18. Januar (Mittwoch)
Die erste Kolumbien-Reise war eine Städtereise: Bogotá – Medellín – Cartagena. Das soll diesmal anders werden, auch wenn die Ausgangsstation wieder Medellín ist. Ich bin ganz im Zentrum von Medellín untergekommen.
Beim Pförtner frage ich nach La Candelaria. Das alles hier sei La Candelaria. Ja, ja, aber ich meine die Kirche. Weiß er nicht so richtig, hilft mir aber, indem er grob die Richtung angibt.
Meine letzten Pesos reichen noch so gerade für einen Kaffee und ein Plunderteilchen, das das Mädchen hinter der Theke extra warm macht. Es ist mit einer süßen Masse gefüllt, arequipe, einer zähflüssigen Creme aus Milch, Zucker und Vanille. Ob der Name was mit Arequipa zu tun hat, der Stadt in Peru? Die wird immer wieder genannt, wenn es um die Höhepunkte einer Reise durch Peru geht.
Viel Verkehr, Hupkonzerte, Hochhäuser. Auf dem schmalen Bürgersteig liegen Obdachlose, tief schlafend, nur mit einem dünnen Mantel bedeckt. Ich habe heute Nacht eine Wolldecke gebraucht.
Die erste große Kreuzung ist die von meiner Straße, Calle 54, mit der Carrea 46. So werden hier die großen Straßen angegeben, die waagerecht und die senkrecht verlaufenden, nach US-amerikanischem Muster. Oder ist es umgekehrt?
Dann ändert sich plötzlich die ganze Atmosphäre. Es kommt ein großer Park. Hier hat man den Verkehr auf eine schmale Spur begrenzt. Der Park hat große, breite Bäume mit Luftwurzeln. An denen steht Caucho, aber darunter als wissenschaftlicher Name doch wieder etwas von Feige. In den Beeten Sträucher mit großen, bläulichen Blättern. Sieht wie Rotkohl aus.
Dieser Platz ist die „Erfindung“ eines Engländers. Die Altstadt endete ursprünglich hier, er wollte ein unbewohntes Areal besiedeln, die Vila Nueva. Dafür schlug er die Schaffung dieses Parks unter Ausnutzung der vorhandenen Bäume vor, samt Errichtung einer großen Kirche an einer Stirnseite des Parks und einem Reiterstandbild Bolívars in der Mitte. Dessen Pferd wird im Trab dargestellt, Bolívar hat den Hut gezückt und blickt nach unten. Am Sockel verschiedene Zitate von ihm, darunter der Satz, dass er gerne ins Grab sinken würde, wenn sein Tod die Uneinigkeit beende. War wohl nicht der Fall.
Als ich durch den Park gehe, fragt mich ein junger Mann, was ich denn da mit mir herumtrage. Einen Beutel schmutziger Wäsche.
Ich frage eine Frau nach dem Weg. Sie scheint mich erst gar nicht zu beachten, dreht sich dann zu mir um und macht eine heftige Handbewegung. Ich weiß sofort, wo und in welche Richtung ich abbiegen muss. Dann zeigt sie gerade aus, dann rechts, und dann hebt sie drei Finger in die Luft. Glasklar. Dritte Straße rechts nach der Abbiegung. Dann macht sie noch eine Geste zu ihrem Mund hin, und endlich dämmert es mir: Sie ist taubstumm!
Ich komme, ihren Anweisungen folgend, direkt auf die Plaza de Botero. Hier stehen, auf den ganzen unregelmäßigen Platz verteilt, seine berühmten dicken Figuren, alle aus Bronze, alle mit ganz glatter Oberfläche. Ein gedrungenes Pferd mit viel zu kleinen Beinen, sieht wie ein Spielzeug aus, ein rundlicher Reiter auf einem zu klein geratenen Pferd, eine Katze in Lauerstellung, die Zungenspitze zwischen den Lippen, und ein Hund in Lauerstellung, die Zungenspitze zwischen den Lippen. Beide Zungen sind viel zu schmal und zu rund. Ein Mann, der vorwärts schreitet und gar nicht merkt, dass er dabei über den Körper eines liegenden Mannes schreitet. Ein römischer Soldat, nackt, mit dicken Hinterbacken, eine schlafende Venus, die aber die Augen geöffnet hat) mit dicken Oberschenkeln. Und dann noch eine auf der Seite liegende Frau mit Spiegel, aber ohne Spiegel. Wo ist der Spiegel? Soll man sich den nur vorstellen? Dann sehe ich. Sie hat den Stumpf in der Hand, man hat ihr den Spiegel abgebrochen.
