ich plötzlich auf dem Gelände des Sheraton-Hotels. Ich fahre zurück und komme auf wieder auf den Radweg. Dann merke ich irgendwann, hier war ich doch schon mal. Es geht wieder zurück, und diesmal merke ich vor dem Sheraton, dass die Rambla hier zu Ende ist.
Man kann aber rechts abbiegen, auf eine Landstraße. Rechts kommt ein Pferdegestüt und links eine Galopprennbahn, eine der bekanntesten des Landes. Das wichtigste Rennen findet hier am 25. August statt, einem Datum, das immer wieder auftaucht. Es ist der Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung.
Etwas weiter kommt dann die Stierkampfarena. Von der hat sowohl die Frau in der Touristeninformation als auch Inés gesprochen. Sie ist in einem nachgemachten maurischen Stil errichtet, mit Hufeisenbögen über Portalen und Fenstern. Wie groß sie ist, merkt man erst, wenn man einmal herumfährt.
Unterwegs sehe ich einen Straßenhändler, der Hängematten verkauft und einen, der Brennholz verkauft, pro Bündel (atado) 100 Pesos.
Ein Autofahrer hält neben mir an und fragt mich nach dem Weg. Pech gehabt, der unvermeidliche Fremde. Er leitet seine Frage ein, indem er Una consulta sagt. Habe ich dieser Tage im Bus auc schon mal gehört.
Die Begrüßung ist hier immer im Singular: Buen día. Mit Buenos días fällt man auf.
Ich fahre zurück und drehe dann etliche Runden durch die Stadt. Auch eine schöne Art, die Stadt zu erkunden. Bei dem richtig dicken Kopfsteinpflaster muss man allerdings absteigen.
Wieder geht die Suche nach einem Café los, genauer gesagt, die Suche nach einem geöffneten Café. Ich habe inzwischen nicht nur Lust auf einen Kaffee, sondern auch Hunger.
Dann finde ich an der Ecke zweier Altstadtstraßen ein winziges, sehr gepflegt aussehendes Café, noch leer. Aber geöffnet. Man sitzt gleich unter einer blühenden Bougainvillea. Zwischendurch kommt der Wirt raus und gießt sie.
Es gibt einen guten Kaffee und ein Croissant, das nicht wie ein Croissant aussieht, aber das spielt keine Rolle. Es ist gefüllt mit dulce de leche, auch so ein Zauberwort, das hier überall auftaucht. Schmeckt aber eher wie ein Schokoladenguss, und sieht auch so aus. Irgendwann kommt aber auch ein Geschmack nach Kondensmilch durch. Das ist wohl mit dulce de leche gemeint.
Drinnen ist das Lokal, das leicht auf Italienisch macht, winzig klein, aber sehr geschmackvoll eingerichtet.
Die Toilette ist gekennzeichnet mit einer Frau mit Dirndl und einem Mann mit Lederhose.
Ich habe den Wirt um die Speisekarte gebeten. Da komme ich aber schnell an meine sprachlichen Grenzen. Die soßen, die es zu der pasta gibt, heißen carusso, fileto und bolo. Keine Ahnung, was das ist. Er erklärt es mir, aber ich habe die Erklärung schon wieder vergessen, bevor er damit fertig ist. Auf der Speisekarte steht auch picadas. Der Mann sieht mich etwas verständnislos an, als ich frage, was das sei. Scheint sowas wie Antipasti zu sein.
Bezahlen soll man hier möglichst mit Bargeld. Bei Kartenzahlung gibt es einen Aufschlag von 10%. Man kann aber mit uruguayischen Pesos, argentinischen Pesos, brasilianischen Reales und mit Dollars bezahlen. Und mit Bitcoin.
Ich bin jetzt für das Museum gerüstet. Aber das Museum nicht für mich. Öffnungszeit 11.30. Die Uruguayos haben wirklich einen erstaunlichen Tagesrhythmus.
