26. November (Dienstag)
Somoza, die Sandinisten, Ernesto Cardenal, Daniel Ortega. Das assoziieren wir vielleicht mit Nicaragua. Das Eigenbild der nicos, der Nicaraguaner, ist anders. Sie sehen Nicaragua als das Land der Seen und Vulkane. Zumindest wird es als solches beworben.
Werbung mit der Einreise können sie nicht machen. So kompliziert, wie es nur geht. Klare Informationen über die Einreisebedingungen sind nicht zu bekommen, und wenn, dann sind sie widersprüchlich. Ein Formular im Internet, das Voraussetzung sein soll, lässt sich nicht ausfüllen, und selbst im Konsulat in San Salvador gibt es keine klare Auskunft.
An der Grenze wird dann alles aufgefahren, was man sich denken kann: Formulare werden ausgefüllt, der Transporter wird entlaust, Reisepass und Gelbfiebernachweis werden überprüft, Fingerabdrücke werden genommen, Photos gemacht, Telefonnummern erfragt. Und dann muss der ganze Wagen leergeräumt werden, einschließlich unseres Gepäcks auf dem Dachgepäckträger. Und alles geht durch den Scanner.
Nicht die reinste Freude, und ziemlich langwierig. Und das, nachdem wir schon drei weitere Grenzübergänge hinter uns gelassen und mehrere Polizeikontrollen am Wegesrand über uns haben ergehen lassen. Bei denen wird die Taschenlampe gezückt und nachgesehen, ob sich unter den Sitzen noch ein blinder Passagier versteckt.
Zu allem Übel machen zwei junge Deutsche auch noch einen Aufstand. Ich bin dumm genug, mich als Dolmetscher hineinziehen zu lassen. Sie haben gemerkt, dass der Stempel im Pass 10 $ als Eintrittsgeld für Nicaragua vermerkt, wir haben aber alle 20 $ gezahlt, und zwar direkt an den ersten Fahrer. Das kommt ihnen, zu Recht, suspekt vor. Sie stellen den Fahrer zur Rede. Der sagt, wir seien ja auch in Honduras eingereist. Ja, aber da haben wir die 3 $ direkt selbst bezahlt. Ja, aber hier in Nicaragua kommen noch 3 $ für die Entlausung dazu. Das kommt den beiden suspekt vor, aber sie akzeptieren es. Fehlen aber immer noch 7 $. Jetzt wird es polemisch, beide Seiten wiederholen immer wieder dieselben Argumente, der Fahrer sagt, sie müssten schließlich auch jede Menge Steuern bezahlen und droht, die beiden Deutschen zurückzuschicken. Die beiden drohen, ihn bei dem Unternehmen anzuzeigen. Der Fahrer sagt, er habe mit der ganzen Sache nichts zu tun, und der arme Dolmetscher tritt sich ins Hinterteil, weil er sich hat mit hereinziehen lassen. Später, in León, haben sich die Gemüter beruhigt, der Fahrer gibt den beiden die Adresse, bei der sie ihre Beschwerden vorbringen können. Alles spricht dafür, dass sie Recht haben. Trotzdem würde ich die Sache einfach auf sich beruhen lassen und den Fahrern diesen kleinen Extraverdienst gönnen. Es tut keinem von uns weh.
Wieder sind die Straßen gut, aber es ist viel Verkehr. Die Fahrer drücken echt auf die Tube und kündigen mit lautem Hupen ihr Kommen an, gegenüber Motorrädern und Fußgängern (teils bei Dunkelheit an der Landstraße auf dem schmalen Seitenstreifen entlang gehend). Unterwegs stoßen wir auf zwei Unfälle, mit jeweils mehreren beteiligten Autos. Einmal ist ein Auto von zwei anderen eine Böschung raufgeschoben worden, einmal haben sich drei Autos ineinander verkeilt. Flößt nicht gerade Vertrauen ein. Das wird nicht besser dadurch, dass unser Fahrer locker beim Fahren telefoniert und sein Handy konsultiert. Und überall überholt, wo es möglich und auch da, wo es nicht möglich ist. An einer Schlange von LKWs fährt er vorbei, auch wenn Gegenverkehr kommt. Er kreiert dann seine eigene Spur, indem er ganz links fährt. Die entgegenkommenden Motorräder kommen ganz gut durch, aber die Autos müssen abbremsen und sich durchzwängen.
Vorher hat es auf einsameren Landstraßen vor allem eins gegeben: Kühe. Kühe auf der Weide, Kühe am Straßenrand, vom Kuhhirten geführt, und Kühe auf sich alleine gestellt, mitten auf der Straße und an den Haltestellen.
Die Fahrt zieht sich hin, insgesamt sind wir 13 Stunden unterwegs, die Anfahrtszeit zur Abfahrtsstelle am Morgen nicht eingerechnet. Da hat sich die Kalkulation der Einheimischen – halbe Stunde reicht – als reichlich optimistisch erwiesen. Am Ende sind wir fast anderthalb Stunden unterwegs. Und dann passiert das, womit ich heimlich gerechnet habe: Kein Mensch weiß, wo hier ein Bus nach León abfährt. Nervös geworden, schnappe ich mir irgendwann meinen Koffer, laufe los in eine Richtung, in die ein Mann weist. Dort steht ein Polizist, der den Verkehr regelt. Ja, stimmt, hier ist die Abfahrt. Geschafft! Auf den letzten Drücker. Nur um dann zu erfahren, dass der Bus Verspätung hat, anderthalb Stunden. Die ganze Aufregung war umsonst.
Wir sind lauter Bleichgesichter im Bus, 12 Passagiere, Schweizer, Deutsche, Amerikanerinnen. An der Grenze werden wir unterschiedlich behandelt. Von mir werden keine Fingerabdrücke genommen, von den Amerikanerinnen wohl. Vielleicht brauchen sie ein Visum, genauso wie, wie ich dieser Tage mit heimlicher Freude gelesen haben, die Briten jetzt eins brauchen.
Der erste, flüchtige Eindruck von dem nächtlichen León ist ausgesprochen positiv. Aber noch besser ist es, dass der Shuttlebus uns alle zu unserer Unterkunft bringt! Damit hatte ich nicht gerechnet. Da alle anderen in Pensionen oder Hotels untergebracht sind, bin ich als letzter dran. Der Fahrer muss ein paar Mal um den Block fahren, aber dann öffnet sich irgendwo ein großes Portal, und Lydia, die Gastgeberin, winkt uns zu.
Durch das große Portal geht es auf einen schönen Innenhof mit Bäumen und Sträuchern.
Zuerst werde ich begrüßt von Ella, dem Hund der Familie. Sie klettert an mir hoch und ist offenbar erfreut, dass ich gekommen bin.
Dann stellt mich Lydia ihrer Mutter vor, spindeldürr, genauso wie die Tochter. Beide sind froh, dass am Ende alles gutgegangen ist.
Lydia spricht Deutsch, auf ihrem Profil erscheinen immer wieder Zitate auf Deutsch. Wie es denn komme, dass sie Deutsch lernt, frage ich. Sie ist mit einem Saarländer verheiratet! Der lässt viele Grüße ausrichten.
27. November (Mittwoch)
Am Morgen bei Sonnenschein sieht der Innenhof mit seinem vielen Grün genauso schön aus wie am Abend. Auf zwei Seiten gibt es einen breiten, gepflasterten Umgang mit hölzernen Pfeilern und ziegelgedecktem Dach. Das Haus ist 200 Jahre alt und eine Art Erbstück.
Luxus darf man hier nicht erwarten. Das Zimmer, fensterlos und mit nackten Wänden mit ein paar Rissen und Flecken, hat nur das Allernötigste, und das Wasser in der Dusche bleibt kalt. Eine Herausforderung besteht darin, sich ohne Spiegel zu rasieren.
Am Morgen kommt zuerst Ella, um mich zu begrüßen. Sie klettert an mir hoch, sieht mich mit ihren Hundeaugen an und will gestreichelt werden.
Dann kommt Lydia und stellt mir ihren Sohn vor, Derek. Der ist in sein Tablet vertieft.
Lydia zeigt mir ihr Deutschbuch. Wie immer, viel zu schwer für das, was sie kommunizieren kann. Sie würde viel mehr Elementares brauchen. Das scheinen die Lehrbuchautoren nicht zu kapieren.
Ihr Mann ist in einem Sabbatjahr hier gewesen und will tatsächlich nach Nicaragua ziehen und hier leben. Er kommt jetzt im März/April wieder, da werde er gehörig ins Schwitzen kommen. Jetzt sei die beste Zeit, warm, aber nicht so heiß und schwül.
Lydia weiß, dass man im Saarland Moin! sagt statt Guten Morgen! oder Guten Tag! Und zeigt mir dann noch ein Buch mit regionaler Ausrichtung: Deutsche Hausmannskost Saarland. Das erste Gericht ist Dibbe Labbes mit Apfelkompott! Zur Komplettierung hängt an der Wand eine Karte des Saarlandes. Ihr Mann scheint ein Saarländer durch und durch zu sein.
Hier im Haus ist das Frühstück einbegriffen. Es gibt Kaffee und ein sehr leckeres Omelette, mit Basilikum aus dem eigenen Garten, in dem Innenhof an einem großen Holztisch serviert.
Lydia geht mit Derek aus dem Haus, macht sich auf den Weg zur Schule, wie ich vermute. Aber dann kommen sie mit einer ganzen Schar von Schulfreunden von Derek zurück. Brauchen sie nicht zur Schule zu gehen? Nein, es sind Ferien. Sommerferien! Und heute ist der erste Ferientag!
Als ich aus dem Haus gehe und noch ein paar Fragen stelle, kommt Ella und leckt an meinen Beinen. Habe ich etwa Flöhe? Nein, meint Lydia, Ella brauche Salz. Und nimmt meine Beine als Lieferanten dafür.
Draußen ist es schon knackig heiß. Im Laufe des Tages wird es dann immer schwüler, und der Himmel zieht sich zu.
Das Haus liegt ganz zentral. Nach zwei Blöcken bin ich schon am Parque Central und der Kathedrale.
Die Fassade der Kathedrale ist strahlend weiß, wird aber von Hunderten von Tauben in Beschlag genommen. Als ich später noch mal wiederkomme, sind sie weg.
Südlich der Kirche geht es gediegen, nördlich geschäftig zu. Im Süden ist es fast menschenleer. Dort befinden sich der Bischofspalast und ein Gebäude mit schönen Holzbalkonen, das schwer einzuordnen ist. Über dem bunten Eingangsportal die Tiara und irgendeine Anspielung auf das Tridentinum. In den Innenhof wird man nicht reingelassen, da findet eine Versammlung statt.
Als ich mich umdrehe, sehe ich eine Frau mit einer Schüssel auf dem Kopf. Erst steht sie, in ein Gespräch vertieft, dann geht sie weiter. Ich kann aus der Distanz zwei Photos von ihr machen.
Nördlich der Kathedrale gibt es Läden und Verkaufsstände, die gleich an die Kirche angrenzen, und gegenüber mehrere größere Geschäfte. Darin auch ein Supermarkt. Hier kann man Geld wechseln. Für 100 $ bekommt man 3.650 Córdoba. Das Mädchen, das das Geld wechselt, spricht kaum Spanisch. Sie kommt aus China.
Die Geldscheine sehen wie gefälscht aus und fühlen sich auch so an. Sind kaum abgenutzt. Auf der Vorderseite sind fast ausschließlich Kirchen abgebildet, einmal ein Theater. Auf der Rückseite Vulkane und Volksfeste. Auf den Münzen, die ich später zu sehen bekomme, ist auf der Vorderseite immer ein Dreieck, das auch ein stilisierter Vulkan sein könnte.
Die Kathedrale wirkt innen genauso groß wie außen. Eine Mischung aus Barock und Klassizismus. Auch innen fast ganz in Weiß. Die Kirche ist fünfschiffig, mit mächtigen Bündelpfeilern, an denen zwischen korinthischen Säulen die Figuren der Apostel mit ihren Attributen stehen: Pfeil, Muschel, Axt, Andreaskreuz, Schlüssel, Schwert. Auch hier zählt Paulus als Apostel, obwohl er keiner war. Vor einem dieser Pfeiler steht Christus und weist auf das Grab eines Bischofs.
An den Seitenschiffswänden riesige Gemälde, die die Kreuzwegstationen darstellen. Christus, in hellem Gewand und mit Heiligenschein, setzt sich deutlich von dem dunklen Hintergrund ab. Ein Leiden ist hier nicht zu erkennen.
Vor der Kirche, im Parque Central, glitzernde Weihnachtsdekoration und die Figur eines Riesen, wie man sie von Festen im Levante in Spanien kennt. Diese Figur reicht fast bis zur Oberkante des Hauses.
In der Mitte des Platzes die Statue eines gewissen Máximo Jérez, in Denkerpose Er hält irgendwas in der Hand. Er war Schriftsteller und Denker, aber, wie so oft hier, auch Militär. Er gilt als einer der großen Verfechter der zentralamerikanischen Einheit.
Auf dem Platz überall Eisverkäufer und Getränkeverkäufer. Links ein Pavillon, rechts ein Haus mit der Inschrift Capital de la Revolución. So stilisiert sich León. Es gilt als das kämpferische, lebendige, dynamische Pendant zu dem gediegeneren und schöneren Granada, dem großen Konkurrenten im Süden.
Wo ich schon in der Hauptstadt der Revolution bin, mache ich mich auf die Suche nach dem Museo de la Revolución, muss aber feststellen, dass das nicht sonderlich bekannt ist. „¿Museo? … Museo“ ist die geläufige Antwort. Klingt so, als ob es nur eins gebe. Ich werde hin und her geschickt und gebe mich am Ende geschlagen. Am Abend finde ich heraus, dass das Museum gleich am Parque Central liegt.
Ich mache eine kurze Pause in einem Café bei Kaffee und Teilchen. Und werde meine ersten 95 Córdoba los.
Auf der Suche nach dem Museum komme ich an einem Gebäude vorbei, das sich als Theater erweist. Es kommen gerade elegant gekleidete Eltern mit ihren kleinen Kindern heraus. Die Kinder tragen knöcheltiefe blaue Umhänge und ein blaues quadratisches Barett. Ich erfahre, dass es sich um eine Graduierung handelt, una graduación, obwohl die Kinder gerade mal im ersten oder zweiten Schuljahr sind. Eine Mutter erlaubt mir, ein Photo von ihrer Tochter zu machen, und die posiert für das Photo, halb stolz, halb scheu.
Dann komme ich an einem Barbier vorbei, der am Gitter seines Friseursalons Werbung für Bananen und Eier macht, die er hier zum Verkauf anbietet.
An einer Ausfahrt steht no estacionar und daneben sale carro. Das gibt ein Photo für meine kleine Sammlung lateinamerikanischer Besonderheiten.
Dann geht es weiter, und wieder komme ich an der Franziskanerkirche vorbei. Davor eine Skulptur von Franziskus, der beruhigend auf den mit gefletschten Zähnen vor ihm stehenden Wolf einspricht. Auf dem Boden Knochen und Schädel der früheren Opfer des Wolfs.
Gleich gegenüber liegt das Haus von Rubén Darío. Wenn man schon mal in Madrid war, klingt einem sein Name im Ohr, von der nach ihm benannten zentralen Metro-Station.
Wo ich schon einmal hier bin, gehe ich auch rein. Der Mann, der mich in Empfang nimmt, wirkt nicht sonderlich freundlich, aber das ist vielleicht nur der Anschein. Zwei Dollar soll ich zahlen. Die nimmt er aber nicht in die Hand, ich solle sie direkt in den Schlitz werfen. Und dann, wie überall hier, meinen Namen und mein Herkunftsland in eine Liste eintragen. Vor mir waren ein Besucher aus Belgien und einer aus der Schweiz hier.
In diesem Haus ist Rubén Darío nicht geboren, und hier ist er auch nicht gestorben. Er ist aber hier groß geworden. Dieses Haus war das Haus der Großtante, bei der er aufwuchs, nachdem die Eltern sich getrennt hatten. Geboren wurde er in Metapa, einer Stadt, die heute seinen Namen trägt. Darío ist ein Künstlername, angelehnt an seine Vorfahren, die Los Daríos genannt wurden.
Eine der Informationstafeln berichtet von einer Kuriosität aus dem Leben Rubén Daríos. 1884musste er sich vor Gericht verantworten. Der Anklagepunkt lautete vagancia, ‚Müßiggang‘. Wenn man einfach so in der Gegend herumsaß und Gedichte schrieb, dann war man verdächtig, galt als Nichtsnutz, Taugenichts, Tagedieb. Wie der Prozess ausging, wird leider nicht berichtet.
Rubén Daríos Tante betrieb eine Art Salon mit einem Kreis von Schriftstellern, Politikern, Militärs, Künstlern, die hier einen literarischen Zirkel bildeten. Durch sie kam er schon ganz früh in Kontakt mit Kunst und Literatur. Er soll schon mit 5 seine ersten Gedichte geschrieben haben.
Er besuchte verschiedene Schulen, darunter eine Jesuitenschule, in der er die spanischen Klassiker kennenlernte und Latein und Griechisch lernte. Auch Musik stand hier ganz hoch im Kurs. Der Rhythmus wurde zu einem der bestimmenden Merkmale seiner Dichtung. Liebe deinen Rhythmus, sagte Rubén Darío und dichtete Eres un universo de universos /y tu alma una fuente de canciones. – Ein Universum von Universen trägst du in dir / und deine Seele ist ein Quell des Gesangs.
Rubén Darío wurde zu einem der Erneuerer der spanischsprachigen Dichtung. Ernesto Cardenal wird hier zitiert mit dem Satz, seine Dichtung sei die erste wahrhaft metaphysische der spanischen Literatur, bei der bis dahin die Themen Raum und Zeit im Vordergrund standen.
Rubén Daríos einflussreiches Erstlingswerk trug den Titel Azul. Er entwickelte eine Sprache jenseits des Alltagsgebrauchs, mit ungewohnten Themen und Motiven, voller Klangexperimente. Diese Art von Dichtung wurde später als Modernismo bekannt. Den Schwan machte er zum Symbol seiner Dichtung.
Über Azul sagte Juan Valera: Si me preguntase qué ensena su libro de usted y de qué trata, respondería yo sin vacilar: no enseña nada y trata de nada y de todo. – Wenn man mich fragen sollte, was Ihr Buch lehrt und wovon es handelt, würde ich ohne Zögern antworten: Es lehrt nichts und handelt von nichts und von allem.
Schon früh begann Rubén Darío, andere Länder kennenzulernen, lebte mehrere Jahre in El Salvador, in Guatemala, in Costa Rica und wurde sogar Honorarkonsul Kolumbiens in Buenos Aires!
Er kam in Kontakt mit gesellschaftskritischen Kreisen und entwickelte eine immer größere USA-Skepsis.
Dann begann er, Europa zu bereisen, Ungarn, Österreich, Deutschland, England, vor allem aber Frankreich und Spanien. Getrieben wurde er von seelischer Unruhe, von Krankheiten, von zunehmendem Alkoholismus, von Beziehungsproblemen.
In seiner ersten Frau fand er eine Seelenverwandte. Sie hatte seine Gedichte gelesen, und dann stellte es sich heraus, dass sie unter einem Pseudonym mehrere Artikel in einer von ihm herausgegebenen Zeitschrift veröffentlicht hatte! Ihr Tod stürzte ihn in eine schwere Krise. In dieser Zeit verkuppelten Freunde ihn mit einer früheren Verlobten, obwohl die eigentlich rechtlich gar nicht in der Lage war, zu heiraten. Die Beziehung war zutiefst unglücklich. Auf einem Spaziergang mit Valle Inclán in Madrid begegnete er einer ganz einfachen Frau, die irgendwo als Dienstmädchen arbeitete. Er verliebte sich in sie, lebte mit ihr in „wilder Ehe“ zusammen und bekam mit ihr mehrere Kinder. Eine glückliche Beziehung. Damit ist Rubén Darío ein neuer Eintrag auf meiner Liste von großen Künstlern, die mit einfachen Frauen glücklich wurden, nach Goethe, Heine und Joyce.
Zu den vielen Unglücksfällen seines Lebens gehörte auch der Kindstod. Von seinen vielen Kindern überlebte nur eins, ein Sohn. Wenn ich die Stammtafel, die hier ausgestellt ist, richtig verstehe, hießen drei seiner Söhne Rubén Darío.
All diese Informationen findet man hier an den Wänden eines schönen Innenhofs. In den Zimmern sind Möbel aus der Zeit ausgestellt, darunter das Eisenbett, in dem er bis kurz vor seinem Tod den Kampf gegen eine Lungenentzündung austrug. Er starb 1916, gerade mal 49 Jahre alt. Zwei Todesmasken sind zu sehen.
Eine Reihe von Gedichten, teils als Autograph, ist hier ausgestellt. Am wichtigsten ein Gedicht mit dem ursprünglichen Titel „Azul“, das später in „La Ventana“ umbenannt wurde. Es ist gleich neben dem Fenster ausgestellt, auf das sich der Titel bezieht.