Dann komme ich vor die weiße Kirche, von der ich dachte, das wäre die Candelaria. Sie heißt aber Veracruz. Und sieht auch mexikanisch aus, mit den offenen Glockenstühlen und den nach oben sich verengendem Giebel. Gloria ist nicht da, wie zu erwarten war. Ich warte auf der Parkbank, gehe dann zu der anderen Kirche am anderen Ende des Platzes, die gar keine Kirche ist, aber da ist sie auch nicht. Ich setze mich auf eine Parkbank vor der Veracruz. Neben mir ein alter Mann mit zerfurchtem Gesicht, der sich ein Frühstück mit Reis und Hähnchen genehmigt. Er trägt Sandaletten und hat alle seine Habseligkeiten in einen schwarzen Plastikbeutel gezwängt. Um die Wade hat er einen Verband, der aussieht, als wäre er aus Baumrinde. Er könnte aber auch einfach so alt sein, dass er inzwischen deren Farbe angenommen hat.
Ausgerechnet hier auf dem Kirchplatz haben sich die leichten Mädchen aufgebaut, alle blutjung und dünn. Eine setzt sich neben mich, lässt aber von mir ab, als sie merkt, dass ich auf ihre Gesprächsangebote nicht eingehe.
Ich frage, da das Handy nicht funktioniert, einen Mann auf der Parkbank nach der Uhrzeit. Er fragt, woher ich denn käme und ob ich in Kolumbien lebe. Er sagt mir ausdrücklich, ich solle vorsichtig sein, dies sei ein gefährliches Pflaster. Merkwürdigerweise habe ich Kolumbien von der ersten Reise gar nicht als gefährlich in Erinnerung.
Ich entscheide, mich erst mal um mein Handy zu kümmern. Es gibt viele Läden hier in der Innenstadt, aber in den meisten sitzt nur eine junge Frau, die einem bestenfalls eine neue Hülle verkaufen kann. David, der Vermieter, hat ein Einkaufszentrum empfohlen, aber weiß der Kuckuck, wo das ist.
In einer langen Ladenzeile, von der Fußgängerstraße mit dem wunderbaren Namen Carabobo abgehend, sehe ich ein etwas größeres Geschäft, mit fünf jungen Männern hinter der Theke. Ich sage genau, was Sache ist, sie hören gut zu und scheinen sofort die Lösung zu kennen. Das Mundstück, in das das Kabel gesteckt wird, muss ausgetauscht werden. Gehen auch keine Daten verloren? Bis wann kann das erledigt werden? Wie viel kostet das? Sie geben auf alles eine plausibel klingende und klare Antwort, und ich lasse das Handy zur Reparatur zurück.
Immer noch schleppe ich meinen Wäschesack mit mir herum. Aber hier gibt es weit und breit keine Reinigung. Ich steuere die Touristeninformation an. Die ist auf der Plaza Cisneros. Als ich dort ankomme, sagen mir zwei Wärter vor dem Erziehungsministerium, dies sei nicht die Plaza de Cisneros, dies sei die Plaza de las Luces. Das ist offensichtlich ihr populärer Name. Von einer Touristeninformation haben sie noch nie was gehört.
Auf einer Parkbank sitzt noch ein Uniformierter. Er sagt mir bedeutungsvoll, mit Fragen komme man bis nach Rom, weiß aber auch nicht, wo die Touristeninformation ist. Ich versuche mein Glück am Ende des Platzes, in einer Bibliothek. Da ist die Touristeninformation. Der junge Mann dort drückt sich ausgesprochen gewählt aus und ist sehr höflich, hat aber auch keine Ahnung. Er gibt mir einen Stadtplan, der so klein ist, dass man nichts erkennen kann.
Auf dem Rückweg über eine andere Straße, auch hier viel los, sehe ich mich noch mal nach einer Reinigung um. Vergeblich. Ich bin einigermaßen bedient.
Dann kommt die frohe Kunde: Das Handy funktioniert wieder. Der Mann demonstriert mir, dass er es angeschlossen hat und dass es auflädt. Er ist auch einverstanden, ein paar Minuten zu warten, bis die nächste Prozentzahl erreicht ist. Funktioniert.