Ich nutze die Zeit, um zum Fluss hinuterzugehen und komme an eine der Bastionen. Hier hat Magellán Halt bei seiner Weltumseglung Halt gemacht, der portugiesische Seefahrer, der im Auftrag der spanischen Krone unterwegs war. Von hier aus segelte er weiter südlich und entdeckte die Magellán-Straße, die Durchfahrt vom Atlantik in den Pazifik. Er war 1519 mit fünf Schiffen und 240 Mann aufgebrochen. 1522 kam nur noch ein Schiff in Spanien an, mit 18 Mann an Bord, ohne Magellán. Der war im Kampf mit Eingeborenen getötet worden.
Dann öffnet das Museum. Gar nicht so leicht zu finden, obwohl es direkt an der Plaza 25 de Mayo liegt. In der Touristeninformation und in Broschüren heißt es Museo Municipal, tatsächlich heißt es aber Museo Bautista Rebuffo. Wie soll man das wissen? Jetzt weiß ich es, und sie schicken mich von der Touristeninformation, wo ich nachgefragt habe, wieder hin. Es ist aber geschlossen. Schwere grüne Holztüren, an denen ich drücke, öffnen sich nicht. Wieder zur Touristeninformation. Doch, doch, das Museum sei geöffnet, die Türen seien wegen der Klimaanlage geschlossen. Ich gehe wieder zurück und rüttele energisch an den Türen, und dann öffnet sich eine gläserne Tür nebenan. Dort ist der Eingang.
Als erstes gibt es in dem Museum die Büste eines Charrúa zu sehen, von einem Künstler nach Angaben eines Anthropologen angefertigt. Man sieht einen Mann mit kräftigen Gesichtszügen, einer flachen Stirn, hervortretenden Backenknochen, einer starken Nase und eher dicken Lippen. Der Gesichtsausdruck ist ernst und entschlossen.
Diese Gegend war bewohnt von den Charrúas, den Guaraní und den Chana Timbú. Heute ist charrúa zu einem allgemeinen, wohl eher despektierlich gemeinten Namen für Uruguayos geworden.
Von denen sind Äxte, Messer, Mörser ausgestellt, wobei Äxte und Messer lediglich aus den aus Steinen gefertigten Klingen bestehen. Daneben gibt es ein Gerät mit dem merkwürdigen Namen rompecabezas, einem Wort, das man heute für Puzzle verwendet, weil man sich damit den Kopf zerbricht. Hier ist es wörtlich zu verstehen. Nur dass man sich nicht den eigenen Kopf zerbricht.
Alle Objekte sind gekennzeichnet, aber alle mit einem Fragezeichen hinter época. Man kann es wohl nicht einordnen. Aussehen tun alle Werkzeuge wie Steinzeitwerkzeuge.
Dann kommt ein großer Sprung in die Kolonialzeit. Es gibt zwei Stadtansichten (1735) und ein Stadtmodell (1762). Man kann die Stadtstruktur gut nachvollziehen, aber einzelne Plätze oder Straßen oder gar Gebäude kann ich nicht identifizieren.
Die Portugiesen, heißt es, etablierten sich in dieser Zone, um ihr Territorium zu vergrößern, um Teilhabe zu haben an Handel und Schmuggel und um zu den Silberminen von Potosí zu gelangen.
Leider wird hier nicht angesprochen, wie das Verhältnis von Eingeborenen zu Portugiesen und zu Spaniern war. Die Führerin hat gestern angedeutet, dass das Verhältnis zu dem Portugiesen besser war, aber ich habe nicht verstanden, warum.
Es gibt noch allerlei interessante Kleinigkeiten zu sehen, darunter eine mexikanische mantilla und ein Paar Frauenschuhe aus Marokko, Belege für den Verkehr zwischen den verschiedenen spanischen Kolonien und vielleicht auch für die Mobilität der Menschen in den Kolonien.