Nach dem Museum gehe ich in eine Pizzeria. Obwohl es noch früh ist, ist es schon rappelvoll. An mehreren langen Tischen finden Familienfeiern statt. Frauen mit eleganten Kleidern, Stöckelschuhen und hochgesteckten Haaren, Männer mit Holzfällerhemden und Schirmmützen. Auf erhöht stehenden Backblechen werden riesige Pizzen serviert, dazu gibt es literweise Cola aus Plastikkrügen. Die Kinder haben die Schuhe ausgezogen, dafür gibt es, wie ein Schild an der Wand verkündet, extra einen Locker.
Ich bestelle eine Pizza und ein Bier. Beides schmeckt hervorragend. Ich muss 490 Córdoba bezahlen, und das bedeutet, dass ich wieder keinen Fünfhunderter gewechselt bekomme. Und es bedeutet, dass ich nicht in einem Billigreiseland bin.
Danach komme ich in der Fußgängerzone auf eine schmale, auf beiden Seiten von schmalen Laternenpfählen und von schmalen Bäumen gesäumte Straße. Hier sehe ich einen Radfahrer und einen dicken Mann mit indigenen Zügen, mit entblößtem Oberkörper, der die Speckfalten sehen lässt.
Am Rande dieser Straße ein kleiner Park, eigentlich eher ein Platz, obwohl er Parque heißt, mit einer Statue von Rubén Darío. Obwohl er ein Buch in der Hand hält, sieht er nicht wie ein Dichter, sondern eher wie ein Beamter aus, kerzengerade, mit einem knitterfreien Anzug. Vor der Statue ein Stein mit einer Inschrift. Hier ist von der Partnerstadt Leóns die Rede. Das ist Hamburg! Und die Inschrift besagt, dass der Baum dahinter von den Bürgermeistern der beiden Städte gepflanzt wurde, auf Hamburger Seite von Henning Voscherau!
Als ich später noch mal losgehe, um das Grab von Rubén Darío in der Kathedrale zu suchen, sehe ich auf einer Stange vor einem Haus einen Papagei sitzen und später zwei Wellensittiche, die unter der Decke eines Verkaufsstands herausgucken.
Die Kathedrale ist geschlossen. Erst jetzt fallen mir an der Fassade die Figuren mehrerer Atlanten auf, die oben die Balken stützen, an denen die Glocken hängen. Der Name der Kirche ist Basílica Catedral de la Asunción. Der Bezug zur Himmelfahrt erklärt die Mondsichel unter der Marienfigur ganz oben an der Fassade.
Als ich gerade ein Photo mache, spricht mich plötzlich jemand von hinten an, spricht direkt in mein Ohr. Ich erschrecke mich zu Tode. Es ist ein Betteljunge. Er spricht mich zuerst als amigo, dann als abuelo an, aber weder der Freund noch der Opa lässt was springen.
An einer Straßenkreuzung, kurz bevor ich wieder zu Hause ankomme, steht ein Mann etwas ratlos vor seinem Auto, mitten auf der Kreuzung. Vor dem Auto liegt ein Motorrad auf dem Boden. Wieder ein Unfall. Kein Wunder, bei der improvisierten Fahrweise und den undurchsichtigen Vorfahrtsregeln, dass hier Unfälle passieren.
28. November (Donnerstag)
Etwas verwirrt höre ich am Morgen Punkt 7 eine Sirene. Am Mittag, als ich in der Stadt bin, ertönt sie wieder, genau um 12. Später erklärt mir Lydias Mutter, was es damit auf sich hat. Es handelt sich um keine Warnsirene, sondern einfach um ein Zeichen für Schulen und Fabriken.
Lydia fragt mich, ob ich schon Gallo Pinto gegessen hätte, das Nationalgericht. Nein, aber hatte ich vor. Sie bietet an, es zum Frühstück zu servieren. Es ist eine getreue Kopie des kubanischen Arroz Maní. Reis mit Bohnen und Spiegelei, dazu natürlich der allgegenwärtige Maisfladen, nichts Besonderes, aber das hält die Leute natürlich nicht davon ab, es als kulinarischen Höhepunkt zu feiern.
Jetzt, wo ich weiß, wo es ist, gehe ich schnurstracks zum Museo de la Revolución. Dort wird einem ein Führer an die Seite gestellt. Der betet routiniert seinen Text herunter, ohne Pausen, ohne Verständnisfragen, ohne Rücksicht auf Verluste. Ich habe Mühe, die eine oder andere Verständnisfrage dazwischen zu bekommen. Daten, Fakten, Namen prasseln auf mich nieder, und ich weiß nicht, ob ich weiter zuhören oder mir das Vorige merken soll. Wie erklärt sich so viel Unvermögen, sich in die Lage des Uneingeweihten, des Fremden, des Ausländers zu versetzen?
Im ersten Raum geht es nur um Sandino. Er wurde als unehelicher Sohn eines wohlhabenden Kaffeefarmers und einer Dienstmagd geboren. Sein Vater erkannte ihn zunächst nicht, dann aber doch an.
Als junger Mann ging er nach Guatemala, dann nach Mexiko, und erlebte dort den erdrückenden Einfluss der USA, in Mexiko in der Ölindustrie, in Guatemala auf den Bananen- und Zuckerrohrplantagen. Gegen die Willkürherrschaft der USA richtete sich fortan sein Engagement. Er schloss sich der Liberalen Partei an, wurde einer der Chefs der Liberalen Streitkräfte. Als diese unter dem Druck der USA ihre Waffen niederlegten und einen Kompromiss mit den Konservativen aushandelten, war das Verrat am Vaterland für Sandino. Der Vertrag, unter einem Pflaumenbaum geschlossen, ging als Pacto del Espino Negro in die Geschichte ein. Man sieht hier ein altes Photo von der Szene unter dem Pflaumenbaum, lauter seriöse Herren mit Sonnenhüten und Hosenträgern.
Sandino begann, in den Bergen und unter den Bauern eine Truppe zusammenzustellen, die sich, schlecht ausgerüstet, aus gerade einmal 30 Mann bestehend, dem Kampf gegen die Übermacht widmete. Aus ganz Lateinamerika schlossen sich Freiwillige an, die Truppe wuchs auf zwischen 2.000 und 6.000 Mann an, und das Unglaubliche gelang: Die USA zogen sich aus Nicaragua zurück.
Das wird hier ausschließlich als Verdienst Sandinos und seiner Leute dargestellt, aber man könnte sich fragen, ob nicht auch der Wechsel des Präsidenten in den USA, von Coolidge zu Roosevelt, eine Rolle gespielt hat. Jedenfalls war für Sandino damit seine Mission erfüllt. Er zog sich aufs Land zurück. 1934 wurde er dann von Präsident Sacasa zur Feier der Unterzeichnung des Vertrags zum Abzug der USA nach Managua eingeladen. Dort wurde er in einen Hinterhalt gelockt und in der Gegenwart seines Vaters, zusammen mit einigen seiner Mitkämpfer, erschossen. Da hatte auch der General Somoza seine Hände im Spiel, der zwei Jahre später gegen Sacasa putschte und sich selbst zum Präsidenten machte.
Sandino wurde nur 34 Jahre alt. Er war ein Leichtes, ihn zu einem Helden zu machen.
Im zweiten Saal geht es um den Kampf gegen Somoza und das Vermächtnis Sandinos, dessen Name in den der Befreiungsfront FSLN einging, deren schwarz-rote Fahnen man hier in Nicaragua überall sieht.
Ich erfahre, dass es sich bei Somoza nicht um einen Diktator handelt, sondern um eine ganze Dynastie. Dem ersten Somoza folgte sein Sohn in das Präsidentenamt und dem folgte dessen Bruder. Die Herrschaft der Somozas dauerte ca. 45 Jahre.
Der erste der Somozas wurde von einem der Mitstreiter Sandinos getötet. Er wusste, worauf er sich einließ, besuchte ein letztes Mal seine Mutter und las ihr ein Gedicht vor. Dann schlich er sich in eine Feier im Präsidentenpalast ein, schoss mehrfach auf Somoza ein und wurde selbst durch den Kugelhagel der Sicherheitsleute auf der Stelle getötet. Somoza wurde in ein US-Militärhospital in Panama geflogen, wo er eine Woche später verstarb.
Der Kampf der FSLN über die nächsten Jahrzehnte war wechselnd in Intensität und Strategie. Nachdem der städtische Guerillakampf in der Zerstörung der Städte durch die Gegenattacken des Regimes endete, entschied man sich für den ländlichen Guerillakampf nach dem Vorbild der kubanischen Revolutionäre.
Der Kampf nahm an Intensität zu, nachdem der letzte Somoza abgewählt worden war, aber mit dem Sieger der Wahl einen Pakt schloss und im Amt blieb. Demonstrationen und Proteste in großem Stile folgten. Das Volk war die Somozas endgültig leid. Das Regime antwortete mit brutaler Gewalt und mit Repressalien, was wiederum die Guerillabewegung anfeuerte. Schließlich gelang es den Freiheitskämpfern 1979, León einzunehmen. Man sieht Bilder von Straßenfesten mit Tänzen und Musik und friedlich durch die Reihen fahrenden Panzer. Hier in León wurde dann auch die erste provisorische Regierung gebildet und der erste Verfassungsentwurf geschrieben. León hatte sich den Ruf der Hauptstadt der Revolution verdient. Von León aus wurde dann auch der Rest des Landes eingenommen, und Somoza trat die Flucht an. Er erhielt Asyl im Paraguay Stroessners. Es ging ihm nicht schlecht, er war im Besitz einer Villa, mehrerer Unternehmen und einer Insel! Sein Vermögen wurde auf 100 Millionen Dollar geschätzt. Davon hatte er aber nicht mehr lange was. 1980 wurde er von argentinischen Freischärlern ermordet.
Damit endet die Führung, obwohl wir uns noch kurz drei bemalte Mauern in dem schäbigen Innenhof des Museums ansehen. Von der Herrschaft der Sandinisten, von Ortega und von den Contras ist nicht die Rede.
Ich mache eine Pause bei einem leckeren Fruchtsaft in einem Ecklokal, wo ich gestern schon mal war. Die Auswahl ist beinahe unüberschaubar.
Dann gehe ich in die Kathedrale und finde dort das Grabmal Rubén Daríos, vor dem Pfeiler mit der Figur des Apostels Paulus. Kann man wirklich leicht übersehen, der Löwe, der oben liegt, beherrscht das Grabmal. Der Name des Dichters steht nur auf einem Mauervorsprung darüber.
Als ich wieder die schmale, inzwischen vertraute Straße in der Fußgängerzone hinuntergehe, kommt mir der dicke Indio von gestern entgegen – splitternackt. Scheint ihn nicht weiter zu stören.
Ich frage einen Mann nach dem Museo Ortiz Guardian, dem Kunstmuseum. Er weiß erst nicht so recht, was ich meine, aber ein anderer Mann, der die Frage mitgehört hat, zeigt, wo es lang geht und sagt, das sei das beste Kunstmuseum Mittelamerikas. Vermutlich keine Übertreibung. Der erste Mann schaltet schnell, führt mich dahin und erbittet sich am Ende eine kleine Hilfe.
Das Museum ist so groß, dass es gleich zwei Häuser auf gegenüberliegenden Seiten einer Straße einnimmt. Vor allem in dem zweiten Haus reibe ich mir die Augen, weil man in immer neue Innenhöfe und Ausstellungsräume kommt und am Ende die Orientierung verliert. Alles ist hoch modern und bestens präsentiert.
In dem ersten Haus gibt es zentralamerikanische Gegenwartskunst zu sehen. Vertreten sind Künstler aus Costa Rica, Guatemala, Kuba, El Salvador, Nicaragua, und, um die Sammlung zu vervollständigen, gelegentlich sogar aus Argentinien.
Hier ist alles vertreten, abstrakte und gegenständliche Kunst und abstrakte Kunst, in der man, je länger man hinsieht, umso mehr Gegenstände erkennt. Dazu Collagen und Bilder, in die Objekte des Alltags eingebaut sind, eine CD oder das Motherboard eines Computers, und moderne Gemälde mit antiken Zitaten wie der Mona Lisa oder musizierende Renaissance-Engel.
Suggestiv auch die Titel: Sueño tropical, La Virgen del Maíz, El Misterio de las Profundidades, Diálogo (ohne menschliche Figuren), Todo el Bien, Todo el Mal, Obra de Dios (rein abstraktes Bild), El Descanso, Word Rain, Análisis de Vuelo. In dem sieht man einen Radfahrer eine Steigung geradezu hinaufliegen, mehrere Räder hinter sich lassend.
In El Descanso, einem scheinbar ganz und gar abstrakten Gemälde, entdeckt man bei längerem Hinsehen ein Wollknäuel, eine Sonne, Bäume, einen See.
Auf einem Bild sieht man einen Christus mit asiatischen Zügen und einem Heiligenschein mit buddhistischen Symbolen. In der Hand hält er eine flatternde Taube, die nicht unbedingt wie eine Taube aussieht.
Es gibt auch ein paar moderne Skulpturen, sehr schön präsentiert am Rande des inneren Hofs, häufig neben einem Springbrunnen. Besonders gefällt mir eine, die ein Paar darstellt. Ganz einfache geometrische Formen, der Kopf ist einfach ein Rechteck, ohne Gesichtszüge. Der Torso und die Gliedmaßen ähnlich. Die beiden Figuren sitzen sich gegenüber und beugen sich aufeinander zu. Eine der Figuren berührt ganz leicht das Bein der anderen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass das der Mann sein muss, obwohl man das aus der Darstellung nicht eindeutig herauslesen kann.
Im Haus gegenüber befindet man sich in einer ganz anderen Welt. Das erste Gemälde ist ein spätmittelalterliches Diptychon aus Deutschland. Das stellt auf der linken Seite die Vermählung Mariens dar (dass auch Josef beteiligt ist, davon ist nicht die Rede). Man sieht europäische Kleidung und ein Haus mit gefliestem Boden und einen Leuchter an der Decke.
Dann eine niederländische Darstellung von lauter Männern mit der typischen Halskrause der Renaissance, alle mit ernsten Gesichtern, um den gekreuzigten Christus herum.
Ein großes Gemälde, die Aufmerksamkeit auf sich ziehend, zeigt einen jüngeren Mann, der einem älteren Mann das Auge zu untersuchen scheint. Es ist die biblische Geschichte von Tobias. Hier ist es der Sohn, der Tobias die Sehkraft wieder gibt. Habe ich anders in Erinnerung. War da nicht im ursprünglichen Text eine Taube im Spiel?
Dann folgt ein Porträt, das perfekt Rembrandt darstellen könnte und auch von Rembrandt gemalt sein könnte.
Eine auffällige Maria Magdalena, sehnsuchtsvoll nach oben blickend, aber mit langem Haar, das bis auf ihre entblößten, üppigen Brüste fällt. Die Vorstellung des Barocks von religiöser Malerei.
Dann folgen noch ganze Räume mit minimalistischer Kunst und mit Installationen, meist von US-amerikanischen Künstlern. Bei den Installationen eine, bei der man auf dem Bildschirm sieht, wie eine Reiterstatue von einem Sockel gestürzt wird. Die kurze Szene wird in Endlosschleife wiederholt. Vor dem Bildschirm liegen tatsächlich die rostigen Reste der Statue. Das Pferd weist nur einige Lücken auf, von dem Reiter ist nur der Unterleib erhalten, und den sieht man nur auf den zweiten Blick. Ich will herausfinden, um welches Reiterdenkmal es sich handelt, finde aber keine Hinweise. Vielleicht ist das auch gar nicht nötig, die Installation dürfte universelle Bedeutung haben, sich nicht auf ein spezifisches Ereignis beziehen. Die Installation erinnert mich an ein Gedicht von Shelley, das eine ganz ähnliche Szene mit Bezug auf einen ägyptischen Pharao beschreibt.
Es gibt in den weiteren Räumen noch andere experimentelle Kunstwerke, darunter eins, das ein und dieselbe Szene in 70 verschiedenen kleinen Photos darstellt. Man sieht ein kleines Stück Strand, ein kleines Stück Meer und vor allem viel Himmel. Erstaunlich, wie unterschiedlich die Szenen sind, je nach Jahreszeit und Wetterlage.
Sehr gelungen ein längliches Gemälde mit den Figuren aus Las Meninas und Szenen aus Guernica im Hintergrund.
Dazu ein Kunstwerk aus alten Reifenteilen, ineinander verschlungen, vermischt mit Speichen, Ketten und Schlössern.
Schließlich ein gepanzerter Tuk-Tuk mit ganz schmalen Sehschlitzen, Gewehrkolben oben und einem Stierhorn vorne.
Zum Abschluss sieht man noch ein Modell der Kathedrale. Hier erkennt man besser als in der Wirklichkeit, was für ein großes und komplexes Gebäude man vor sich hat.
Abschließend gehe ich noch zur Iglesia de la Recolección, in einem bisher unbekannten, volkstümlichen Viertel gelegen. Die ist ganz anders als alles andere, was ich bisher gesehen habe, gelb gefasst, mit Rußflecken, barock, mit einer schönen Fassade. Hier kommt man sich wie in Mexiko vor. Zwischen den Säulen in allen, sich nach oben verjüngenden Stockwerken, in Medaillons Motive aus der Heilsgeschichte: Marterwerkzeuge, der Hahn, die Gesetzestafeln, der Rock der Kreuzigung, die Würfel.
Innen etwas enttäuschend, hier ist nur schön, was aus Holz ist, die Decke, die Türen, die Beichtstühle. Habe aber für einen Tag sowieso genug gesehen.
Als ich nach Hause komme, höre ich merkwürdige Stimmen und erkenne im Halbdunkel nur schemenhaft mehrere Gestalten, die um einen kleinen Altar versammelt sind. In einer fremden Sprache werden gebetsmühlenhaft die immergleichen Verse wiederholt, wie bei einer Litanei, nur mit noch weniger Variation. Eine männliche Stimme macht den Vorbeter, die weiblichen Stimmen antworten. Es müssen tatsächlich Lydia und ihre Mutter sein, die offensichtlich einem hinduistischen oder buddhistischen Ritus folgen. Ich habe später keinen Mut, danach zu fragen. Aus der Ferne höre ich aber später, wie der Mann noch einen kleinen Vortrag hält. Eine Bemerkung schnappe ich auf: Man dürfe nicht Wissen mit Weisheit verwechseln. Wie oft habe ich das schon gehört! Nur: Gegen wen richtet sich das denn? Gibt es jemanden, der Wissen mit Weisheit verwechselt?
29. November (Freitag)
Am Morgen sagt Lydias Mutter, ich solle eine Taxi zum Busbahnhof nehmen und dort nach den Bussen nach Lapasentro fragen. Wohin bitte? Lapasentro? Oder wie hieß das noch? Nie gehört. Ich habe keine Ahnung, wovon sie spricht. Lapasentro? Pasentro? Wie war das noch mal? Sie wiederholt es und dann noch einmal, und plötzlich fällt bei mir der Groschen: La Paz Centro. Wunderbar! Ich bin regelrecht begeistert. Ein Beispiel wie aus dem Lehrbuch. Warum versteht man in der Fremdsprache etwas nicht? Es liegt nicht an dem, was immer wieder angeführt wird, nicht am Dialekt, nicht am „Slang“, nicht an der Geschwindigkeit, nicht an unbekannten Vokabeln. Es liegt daran, dass man die Wortgrenzen nicht erkennt. Und deshalb bekannte Wörter nicht identifiziert. Der Beleg dafür: Geschrieben hätte ich die Instruktion sofort verstanden. Die Schrift markiert, im Gegensatz zur gesprochenen Sprache, die Wortgrenzen.
Also mache ich mich auf nach Lapasentro. Lydia schickt einen ihr bekannten Taxifahrer. Der holt mich vor der Haustür ab. Für 50 Córdoba.
Der Taxifahrer hat eine Verbindung nach Deutschland. Seine Tochter lebt in Oldenburg, bei seiner Schwester. Sehr lateinamerikanisches Arrangement.
Der Fahrer hat es schwer, an den Busbahnhof heranzukommen. Hier wird es eng, Verkaufsstände, Lastenträger, Autos und Rischkas, die in der falschen Richtung unterwegs sind. Sie kommen uns entgegen, was nicht erlaubt ist. Das kontrolliert aber niemand.
Dann geht es in den Oberlandbus. Obwohl die Straße gut und die Strecke flach ist, fährt der Fahrer auffällig langsam. Links und rechts niedrige Bäume. Und das Geschäftsschild El Palomo. Was das wohl ist?
In La Paz Centro hält der Bus auf einer Wiese. Hier muss man umsteigen. Der Bus nach León Viejo wartet mit hochgeklappter Motorhaube. Fast verpasse ich ihn, weil ich noch irgendwo ein WC sehe. Eine Frau reicht mir wortlos einen Schlüssel durch ein Gitter. Auf meine Frage, welcher der Schlüssel der richtige sei, sagt sie nur, ich solle es ausprobieren. Klappt auf Anhieb. Aber das WC ist in einem Zustand, dass man sich fragt, warum hier überhaupt abgeschlossen wird.