Mit Kreditkarte bezahlen kann man nicht, und der Mann, der mir angeboten hat, Dollars zu tauschen, ist nicht mehr da. Es gibt aber hier im Gebäude einen Geldautomaten, und so löst sich auch dies Problem. Als ich zahle, spricht mich der entscheidende Mann, den ich ganz schlecht verstehe, noch mal auf die Dollars an. Er meinte wohl, das sei ein Umtauschgeschäft unabhängig von der Reparatur. Er gibt mir dann auch den Internetzugang von dem Geschäft. Gloria geht ran. Sie warte vor der Kirche. Ich gehe hin, nichts von ihr zu sehen. Wieder zurück zu dem Laden, um zu telefonieren, und es erweist sich, dass wir vor zwei verschiedenen weißen Kirchen stehen, und ich muss kleinlaut zugeben, dass meine die falsche war. Ihre heißt wirklich La Candelaria.
Sie führt mich auf eine Straße in der Fußgängerzone, die besonders gut sei: „Da gibt es auch viele Ausländer!“ Warum ich diesen Zusammenhang witzig finde, versteht sie nicht.
Aber in der Aussage mit den Ausländern hat sie, ohne es zu ahnen, eine historische Kontinuität angesprochen. Die Iglesia de Veracruz hieß nämlich früher tatsächlich Ermita de la Veracruz de los Forasteros, von und für Ausländer gebaut, und deren Grablege.
Wir suchen ein Café, und wir finden eins mit Terrasse oben, direkt an der Plaza de Bolívar, gleich mit mehreren Gaststätten. Man sieht auf die Bäume mit den Luftwurzeln hinunter und auf Handkarren mit Obst und Gemüse. Auf einem liegen Mangos in ganz unterschiedlichen Farben, auf dem anderen runde rote Früchte. Könnten das Baumtomaten sein? Nein, meint sie, die sähen anders aus. Aber diese kann sie von hier aus nicht erkennen. Als wir später unten an dem Karren vorbei kommt, erkennt sie sie: chontaduros. Noch nie gesehen, noch nie gehört. Sie wachsen an einer Palme und haben eine entfernte Ähnlichkeit mit Pfirsichen. Deshalb heißen die Bäume auf Englisch auch peach palm.
Der redselige Kellner der uns bedient, hört gar nicht mehr auf, nachdem Gloria ihm eine Frage zu Guatapé gestellt hat, meinem nächsten Reiseziel. Die beantwortet er auf der Stelle, aber damit begnügt er sich nicht. Er erklärt, wie man dorthin kommt und worauf man achten muss. Auch spricht er Warnungen aus, sowohl vor Guatapé als auch vor dem Park hier. Alles gefährliches Terrain.
Gloria trinkt einen Saft, aus guanabano, der Frucht des Lebens, wie sie auch heißt. Gloria erklärt, sie habe weißes, weiches Fruchtfleisch. Das Bild kommt mir bekannt vor. Aber ich kann mich nicht erinnern, wann ich sie probiert habe.
Mit ist jetzt nach einem Bier zumute, und ich wähle die Variante michelada, eine alte Bekannte aus Mexiko. Im Glas eine Zitronenschale, und um den Rand des Glases herum fest gefrorenes Salz. Schmeckt gut, echt erfrischend.
Gloria ist sehr fromm, betet regelmäßig und hat ein naives Gottvertrauen. Man muss nur alles in Gottes Hände legen, dann wird es gut. Gott sorgt für uns wie ein Vater. Ob das die Obdachlosen, die Bettler, die Hungernden auch so sehen, will ich wissen. Die hätten sich von Gott abgewandt. Sie sollten sich Gott zuwenden, dann werde alles gut.
Sie macht eine Unterscheidung zwischen rezar und orar. Das, was ihre Eltern in der katholischen Kirche machten, das sei rezar, immer dieselben Gebete, sie in ihrer Kirche würden mit Gott sprechen, das sei orar. Als ich ein bisschen genauer wissen will, was für eine Kirche das denn sei, muss sie passen. Ihr Bruder will davon nichts wissen, das sei eine Sekte. Könnte Recht haben. Solange sie ihr nicht das Geld aus der Tasche ziehen. Die Sache scheint irgendwie aus den USA zu kommen, eine von einer Frau gegründete Glaubensgemeinschaft, grob gesprochen der Evangelikalen Richtung zuzuordnen. Von den Glaubenssätzen ihrer Kirche weiß sie so gut wie gar nichts. Ihr gefällt einfach die Atmosphäre dort.