Die europäische Kultur ist vertreten durch eine Skulptur von Ophelia, die, schon verwirrt, Blumen aus ihrem Schoß auf den Boden streut. Ebenso gibt es eine Zither mit alpin aussehender Bemalung. Schweizerisch aussehend, aber in Uruguay gefertigt ein Bierkrug mit Schweizer Kreuz.
Ganz merkwürdig sechs, sieben gleiche Röhren, aus Blech, mit gräulichem Ton. Man fragt sich, was das wohl sein könnte. Es sind Formen für das Kerzenziehen!
In der Schulabteilung ist eine Schreibtafel zu sehen, auf der das „konsequente“ pädagogische Credo der Zeit steht: La letra con sangre entra.
Man sieht ein altes Wappen von Uruguay, viergeteilt, von der streng dreinblickenden Sonne von oben beäugt: ein Pferd, ein Ochse, ein Berg mit einem Felsen und eine Waage.
Oben im Museum wechselt dann die Ausstellung abrupt. Hier geht es um die Tierwelt der Gegend. Ausgestopft in einer Vitrine über 200 Vögel, alle dicht gedrängt und nummeriert, aber ohne Beschriftung. Es fällt auf, wie grau das Gefieder bei den meisten ist. Bei den Schnäbeln – Darwin hätte seine helle Freude daran – ist alles vertreten, von kurz und knackig bis lang und dünn.
Die Hingucker sind aber zwei Skeletts oder Skelettteile. Ein Panzer, ein Riesending, stammt von einem Glyptodon, einem ausgestorbenen Säugetier, und das Skelett von einem Megatherium, einem perezoso gigante, das aber trotz seines Namens nichts mit dem heutigen Faultier zu tun hat. Die beiden nehmen zusammen den gesamten Raum ein.
Danach gehe ich noch in ein weiteres Museum, gleich hier am anderen Ende des Platzes gelegen, Espacio Portugués. Man hat ein altes, niedriges Haus aus der portugiesischen Zeit als Museum eingerichtet.
Gleich zu Anfang sind Objekte aus dem alten Gouverneurspalast zu sehen, meist nur Bruchstücke, Scherben aus Glas und Keramik. Aber erstaunlich, was die Archäologen damit anfangen können. Sie haben in allen Fällen identifiziert, was die Gefäße enthielten. Viele Gefäße enthielten Bitter, ein Getränk, das sich in der Zeit (XVII und XVIII) größter Beliebtheit erfreute. Es sind mit Brandy über mehrere Tagen zum Gären gebrachte Wurzeln und Kräuter. Interessant die verschiedenen Verwendungszwecke: als Abführmittel, gegen Magenschmerzen, als Appetitzügler und – einfach zum Genuss.
Auch aus den Funden von Tierknochen kann man einiges ableiten. Es sieht so aus, als wären die Portugiesen schon damals begeisterte Fleischesser gewesen. Aus dem Schnitt einiger Knochen kann man ableiten, dass man versucht hat, an das Knochenmark zu kommen.
In einem Raum werden Landkarten aus der Zeit ausgestellt, wunderbar in ihrer Fülle. Da sieht man Tiere, Sternkreiszeichen, Kastelle, Wappen, Fahnen. Eine auf den ersten Blick eher unscheinbare Karte (1502) ist die wichtigste. Da sind Europa und Afrika ziemlich genau abgebildet, auch der vordere Orient und sogar Fernost sind – Ergebnis der portugiesischen Entdeckungsfahrten – in wesentlichen Konturen schon erhalten. Die Darstellung von Amerika ist noch sehr lückenhaft, aber die Demarkationslinie zwischen Spanien und Portugal ist da mit den entsprechenden Landmassen. Neufundland, auch auf der portugiesischen Seite von Tordesillas, erscheint oben, ist aber von Südamerika abgetrennt, so als ob es sich um zwei völlig getrennte Kontinente handelte.