Der Bus ist schon in Bewegung, als ich rauskomme, aber man hält an und wartet auf mich.
Es sehr ländlich. Keine Werbeplakate mehr. Immer wieder kommen frisch gepflügte Felder in Sicht. Wir überholen Pferdefuhrwerke und fahren an einem Kuhhirten vorbei, der uns fröhlich zuwinkt.
An einer Bushaltestelle heißt es: Vorsicht, USA, immer den Sicherheitsgurt anschnallen! Dann passieren wir das Hotel CubaNic.
Die Strecke ist weiterhin flach, aber vor uns taucht jetzt eine regelrechte Bergkette auf, vermutlich Vulkane.
Der Fahrer setzt mich an einem einsamen Feldweg ab und deutet in eine Richtung: Da geht’s lang. Hatte ich mir etwas anders vorgestellt.
Dann erscheinen aber Banner am Wegesrand, die die fehlende Distanz angeben und betonen, dass León Viejo Weltkulturerbe der UNESCO ist.
Vor dem Museum steht ein moderner Reisebus. Aber man sieht keine Besucher. Ich zahle 10 $ und bekomme einen Führer. Im Laufe der Zeit merke ich, dass er die Texte der Schrifttafeln mehr oder weniger auswendig heruntersagt. Später vertraut er mir an, dass er die Führungen erst seit kurzem mache, vorher war er als Parkwächter beschäftigt.
Wir beginnen im Museum, später schließen sich uns noch zwei nicaraguanische Besucher an.
In einer Vitrine mit Exponaten aus der vorkolonialen Zeit sieht man winzige Musikinstrumente, nichts anderes als Steinchen mit Löchern.
Dann kommen Keramikgefäße, die wie Pantoffeln aussehen. Das sind Urnen. In die kam aber keine Asche rein. Sie wurden mit den Knochen der Verstorbenen gefüllt, die man teils durchbrechen musste, damit sie reinpassten. Ein sekundäres Begräbnis, nachdem das primäre eine Erdbestattung gewesen ist.
Die Bewohner dieser Gegend waren ursprünglich aus Mexiko hier eingewandert. Die Materialien, die sie in einer ersten Phase für ihre Behausungen gebrauchten, sind hier in dem ersten Museum auch vertreten: Stroh, Holz, Zuckerrohr, Lehm, Palmen. Auch die ersten Spanier lebten in solchen Häusern. Im Laufe der Jahre wurde die Konstruktion dann sukzessive verbessert, es wurden jetzt auch Lehmziegel und Backsteine eingesetzt. Die schützten besser vor Bränden.
Es lebten bei der Ankunft der Spanier ungefähr 100.000 Indios hier. Unter ihnen bildete sich eine besonders angesehene Schicht heraus, die sich durch Kämpfe ihre Stellung erworben hatte, die Tapaliuis. Sie unterschieden sich in ihrem Aussehen von den anderen, trugen einen Zopf, der auf einem abrasierten Kopf wuchs, und hatten künstlich verlängerte Ohren.
Schon die vorkolumbianischen Indios erreichten mit ihren einfachen Kanus die Westküste Südamerikas, das heutige Ecuador und das heutige Peru, und tauschten Waren aus. Die Spanier fuhren später auf denselben Handelsrouten.
León Viejo war eine der allerersten städtischen Anlagen der Spanier in ganz Lateinamerika. Wie kam es zu dem Exodus? Es war etwas anders, als es oft dargestellt wird. Bei dem Ausbruch des Momotombo 1610 wohnten nur noch zehn spanische Familien hier, und die konnten rechtzeitig entkommen, nahmen sogar ihre Möbel und ihre Heiligenfiguren mit in den neuen Ort, in dem sie sich niederließen, dem heutigen León.
Was war vorher passiert? Seuchen, Hungersnot, fehlende Arbeitsplätze hatte die Indios bereits zum Aufbruch veranlasst, sie hatten sich in die ganze Gegend zerstreut. Die meisten Spanier waren ihrem Beispiel gefolgt.
Wir gehen über das weitläufige Gelände. Was erhalten ist, sind Umfassungsmauern, alle gräulich-schwarz. Sie sind wohl tatsächlich von der Vulkanasche bedeckt worden, obwohl zwischen dem Vulkan und dem Ort noch der See lag! Die ganze Anlage war in Vergessenheit geraten und wurde erst 1931 wiederentdeckt.
Das Zentrum der Anlage war die Plaza Mayor. Hier wurden Feierlichkeiten abgehalten, Tänze, religiöse Prozessionen, Reiterspiele, hier wurden Erlässe durch den Ausrufer, den pregonero, bekannt gemacht und hier fanden Exekutionen statt. Bei einer besonders grausamen Exekution wurden zehn Indios den Hunden zum Fraß vorgeworfen, die sie bei lebendigem Leibe zerfleischten. Sie hatten sich gegen die spanische Herrschaft aufgelehnt.
Wir kommen zu dem Gouverneurspalast. Von dem heißt es, er habe nur eine Tür gehabt, nach hinten hin, und die war stark bewacht. So sehr fürchtete der Gouverneur Angriffe.
Wir kommen zu den Resten der Kirche des Ortes. In deren Krypta waren die Reste eines gewissen Francisco Hernández de Córdoba aufgebahrt, einem spanischen Eroberer und Gouverneur von León Viejo. Auch er wurde exekutiert, auch ihm wurde Auflehnung gegen die Staatsgewalt vorgeworfen, aber er wurde nicht den Hunden vorgeworfen, sondern ordnungsgemäß enthauptet.
Und dann erhalte ich eine Antwort auf eine Frage, ohne sie gestellt zu haben: Nach ihm ist die Währung Nicaraguas, der Córdoba, benannt.
Sein Gegenspieler war Pedro Arias de Ávila, ebenfalls Gouverneur. Der verstarb mit 90 Jahren und erlag einer Krankheit, die man beschönigend Amor Apasionado nannte.
Dann steigen wir einen Hügel hinauf auf einen Aussichtspunkt. Vor uns haben wir den Lago Xolotlán und dahinter den Momotombo. Bei dem Ausbruch verlor der 4 seiner 5 Krater. Rechts von ihm sein kleiner Bruder, der Momotombito, und hinter uns drei weitere Vulkane.
Auf dem Rückweg fällt mir ein Baum mit ganz dicken Früchten auf. Einer der anderen Besucher erklärt, das seien jícaros. Die deutsche Entsprechung scheint Kalebassenbaum zu sein.
Daneben ein Baum ohne Blätter. Dieser Tage ist mir schon ein Baum mit großen, rötlichen Blättern aufgefallen, die sich bräunlich verfärbten und teils abfielen. Aber dieser Baum verliert, im Gegensatz zu den meisten anderen, sein Laubwerk komplett. Ich erfahre, dass auf dem die jicotes wachsen, die leckeren pflaumenartigen Früchte, die ich schon mehrmals auf der Reise probiert habe.
Ich warte in der Mittagshitze auf den Bus für den Rückweg. Am Straßenrand versuchen drei dürre Kühe, etwas Nahrung in den spärlichen Grasbüscheln zu finden.
Der Bus bringt mich zur Umsteigestelle, aber hier nehme ich ein Tuk-Tuk, um wenigstens kurz nach La Paz Centro reinzufahren. Hier gibt es nicht viel zu sehen. Aber mir fällt das Begrüßungsschild am Eingang zur Stadt auf: Color a barro y sabor a quesillo, als Motto der Stadt. Auch fällt mir auf, dass man hier Toiletten mieten kann: Se alquilan baños.
Auf dem Parque Central bestelle ich ein Erfrischungsgetränk und werde von einem jungen Mann angesprochen, der unbedingt Englisch sprechen will. Den Gefallen tue ich ihm. Sein Englisch ist zu gut für die zwei Jahre, seit denen er es angeblich lernt. Er unterschlägt wahrscheinlich die Jahre in der Schule. Er unterrichte nun Englisch an einer Grundschule, sagt er, aber er wolle immer besser werden und aufsteigen. Deutsch wollte er schon immer lernen.
Er will ganz genau über meine Reise informiert werden, stellt ganz spezifische Fragen: Reiseroute, Unterkunft, Transport, Organisation, Dokumente, Geld. Und er will wissen, in wie vielen Ländern ich schon gewesen bin. Zur Illustration lässt er sich die asiatischen aufzählen. Wir verabschieden uns sehr freundschaftlich voneinander.
Der Bus auf dem Rückweg hat eine ganz heisere Hupe, die der Fahrer nach Herzenslust betätigt, indem er an einer Kordel am Seitenfenster zieht.
Unterwegs sehe ich am Wegesrand das Schild: Se vende arena. Sand – eine immer seltenere, immer begehrtere Ressource.
Der Taxifahrer in León setzt zwei Passagiere ab, und danach kommen wir ins Gespräch. Er ist aus Sutiaba, dem indigenen Ort, neben dem die geflüchteten spanischen Familien sich niederließen, dem heutigen León. Er fragt interessiert nach meiner Reiseroute und nach meinem Besuch in León Viejo. Dann spricht er auch von irgendwelchen Spuren, ob ich die denn nicht gesehen hätte, aber ich glaube, er meint Managua. Da gibt es so was. Er fragt mich, ob ich hier in Nicaragua lebe. Er ist heute schon der dritte.
Später sehe ich mir noch einmal zum Abschied das abendliche León an. Die bestrahlte Kathedrale kommt bestens zur Wirkung.
Aus den Bäumen am Parque Central kommt ein ohrenbetäubendes Kreischen und Pfeifen. Man muss länger konzentriert hinsehen, um überhaupt mal einen Vogel zu entdecken. Dann sieht man plötzlich viele, aber nur als Schattenriss in der Dunkelheit.
Ich gehe noch einmal durch die Stadt mit dem leichten Bedauern, dass ich nicht noch einen weiteren Tag gebucht habe.
30. November (Samstag)
Die Verabschiedung von Lydia und ihrer Mutter fällt ausgesprochen herzlich aus. Pünktlich nach dem Frühstück holt mich ein Shuttlebus vor der Haustür ab. Lydia hat alles perfekt organisiert.
Wir fahren ein Stück und halten dann an. Ich muss meine 25 $ abdrücken – viel, gemessen an der Strecke. Dann warten wir auf einen anderen Bus, in den wir umsteigen müssen. Dieser hier muss gewartet werden.
Als der kommt, werde ich, zum Ärger einer deutschen Frau, auf den Beifahrersitz komplimentiert. Sie wollte ihre Tochter dort sitzen haben. Geht aber nicht. Ist verboten.
Um 10.30 geht es dann los, wieder über gute Straßen. Nach Managua sind es rund 80 Kilometer.
Dann fragt mich der Fahrer plötzlich, wo denn meine Unterkunft sei. Ich glaub es nicht! Lydia hat ihrem Verbindungsmann bei dem Unternehmen die Wegbeschreibung, die Adresse und den Standort geschickt! Er fummelt an seinem Handy herum, und irgendwann hat er die Adresse dann doch lokalisiert.
Auf der gut ausgebauten Straße kommen uns auf dem schmalen Seitenstreifen immer wieder Kühe entgegen. Die Kühe haben aber keinen Respekt vor dem Seitenstreifen.
Wir selbst überholen einen Pick-up, auf dem an der Hinterwand ein Schwein festgebunden ist und zwei Pferdefuhrwerke, eins mit Heu, eins mit Melonen.
Dann warnen uns die entgegenkommenden Autos mit der Lichthupe. Vorsicht: Geschwindigkeitskontrolle.
Auf einem Schild wird darauf hingewiesen, dass Managua 1,3 Millionen Einwohner hat. Eine enorme Größe bei insgesamt gerade mal 7 Millionen Einwohnern. Dazu kommen die Nicaraguaner, die im Ausland leben. Nochmal gut eine Million.
Auf einem Schild steht No botar basura. Darunter und dahinter überall achtlos weggeworfener Müll.
Dann wird es richtig großstädtisch. Schön ist es hier überhaupt nicht, Managua hat nicht den besten Ruf. Ich bin auch der einzige, der hier aussteigt.
Als wir meiner Unterkunft näher kommen, wird es besser. Die Unterkunft liegt in einem Wohnviertel mit niedrigen Häusern.
Ich brauche noch nicht einmal zu klingeln. Margarita, die Mutter des Vermieters, steht schon an dem geöffneten Tor. Ich darf auch vorzeitig rein, es ist gerade mal Mittag.
Margarita weist mich ein, nimmt meine Daten aus dem Pass auf und nennt mir die Handy-Verbindung. Einen Schlüssel brauche ich nicht, das Tor draußen ist immer auf und an der Haustür kann ich klopfen oder mich per Handy bemerkbar machen. Einer sei immer da, sie oder ihre Tochter oder ihr Sohn.
Der hat eine Kaffee- und Kakao-Fabrik, „Fabrik“ in Anführungszeichen. Er kauft Kaffee und Kakao in großen Säcken und vertreibt beides in handelsüblichen Tüten. Margarita zeigt mir einen Raum, in dem es wunderbar nach beidem riecht, nach Kaffee und nach Kakao. Ob hier auch gemahlen oder geröstet wird, ist mir nicht klar. Jedenfalls ist der Sohn, Claudio, heute unterwegs, auf Einkaufstour.
Es gibt auch zwei Hunde. Einer davon kommt nicht ins Haus, der andere hat einen großen Ring um den Kopf, der ihm als Orientierung dient. Der arme Kerl hat nämlich keine Augen. Nach einer Entzündung musste ihm ein Auge entfernt werden, und dann war auch noch das zweite fällig. Margarita kalkuliert, wie alt er wohl ist. 16 Jahre. Muss verdammt viel sein für einen Hund.
Das Haus ist wirklich ganz schön, sauber und gemütlich, ein Bungalow, wenn auch die Einrichtung reichlich kitschig ist, vor allem der Marienaltar an der Seite. Ich kann mich in mein Zimmer, aber auch an den Wohnzimmertisch oder nach draußen setzen, in den Hof vor dem Haus, auf allen Seiten von Blumen gesäumt.
Erst einmal geht es aber in den Waschsalon. Zu meiner eigenen Überraschung finde ich ihn auf Anhieb. Das Waschen ist billig, aber das Bügeln ist teuer.
Dann geht es in die umgekehrte Richtung, zum Paladar, einem von Margarita empfohlenen Restaurant. Unterwegs sehe ich irgendwo ein großes Schild, auf dem ¿y ahora qué? steht. Und dann, an einem Eisstand, ein Schild mit allen möglichen Synonymen für lecker, in allen möglichen Schriften: Rica, Dulce, Sabrosa, Exquisita, No hay palabras, Divina, De muerte lenta usw.
Im Paladar ist es ganz schön voll, lauter Einheimische, immer ein gutes Zeichen. Man muss Schlange stehen und bekommt dann das Gericht der Wahl auf einen Teller serviert. Zu Reis und Fleisch und Cannelloni gibt es noch einen Salat dazu. Ich erkundige mich, was genau das ist. Er heißt Hellen. Nie gehört. Laut Internet ein Sommersalat, was immer das sein soll. Dann gibt es noch die Getränkeausgabe. Die Frau fragt zweimal, ob ich wirklich keine Eiswürfel in mein Bier haben wolle.
1. Dezember (Sonntag)
Am Morgen haben wir im Hof ein interessantes Gespräch zu viert, Margarita, Claudio und ein Mann namens Enrique, vermutlich der Freund von Margarita. Er hat früher eine Art Kolonialwarengeschäft betrieben, wenn das das richtige Wort ist, und hatte als einziger in der ganzen Stadt bestimmte Weine im Angebot, darunter Liebfrauenmilch. Tolle Verbindung mit der Heimat! Margarita will genau wissen, wie man das schreibt und was es bedeutet, denn Enrique hat ihr zu ihrer Graduation einen ganzen Tisch voll Weinen kredenzt, darunter eben Liebfrauenmilch.
Sie hat Business Administration studiert und sich von Stipendium zu Stipendium gehangelt, denn zu Hause waren sie zu zehnt. Ihre Mutter hatte eine Ermäßigung für kinderreiche Familien, aber das Studium wurde davon nicht bezahlt. Margarita hat das Stipendium für das erste Jahre von der GEZ erhalten. Vollstipendium, wie sie betont.
Margaritas ältester Sohn sei hier auf das Colegio Alemán gegangen. Er habe sich ziemlich gequält mit dem Deutschlernen und mit den hohen Anforderungen dort. Ob er die Schule abgeschlossen hat, wird nicht ganz klar. Jedenfalls lebt er inzwischen in den USA.
Wir kommen aufs Sprachenlernen zu sprechen. Claudio sagt, lesen habe ihm viel genutzt. Seine Mutter kämpft immer noch mit dem Englischen, will es aber unbedingt lernen. Da kann ich sie nur ermutigen. Ich solle doch hierher kommen und Sprachen unterrichten, hier gebe es jede Menge Nachfrage. Und das Haus nebenan stehe zum Verkauf an. Die beiden Söhne der verstorbenen Besitzerin hätten es geerbt und sich nicht einigen können und wollten es deshalb verkaufen.
Sie haben hier eine junge Deutsche wohnen gehabt, für vier Monate. Die habe ein Praktikum bei der Deutschen Botschaft gemacht, die liege auch ganz hier in der Nähe.
Auch Ernesto Cardenal habe in diesem Viertel gelebt, gerade mal zwei Blocks weiter.
Claudios Freundin ist Engländerin, aus Salisbury. Sie kommt morgen. Der Flug geht von London nach Miami und dann von Miami nach Managua. Sie wird 30 Stunden unterwegs sein und dann sechs Stunden Zeitunterschied zu überwinden haben.
Claudio ist auch schon bei ihr in England gewesen. Sie haben Cornwall, Wales und London bereist. Und in Stonehenge sind sie natürlich auch gewesen. England findet er teuer, London sei am schlimmsten. Auch in Venedig ist er gewesen, zur Karnevalszeit. Er bedauert die Städte, die dermaßen im Tourismus ersticken.
Er kennt Nicaragua wie seine Westentasche, und auch Costa Rica und Panama kennt er. Costa Rica sei fürchterlich teuer. Wenn man hier für ein Frühstück 4-5 $ veranschlagen müsse, dann seien das in Costa Rica 12 $. Panama sei günstiger.
Wir kommen auf meine stockenden Reiseplanungen zu sprechen, und in dem Zusammenhang erwähnt er die vielen Venezolaner, die nach Nicaragua kommen. Nicht, um in Nicaragua zu bleiben, sondern um in die USA zu gelangen. Die Regierung von Nicaragua lasse sie ohne viel Papierkram herein und lasse zu, dass sei von Schleusern, coyotes, illegal in die USA gebracht würden. Letztes Jahr, so schätzt man, seien es 200.000 gewesen.
Im mache mich auf den Weg. Mein erstes Ziel ist der Parque Japonés. Für lateinamerikanische Verhältnisse einigermaßen gepflegt. Auf Schildern wird die Verwandtschaft von Japan und Nicaragua betont, einmal durch die Vulkane, einmal durch die innige Verbindung zur Natur. Ein bewachsener Hügel imitiert den Fudschiyama, und der wiederum wird in Verbindung zum Momototo gebracht.
Hölzerne Bogenbrücken, ein (ziemlich anspruchsloser) Steingarten, Bambusstämme und Pavillons geben dem Park einen japanischen Touch.
An einer Stelle wird auf einen Sishi Odossi aufmerksam gemacht. Das ist ein akustisches Warngerät zur Abschreckung von Wild.
Katzen scheinen sich hier sehr wohl zu fühlen. Sie sitzen auf Brücken, auf Wegen, auf Felsen.
Von einem nahegelegenen Sportplatz kommen laute Anfeuerungs- und Jubelrufe herüber. Dort wird nicht Fußball, sondern Basketball gespielt, auf Beton.
Ein Taxifahrer hält und fragt mich, wohin ich wolle. Er reagiert völlig verstört auf meine Frage nach dem Zentrum. Zentrum? Er kann sich darunter nur das Metrocentro vorstellen, ein Einkaufszentrum. Das habe aber heute geschlossen. Zur Kathedrale, sage ich, nur, um irgendwas zu sagen. Zur neuen oder zur alten? Das sei mir egal, ich wolle doch einfach nur ins Zentrum. Damit gibt er sich nicht zufrieden. Ob ich zur neuen Kathedrale wolle, ob ich die besichtigen wolle. Der Einfachheit halber sage ich ja. Er setzt mich vor dem Eingang ab.
Es lohnt sich, schon wegen der Entstehungsgeschichte. Das Grundstück gehörte den Somozas, die es gerichtlich für sich zurückforderten, aber abgewiesen wurden. Der Bau wurde zum großen Teil aus Spenden und mit amerikanischen Sponsoren finanziert und ist deshalb und wegen des Baus nicht unumstritten. Die Kirche hat 63 Kuppeln. Das entspricht der Zahl der Diözesen, die zur Zeit der Erbauung zu dem Bistum gehörten.