Wir sprechen über Katholiken und Protestanten und dass die in Europa im Allgemeinen auf die verschiedenen Länder verteilt sind, außer in Deutschland, wo sie etwa pari vertreten sind. In dem Zusammenhang erwähne ich Luther. Ja, den kennt sie. Ein Schwarzer! Ein Schwarzer? Ja, sie hätten ihn umgebracht. Nein, Gloria, das ist Martin Luther King. Da liegen 500 Jahre dazwischen. Sie nimmt sofort Kontakt mit ihrer Tochter in der Schweiz auf. Die kennt Luther und bestätigt auch, was ich ihr von Calvin erzählt habe.
Nach Guatapé ist sie schon dreimal gereist und hat zweimal den Felsen von Guatapé, bestiegen. Beim dritten Mal hat sie sich geweigert.
Ich will gerne die genaue Abfahrtszeit des Busses wissen, aber die braucht man nicht, man geht einfach hin und nimmt den ersten besten Bus, so wie man bei uns den Stadtbus nimmt.
Als ich nach Hause komme, immer noch mit dem Wäschesack bepackt, begrüßt mich David sehr herzlich und fragt sofort nach dem Handy. Und dann entledigt er mich auch der Sorge um die Wäsche. Er selbst bietet einen Wäscheservice an.
Das Apartment ist schön eingerichtet, überall Blumen und Bücher. Und Musiknoten. Ich lerne einen Jonathan kennen, von David vorgestellt, als wenn er Mitbewohner, Freund, Partner wäre. Aber irgendwann taucht auch eine telefonierende Frau auf, die sich hier heimisch zu fühlen scheint. Und eine Putzfrau. Und am nächsten Tag die ganze Großfamilie. Ich halte mich zurück und bleibe auf dem Zimmer.
Die Armaturen im Bad werden von der Firma Corona gestellt. An dem Waschbecken hängt nich ein Schild: corona – garantía de por vida.
Dann kommt der für Medellín so typische Wetterumschlag: Regen und Gewitter am Nachmittag, nachdem es am Vormittag ein richtig schöner Frühlingstag mit sommerlichen Temperaturen war.
Der Einfachheit halber gehe ich in eine kleine Imbissstube gleich gegenüber. Das Apartment ist im 13. Stock, und wenn man runter fährt, muss man 1 drücken. Das ist das Erdgeschoss. Darunter befindet sich S, vermutlich Soterráneo, das ist schon der Keller.
Im Aufzug hängt ein Hinweisschild, wie man mit Hunden umgehen soll. Dabei entdecke ich ein neues Verb, hangar. Hier taucht es als hangan auf. Dann merke ich, dass es gar kein neues Wort ist, sondern ein Fehler, eine nicht existierende Form von hay. Gemeint ist hagan.
In der Imbisstube gibt es eine ausgesprochen leckere Teigtasche, gefüllt mit Hackfleisch, Pilzen und Soße. Endlich mal nicht so trocken.
19. Januar (Donnerstag)
Als ich am Morgen durch die Straßen gehe, fällt mir auf, dass ich der einzige in kurzer Hose bin. Medellín hat das ganze Jahr über ein mildes Klima, es ist eigentlich immer Frühling, aber die Leute tragen einen Pullover oder eine leichte Jacke. Nur wenige im T-Shirt.
Immer wieder ein Lichtblick, auch an den vielbefahrenen Straßenkreuzungen: die vollbeladenen Handkarren mit den exotischen Früchten. Mango hat momentan Vorfahrt.
Neben mir auf der Straße eine junge Frau, die einen Einkaufswagen aus dem Supermarkt zu ihrem Verkaufsstand umfunktioniert hat. Sie verkauft Bonbons. Oben auf der Ware ein Plastikschemel und ein zusammengefalteter Sonnenschirm. Sie wird ihren Stand jetzt wohl irgendwo am Parque Bolívar aufbauen.
Ich lande in einem ganz merkwürdigen, unregelmäßig aufgebauten Lokal, mit einer schräg im Raum stehenden Verkaufstheke, einem Pfeiler mitten im Raum und einem Aufbau mit Schließfächern. An der Wand naive Stillleben.