Es werden Uniformen ausgestellt, keine davon original, sehr farbenfroh, die meisten in Blau und Gelb. Und es gibt Informationen über das Leben der Soldaten. Das war die reinste Misere. Da sich viele freikauften oder Netzwerke aufbauten, um der „lebenslänglichen Strafe“ zu entkommen, wurden meist Vagabunden, Delinquenten, Tagelöhner rekrutiert. Oft gab es Zahlungsrückstände, und in einem Bericht heißt es, dass ein Soldat ganz wörtlich sein letztes Hemd verkaufen musste, um an Brot zu kommen. Daraufhin wurde eine Regelung für die geordnete Bezahlung eingeführt. Es gab einen fixen Zahltag, an dem die Soldaten erscheinen mussten, und das Geld wurde in einer Truhe aufbewahrt, die sich nur mit drei Schlüsseln gleichzeitig öffnen ließ. Einen hatte der Schatzmeister, einen hatte der Schreiber, einen hatte der Gouverneur.
In dem Raum zur Sklaverei gibt es wenige Ausstellungsstücke, aber unter den wenigen befindet sich ein Eisen, mit dem die Herren die Haut der Sklaven markierten, als Eigentumsmarke. Diese Eisen waren oft dieselben, die auch für das Vieh benutzt wurden.
Die Sklaven rekrutierten sich aus unterschiedlichen Gebieten Afrikas, einerseits aus dem Gebiet von Niger bis Senegal (für das Amerika nördlich des Äquators) und aus dem Kongo-Delta (für das Gebiet südlich des Äquators).
Es gab verschiedene Arten, auf die die Sklaven ihre Freiheit erlangen konnten. Einige wurden von ihren Herren freigelassen, andere kauften sich durch ihre Ersparnisse selbst frei, wieder andere wurden von Philanthropen oder Organisationen aus anderen Ländern freigekauft, anderen flohen und andere meldeten sich zum Militärdienst. Ein Historiker schreibt: Man gab ihnen die Freiheit, um ihnen das Leben zu nehmen.
Nach den Museumsbesuchen gehe ich in ein Lokal, in das ich nie gegangen wäre, hätte es nicht der Reiseführer empfohlen. Es liegt nämlich in der Calle de los Suspiros, da, wo wie Touristen stehen und ihre Photos machen.
Das Lokal ist winzig, mit zwei kleinen Tischen, fensterlos und einer ganz niedrigen Decke. Wenn man das Lokal durch die kleine Pforte betritt, muss man sich bücken, auch wenn man kein Riese ist. Das Licht kommt nur durch diese Pforte, ist aber kräftig durch die helle Sonne.
Auf den Regalen am Ende des Raums stehen Flaschen mit Öl und Essig, Honiggläser und Gläser mit eingelegten Oliven und Birnen. Das sieht alles sehr qualitätsvoll aus.
Aus dem Lautsprecher hört man Musik. Ein Lied erinnert mich an Salto Grande, ein emblematisches Lied über Uruguay aus längst vergangenen Zeiten, das ich seit Jahrzehnten nicht mehr gehört habe.
Es gucken immer wieder mal Leute neugierig rein, wenden sich dann aber wieder ab. Einige kommen rein, um etwas zu kaufen, aber die meisten ziehen unverrichteter Dinge wieder ab. Ich bin der einzige Gast. Es gibt eine einfache Pizza, die aber sehr gut schmeckt.
Dann kommt ein englisches Ehepaar rein und setzt sich an den anderen Tisch. Der Mann spricht etwas Spanisch, nach eigenem Bekunden nicht sonderlich gut, und er muss immer wieder nachfragen oder ins Englische wechseln. Aber er lässt sich nicht beirren. Aber seine Aussprache – unglaublich. Sie ist nahezu perfekt, er klingt wie ein Spanier. Immer wieder muss ich hinhören, und immer wieder bin ich verblüfft. Beim Herausgehen, als gerade alle abgelenkt sind, beuge ich mich kurz zu ihm runter und sage es ihm. „Muchas gracias, señor.”
Damit endet die Reise in dieses kleine, eigenwillige, interessante und teure Land. Wenn es das Budget noch einmal erlaubt, ist demnächst der Osten an der Reihe.