Außen Beton pur, mit kleinen Schlitzen in den Wänden, in denen Glasfenster eingebaut sind. Ein großer, rechteckiger Turm, schmucklos, wie der Rest der Kirche. Mächtige Rundbögen, die irgendwie arabisch wirken. Unter einer größeren Kuppel, die an das Seitenschiff angrenzt, befindet sich eine Kapelle in einer Art künstlicher Grotte, mit einer ganz modernen Kreuzigung. Ich kann nicht ganz nahe an das Gitter rangehen, da davor Gläubige knien, aber irgendetwas kommt mir an der Kreuzigung komisch vor.
Um die Kirche herum hat man einen Weg angelegt, mit weißen und gelben Fahnen und bunten Flatterbändern. Ein minimalistischer Kreuzweg besteht aus 14 gleichförmigen Wegsteinen, auf denen jeweils eine Zahl in römischen Ziffern steht.
Es ist gerade Gottesdienst. Vier rot gewandete Messdiener mit Kerzen, vier violett gewandete Priester und zwei weitere Zelebranten in Schwarz und Weiß, vielleicht Diakone.
Eine Combo mit Lautsprecherverstärkung sorgt für die Musik. Die Messe wird im Radio und im Fernsehen übertragen.
Die Kirche ist gut besucht, eher 500 als 200 würde ich sagen, auf vier Bankreihen verteilt, Alt wie Jung. Bei einigen Gebeten breitet man die Hände aus, wie Muslime das tun.
Die Akustik der Kirche ist richtig schlecht. Als zum Schluss einer der Priester eine kurze Rede hält, verstehe ich nichts, aber wirklich gar nichts. Die anderen wohl. Jedenfalls klatschen alle an der richtigen Stelle.
Nach der Messe werden noch zwei Babys gesegnet. Auch das wird beklatscht. Und dann strömen alle nach vorne, um von einem der Priester einen Segen mit Weihwasser zu bekommen. Die Überzeugung der Befreiungstheologie, Christentum und Sozialismus seien miteinander vereinbar, wirkt hier offensichtlich nach.
Dann wiederholt sich die Szene von vorhin, gleich dreimal, bei einer Frau vor der Kirche, einem Paar an der Hauptstraße und dem Taxifahrer: ¿Ceeeentro? Was um Himmels willen kann dieser Fremde damit meinen? Ich spezifiziere: Palacio Nacional, Malecón, Laguna – diese Ecke. Aaaaah! Kann man ja nicht ahnen, dass das gemeint ist. Alle drei sind sich einig: zu weit, um zu laufen, und zu gefährlich. Genau das hatte Claudio auch gesagt. Margarita hat genau das Gegenteil gesagt.
Also nehme ich ein Taxi. Wir kommen auf eine große Avenue, die Avenida Bolívar, an einem Sonntag um diese Zeit fast menschenleer. An einer Kreuzung gibt es ein Denkmal für Hugo Chávez, und dann kommen wir an einem Schwimmstadion vorbei.
Etwas zögernd setzt mich der Taxifahrer auf der Höhe des Palacio Nacional ab. So richtig überzeugt ist er aber nicht, dass ich da wirklich hin will. Ganz Unrecht hat er nicht. Ich steuere zuerst einen Pavillon an, da gibt es gleich drei Lokale, und ich hoffe, dort irgendwo nacatamales zu bekommen, eine nationale Spezialität, die es hier meist nur sonntags gibt (laut Lydia in León freitags und samstags). Gibt es aber nirgendwo. Und Frühstück gibt es nicht mehr, ist zu spät.
Also gehe ich mit knurrendem Magen weiter, sehe mir zuerst den Palacio Nacional an, früher der Präsidentenpalast, heute ein Sitz eines Kulturinstituts. Das ist Neoklassizismus in Reinkultur, weiß natürlich.
Seitlich dazu eine barocke Kirche, und als ich genauer hingucke, wird mir klar, das ist die Alte Kathedrale. Sie ist durch ein Band abgesperrt. Betreten verboten. Durch die Schalllöcher kann man sehen, dass das Dach teils fehlt, und einige Fenster ebenso. Irgendwie sieht alles etwas hohl aus, aber der Bau selbst gefällt mir, eindrucksvoll, aber nicht übermächtig. Hier war mal wieder ein Erdbeben im Spiel. Als die Kirche nicht mehr sicher war, entschloss man sich zum Bau der Neuen Kathedrale.
Auf dem Platz davor hat man Weihnachtsdekoration in Hülle und Fülle angebracht. Schon vorher auf der großen Avenue, die direkt auf den See hinführt, habe ich riesige Figuren von musizierenden Engeln und jede Menge Marienaltäre gesehen. Hier steht jetzt der ganze Platz voll von Figuren aus Drahtgestell, mit Lichterketten oder mit bunten Flitterbändern, die in der Sonne glänzen. Da gibt es nichts, was es nicht gibt: einen Stern, eine Prinzessin, einen Stiefel, einen Weihnachtsmann, eine Lokomotive, einen Schneemann, eine Kutsche, Geschenkpakete, ein Herz, eine Burg, sogar ein Häschen.
Am Rande des Platzes ein Denkmal für Rubén Darío, ganz in Weiß. Er als römischer Orator, mit langer Toga. Unter ihm, im „Wasser“, ein Boot mit Putten und griechischen Musen, daneben Schwäne, Rubén Daríos Symbole.
Am Ende des Boulevards kommt man an die Uferpromenade, den malecón. Hier verstecken sich nur zwei Verkäufer im Schatten und zwei Turteltäubchen. Man kommt sich hier wie am Meer vor, und die Möwen sind auch mit dabei, aber man steht am Ufer des Sees, des Lago Xolotlán oder Lago de Managua. Hinten reiht sich ein Vulkan an den anderen.
Zurück geht es wieder mit dem Taxi. Der Standardpreis beträgt hier 100 Córdoba, das sind etwa 3 $. Der Fahrer kennt sich sehr gut aus und setzt mich direkt vor der Haustür ab. Er empfiehlt mir einen Orientierungspunkt, die Funeraria Don Bosco. Die kenne jeder Taxifahrer. Ein Beerdigungsinstitut als Wegmarke. Auch nicht schlecht.
Im Laufe des Tages wird es immer windiger. Der Wind bläst den Staub auf und lässt die Temperaturen, jedenfalls die gefühlten, sinken.
Ich gehe in ein auf mexikanisch getrimmtes Lokal nicht weit von der Wohnung entfernt. Passables Essen. Interessant bei der Wahl des Gerichts die Frage der Kellnerin, ob ich lieber Fleisch oder Hähnchen esse. Eine Unterscheidung, die das Deutsche nicht macht, das Spanische aber wohl. Kann man dann hier Vegetarier sein und Hähnchen essen?
2. Dezember (Montag)
Am Morgen huscht eine junge Frau durch das Wohnzimmer, verabschiedet sich und steigt ins Auto. Das ist Margaritas Tochter. Sie ist Religionslehrerin an einer zweisprachigen Schule. Sie hat, wie ihr Bruder, Ingenieurswissenschaften studiert, dann aber einen andern Weg eingeschlagen Die Schule ist teuer, und sie scheint ein gutes Gehalt zu bekommen. Der Religionsunterricht ist immer katholisch. Wer sich an der Schule anmeldet, muss eben den katholischen Religionsunterricht akzeptieren. Die Unterrichtssprache ist Englisch!
Dann kommt die Rede auf das Erdbeben, oder besser die Erdbeben, wie Claudio erklärt. 1931 war ein Stadion das Epizentrum. Dort lief gerade ein Spiel, und viele der Zuschauer kamen ums Leben. 1968 traf das Erdbeben die Zone des heutigen Metrocentro und zerstörte ein ganzes Stadtviertel. Und dann kam 1972. Mehrere Erschütterungen hintereinander trafen die Stadt, der Ausbruch erreichte eine Stärke von 6.2, tötete 11.000 Menschen und zerstörte 53.000 Häuser.
Margarita hat es als zehnjähriges Mädchen erlebt, zusammen mit all ihren Geschwistern. Eine traumatische Erfahrung, obwohl sie alle mit dem Leben davonkamen. Das Dach des Hauses stürzte ein und eine Wand, aber alle konnten sich retten. In der Nähe kam eine Cousine ums Leben, deren Haus einstürzte.
In der kindlichen Erinnerung hat sich auch besonders festgesetzt, dass das Erdbeben an einem 23. Dezember geschah und alles auf die Weihnachtstage und das Fest ausgerichtet war.
Aus den Erdbeben erklärt sich, laut Claudio, bis heute die Bauweise der Häuser in Managua. Die Leute wollten nicht in Hochhäusern wohnen, und so habe sich die Stadt immer mehr ausgedehnt. Das erkläre auch den schrecklichen Verkehr. Die innerstädtischen Busse seien eine Katastrophe, voll und gefährlich, und keiner kenne so richtig die Route. Wenn man mit dem Taxi irgendwo in zehn Minuten hinkomme, könne das mit dem Bus eine geschlagene Stunde dauern.
Vor dem Erdbeben habe Managua gerade mal eine Ausdehnung gehabt von der Lagune bis zum See. Alles andere sei Land gewesen. Das alte Managua, das Managua der Kolonialhäuser, sei praktisch komplett durch das Erdbeben verschwunden. Es lebe nur noch in den Erzählungen der Älteren von früher weiter, einem Managua, das er sich gar nicht vorstellen kann. Seitdem sei die Stadt unkontrolliert gewachsen, es habe keine Städteplanung gegeben, Managua habe auch kein Zentrum.
Er selbst hat erlebt, wie sich Wohnviertel wie dieses hier verändert haben. Hier habe es früher nur Wohnhäuser gegeben, jetzt seien Geschäfte dazugekommen, Lokale, der Autohof gegenüber, eine Billardhalle, ein Fitnesscenter.
Claudio erzählt von einer alten deutschen Gemeinde in Matagalpa, im Zentrum Nicaraguas. Das waren Goldgräber, die in die USA wollten, dann aber hier hängengeblieben sind. Da sie kein Gold fanden, sattelten sie auf Kaffee um. Einer der wichtigsten Kaffeefarmer heißt heute noch Kühl. Das sei aber die vierte Generation, längst in Nicaragua angekommen. Matagalpa ziehe aber heute noch Deutsche an, Auswanderer wie Touristen.
Ich erwähne, dass ich gestern in der neuen Kathedrale gewesen bin, und er fragt mich, ob ich dort den Christus in der Grotte, der Seitenkapelle gesehen hätte. Ja, aber nur flüchtig. Auf den Christus sei vor einigen Jahren ein Brandanschlag verübt worden. Jetzt fällt mir wieder ein, dass die Skulptur mir irgendwie komisch vorkam. Claudio sagt, es gebe Augenzeugen für den Brandanschlag – er verdächtigt die Regierung, ihre Hand im Spiel zu haben – aber man habe sich jetzt offiziell auf eine „naturwissenschaftliche“ Erklärung verständigt, eine ziemlich weit hergeholte Sache, die etwas mit der Entwicklung von Gasen unter bestimmten klimatischen Bedingungen zu tun hat.
Der Anlass für die Aufstellung der Marienaltäre im Zentrum sei der 8. Dezember, das Fest der Unbefleckten Empfängnis. Jedes Ministerium müsse seinen eigenen Altar aufbauen. Sozialismus und Christentum? Ach was, sagt er, das sei reine Symbolpolitik, Populismus, das Regime wolle den Leuten ein Spektakel bieten. Es sei das, was linke Kulturkritiker jetzt Appropriation nennen.
Ähnlich kommentiert er meine Beobachtung, dass die Pista Juan Pablo II beinahe auf die Plaza de la Revolución zulaufe. Habe nichts zu sagen, als der Papst hier war, habe man ihn nicht reden lassen, und der habe sich geweigert, nur der Helden der Revolution zu gedenken, wie das die Regierung wollte.
In dem Zusammenhang ist auch von der guten früheren Beziehung Nicaraguas zu Taiwan die Rede. Die sandinistische Regierung wandte sich stattdessen der Volksrepublik China zu. Die Taiwanesen, die hier ordentlich investiert hatten, fühlten sich verraten. Seitdem ist das Wort taiwanizar zu einem Synonym für engañar geworden, für verraten.
Beim Frühstück wollen sie wissen, ob ich schon in Rente sei. Ich erfahre, dass Enrique immer noch arbeitet, er könne sich nicht von seiner Arbeit trennen, meint Margarita. Er selbst meint aber, er tue es wegen der niedrigen Rente. Er arbeitet bei einem pharmazeutischen Unternehmen, dem größten Nicaraguas. Deutsche Arzneimittel hätten sie nicht so viele, sagt er, aber er selbst halte viel von ihnen.
Margarita ist seit zwei Jahren in Rente und hat sich jetzt voll in die Vermietung gestürzt. Sie hat so etwas wie Wirtschaftswissenschaften studiert und in Sonderkursen an der Uni angehende Zollbeamte unterrichtet, die nicht im engeren Sinne Universitätsstudenten waren.
Wie viele Zimmer sie denn für Reisende hätte, frage ich. Drei, von denen vermiete sie im Moment aber nur zwei. Hat das Haus so viele Zimmer? Ja, neun! Das sieht man ihm nicht an. Soll man auch nicht. Man will nicht unnötig die Aufmerksamkeit der staatlichen Steuereintreiber auf sich lenken. Deshalb habe man auch das Schild draußen entfernt.
Margarita klagt über steigende Strompreise. Kommt einem bekannt vor. Aber bei ihr sei die Stromrechnung von einem Monat auf den nächsten um das Fünffache gestiegen. Wie man das denn bezahlen solle? Dazu kommt noch, dass sie wenige Vermietungen gehabt hätten wegen der Regenzeit. Das werde jetzt aber besser.
Zwischendurch erscheint die Putzfrau, Isabel. Sie fragt sehr vorsichtig und sehr höflich, ob sie mein Zimmer reinigen könne. Sie heißt mit Nachnamen Braham Derbyshire.
Danach folgt noch eine, am Ende etwas langwierige Geschichte, wie der Staat ihre aus den USA importierte Kaffeemaschine mit 50% Steuern belegen wollte, obwohl es eine Regelung gibt, die den steuerfreien Import von Waren bis zu 500 $ erlaubt. Es ging hin und her, und am Ende konnte Margarita einen Bekannten beim Zoll einspannen, und man bekam den Betrag erstattet. Die meisten hätten solche Möglichkeiten einfach nicht und müssten zahlen, immer 50% auf den Wert des eingeführten Artikels. Der wird gelegentlich von den Behörden höher eingeschätzt als der tatsächliche Wert, damit noch mehr Steuern fließen.
Bevor ich mich auf den Weg mache, frage ich Margarita noch, wo ich Geld wechseln könne. Am besten gleich hier, bei ihr. Dollars sind immer willkommen.
Da noch einige Fragen offen sind, will ich zur Touristeninformation fahren, der INTUR. Ich habe die Adresse notiert und lese sie dem Taxifahrer vor. Ja, klar, das kenne er. Muss ganz im Zentrum liegen. Ich habe aber das Gefühl, dass er nicht die normale Route ins Zentrum nimmt.
Er fragt nach Deutschland. Ob das an Russland angrenze. Wie lange denn so eine Flugreise nach Moskau dauere. Oh, so lange, das ist ja wie von hier bis Miami. Ob denn Deutschland an die Ukraine angrenze. Nein, auch nicht. Gott sei Dank. Das sei doch eine verdammte Sache mit den Kriegen, meint er. Der Mensch sei schlecht, mache alles nur aus Geldgier und Machthunger. Zwischendurch sagt er immer wieder, mit nachdenklichem Ton, „Alemaaania.“ Das muss wie aus einer anderen Welt klingen.
Wir sind in einem Wohnviertel angekommen, und da erscheint an einer großen Pforte tatsächlich das Schild INTUR. Wunderbar. Ich bezahle, und der Fahrer fährt weiter.
Hinter dem Tor drei Männer, alle von meiner Frage völlig überrascht. Information? Touristisch? Damit können sie nichts anfangen. Sie holen einen Stuhl für mich und rufen eine Frau zu Hilfe. Information? Auch sie ist völlig überfragt. Danach ist wohl noch nie verlangt worden. Was für eine Information denn? Sehenswürdigkeiten, Öffnungszeiten, Stadtpläne, Eintrittspreise. Da ist sie völlig verdutzt. Ja, worüber ich denn diese Information haben wolle. Über Managua. Manaaaagua? Jetzt ist sie endgültig verwirrt. Auf jeden Fall sei ich hier nicht richtig. Die Touristeninformation von INTUR sei in der Innenstadt, in der Nähe der Lagune. Genauso, wie ich es dem Taxifahrer gesagt habe. Sie ruft dort an und teilt mir mit, Stadtpläne habe man dort auch nicht, und ob das Museum, nach dem ich gefragt habe, geschlossen sei, wisse man dort auch nicht.
Ich gebe es auf und entscheide, nicht weiter zu suchen. Nur: Wie soll ich hier wieder wegkommen? Dies ist ein Wohnviertel, vermutlich für bessere Leute. Um diese Zeit ist hier niemand unterwegs. Ich versuche es mal in der einen, mal in der anderen Richtung. Kein Erfolg. Dann taucht irgendwo ein Taxi auf, aber das hat schon Passagiere und fährt in die falsche Richtung.
Zufällig komme ich irgendwann auf eine etwas befahrenere Straße, ohne Seitenstreifen. Aber auch hier taucht kein Taxi auf.
Dann gerate ich auf eine der Hauptstraßen, die ins Zentrum führen, nur: In welche Richtung? Ein freundlicher alter Mann, der mir sofort zulächelt und mir die Hand reicht, zeigt mir, in welche Richtung ich gehen muss. Ich komme zu einer Bushaltestelle. Ein Taxi hält. Der Fahrer weiß Bescheid und bietet mir einen sehr günstigen Preis an. Hinten sitzt schon eine Frau. Wir fahren schnurstracks auf das Zentrum zu, dann biegt er plötzlich ab und schlägt einen Haken nach dem anderen. Ich vermute, er bringt erst die Frau zu ihrem Fahrtziel, sonst hätte er mich doch vorher schon absetzen können, aber auf einmal kommen wir von hinten auf den Parkplatz des Palacio Nacional. Er hat den Auftrag sehr präzis ausgeführt.
Der Palacio Nacional hat tatsächlich geöffnet. Hier werden dem Ausländer 5 $ abgenommen, aber es lohnt sich.
Gleich im ersten Raum geht es um die Entstehungsgeschichte des Landes, und man sieht in einem Schaubild, wie Mittelamerika entsteht, aus dem Meer emporwächst, als einer der jüngsten Teile der Erde, mit Nicaragua als Nachzügler. Das bedeutet, dass es ursprünglich keine Landsperre zwischen Atlantik und Pazifik gab, dass beide sozusagen ein Meer waren! Wenn das stimmt, dann kann ich alles, was ich bisher über die Entstehungsgeschichte Mittelamerikas geglaubt habe, auf den Haufen werfen.
Tatsächlich werden im nächsten Raum gleich Funde ausgestellt, die belegen, dass hier einst das Meer war, unter anderem das riesige Skelett eines Meeressäugers, und eine kleine Muschel, aus der ein ganz fein verästelter Baum wächst. Sieht aus, als wenn sich das jemand ausgedacht hätte.
Dann kommen Knochen und ganze Skelette von Landtieren, unter anderem von einem Mastodonten, riesengroß. Aber auch die des Faultiers sind viel größer als man es erwartet.
Im Innenhof Figuren, die ein indianisches Ritual nachstellen. Zuerst sieht man nur die Figuren von fünf, sechs Männern, die, mit Pfeil, Bogen oder Lanze ausgerüstet, leicht gebückt im Kreis umhergehen, nur mit einem Lendenschurz bekleidet. Dann sieht man über ihnen in einiger Höhe einen Ring in der Luft, und an dem Ring schweben zwei Jünglinge, mit Tiermasken vor dem Gesicht. Dieser Ring wiederum hängt an einem Pfahl, an dem ganz oben der Gott des Mais thront.
Wieder in der Ausstellung erfährt man, dass sich im Boden von Nicaragua in den älteren Schichten Metalle befinden, in den jüngeren Schichten Mineralien ohne Metallanteile, in den jüngsten Schichten fossilisierter Kohlenwasserstoff.
Man unterscheidet vier Klimazonen. Als Extreme das Trópico Seco am Pazifik und als Gegenstück dazu das Trópico Húmedo am Atlantik. Nur 6% der Niederschläge fallen am Pazifik, 94% am Atlantik. Diese Gegend zeichnet sich durch üppige Regenwälder auf.
In den nächsten Räumen gibt es präkolumbianische Keramik. Man kann die Entwicklung gut sehen, aber auch die ganz frühen, noch nicht üppig dekorierten, sind sehr formschön. Die ganz späten, ab 1200, haben dann mehrfarbige Dekoration in abgetrennten „Lagen“, mit fratzenartigen Gesichtern und allen möglichen Formen. Hier ist kein Quadratzentimeter mehr frei.
Gefäße, die ganz unschuldig aussehen, erweisen sich als Urnen. Es gab ein primäres Begräbnis, bei dem der Tote unter der Erde auf einer Art Strohmatte in liegender Position bestattet wurde. In dem sekundären Begräbnis wurden dann die Knochen nach einigen Monaten ausgegraben und in den Urnen bestattet.
Dann kommen Gefäße mit den Darstellungen von Göttern, alle miteinander furchterregend und alles andere als gutaussehend. Der Jaguar, die Schlange, die Eidechse sind vertreten. Abweichend davon ein Gefäß, bei dem die Darstellung des Gottes geradezu witzig ausfällt. Die Augen haben riesige schwarze Pupillen und konzentrische Ringe darum, und der schmale Mund ist mit einer unendlichen Folge ganz kleiner Zähne bestückt.
Es gibt noch etwas über das Alltagsleben der präkolumbianischen Indios zu erfahren, darunter Geräte, die ganz praktisch aussehen, aber rituelle Funktion hatten, wie ein Mahlstein. Aber es gibt auch Dinge aus dem Alltagsgebrauch wie ein Netz zum Fangen von Muscheln, Pfeilspitzen für verschiedene Zwecke, sehr schön gestaltete Schaber.
Zum Schluss dann noch ein Plakat zum Thema Mais. Unglaublich die Vielfalt, sowohl, was die Farbe als auch, was die Form der Maiskörner betrifft.
Am Ausgang frage ich, wo das Theater sei. Da drüben, sagt die Frau. Da drüben ist aber nur die Casa de los Pueblos. Die ist, laut Claudio, der ehemalige Präsidentenpalast, jetzt nur noch für repräsentative Zwecke wie diplomatische Empfänge genutzt.
Auf dem großen Platz sind nur drei Personen unterwegs. Ich bitte sie, ein Photo von mir vor einer der Figuren zu machen.
Jetzt geht es zur Lagune. Auf dem Weg dahin gibt es wieder Verständigungsschwierigkeiten. „¿Para la Laguna? – ¿Laguna?” Nie gehört. „¿Para la Laguna. – La una?“ Zum Verzweifeln. Dann gerate ich an einen sehr netten Mann. Der tritt an die Borsteinkante mit mir, weist auf ein weißes Haus auf einem Hügel, ein Hotel, das wie ein Kreuzfahrtschiff aussieht. Da müsse ich rauf, das sei mein Orientierungspunkt. Ich erfahre, dass er hier als Wachmann tätig ist. Er bewacht einen der Marienaltäre. 24 Stunden, einmal rund um die Uhr. Dann bietet er mir noch an, ein Photo von mir neben einer Puppe zu machen, die wohl auch irgendwie zu dem Altar gehört.
Beim Weitergehen höre ich Kommentare der Passanten zu dem einen oder anderen Altar. Der sei gut, beim dem würde noch was fehlen, der da sei aber gar nicht gelungen.
Ich komme an einem vorbei, bei dem die Madonna auf einem Flugzeug der nicaraguanischen Fluglinie steht!
Überall am Rande der Hauptstraße und auf den Plätzen große metallene Konstruktionen, stilisierte Bäume, mal in der einen, mal in der anderen Farbe. Das ist, wie Claudio mir erklärt hat, der Árbol de la Vida, ein von den Sandinisten kreiertes Symbol, das überall vertreten ist, sogar auf den Autoschildern. Wenn man am Flughafen von Managua landet, stößt man zu seiner Überraschung als erstes auf ein ganzes Spalier dieser Bäume.
Der Weg zieht sich hin, immer an der Hauptstraße entlang. Das Wetter ist unangenehm geworden. Wind und Wolken beherrschen das Wetter. Die sonnigen Tage von León sind vorbei.
An einer Trinkhalle kaufe ich eine Flasche Wasser, muss aber die Verkäuferin bitten, sie für mich zu öffnen. Sie schafft es, sie hat mehr Kräfte.
Dann geht es steil eine Straße rauf. Rechts und links Schautafeln, die die Geschichte und die Aufgaben der nicaraguanischen Armee schildern. Hier oben befindet sich der Generalstab.
Oben angekommen, gehe ich ein paar Stufen hoch, werde aber von den wachhabenden Soldaten zurückgepfiffen. Verboten. Zur Lagune geht es links lang.
Hier muss man sogar Eintritt zahlen. Einen Dollar. Geht aber auch in Córdoba.
Mühsam geht es den Weg weiter rauf. Von oben sieht man dann endlich die Lagune. Hübsch, mit einem künstlichen Wasserfall am Rand und einem Wasserstrahl in der Mitte, aber mehr auch nicht. Habe ich mir mehr von versprochen. Es gibt kein Ufer, da alle Seiten dicht bewachsen sind, und man kann nur in die Lagune runtergucken.
Es gibt hier oben aber ein kleines Café, das außerdem ein WC hat. Nach einer kurzen Pause gehe ich wieder in die Stadt runter.
An einer der großen Rotonden stehe ich neben einer Frau mit Krückstock. Wir versuchen, die Straße zu überqueren. Sie schafft es vor mir.
Ich widerstehe der Versuchung, in dem großen Lokal an der Rotonde einzukehren, und auch das Lokal, wo ich dieser Tage kein Frühstück bekommen habe, lasse ich links liegen und schleppe meine müden Beine noch bis zu dem See. Hier soll es links eine ganze Reihe guter Lokale geben, laut Claudio. Davon ist erst mal nichts zu sehen. Dann komme ich zu einer geschlossenen Anlage, nach Salvador Allende benannt und mit einem Zitat von ihm am Eingang versehen.
Eine äußerst freundliche und außerdem auch noch attraktive Polizistin fragt mich uncharmanterweise nach meinem Alter. Ja, wenn das so sei, dann komme ich umsonst rein. Ja, Lokale hätten sie, einen ganzen Kilometer voller Lokale.
Ich nehme das erste beste, Lakun Payaska, sicher ein indianischer Name. In dem großen Lokal ist nur ein Tisch besetzt. Man kann sich nach draußen setzen, direkt an den See. Hier kommt man sich jetzt, besonders, weil es so windig ist, wie am Meer vor.
Das ist alles sehr schön. Nur störend finde ich die englische Musik, in Endlosschleife: Madonna, Elton John, „Life is live.“
Eine Stadt direkt an einem See, das klingt doch gut. Ja, hat Claudio gesagt, aber der See sei völlig verseucht. Er erwähnt Deutschland in dem Zusammenhang. Von dort komme Geld und Know-how für die Bereinigung von Gewässern.
Auf das Essen, Hahn in Weinsoße, müsse ich 25-30 Minuten warten. Kein Problem. Das Essen ist ausgezeichnet, aber teuer. Und die Preise sind ohne Mehrwertsteuer und ohne Trinkgeld angegeben, das dann aber ungefragt auf der Rechnung erscheint.
Während ich auf das Essen warte, erinnere ich mich an das Gespräch mit Claudio über den Kanal heute Morgen. Nicaragua habe als Alternative zu Panama zur Diskussion gestanden für den Bau des Kanals. Da kann ich meinen Helden Alexander von Humboldt ins Spiel bringen, der schon im 19. Jahrhundert den Bau eines solchen Kanals und sowohl Nicaragua als auch Panama als geeignete Orte vorgeschlagen habe. Claudio weiß nicht, wer Humboldt ist, aber er weiß, dass es hier ein Humboldt-Gymnasium gibt. Ich kann auch auf gut informierte Mitglieder aus meiner Familie verweisen, die von den Nicaragua-Plänen wissen.
Jedenfalls erzählt Claudio, es habe vor einigen Jahren eine Initiative eines chinesischen Geschäftsmanns gegeben, der großspurig ankündigte, den Bau des Kanals hier in Nicaragua in Angriff nehmen zu wollen. Er rückte mit zwei Traktoren an, um den Bau zu beginnen. Das Ganze entpuppte sich als ein purer Werbegag. Jetzt gebe es aber echtes Interesse von Seiten der chinesischen Regierung. Man wollte ursprünglich den Kanal durch den Lago Xolotlán, also diesen hier, den Lago de Managua, führen, aber der sei nicht tief genug. Jetzt wolle man sogar den Lago Cocibolka, oft einfach Lago de Nicaragua genannt, in Erwägung ziehen, aber dagegen rege sich Widerstand. Der Lago sei Teil eines Naturschutzgebiets und gehöre in seiner unberührten Form mit seinen Inseln und Vulkanen ganz und gar zum Selbstverständnis der Nicaraguaner. Claudio selbst hält die Idee für ziemlich verrückt, sie setzte nur auf zukünftigen Profit und vernachlässige soziale und ethnische Gesichtspunkte. Auch würden die Chinesen sich für die ersten 100 Jahre die Rechte über den Kanal sichern.
Auf dem Rückweg trete ich in Verhandlungen über den Fahrpreis mit einem Taxifahrer. Ich nenne den Preis, den ich auf der Hinfahrt bezahlt habe. Ja, sagt er, das seien taxeros, keine taxistas, junge Leute, die keine Ahnung hätten. Er sei seit 25 Jahren im Geschäft. Er stammt eigentlich aus León, lebt aber schon sein halbes Leben hier.
Er drückt auf die Tube, das Auto dröhnt, der Auspuff scheint kaputt zu sein. Dann kommen wir in eine Polizeikontrolle. Ausweise und Bescheinigungen werden verlangt, und während der Taxifahrer nach ihnen sucht, hört er nicht auf, zu schimpfen. Seit fünf Jahren sei er nicht mehr angehalten worden, was das denn solle. Es ist aber alles in Ordnung, und wir dürfen weiterfahren.
„Fünf Jahre!“, sagt er noch mal, als wir weiterfahren. Dann nehmen wir unser Gespräch wieder auf. Nach Granada wolle ich? Da sei alles doppelt so teuer wie hier. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Claudio mir gesagt hat. Das verrate ich ihm aber nicht. Als wir am Ziel ankommen, hat ihn unsere Unterhaltung ganz freundlich gestimmt.
Am Abend, als ich draußen in der Dunkelheit unter dem Wellblechdach sitze, fängt es an zu regnen, nicht heftig, aber in dicken Tropfen. Die Luft wird schlagartig besser.
3. Dezember (Dienstag)
Inzwischen ist Alice eingetroffen, Claudios englische Freundin, aus Salisbury. Sie wirkt erstaunlich frisch nach einem dreißigstündigen Flug und einer Zeitumstellung von sechs Stunden. Alle drängen sie, Spanisch zu sprechen, aber das ist leichter gesagt als getan. Sie hat Kenntnisse, landet aber jetzt plötzlich in einem authentischen Umfeld, und am ersten Tag ist es noch schlimmer. Sie bleibt aber gleich drei Monate und wird hier auch einen Sprachkurs machen.
Sie ist schon mal hier gewesen und hat bei der Gelegenheit Claudio kennengelernt. Vorher war sie auch in Guatemala und Honduras. Besonders habe Antigua ihr gefallen. Sie kennt auch Cahuita, eins meiner zukünftigen Reiseziele, und ist davon genauso angetan wie Claudio. Beide bestätigen, dass in Costa Rica der Nachweis der Ausreise bei der Einreise besonders streng geprüft werde. Das ist mein Zeichen für den Aufbruch.
Der Taxifahrer kennt die Adresse, und ich habe zur Sicherheit einen Screenshot von der Internetseite gemacht. Für Nicaragua empfiehlt er mir besonders die Isla de Ometeque und San Juan de Dios. Da scheint allgemeine Übereinstimmung zu herrschen. Ob ich Tica sei, will er wissen. Nein. Und dann kommt wieder „Alemaaania.“
Als wir ankommen, lasse ich ihn nicht fahren, sondern frage erst, ob ich richtig bin. Ein ziemlich begriffsstutziger Polizist vor dem Eingang versteht meine Frage nicht, ob man hier Fahrkarten kaufen kann. Später versteht er auch nicht, was Öffnungszeiten bedeutet. Eine Passantin hilft weiter. Bin richtig hier.
Obwohl wir nur fünf Kunden sind und es drei Schalter gibt, geht es einfach nicht weiter. Zwischendurch kommt ein freundlicher Mann aus einem Büro und fragt mich, ob er mir helfen könne. Ja, ich wollte im Internet eine Fahrkarte nach David buchen, aber es funktioniert nicht, obwohl überall steht, dass Ticabus von San José nach David fahre. Ja, das stimmt auch, nur heißt David im Internet nicht David. Wie genau es heißt, das wisse er auch nicht.
Als ich endlich dran bin, dauert es was, weil ich das Mädchen hinter dem Schalter nicht verstehe und sie mich nicht. Dann haben wir endlich alles geklärt, und sie fragt nach meinem Reisepass. Reisepass? Um eine Busfahrkarte zu buchen? Ja, unerlässlich.
Resigniert suche ich ein Taxi und lasse mich zum Metrocentro fahren. Der Fahrer will wissen, was mein nächstes Reiseziel in Nicaragua sei. Granada. Da könne er mich hinfahren. 40 Dollar. Ich lehne dankend ab.
In dem Einkaufszentrum, gesichtslos, aber sauber wie alle Einkaufszentren, gibt es immerhin eine Apotheke und einen Supermarkt. Das Mädchen am Kühlregal will mit mir und meinem Joghurt ein Photo machen, als Arbeitsnachweis für ihren Chef.
Die Suche nach Ansichtskarten verläuft auch hier im Sande. Ich werde in eine Buchhandlung geschickt, aber auch die haben nichts.
Also geht es wieder zurück zur Unterkunft. Dieser Taxifahrer erzählt mir, er sei inzwischen 50 und noch nie im Ausland gewesen, nicht einmal in Honduras oder Costa Rica, und das, obwohl sein Bruder in San José lebe. Es habe sich noch nie eine Gelegenheit ergeben.
Zu Hause nehmen mich Isabel und zwei Frauen, die mit der Kakaoproduktion beschäftigt sind und gerade Pause machen, ins Kreuzverhör: Heimatland, Ehefrau, Kinder, Spanisch, Reise. Zwei von ihnen kommen aus León und freuen sich, dass ich dort gewesen bin, alle haben Kinder, Isabel hat neun und, wie sie stolz ergänzt, schon viele Enkel und Urenkel.
Sie wundern sich, dass ich alles verstehe, und klagen über Alice. Die verstehe ja fast nichts. Ich versuche, eine Lanze für sie zu brechen, das sei ganz normal am Anfang. Ja, aber sie sei doch jetzt schon zum zweiten Mal hier, meinen sie.
Ich steige wieder mal in ein Taxi und fahre wieder zurück. Diesmal geht alles glatt, aber die Frau hinter dem Schalter fragt ihren Kollegen, was für eine Nationalität das denn da sei in meinem Reisepass. Sie hat sich nicht getraut, mich zu fragen.
Die Fahrkarte ist richtig teuer. Es gibt ein zweites Unternehmen, das die Fahrt viel billiger anbietet, aber deren Fahrkarten kann man hier nicht kaufen und online auch nicht.
Als ich rauskomme, spricht mich gleich ein Taxifahrer an. Wohin ich denn wolle. Zum Museum mit den Fußstapfen, dem Museo Arqueológico Huellas de Acahualinca. Ich wüsste aber nicht, ob das geöffnet ist. Ja, ist es, auf jeden Fall, versichert er mir. Er will 10 $, also 360 Córdoba. Ich lehne dankend ab. Ein Taxifahrer auf der anderen Straßenseite verlangt 150, einer, der gerade Gäste hier absetzt, 100. Der bekommt den Zuschlag.
Unterwegs fährt er auf einmal rechts ran, reicht etwas durch die Scheibe, das ein junger Mann annimmt und fährt weiter. Das war eine Guave, eine guayaba, für seinen Sohn. Der betreibt hier am Straßenrand einen Imbissstand.
Es geht in ein richtig schäbiges Viertel, und da, wo ein Gitter ist, würde man kaum ein Museum vermuten. Auch das Gelände des Museums, das man durch das Gitter sehen kann, sieht nicht gerade einladend aus. Es regt sich keiner aufs Rufen hin und auch nicht, als ich an dem Gitter rüttele. Scheint geschlossen zu sein. Sie haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, ein Schild hinzuhängen.
Auch wenn Claudio gesagt hat, dies sei nicht das große Highlight, hätte ich es mir gerne angesehen, einfach, weil es so ungewöhnlich ist. Hier haben sich Fußabdrücke von Menschen – Männern, Frauen und Kindern – und Tieren – Waschbären, Rehwild, Vögel, Opossums – erhalten, die 6.000 bis 8.000 Jahre alt sind. Die Fußabdrücke sind im Schlamm hinterlassen worden und haben sich fossilisiert. Man hat lange angenommen, Menschen wie Tiere seien vor einem Vulkanausbruch auf der Flucht gewesen, aber Archäologen haben wohl herausgefunden, dass sie sich nicht in Eile befanden.
Der Taxifahrer hat auf mich gewartet und bringt mich nach Hause zurück. Das ist jetzt meine fünfte Taxifahrt heute.
Ich mache mich sofort auf die Suche nach La Ventecita, einem von Claudio empfohlenen Lokal ganz in der Nähe. Hier gibt es tatsächlich nacatamales, das Nationalgericht Nicaraguas, und zwar, wie ein großes Werbebanner verkündet, täglich. Man sitzt draußen am Straßenrand unter großen Sonnenschirmen, drinnen gibt es vermutlich gar keine Plätze. Neben mir ein Stammtisch mit vier biertrinkenden Männern, die sich gegenseitig an Lautstärke zu überbieten versuchen.
Sofort erscheint eine freundliche Kellnerin und bringt mir einen Teller. Die Bananenblätter, in denen das Gericht gedünstet wird, sind aufgeschlagen, und darin befinden kleine Stücke Schweinefleisch, in einer Masse aus Kartoffelstampf, das aber ganz anders schmeckt als unser Kartoffelpüree. Sehr lecker, würzig, mit ganz intensivem Geschmack. Ein einfaches, aber schmackhaftes Gericht. Für mich nicht ganz neu, weil ich tamales von früheren Reisen kenne, aber dort war es Reis statt Kartoffeln und geröstet statt gedünstet.
Später laden mich Claudio und Alice zu einer Tasse Tee ein. Sie sind heute in Sachen Schokolade unterwegs gewesen. Sie will voll ins Kaffeegeschäft einsteigen und Claudios Kaffee demnächst in England vertreiben. Jetzt ist sie hier, um von der Pieke auf die verschiedenen Schritte bei der Produktion kennenzulernen. Bis vor einem Monat hat sie in einem Rechtsanwaltsbüro gearbeitet. Eine ordentliche Umstellung, die ihr bevorsteht.
Am Abend kommt Margarita mit Enrique zurück. Sie muss ihn stützen. Sie kommen von einer Untersuchung aus dem Krankenhaus. Aber es ist Gott sei Dank nichts passiert, wie ich schon befürchtet habe.
4. Dezember (Donnerstag)
Am Morgen bietet mir Claudio zum Kaffee einen seiner selbstgemachten Kekse an. Etwas unansehnlich und unten leicht verbrannt. Aber er schmeckt phantastisch! Das zahlt sich der selbstgemachte Kakao aus.
Margarita erzählt die Krankengeschichte von Enrique. Er hat schon lange ein Nierenleiden, jetzt kommt noch ein Herzleiden dazu. Gestern waren sie zu einer längeren Untersuchung in der Klinik, einer Voruntersuchung, bei der es darum geht, ob eine Operation durchgeführt werden kann. Heute haben sie einen weiteren Arzttermin, das ist eine monatliche Routineuntersuchung wegen der Niere.
Sie meint, ich solle ihn überzeugen, in Rente zu gehen. Ich sei doch ein gutes Beispiel, dass man dann nicht in Langeweile verfällt. Und er habe so viele Kenntnisse, die er auch außerhalb des Berufs anwenden könnte.
In der Zwischenzeit serviert mir Isabel eine Tasse mit heißem Wasser, mit zerriebenem Ingwer, ausgedrückten Zitronen und Honig.
Margarita erzählt von ihrer eigenen beruflichen Situation vor einigen Jahren. Sie stand vor der schwierigen Entscheidung, ihre sichere Stellung aufzugeben, um ein Angebot eines US-amerikanischen Unternehmens anzunehmen, das sich mit seinem nicaraguanischen Mitarbeiter überworfen hatte. Bei dieser Stelle würde sie 6.000 $ im Monat verdienen, nicht nur für einen Nicaraguaner eine stolzes Gehalt. Nur würde der Vertrag zunächst nur über ein Jahr laufen. Sie nahm an, und nach einem Jahr wurde der Vertrag um ein Jahr verlängert, und dann noch einmal um ein Jahr. In der Zeit hat sie sicher einiges Geld zurücklegen können.
Sie spricht genauso gerne und genauso viel wie ihr Sohn und erzählt auch noch von dem Plan, das Haus aufzustocken und für weiteren Mietraum zu sorgen. Sie hatte an der Ausschreibung eines US-amerikanischen Konzerns teilgenommen und wegen der guten Begründung des Vorhabens den Zuschlag bekommen. Dann habe sie lange gezögert, sagt sie. Sie schildert im Detail die Konditionen, davon verstehe ich nur, dass das alles sehr kompliziert war. Am Ende hat sie das Vorhaben gestoppt, sehr zur Verärgerung der US-amerikanischen Seite. Enriques Warnung hatte die Waagschale zum Ausschlag gebracht. Man solle auf keinen Fall den Verlust des Hauses als Risiko in Kauf nehmen.
Nochmal versucht sie, mir das Unterrichten in Managua schmackhaft zu machen. Sie habe hier einen freien Raum, den könne man als Unterrichtsraum benutzen. Oder, noch besser, sie habe ein weiteres, leerstehendes Haus hier in Managua. Sie meint es ernst. Die Nachfrage sei riesengroß, vor allem in der Ferienzeit, im Dezember und Januar. Und die Eltern seien bereit, gutes Geld zu zahlen und wollten außerdem ihre Kinder in den Ferien beschäftigt sehen. Der Schulunterricht tauge nichts, aber es gebe eine Akademie, die gegen gutes Geld guten Unterricht anbiete. Dahin könne sie mich mitnehmen, damit ich mir das mal ansehe. Da würden 30 Schüler unterschiedlicher Stufen gleichzeitig unterrichtet, Kinder und Erwachsene gemeinsam, und das funktioniere sehr gut. Sie würden vom Lehrer, aber auch voneinander lernen. So richtig vorstellen kann ich mir das nicht, aber es hört sich interessant an. Meine Einwände, nämlich, dass das nicht meine Unterrichtsmethode sei und dass ich mich mit internetbasiertem Lernen nicht auskenne, lässt sie nicht gelten. Das werde man alles hinbekommen.
Ich mache mich auf den Weg zur Reinigung und dann zu dem von Margarita empfohlenen Supermarkt La Unión. Der ist sehr gut ausgestattet, nur die Schreibwarenabteilung ist etwas mickrig. Der Kuli aus dem Adventskalender gibt allmählich seinen Geist auf und die Notizhefte gehen zu Neige.
Draußen gibt es Werbung für Macron. Die sieht man hier überall. Was das ist? Keine Ahnung. Scheint Outfit für Sportler zu sein.
Am Abend gehe ich noch einmal zur Ventecita, aber es ist eine große Enttäuschung. Das Essen ist schlecht, und die Kellnerinnen gehen mir auf die Nerven mit ihrem ständigen Abkassieren. Die eine weiß nicht, was die andere macht.
Auf dem Rückweg, gedankenverloren, verlaufe ich mich, irre etwas in der Gegend herum und komme dann wieder zur Ventecita. Auf dem Weg bin ich an einem Juweliergeschäft vorbeigekommen, in einem sehr schmucken Haus untergebracht. Wie kommen die wohl an Kundschaft in diesem abgelegenen Viertel?
5. Dezember (Freitag)
Alexander von Humboldt hat mindestens fünf Vorschläge für den Bau eines transozeanischen Kanals gemacht. Sein Favorit war Nicaragua, obwohl er die vielen Vulkane als Hindernis sah, von Panama hielt er am wenigsten. Wie immer, war er sehr gründlich in seinen Erkundigungen, musste sich aber auf fremde Quellen verlassen, weil er selbst nie hier in der Gegend war. Dass Panama so schlecht bei ihm wegkam, lag daran, dass die Karten, die ihm zur Verfügung standen, die Berge Panamas dreimal höher einschätzten als sie waren. Dennoch sollte er Recht behalten. Die Berge, auch wenn nicht so hoch waren wie von ihm veranschlagt, waren tatsächlich ein großes Hindernis beim Bau des Kanals. Die Franzosen mussten aufgeben, nachdem sie 300 Millionen Dollar und Tausende von Leben geopfert hatten. Da Panama keinen See hatte, musste der Chagres zu einem werden. Der so kreierte See überflutete Hunderte von Quadratkilometern tropischen Regenwaldes. Dazu kommt, dass bis heute der eigentliche Kanal, zu beiden Seiten des Sees, ständig von Sedimenten und Steinen freigeräumt werden muss. Zweimal so viel Material ist seit dem Bau des Kanals freigelegt worden wie für den Kanal! In Nicaragua wollte Humboldt den Nicaragua-See ausnutzen sowie einen Fluss auf der Atlantik-Seite, der in den See mündete. Auf der anderen Seite vermutete man auch einen Fluss, aber genaue geographische Kenntnisse fehlten. Der Nicaragua-Kanal hätte auch größeren Schiffen die Durchfahrt erlaubt als der Panama-Kanal. Das ist heute ja immer wieder ein Thema. Trotzdem: Wenn Humboldt heute lebte, würde er vermutlich von diesem Projekt absehen, denn ökologische und soziale Faktoren waren für ihn auch immer von Bedeutung, und ein Kanal durch den Nicaragua-See würde einen Naturpark und viele gewachsene Strukturen zerstören.
Das ist alles auch deshalb von Interesse, weil es heute nach Granada geht, und das liegt direkt an besagtem See, dem Lago de Nicaragua.
Für unterwegs gibt es noch mal ein besonders reichhaltiges Frühstück: Gallo Pinto, gebratene Tomaten, frittierter Käse, Rührei und dazu ein leckeres dunkles Brot mit Mandeln und Nüssen, wohl auch aus eigener Produktion.
Die Frau, die bei der Schokoladen- und Kaffeeproduktion tätig ist, erlaubt mir, ein Photo von ihr zu machen in dem Zimmer, in dem die verschiedenen Apparate stehen. Kein sehr großer Raum, aber offensichtlich genug für beide Prozesse. Jeder erfordert drei Apparate.
Sie arbeitet erst sechs Monate hier, macht aber die ganze Arbeit schon sehr selbständig. Claudio und Alice sind den ganzen Tag unterwegs.
Es ist die erste Arbeitsstelle ihres Lebens, vertraut sie mir an. Sie befinde sich in einer seelischen Krise, nachdem ihr Ehemann sie nach 28 Jahren verlassen hat. Sie braucht einen Psychologen, aber der kostet 50 $ pro Monat, und die kann sie sich nicht leisten. Ihre Tochter, unverheiratet, lebt bei ihr. Diese Tochter ist auch Religionslehrerin, an derselben Schule wie die Tochter des Hauses hier.
Dann tauchen auf einmal zwei Personen auf, die ich noch nie gesehen habe, ein Paar, ein Deutscher und eine Engländerin. Sie sind gerade am Tag davor angekommen und bleiben zwei Monate in Nicaragua.
Er spricht ganz gut Spanisch, hat es in Sprachkursen und dann in Mexiko gelernt. Will jetzt auch Portugiesisch lernen, nachdem er in Portugal das Gefühl hatte, dass ihm was fehlte.
Sie spricht phantastisch Deutsch, versteht alles, kann alles ausdrücken, macht so gut wie keine Fehler, und bei der Aussprache merkt man nur ganz gelegentlich einen leichten englischen Akzent. Ihre Mutter ist Deutsche, ist aber mit ihr nach London gezogen, als sie drei Jahre alt war. Von da an lag der Schwerpunkt auf Englisch. Sie lerne Deutsch „rückwärts“, wie sie sagt, sie habe sich nie um Grammatik gekümmert, tue das aber jetzt.
Margarita und Enrique sind zu einem Arzttermin und Claudio und Alice sind in Sachen Kaffee unterwegs, also verabschiede ich mich nur bei Isabel und den beiden netten Frauen aus der Kaffeeproduktion.
Mit einem Taxi geht es zum Busbahnhof. Der Taxifahrer hält zu Barça und will wissen, ob ich zu Bayern halte. Ich kann die Frage entschieden verneinen und mit Freude berichten, dass die gestern aus dem Pokal geflogen sind.
Der Bus nach Granada steht schon bereit unter vielen anderen Bussen, und ehe ich mich‘s versehe, hat sich schon jemand meines Koffers angenommen. Erst steht der im Gang herum, dann verschwindet er irgendwann im Gepäckraum.
Es ist ein Festival der Schirmmützen, jeder zweiter Mann trägt eine, alle Varianten sind vertreten: Schirm nach vorne, nach hinten, zur Seite und schräg nach hinten.
Nach bewährtem Rezept wird der Bus vollgeladen, bis er aus allen Nähten platzt. Der schwergewichtige Beifahrer ruft schon vor der Ankunft an Haltestellen die Stationen aus: „Masaya, Granaaada, Masaaaaya.“
Der Fahrer ist aufmerksam. Er bietet der attraktivsten Frau des Busses, die mit kurzem, enganliegendem, schulterlosem Kleid erscheint, den ausklappbaren Sitz neben sich an.
Vor uns bremst ein Taxi unvermittelt, und wir müssen eine Vollbremsung vornehmen. Noch mal gut gegangen. Der Fahrer bleibt auf der Höhe des parkenden Taxis stehen, so dass der Beifahrer durch die geöffnete Tür auf den Taxifahrer eine Schimpfkanonade herunterprasseln lassen kann, von der ich nur puta verstehe.
Die Fahrt zieht sich länger hin als gedacht. Aus dem Lautsprecher kommt Juanes: „Oootra, oootra nocheee, otraaa.“
Allmählich leert sich der Bus, und als es in die Altstadt von Granada geht, sind nur noch ganz wenige an Bord. Man sieht auf den ersten Blick, warum Granada so einen guten Ruf hat.
Ich soll an der Iglesia de la Merced aussteigen, aber da fährt der Bus gar nicht vorbei. Ich werde irgendwo am Stadtrand rausgelassen. Mal wird mir empfohlen, ein Taxi zu nehmen, mal heißt es, man könne zu Fuß gehen. Die Menschen sind äußerst freundlich, bieten spontan ihre Hilfe an, bevor man sie gefragt hat. So auch ein ganz freundliches Ehepaar, als ich an der Merced angekommen bin. Ich bin auf der richtigen Straße, sagen sie mir, eine Hausnummer hat die Unterkunft nicht. Dafür aber einen Namen, Gallo Pinto, aber der steht an keinem Haus. Das Ehepaar sagt ganz entsetzt, das Gallo Pinto sei geschlossen, schon seit geraumer Zeit, aber es stellt sich heraus, dass sie ein Lokal dieses Namens meinen. Dann hilft ein Mann aus der Kabine seines Lieferwagens heraus, und dann stehe ich vor der Haustür, und wieder steht das Ehepaar an meiner Seite. Ja, ihnen sei eingefallen, hier sei das. Sie finden auch die Klingel für mich.
Benjamin, der deutsche Mann der Vermieterin, öffnet und führt mich durch die Unterkunft. Der Innenhof ist sehr schön, das Bett hat ein Moskitonetz, die gemeinsam genutzte Küche sieht sauber aus, aber WC und Dusche sind nicht ans Zimmer angeschlossen. Das ist nachts etwas blöd, man muss das Zimmer immer mit einem Vorhängeschloss schließen.
Benjamin und seine Frau, Lorena, wohnen nicht hier, aber in der Nähe und sind jederzeit erreichbar. Sie können auch Tagestouren buchen.
Gemeinsam mit Benjamin probiere ich die Schlüssel für die Außentür aus. Für uns beide geht es ganz gegen die Intuition: Man schließt nach links ab, nach rechts auf.
Später mache ich einen Spaziergang in die Stadt und kann feststellen, dass der Weg ins Zentrum viel kürzer ist, als man nach der Route des Busses hätte annehmen können.
Mehr als einmal habe ich schon gehört, dass Granada einen an Antigua erinnere, und genau das ist der erste Gedanke, der aufkommt, wenn man am Parque Central anlangt.
Von hier aus stürze ich mich in die Seitenstraßen, und von einem auf den anderen Moment wird es so, wie es immer hier wird: laut, bunt, eng. Es kommen haufenweise Bekleidungsgeschäfte, Apotheken, Handy-Läden, Billigläden. Motorräder, Radfahrer und Taxis zwingen sich zwischen den Verkaufsständen her, die die ganzen Bürgersteige, sofern es welche gibt, einnehmen.
Dann komme ich in unverhofft in ein ruhigeres Viertel, hier werden Baustoffe verkauft. Als ich die Suche längst aufgegeben habe, stehe ich plötzlich vor einem Schreibwarengeschäft, fensterlos und schlauchartig, wie praktisch alle Geschäfte hier. Es ist ein Volltreffer: Man hat alles, was das Herz begehrt und ist außerdem noch sehr freundlich. Alles gibt es zu einem Spottpreis. Die Verkäuferin wundert sich über meinen Akzent. Und erklärt mir den Weg zum Supermarkt.
Der ist ziemlich finster, hat aber das, was ich suche. Die Kassiererin nimmt mir ein paar der Münzen ab, die sich inzwischen in meinem Portemonnaie angesammelt haben.
Ich kann schnell die Sachen zu Hause deponieren und gehe dann in einen der typischen überteuerten Läden, wo man Kaffee zu hohen Preisen in Plastikbechern bekommt, ohne am Tisch bedient zu werden. Egal, ich bestelle einen Eiscafé. Hat mit unserem nicht zu tun. Es ist einfach kalter Kaffee mit Eiswürfeln. Ist mir aber jetzt echt willkommen. Dem Kassierer halte ich mein Portemonnaie hin, damit er sich an den Münzen bedient. Er fordert mich auf, alle Münzen in seine Hand zu schütten und sagt dann: Stimmt so. Wie? Ganz genau? Entweder geht es hier nicht mit rechten Dingen zu oder ist ein unglaublicher Zufall, dass mein Münzgeld ganz genau dem Betrag entspricht, den ich zahlen muss. Jetzt habe ich keine einzige Münze mehr.
Ich folge Benjamins Empfehlung und steige auf den Turm der Iglesia de la Merced. Eine steile, enge Wendeltreppe, mit Gegenverkehr, führt nach oben, auf den Glockenturm.
Von hier aus hat man zu zwei Seiten einen wunderbaren Ausblick, nach Westen, mit dem sich verfärbenden Himmel und einer Kuppel der Kirche, und nach Osten, wo der Himmel noch blau ist und man auf die Kuppeln der Kathedrale sieht.
Man kann noch höher steigen, aber ich lasse es dabei bewenden.
Am Abend kommt Benjamin noch mal wieder, mit Familie, um nach dem Rechten zu sehen. Ich frage ihn nach dem Radverleih, der hier angeboten wird, aber er winkt ab: Von dem Radverleih werde kaum Gebrauch gemacht, man könne sich in der Stadt bewegen oder bis zur Lagune fahren, aber eben immer auf den normalen Straßen, ausgebaute Radwege gebe es nicht. Man sieht zwar erstaunlich viele Radfahrer hier in der Stadt – grundsätzlich ohne Licht – aber die benutzen das Rad nicht als Freizeitgerät, sondern als Verkehrsmittel.
Das Mädchen, das er auf den Armen trägt, ist seine Tochter, das Teenager-Mädchen, das immer bei ihnen ist, ist eine Nichte. Das Mädchen auf dem Arm ist ein Kölsches Mädchen, geboren während der Jahre, wo sie in Köln gewohnt haben. Erst kürzlich haben sie Nicaragua als festen Wohnsitz auserkoren – vorläufig. Er selbst hat als Student ein Freiwilligenjahr in Nicaragua gemacht und später seine Doktorarbeit in der Anthropologie über Nicaragua geschrieben, über Kleinkredite, mit besonderer Berücksichtigung der Taxifahrer!
6. Dezember (Freitag)
Robert Louis Stevenson hatte von Kind auf eine schwache gesundheitliche Konstitution und litt unter Atembeschwerden. Deshalb verließ er so oft er konnte das nasskalte Schottland und fuhr nach Südfrankreich. Dort lernte er eine verheiratete Frau mit zwei Kindern kennen. Sie ließ sich scheiden, sie heirateten und er nahm die Kinder an. Da es gesundheitlich weiter bergab ging, heuerte er einen Schoner an und ging mit der Familie auf Südseereise. Am Ende blieb er in Samoa hängen. Dort erwarb er eine Plantage und lebte fortan dort mit seiner Familie und einem ganzen Clan. Eines Tages, als die Stimmung nicht so gut war, sagte er zu seiner Frau, er wolle eben runter gehen und eine Flasche Burgunder holen. Er sah sie an und fragte: „Do I look strange?“ Dann brach er zusammen und verstarb. Er wurde nur 34 Jahre alt.
Jessy aus San Salvador schreibt mir von einem Fall, den sie medizinisch begutachten musste. Ein 72-jähriger Mann, der gerade von seiner eigenen Geburtstagsfeier zurückkam, erlitt am Steuer einen Zusammenbruch und starb noch an Ort und Stelle.
Die ganze Nacht hat es geregnet. Am Morgen ist es schön, bei der klaren Luft im Innenhof zu sitzen und durch die Palmen hindurch zu beobachten, wie es Tag wird.
Nachts muss man aufpassen, dass man nicht auf die Katzen tritt und dass die einen nicht erschrecken, wenn sie einem um die Füße streichen. Sie verfolgen einen überall hin, sogar aufs Bad.
In einem winzigen Imbiss mit gerade mal drei Tischen bekomme ich ein einfaches Frühstück. Außer mir ist nur noch ein weiterer Mann im Raum. Er spricht ununterbrochen, mit durchdringender Stimme, auf die Frau hinter der Theke ein. Er trägt eine kurze Hose, ungewöhnlich für einen Latino.
Die Kellnerin antwortet ausführlich auf meine Frage nach dem Frühstücksangebot. Dabei sagt sie irgendwann „Es bien“. Meine ich jedenfalls gehört zu haben. Kann das sein? Oder habe ich mich einfach verhört? Nein, habe ich nicht. Es kommt noch zweimal: „¿Es bien con pan?“ Und: „¿Es bien sin azúcar?“. Das gibt es doch nicht! Ob man das in irgendeiner Grammatik findet? Die meisten Spanischlehrer würden es als Fehler anstreichen, aber hier steht eine lebendige Muttersprachlerin vor mir und gebraucht es mit aller Selbstverständlichkeit. Und: Der Muttersprachler hat immer Recht! Man sollte vorsichtig sein mit seinen Urteilen. Die Sprache hat schier unerschöpfliche Variation. Es gibt viel mehr, als man denkt.
Auf der Speisekarte ist unten der genaue Standort des Lokals verzeichnet: Iglesia de la Merced, 25 varas al lago. Kein Straßenname, stattdessen die Kirche als Orientierungspunkt. Mit Entfernungsangabe: 25 varas. Das ist ein etwas altertümlich anmutendes Längenmaß, eine Elle. Und dann noch mit der Richtungsangabe: al lago – zum See.
Ich gehe zum Parque Central und sehe mich etwas um. Ähnelt tatsächlich dem von Antigua, ist aber größer und weniger geschlossen und hat auch weniger Bogengänge. Ein schönes, elegantes, zweistöckiges Gebäude steht etwas versetzt zum Platz. Was das ist, ist nicht herauszufinden. Nur die Kathedrale kann man auf Anhieb identifizieren. Sie gleicht nicht der Kathedrale von Antigua, sondern der Iglesia de la Merced von Antigua. Später erkenne ich noch das Rathaus: Palacio Municipal. Er hat Schmuck über dem Eingang, ganz oben eine Krone!
In der Mitte des Platzes ein etwas merkwürdiger Brunnen, leider ohne Wasser, mit splitternackten Jünglingen um die Brunnenschale herum. Sie strecken beide Fäuste in die Luft. Etwas halten sie in den Händen. Ein Vögelchen und eine Wasserschale?
Daneben ein etwas süßliches Monument der Mutterliebe, mit entsprechender Inschrift. Eine Mutter hat ein Kind auf dem Schoß, umarmt das andere, das neben ihr steht.
Ich mache mich auf den Weg zur Casa Museo San Francisco, am Rande der Innenstadt gelegen. Die Kirche, mit weißer Front, ist geschlossen, aber das ehemalige Kloster, jetzt Museum, hat geöffnet. Man zahlt den üblichen Obolus und muss sich in eine Liste eintragen. Vor mir waren Besucher aus Polen hier, davor aus Spanien.
Das Kloster beherbergt quasi mehrere Museen oder Ausstellungen mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten. Los geht es mit einem Loblied auf Granada, und am Ende steht ein leider nicht beschriftetes großes Modell von Granada, bei dem man gut sehen kann, wie die Außenbezirke der Altstadt sehr grün sind, das eigentliche Zentrum nicht.
Granada, erfährt man, sei die älteste europäische Stadt auf dem amerikanischen Festland, habe eine Fläche von 105 Hektar, 1.749 Gebäude, von denen 376 denkmalgeschützt sind und sieben Kirchen, die alle der Jungfrau Maria gewidmet sind!
Im ersten Ausstellungsraum geht es um Volksfrömmigkeit. Anhand von Dioramen werden verschiedene Traditionen dargestellt, ein maritimer Kreuzweg, bei dem ein Kruzifix mit einem Boot von Station zu Station gefahren wird, eine wahre Kreuzfahrt. Dann ein tragbarer Marienaltar und Figuren mit den Masken von Teufeln, Gespenstern, Dämonen, Hexen, Zwergen mit großen Köpfen, Skelette. All die kommen in einer Prozession bei dem Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel, am 15. August, zum Einsatz.
Dann sieht man Jungen mit Pfeifen, die in der Karwoche morgens um 5.30 zum Gottesdienst und zur Novene rufen.
In dem nächsten Raum gibt es naive Malerei zu sehen, eine Stilart, die von den Sandinisten gefördert wurde. Es gibt aber keine Propaganda-Bilder zu sehen, sondern Alltagsszenen. Die Techniken sind so unterschiedlich, wie sie nur sein können. Einige Bilder sehen wie Wimmelbilder aus. Mir gefällt am besten ein Bild von einer ländlichen Szene, mit einem Bauernhaus, einem von Ochsen gezogenen Fuhrwerk, mit einer Frau, die in einer Tonne Wäsche wäscht, mit einem Mühlstein. Es gibt immer neue Details zu entdecken, und dennoch ist das Bild nicht überladen.
In einem Raum ist, als Reverenz für Tischler, Schreiner, Dreher, Holzschnitzer und Korbschnitzer, der Raum einer gutbürgerlichen Familie aus dem 19. Jahrhundert ausgestellt, mit schönen, dunklen Möbeln im Stile Louis XV.: Stühle mit Weidengeflecht als Sitzfläche, mit und ohne Lehne, um einen Tisch herum gruppiert, eine Anrichte, ein Klavier, ein Beistelltischchen, eine Standuhr, drei mit Einlegearbeiten verzierte unterschiedlich große Tischchen, die man ineinander schieben kann.
Ganz ähnlich gibt es etwas zur Stickerei, auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in Granada. Es gibt Blusen, Schürzen, Hemdkragen, Taufkleider, hauchdünne Tuche zum Bedecken von Kinderwägen zu sehen, alles in Weiß. Sieht durch und durch europäisch aus.
Draußen auf einem Hof ist die archäologische Abteilung zu sehen. Es gibt ausschließlich steinerne Skulpturen aus der vorkolumbianischen Zeit zu sehen, stark verwittert. Sie stellen das da, was für die Völker wichtig war: Jaguar, Katze, Schlange, Schildkröte, Adler, Affe. Außer der Reihe ist auch ein Erhängter dabei!
Nach dem Museum gehe ich zum See runter. Wieder Wind und Wolken, aber wenn die Sonne mal durchkommt, knallt sie ganz ordentlich.
Der Weg zum See führt über eine sehr schön angelegte, schnurgerade gepflasterte Fußgängerstraße, mit Mosaiken auf dem Boden. An den Seiten farbig gehaltene einstöckige Häuser und dann zwischendurch in einem prächtigen Haus mit verzierter Fassade ein Hotel der Luxusklasse.
Dann verbreitert sich die Straße. Es wird immer windiger. Wenn man am Seeufer ankommt, hat man noch mehr das Gefühl, am Meer zu sein als in Managua.
Ich gehe zurück, wieder über den immer belebten Parque Central zu Eco, einem von Benjamin empfohlenen Lokal ganz in der Nähe der Unterkunft. Ich bin der erste Gast, aber dann füllt es sich schnell auf.
Hier ist alles gut, das Essen, das Ambiente, die Bedienung, das Bier, sogar saubere Toiletten gibt es, mit Seife, Wasser, Papiertüchern. Das hat seinen Preis.
Schon den ganzen Vormittag über habe ich sehr elegant gekleidete Passanten gesehen, vor allem Frauen. Es scheint wieder ein Fest zu geben, eine graduación, so, wie ich sie schon in León gesehen habe. Die Gäste, die hier hereinkommen, sind alle Festgäste. Das Schulkind, das ich sehe, trägt eine Schuluniform und eine Schärpe. Auch hier ein Mann mit kurzer Hose. Ein anderer Mann entspricht genau meinem Bild von einem Typ Latino. Die Haare, leicht lockig, gegelt, so dass sie wie nass aussehen, streng nach hinten gekämmt, Schmerbauch und eine zu kurze Krawatte.
Am Ausgang sehe ich einen Weihnachtsbaum aus Bierflaschen. Darunter Paulaner und Erdinger. Leider wird das Photo nichts.
Am Abend gehe ich noch mal Richtung Parque Central und gehe an einer Apotheke vorbei. Auf dem Weg sehe ich einen Mann, der sein Auto wäscht, indem er mit einer Schüssel aus einem Eimer Wasser schöpft, das über die Karosserie verteilt und mit den Händen abwischt.
Ein junger Mann schiebt sein Fahrrad, voll beladen, über den Platz. Er hat ein Bündel von Bündeln geladen, lauter Stoffe vermutlich, und das Fahrrad schwankt gefährlich hin und her. Und dann fällt es um. Ich helfe ihm, die Last wieder aufzuheben. Er lächelt und sagt „Thank you.“
Ich gehe ein bisschen spazieren, gucke in die Luft nach den Palmen und dem Himmel und den Türmen und versuche dann, das Photo von gestern Abend, das verschwunden ist, nachzumachen, mit dem wuchtigen steinernen Kreuz im Vordergrund und dem Abendhimmel im Hintergrund, aber es will nicht gelingen.
7. Dezember (Samstag)
Am Morgen kommt Benjamin. Ich habe ihn nach Ausflügen gefragt. Er erkundigt sich bei den Anbietern, gibt Tipps für die Wahl der Wochentage und organisiert einen Fahrer für mich, der die Tour macht, die der Anbieter wegen mangelnder Nachfrage nicht anbietet. Und zu guter Letzt organisiert er auch noch einen Wäsche-Service für mich. Wäsche wird abgeholt und am selben Tag zurückgebracht.
Granada hat eine ganz große Touristenattraktion verloren, erzählt er, vielleicht die Touristenattraktion Nicaraguas, den Vulkan Masaya. Es gebe Touristen, die nur deswegen nach Nicaragua kämen. Sie wollten gleich nach ihrer Ankunft für den nächsten Tag (oder Abend) den Ausflug zum Masaya buchen. Und sind dann enttäuscht, wenn sie erfahren, dass das nicht geht. Früher konnte man bis zu dem Krater fahren und dann in den glühenden Vulkan hineinsehen. Das ist nicht mehr möglich, der Krater ist kollabiert, und der Vulkan setzt jetzt gefährliche Gase frei, die zu einer Eruption führen könnten.
Sie hätten hier monatelang tote Hose gehabt, erzählt Benjamin, mit ganz wenigen Buchungen, jetzt seien sie von Mitte Dezember mit Mitte März so gut wie ausgebucht, 95%.
Ich gehe ein bisschen im Zentrum spazieren. Mir fällt auf, dass viele der historischen Gebäude hier eher italienisch als spanisch aussehen, vor allem wegen der Balkone und der Dachfirste.
Hier im Zentrum werden Touristen in weißen Pferdekutschen durch die Gegend gefahren. Passt irgendwie nicht.
Immer wieder sieht man, wie gefegt und geschrubbt wird, obwohl immer alles achtlos in den Rinnstein geworfen wird.
Unterwegs fährt ein Motorrad an mir vorbei, auf dem der Beifahrer einen Tisch transportiert, auf dem Kopf, mit den Füßen nach oben.
Auf dem Weg zum Museo de Chocolate komme ich an einem Haus vorbei, an dem Museo de Bellas Artes Granada steht. Ich sehe mal vorsichtig rein, denn das Haus selbst ist von Interesse, wie eine Schautafel an der Fassade verrät.
Es ist kein klassisches Museum, aber es ist auch nicht rauszukriegen, was es ist. Vielleicht ein Hotel? In einem der vielen Innenhöfe sitzen ein paar Leute bei einem Cocktail.
Man zahlt keinen Eintritt, kann sich einfach so umsehen. In allen Sälen hängen an allen Wänden Bilder der unterschiedlichsten Art. Einige sehen wie Kopien von Renoir aus, andere schildern ganz schöne Genreszenen: Zwei Frauen beim Weben, eine ältere, eine jüngere, ganz in ihre Arbeit vertieft, ein Schulmädchen über ein Schulheft auf seinem Pult gebeugt, ganz gedankenverloren, ein alter Mann, der reglos in die Gegend sieht.
Die meisten Gemälde sagen mir nichts, am ehesten interessant die ganz modernen, abstrakten, mit hellen Farben gemalten: Flächen, Linien, Punkte, aber nicht streng geometrisch, eher ineinanderlaufend.
Ganz überraschend ist in mehreren Sälen der Tisch gedeckt, mit silbernem Geschirr an langen Tafeln. Man hat nicht das Gefühl, dass jemand zum Essen erwartet wird, es sieht eher museal aus. Aber was hat das dann für eine Funktion?
Das Haus ist, laut Inschrift, das größte von Granada, und das mag man wohl glauben, wenn man immer tiefer in das Haus und in immer neue Säle und Innenhöfe kommt. Und es hat seine historische Bedeutung. Erbaut wurde es um 1865 von einem gewissen Evaristo Carazo Aranda gebaut. Der war Offizier und Präsident von Nicaragua und diente als Oberst im Kampf gegen William Walker. Und der wiederum war eine der merkwürdigsten Gestalten der Geschichte Mittelamerikas. Er war US-Amerikaner, Arzt und Rechtsanwalt, und militanter Anhänger der Theorie, dass die USA das Recht und die Pflicht hätten, sich nicht nur nach Texas und Kalifornien auszudehnen, sondern auch nach Mexiko, Kanada, Kuba und Mittelamerika. Er stürzte sich in Gefechte gegen den rechtmäßigen Präsidenten Nicaraguas, unterstützte die Partei, die den Präsidenten stürzen wollte, und machte sich dann selbst zum Präsidenten Nicaraguas. In Mittelamerika wurden seine Aktionen als imperialistisch verstanden, in den USA wurde er als Held gefeiert. Am Ende formierte sich ein Bündnis aus Guatemala, Honduras und El Salvador, das ihn schließlich in die Knie zwang. Er wurde verurteilt und 1860 von einem Exekutionskommando erschossen.
Meine Suche nach dem Museo de Chocolate gebe ich irgendwann auf. Keiner weiß so richtig, wo es ist, man wird hierher und dahin geschickt, aber das sind alles Geschäfte, die zwar kleine Touren anbieten, aber wohl eher Reibach machen wollen.
Um nicht wieder so viel Geld in einem Lokal zu lassen, gehe ich in einen Laden, um mich mit ein paar Kleinigkeiten zu versorgen, gebe dort aber am Ende genauso viel Geld aus wie gestern im ECO.
Inzwischen ist ein weiterer Benjamin aufgetaucht, ein Schweizer Rucksacktourist, mit seiner Frau im Schlepptau und einer Freundin der Frau. Sie haben in Panama angefangen und arbeiten sich jetzt langsam hoch. Nach Mittelamerika kommen noch Mexiko, die USA und Kanada. Sie lassen sich neun Monate Zeit.
Und dann ist hier noch ein weiteres Paar aufgetaucht. Sie sehen wie Latinos aus, sprechen aber Englisch untereinander. Es stellt sich heraus, dass sie in den USA leben und Latinos der dritten Generation sind. Die Sprache, sagen sie, gehe so langsam verloren, und das wollen sie verhindern. Mit ihren künftigen Kindern wollen sie Spanisch sprechen, aber dafür wollen sie erst einmal ihr Spanisch verbessern. Deshalb haben sie sich hier für einen Spanischkurs angemeldet. Am Montag geht es los. Dabei sprechen sie fließend Spanisch. Aber sie wollen an ihrer Sprachrichtigkeit arbeiten und Grammatik machen. Tatsächlich fehlt ihnen manchmal die eine oder andere Form. Ich finde das eine tolle Aktion, eine bewundernswerte Entscheidung.
8. Dezember (Sonntag)
Seit Tagen wird morgens und abends geböllert. Das scheint aber nicht, wie ich erst dachte, verfrühte Silvesterknallerei zu sein, sondern mit dem heutigen Festtag, dem 8. Dezember, dem Fest der Unbefleckten Empfängnis, zu tun zu haben. Hat wohl fast den Rang von Weihnachten bei uns.
Hier im Innenhof wachsen Bananen, an verschiedenen Stauden mit riesigen Blättern, unterschiedlich reif. An einem Baum wachsen runde, grüne Früchte, die ich nicht identifizieren kann. Maura, die Frau, die hier aufräumt, hilft mir weiter: Es sind Apfelsinen, schon reif, obwohl noch grün. Sie sind nicht zum normalen Verzehr geeignet, sondern kommen in Säften und Speisen zum Einsatz. Wohl so was wie Bitterorangen.
Zum Frühstück gehe ich in die Cueva Nica, einer Pension für Rucksacktouristen mit angeschlossenem Lokal. Hier sieht man lauter blutjunge Leute, alle gertenschlank, die Männer mit entblößtem Oberkörper. Man hört Englisch, Französisch und Deutsch.
Als ich auf das Essen warte, sehe ich plötzlich Ansichtskarten an der Wand. Werden die hier verkauft? Ja, 50 Córdoba pro Stück. Klasse! Nehme ich. Wo ich denn Briefmarken bekommen könne, frage ich. Hier leider nicht. Nur in Managua. Nur in Managua? Ja, in Granada gibt es keine. Aber: Wie soll ich die Ansichtskarte verschicken, wenn ich nicht in Managua bin?
Zu Hause versuche ich, per Internet einen Flug zu buchen. Klappt nicht, auch im dritten Anlauf nicht. Ich frage Benjamin, ob es hier so etwas wie Reisebüros in unserem Sinne gebe. Ja, sagt er, aber nur in Managua.
Daraufhin fülle ich bei der Fluglinie ein ellenlanges Formular aus, das immer wieder wegen unvollständiger Angaben zurückkommt. Am Ende fehlen nur noch die Vorwahl fürs Telefon und die Buchungsnummer, aber in der Auswahl der Vorwahlen ist Deutschland nicht drin und eine Buchungsnummer habe ich nicht.
Die Schweizer sprechen untereinander Schwyzerdütsch, aber die Frau, die mit dem Ehepaar reist, hat überhaupt keinen Schweizer Akzent, wenn sie Hochdeutsch spricht. Ihre Eltern sind Deutsche, stammen aus Thüringen bzw. Brandenburg. Sie sind noch vor dem Mauerfall in die Schweiz übergesiedelt, nachdem ein Kanton die Dienste des Vaters als Krankenpfleger angefragt hatte. Und man hat sie ziehen lassen! Drei Jahre später ist dann die Mauer gefallen.
Heute geht es zu den Isletas. Benjamin hat alles organisiert, und ich werde vor der Haustür abgeholt. Wir sammeln ein britisches Paar ein. Sie, Schottin, mit dem blassesten Teint, den man sich denken kann, er, ganz dunkelhäutig, mit Rastalocken. Sie sind ganz große Wanderer, haben den Camino de Santiago schon zweimal gemacht, in unterschiedlichen Varianten, und haben jetzt in Kolumbien den Camino Real gemacht. Sie waren lange in Kolumbien und Peru. Jetzt stehen ihnen noch zwei Wochen in Costa Rica bevor. Danach ist ihre Amerikareise zu Ende, nach fünf Monaten.
Der Fahrer weiht uns schon ein bisschen ein, worum es sich bei den Inselchen handelt. Es sind Inseln, die durch den Ausbruch des Mombacho vor Tausenden von Jahren auf dem Cocibolca, dem Nicaragua-See, entstanden sind. Es sollen 365 sein.
Wir werden auf ein Motorboot verfrachtet und bekommen Schwimmwesten. Und einen ausgezeichneten Bootsführer. Störend sind nur die drei vorlauten Holländer, die sich auch dann lautstark unterhalten, wenn der Bootsführer spricht.
Der See ist einfach wunderbar. Durch die vielen Inseln ist man nicht mit der Unendlichkeit des Wassers konfrontiert, sondern bekommt immer neue Szenerien geboten. Manchmal hat man das Gefühl, durch einen Fluss zu fahren, manchmal hat man das Gefühl, auf offener See zu sein.
Die ersten Inseln, an denen wir vorbeikommen, sind im Besitz örtlicher Fischer. Aber die sind inzwischen in der Minderheit. 70% der Inseln sind im Besitz wohlhabender Ausländer. Sie kommen meist nur für 1-2 Monate im Jahr und haben eine einheimische Familie, die für den Rest der Zeit nach dem Rechten sieht. Es gibt Inseln ohne Häuser und welche mit Häusern. Man kann auch eine Insel kaufen und dann ein Haus drauf errichten. Wenn man eine kaufen will, muss man zwischen 100.000 $ und 200.000 $ veranschlagen. Auf einigen der Inseln stehen Häuser, die zu protzig für die Gegend sind, aber das sind die Ausnahmen.
Als erstes sehen wir einen am Seeufer stehenden Reiher, der gerade fischt. Fische gibt es reichlich, man kann der Aufzählung gar nicht folgen. Auch Kaimane gibt es und kleinere Haie. Das ist ungewöhnlich, denn der Cocibolca ist ein Süßwassersee, obwohl er durch den Río San Juan mit der Karibik verbunden ist.
Schlangen gibt es auch, darunter die Boa constrictor. Die verspeist am liebsten Vögel.
Dann sehen wir einen ganzen Baum voller Reiher. Fast auf jedem Ast sitzt einer. Sie ziehen sich langsam zum Schlafen zurück.
Dann kommt eine Insel mit Brüllaffen in den Bäumen. Ich bin wieder der letzte, der sie sieht, und der einzige, der seine Kamera nicht rechtzeitig parat hat. Die Brüllaffen leben in großen Gruppen. Sie brüllen vorzugsweise am Morgen. Nur die Männchen brüllen. Sie verteidigen ihr Revier.
In der Ferne sehen wir einen Vogel, der sich ausschließlich durch Schnecken ernährt. Und dann gleich vor uns einen Vogel mit einem wunderbaren blau-schwarzen Federkleid. Das sei sein Lieblingsvogel, sagt unser Bootsführer.
Dann sehen wir Schwalben, in rauen Mengen durch die Luft schwirrend, alle in eine andere Richtung, wie es scheint.
Dann kommen Klammeraffen. Sie sind nur auf einer einzigen Insel vertreten. Man sieht wunderbar, wie sie sich von Ast zu Ast schwingen, meist mit nur einer Hand.
Wir machen kurz Halt auf einer Insel und steigen aus. Hier haben die Spanier ein Fort errichtet. Hier? Warum? Wofür? Gegen wen? In dieser gottverlassenen Gegend? Hatte alles seinen Sinn. Das Fort schützte Granada, vor Piraten, und zwar vor französischen und englischen Piraten.
Die Sonne geht unter, und der Himmel zeigt sich uns zum Abschluss in den unterschiedlichsten Schattierungen. Da kann man sich fast nicht satt dran sehen.
Als wir mit dem Taxi zurückfahren, sehen wir am Parque Central auf einer Bühne eine Tanzgruppe, auch Teil des heutigen Festes. Es ist ein Formationstanz, Männer und Frauen getrennt. Die Frauen bewegen sich um sich selbst mit fliegenden weiten Röcken, die Männer treten rhythmisch mit dem Absatz auf.
9. Dezember (Montag)
Zum Frühstück gibt es heute mal Obstsalat, sehr schön in einer Schale serviert, mit Jogurt und Müsli.
Als wenn wir uns abgesprochen hätten, erscheint Ismael, der Fahrer, genau in dem Moment, wo ich aus dem Haus gehe.
Die heutige Tour ist angekündigt als Tour durch die Pueblos Blancos. Keiner weiß so recht, warum sie so heißen, keins von ihnen ist weiß.
Sein Name, Ismael, sagt Ismael, habe keine besondere Bedeutung. Er habe einfach seiner Mutter gefallen.
Er hat zwei Standbeine, Taxifahrer und Chauffeur. Außerhalb der Saison arbeitet er hauptsächlich als Taxifahrer in Granada, aber wenn Nachfrage da ist, erledigt er bestimmte Aufträge. Solche Touren mit Führung wie heute macht er selten, vertraut er mir später an, die mache sein Bruder in der Regel, der könne besser Englisch. Er selbst habe entweder einen Reiseführer dabei oder einen Dolmetscher, aber meistens kümmert er sich einfach nur um den Transport. Gestern Abend hat er ein paar Gäste zu einem Konzert nach Managua gefahren, dort auf die gewartet und sie dann wieder nach Granada zurückgefahren. Kostenpunkt: 60 $.
Wir fahren aus Granada raus und kommen auf eine gute, aber nur zweispurige Straße. Das sei die alte Panamericana, sagt er. Die sei jetzt durch eine größere Straße ersetzt worden, und auf die stoßen wir am nächsten Kreisverkehr.
Vorher, am Rande der alten Straße, sehen wir eine ganze Schar von Geiern, Rabengeiern. Sie heißen hier, wie in Mexiko, zopilotes. Sie hätten das beste Verdauungssystem in der Tierwelt überhaupt, sagt Ismael.
Am Straßenrand Kühe, die sich wie Ziegen nach den höher hängenden Blättern der Bäume strecken.
Auch Ismael spricht von dem Vulkan Masaya. Er ist zuletzt dagewesen zwei Tage vor der Eruption. Man konnte mit dem Auto praktisch an den Kraterrand rauffahren. Er habe aber durchaus Angst gehabt bei dem Blick in den Krater.
Er sagt, Nicaragua habe unheimlich viel zu bieten. Vor allen an Natur. Auch sprachlich gebe es große Variation. Als Beispiel führt er das Wort für Eiskrem an. Im Englischen gebe es nur ein Wort dafür. Aber in Nicaragua würde schon in Masaya ein anderes Wort benutzt als in Granada. Und im Süden gebrauche man das Wort chupete, also ‚Schnuller‘, für Eiskrem.
Das ist alles interessant, und auch richtig, nur sagt er es, wie alle Sprecher aller Sprachen der Welt, mit Scheuklappen vor den Augen, in dem Glauben, solche Variation gebe es nur in der eigenen Sprache.
Der erste Ort, in den wir kommen, ist Diriomo. Nichts Besonderes, aber ein schöner Parque Central, groß, gepflegt. Ebenso die Kirche, mit schöner Fassade, fast zu groß für so einen kleinen Ort. Im Zentrum eine Büste von Rubén Darío.
Am Rande des Parque Central ein Sportplatz, multifunktional, ganz mit Gittern umfasst. So erspart man sich das lästige Ballwiederholen. Das Tor ist eine Kombination aus Basketballkorb und Handballtor. Der Boden ist gefliest.
Auch hier am Parque Central ein Schild, das das Rauchen verbietet. Ismael ist nicht meiner Meinung, dass hier wenig geraucht werde. Es werde viel geraucht, und auch getrunken werde viel. Das falle nur nicht so auf. Beim Essen trinke man in der Regel keinen Alkohol, wohl aber in den Bars. Vor allem Bier und Rum.
Diriomo ist bekannt für seine Hexenmeister und hat als Beinamen Ciudad de los Brujos. Das rührt daher, dass hier früher viele Quacksalber tätig waren.
Ismael fragt mich nach dem Wetter in Deutschland. Was ihn völlig verwirrt, ist das mit den langen und den kurzen Tagen. Wie es denn lange und kurze Tage geben könne. Tag sei Tag. Die kurzen Wintertage sind ihm genauso suspekt wie die langen Sommertage.
Unser nächstes Ziel ist San Juan de Oriente, Zentrum der Keramikproduktion. Wir biegen in eine sehr ruhige Seitenstraße ab. Warum ist es hier so ruhig? Erstens, weil heute Feiertag ist, zweitens, weil sich viele der Betriebe von dem Rückschlag in der Pandemie nicht mehr erholt haben und geschlossen bleiben.
Wir besuchen einen Betrieb, unter einem Wellblechdach untergebracht. Familienbetrieb. Im Moment sind alle drei mit Dekorieren beschäftigt, die junge Frau macht ganz einfache, graue Becher, die beiden Männer komplizierte Formen auf einer Vase und einem Teller.
Den Ton bekommen sie von Bauern aus der Gegend. Die bereiten den schon so auf, dass sie ihn sofort einsetzen können. Die Gefäße werden bei 120° gebrannt. Ich hätte viel höhere Temperaturen für nötig gehalten.
Auf langen Reihen stehen dicht gedrängt die fertigen Produkte. Es gibt eine große Vielfalt, in Form und in Farbe, teils mit modernen, teils mit indianischen Motiven.
Was mich am meisten überrascht: Es gibt Imitationen von präkolumbianischen Gefäßen, aber auch authentische präkolumbianische Gefäße! Es werden weiterhin alte Keramikgefäße gefunden, vor allem bei Bauarbeiten, aber manchmal haben Bauern auch noch bei sich welche rumstehen. Der Eigentümer des Betriebs setzt sich ins Auto und sieht sich in der Gegend um. Diese Gefäße werden dann ganz vorsichtig mit Erde gereinigt. Den Unterschied zu den Imitationen sieht man sofort.
Wir fahren weiter, und unterwegs erklärt Ismael, hier mache man die Tortilla noch aus Mais. In Granada, Zeichen der städtischen Dekadenz, wird sie aus Mehl gemacht.
Wir passieren kurz hintereinander die Farmacia de la Estrella Roja und die Farmacia de la Merced. Ein Apotheker mit politischer, einer mit religiöser Ausrichtung?
In Catarina fahren wir auf den Aussichtspunkt. Davon hatten schon die Schweizer erzählt. Von hier aus blickt man auf die Laguna de Apoyo, eine Lagune, die durch das in den Krater eines Vulkans eindringendes Regenwasser gebildet worden ist. Der Blick hinunter in die Lagune und in die Ferne ist echt schön.
Man kann hier schwimmen, sagt Ismael, aber nur von anderen Orten an der Lagune hat man Zugang zum Wasser. Das Wasser sei ganz sauber und eiskalt, und nur direkt am Ufer könne man stehen, danach gehe es steil herunter.
Catarina ist bekannt für seine Gärtnereien, viveros. Da reiht sich hier eine an die andere. Die Kunden kämen aus der ganzen Gegend. Er, Ismael, sei dieser Tage mit einer Freundin hier gewesen. Die habe sich gar nicht satt sehen können. Drei Stunden! Man merkt, dass er ihre Liebe zu den Pflanzen nicht ganz teilt.
Wir kommen nach Masaya rein. Ismael hat hier mehrere Jahre gearbeitet und kennt sich gut aus. Masaya sei ein wichtiges Drehkreuz, liege an zwei Handelswegen, die sich hier kreuzten.
Die Stadt habe eine ganz katastrophale Dränage. Wenn es hier regnet, stünden die ganzen Straßen unter Wasser. Und geregnet hat es in den letzten Monaten reichlich. Auch, dass es jetzt immer wieder noch mal regnet, und zwar heftig, hält er für normal. Die Trockenzeit beginne erst Anfang Januar.
Wir gehen in den Mercado Artesanal. Früher war hier der eigentliche Markt, aber nach einem Brand verlegte man den und richtete hier den Mercado Artesanal ein. Wir sehen vor allem Schuhe. Handarbeit. Die stünden vor allem bei Frauen aus Costa Rica hoch im Kurs. Die kämen extra deswegen nach Nicaragua.
Wir sehen eine Wandmalerei mit einer etwas beschönigenden Darstellung von Masaya. Man sieht zwei Kirchen und eine lange Prozession, der dämonische Gestalten vorausgehen. Diese Prozession findet am 31. Oktober statt, ist also ein Äquivalent zu Halloween. Dabei gebe es eine höchst merkwürdige Tradition. Die Leute vergraben Wochen vorher Eier irgendwo in der Erde, holen sie dann auf einmal hervor und bewerfen die anderen mit den faulen Eiern!
Ich schlage vor, einen Kaffee trinken zu gehen. Ist er sehr mit einverstanden. Er ist leidenschaftlicher Kaffeetrinker. Er macht manchmal auch Touren zum Mombacho. An dessen Hängen werde Kaffee angebaut. Die Touristen würden auf die Kaffeeplantagen mitgenommen und über den Anbau informiert. Diese Etappe erspart er sich. Er ist aber dabei, wenn es später auf der Kaffeefarm ums Rösten und Trocken geht und der Kaffee serviert wird.
Wir kommen nach Coyotepe. Dort liegt ganz oben eine Festung. Die letzten Meter müssen wir zu Fuß gehen. Am Wegesrand Bäume mit weißlichen Blüten. Das sei der nationale Baum Nicaraguas, sagt er. Der Madroño. Der Madroño! Ich kann’s kaum glauben. Ich erzähle ihm die Geschichte des Madroño als Emblem von Madrid und dass man in Spanien und Portugal daraus einen Schnaps mache. Das ist ihm alles unbekannt. Hier hat der Madroño seine Funktion als Dekoration für die Marienaltäre. Ist also gerade jetzt relevant. Die Marienaltäre schmückt man mit den Blüten des Madroños.
Von der Festung aus sehen wir auf die Laguna de Masaya. Die sei, im Gegensatz zu der Laguna de Apoyo, völlig verschmutzt. Dort werden Chemikalien und Fäkalien eingelassen.
Dahinter sieht man den Masaya, den berühmten Vulkan. Seine Spitze ist abgeflacht, wie das bei allen Vulkanen in dieser Gegend der Fall ist.
Wir kommen zu der Festung. Ein Wächter bietet an, uns gegen ein Trinkgeld durch die Tunnel zu führen. Das nehmen wir gerne an.
Ein schlauchartiger Gang führt nach unten. An der Decke hängen Fledermäuse, scheinbar reglos, aber als sie uns hören, beginnen sie, wild flatternd durch die Gegend zu fliegen.
Diese Festung hat nichts, wie man manchmal hört, mit den Spaniern zu tun, sie ist jünger, stammt vom Ende des 19. Jahrhunderts. Sie wurde von den Liberalen aus León zur Bekämpfung der Konservativen aus Granada errichtet.
Von der Somoza-Diktatur wurde sie dann zum Kerker für politische Gefangene gemacht. Die lebten unter unvorstellbar schlechten Bedingungen hier und wurden systematisch gefoltert.
Die Zelle, in der wir stehen, war für 100 Gefangene bestimmt. Allein die Vorstellung, mit 100 Menschen Tag und Nacht zusammen zu sein, die Geräusche, die Ausdünste, die Konflikte zu ertragen, sprengt die Vorstellungskraft. Dazu kommt, dass es nur eine Waschstelle gab und die Notdurft in einer Ecke im Hocken erledigt wurde. Licht kommt nur durch einen Lichtschacht. Dort wurden besonders renitente Gefangene eingesperrt. Sie lagen dann auf dem Beton in der Schräge.
Die Wände der Zelle sind voller Graffiti, aber die stammen aus neuerer Zeit. In anderen Zellen sehen wir Blutspritzer an den Wänden. Die stammen noch aus der Somoza-Zeit.
10% der Gefangenen waren Frauen, sie waren in separaten Zellen untergebracht.
Als psychische Tortur wurde Dunkelheit eingesetzt. Wir gehen in eine kleine Zelle, und der Führer macht die Taschenlampe aus. Völlige Dunkelheit. So wurden hier Gefangene über Tage festgehalten. Den Weg zu der einzigen Waschstelle mussten sie sich ertasten.
Eine physische Tortur bestand darin, dass man Gefangene an einem Seil hochzog und dann immer wieder auf den Boden fallen ließ.
Nach dem Ende der Somoza-Diktatur nutzten die Sandinisten die Festung noch ein paar Jahre als Gefängnis, gaben das aber bald auf. Danach ließ man die Festung verfallen, und die Leute aus dem Ort kamen und nahmen alles mit, was nicht niet- und nagelfest war. Eisenteile sind nur ganz wenige erhalten: zwei schwere Eisentüren und einige Eisengitter unter der Decke in einigen Räumen. Durch diese Gitter wurden die Gefangenen mit verfaulten Lebensmitteln beworfen und mit Urin bespritzt.
Als wir aus der Festung kommen, sind wir erst einmal ganz still.
Dann geht es weiter, wieder nach Masaya rein. An einem Kreisverkehr am Ortseingang die Figur eines gewissen Tata Chomba, eines Mannes, der hier trotz seines dissoluten Lebenswandels als Heiliger verehrt wird.
Ismael macht einen Kommentar, den ich in diesen Tage immer wieder gehört habe. Immer mehr kleine Geschäfte mit Billigprodukten tauchten in letzter Zeit hier auf, deren Betreiber Chinesen sind.
Unterwegs müssen wir einmal hinter einem Müllauto warten. Es ist ein offener Lastwagen mit Gittern an den Längsseiten, und ein ganzes Heer von Müllmännern wirft die Plastikbeutel, in denen der Müll gesammelt wird, auf die Ladefläche.
Jetzt geht es zum Mercado Municipal. Hier geht es hoch her: Bewegung, Rufe, Hupen, Durcheinander. Ein Mann, auf einer Krücke gestützt, weist uns beim Parken ein. Er ist kein offizieller Parkwächter, er erhofft sich das eine oder andere Trinkgeld davon.
Auch innerhalb des Marktes ist viel Trubel. Man wird an jedem Stand angesprochen und gefragt, wonach man suche. Es gibt Schuhe, Körbe, Hängematten, Souvenirs, Bilder, Hüte, Spazierstöcke und Möbel. Die Möbel hier seien noch ganz und gar aus Holz, sagt Ismael, und einigermaßen erschwinglich.
Es wird richtig orientalisch, als wir in die Abteilung mit den Gewürzen kommen. Große Leinensäcke, bis zum Rand gefüllt, stehen nebeneinander. Wir sehen uns einige an. Die in der hinteren Reihe kenne ich alle – Anis, Lindenblüten, Kümmel, Koriander – von denen in der vorderen Reihe kein einziges – pericón, alpestre, hombre grande, gordo lobo, boldo. Eins von ihnen, hombre grande, sieht aus wie kleine Holzstäbchen. Ismael erklärt die Funktionen. Die meisten scheinen purgativ zu wirken.
An verschiedenen Verkaufsständen sieht man ganze Reihen von Artikeln, mit denen man auf Anhieb nichts anfangen kann. Dekoration? Fast. Es sind kleine, halbrunde Objekte, Weidengeflechte vermutlich, in verschiedenen Farben. Die werden gefüllt, mit Obst oder Süßigkeiten, und kommen auf den Marienaltar. Als Geschenk. Als Geschenk für die Jungfrau? Nein, natürlich nicht, als Geschenk für die Kinder. Da haben wir also eine Art Äquivalent zu unserem Nikolaus. Sogar die Jahreszeit passt.
An einem Stand sehen wir einen Jungen mit einem BVB-Trikot, der aber gar nicht weiß, was er da trägt. Später sehen wir eine Frau, die sich von einer Frisöse ihre Haare wellig machen lässt, mit ganz kleinen Lockenwicklern.
Wir widerstehen allen Versuchungen, etwas zu kaufen, und fahren weiter.
Hier in Masaya verkehren kleine Kutschen, wie Tuk-Tuks, aber von Pferden gezogen. Das ist das normale Transportmittel der Leute für den Weg vom Markt zu den Wohnvierteln.
Ich lasse mich auf Ismaels Vorschlag ein, zum Essen in ein Lokal einzukehren, auf das er auf dem Hinweg schon hingewiesen hat. Hier gibt es baho, das Nationalgericht, laut Ismael. Wenn es um baho gehe, komme nur das Baho Vilma in Frage. Das gibt es nur dreimal in Nicaragua.
Es hat seinen Ruf verdient. In dem großen, mit Holztischen und schönen Fliesen ausgestatteten Lokal, sind fast alle Tische besetzt. Lauter Einheimische, und fast alle bestellen baho. Gleich neben unserem Tisch befindet sich eine große Schüssel auf einer Tonne. Da wird der baho zubereitet.
Als alternative Schreibweise findet man vaho, und das ist einleuchtender, denn das kommt von vaporizar, ‚dünsten‘.
Das Gericht, sehr schmackhaft, besteht aus Rindfleisch, halb mager, halb fett, mit Yucca, gebackenen Bananen und einem Kraut, das im weitesten Sinne unserem Sauerkraut entspricht, auch eingelegt, nur schärfer. Zwischendurch kommt immer wieder mal der süße Geschmack der Bananen durch.
Ich bestelle ein kaltes Bier, und wenn man hier kalt sagt, meint man auch kalt. Um uns herum wird meist Cola getrunken oder das, was Ismael bestellt. Das Getränk heißt tiste, es ist ein Getränk auf der Basis von Mais mit geröstetem Kakao! Und Eiswürfeln.
Im Laufe des Tages habe ich Ismael auf meinen schwindenden Dollar-Vorrat hingewiesen, aber er sagt, das sei doch gar kein Problem. Hier könne ich doch Dollars am Geldautomaten bekommen. Er macht auf dem Rückweg Halt an einer Tankstelle, führt mich zu einem Geldautomaten und zeigt mir, wie man Dollars bekommt. Klappt!
Am Abend bei der Rückkehr vom Supermarkt mache ich ein Photo von einem Turm der Iglesia de la Merced. Erst jetzt merke ich, wie schön verziert er ist. Die Iglesia de la Merced, etwas schäbig und nicht restauriert, gewinnt auf den zweiten Blick gegenüber der ganz propren Kathedrale.
10. Dezember (Dienstag)
Am Morgen bekomme ich mit, wie Benjamin ein längeres Gespräch mit einem Freund in Deutschland führt. Er klagt, dass sie Fledermäuse im Haus haben und dass jetzt wohl eine ganze Decke ausgehoben werden muss.
Heute geht es zur Laguna de Apoyo. Das merke ich aber erst im letzten Moment. Der Ausflug ist als Ausflug zum Krater ausgeschrieben, aber die Laguna de Apoyo ist eben ein Kratersee.
Wir werden in einem Kleinbus an den See gekarrt und an der Anlage abgesetzt. Hier gibt es alles: Schließfächer, Umkleidekabinen, Duschen, Schwimmwesten, Kajaks, Schwimmreifen und sogar Internet.
Wir sind lauter Ausländer, und außer mir sind nur junge Leute vertreten, die meisten im Zweierpack. Einige stürzen sich sofort in die Kajaks, drehen eine kleine Runde und kommen wieder.
Keiner geht Schwimmen. Darf man hier nicht schwimmen gehen, frage ich den jungen Mann, der bei den Kajaks geholfen hat. ¿Cómo no? Also rein ins Wasser. Es ist nicht so kalt wie ich vermutet habe, eher lauwarm, aber wenn man etwas weiter hinausschwimmt, kommen unterschwellig kalte Wellen. Da es Süßwasser ist, erspart man sich den salzigen Geschmack im Mund, den man am Meer immer bekommt.
Später folgen einige meinem Beispiel. Sie schnappen sich einen der dicken Schwimmreifen und lassen sich im Wasser treiben. Keine schlechte Idee.
Ein Mädchen ist zu einer hölzernen Insel im Wasser geschwommen und ist darauf geklettert. Sie liegt stundenlang dort. Da würde es mir langweilig werden.
Die meisten bleiben in den Liegestühlen und ruhen sich aus. Drei Frauen lesen, alle dicke Schmöker. Die anderen telefonieren.
Als ich ins Wasser gehe, sehe ich den Mann, der bei den Kajaks geholfen hat, mit einem großen Sieb im Wasser. Was macht der da? Sucht er Muscheln? Nein, er reinigt das Wasser! Extra für uns Touristen!
Als ich zum zweiten Mal reingehe, sehe ich zwei tote Fische an der Wasseroberfläche. Das mit dem Sieb hat schon seinen Sinn.
Ein Vogel pfeift irgendwo eine wunderbare Melodie. Ich versuche, ihn zu finden. Ob es der unten am Wasser ist, mit dem blauschwarzen Gefieder?
Die Sonne scheint, und es ist richtig warm. Ismael hat Recht behalten, man sollte sich nicht zu sehr auf die Wettervorhersage verlassen. Aber dann kommt ein kurzer, heftiger Regenschauer, und danach kommt die Sonne nicht mehr raus.
Am Abend, beim Abschied von Benjamin, bekomme ich noch eine Lektion in Sachen Nicaragua. Hier, wo sie jetzt Zimmer vermieten, habe es früher ein Restaurant gegeben. Das habe seine Frau betrieben. Die habe auch hier gewohnt. Benjamin ist dann ihr bester Kunde und dann ihr Freund geworden und schließlich ihr Ehemann. Warum gibt es das Lokal nicht mehr? Das hat was mit der politischen Situation zu tun. Seit den Protesten von 2018 und deren Niederschlagung gebe es ein kulturelles Vakuum im Land. Alles sei verboten, alle Kulturinstitutionen geschlossen worden. Man sei in die Musikschulen gegangen und habe den Kindern die Instrumente abgenommen. In Granada habe es eine lebendige Kunstszene gegeben. Mit originellen Künstlern und originellen Techniken. Als Relikte davon hängen hier noch zwei Gemälde an der Wand, eins davon mit Kaffeepulver gemalt. Es zeigt zwei Affen, die völlig verdutzt aussehen. Sie betrachten gerade ihr eigenes Bild im Spiegel.
Hier, in dem Lokal seiner Frau, habe es früher Konzerte, Lesungen, Tanzabende gegeben. Alles tot. Die wichtigsten Künstler Nicaraguas sind alle im Ausland oder im Gefängnis. Das Oppositionsbündnis wurde verboten, alle Nichtregierungsorganisationen des Landes verwiesen. Von den einstigen Gefährten Ortegas sei keiner mehr übriggeblieben. Nur noch seine Frau. Über Ortega kursiert der Spruch Ortega y Somoza – la misma cosa. Das Regime habe sich alles unter den Nagel gerissen, sich mit dem Großkapital verständigt und alles unter den wenigen führenden Familien aufgeteilt. Kein Wunder, dass man hier den Eindruck hat, dass der Kommerz regiert – es gibt nichts anderes.