Ich bekomme das, was man in diesen Gegenden unter Frühstück versteht: gebratenes Hähnchen, Bohnen, Reis, eine arepa mit Käse, Rührei. Dazu gibt es ungefragt Kakao.
In dem vollbesetzten Kleinbus geht es nach Guatapé. Die Strecke ist gut ausgebaut, aber uninteressant. Immer wieder steigen Verkäufer zu, Mandeln, Bananenchips, Mittel zur Reininung des Magens, und dann auch zwei Musiker, beide mit Lautsprecher und Mikrophon ausgestattet. Der zweite ist Venezolaner, er singt zu einem Hip-Hop-Rhythmus von seinem Land und seiner Situation in Kolumbien erzählt. Er macht die Ankündigung auch auf Englisch, einschließlich des Verweises auf seine Website: Ees een Eenglish.
Unterwegs sieht man aus dem Fenster, wie Männer Säcke aus Leinen von einem Karren auf einen Haufen in einem Innenhof schaffen. Was da wohl drin ist? Die Antwort gibt dann einer der Säcke, der etwas eingerissen ist: Es ist Recycling-Ware.
Sobald wir von der Hauptstraße abbiegen, wird es schön, eine grüne Landschaft mit Bergen und Tälern. Der Bus muss sich jetzt über die kurvenreiche Straße quälen.
Dann kommt der Fels in Sicht. Er hat eine unheimliche Ähnlichkeit mit dem Zuckerhut.
Ein Amerikaner ist nicht ganz sicher, ob er hier aussteigen muss. Der Grund: Er spricht von roca, der Schaffner sagt piedra. Beides sind Untertreibungen. Es handelt sich um einen richtigen Berg.
Es wird immer schöner. Der Blick fällt auf den verzweigten, grünen See, die Berge drum herum und den gescheckten Himmel.
Wir kommen an einer idyllischen Stelle vorbei, wo James Rodríguez sein Haus hat, der kolumbianische Fußballer, der bei der WM 2014 die ganze Fußballwelt verzauberte. Er war dann bei Real Madrid und bei Bayern und ist jetzt in Griechenland gelandet.
Dann kommt Guatapé, eine Stadt, die auch für sich genommen einen Besuch lohnt, nicht nur als Ausgangspunkt für den Felsen. Die Häuser, mit hölzernen, farbigen Gittern vor den Fenstern, sind bunt bemalt, selbst in den neueren Gebäuden werden diese Farben wieder aufgenommen.
Bekannt ist Guatapé für seine zócalos, den Sockeln. Gemeint sind hier die Sockelgeschosse der Häuser. Die haben, in der gesamten Innenstadt, herrlich naive bunte dreidimensionale Bilder, von bunten Vögeln und Eselstreibern, von Bauern und Fischern und würdevoll aussehenden Pastoren. Ein Mann trägt einen anderen Huckepack. Aber auch moderne Motive fehlen nicht: ein Kellner und ein Souvenirverkäufer, ein Mann am PC und eine Frau, nachdenklich über ein Brettspiel oder eine Notiz gebeugt.
Die Kirche am Hauptmarkt ist weiß, doppeltürmig. Macht sich gut an dem Platz. Innen kitschig, aber mit einem einheitlichen Erscheinungsbild. Alles in Holz, Säulen und Altäre und Dach, und alles mit ganz feinen Goldfäden durchzogen.
Immer wieder tauchen die Apostelsymbole auf, auch an der Außenwand. Matthäus, als Mensch dargestellt, sieht aus wie ein Indianer mit wehendem, rotem Haarschopf. Innen gibt es interessante, aber etwas weit hergeholte Erklärungen für die Symbole.
Um zur Unterkunft zu kommen, frage ich bei der Touristeninformation nach. Eine junge Frau, die Personifizierung der Inkompetenz, weiß keine Antwort auf die Frage, wo die Carrera 24 sein könnte. Wie denn das Hotel heiße. Hat keinen Namen. Ist eine Privatunterkunft. Wie die denn heiße. Die hat keinen Namen. Dann könne sie mir nicht helfen. Hier würde sich keiner nach den Straßen richten.
Ein Polizist vor der Touristeninformation weiß sofort Bescheid: Immer geradeaus, über die Brücke, dann an einer Gabelung nach rechts. In der Zwischenzeit ist der Chef der Touristeninformation auch herausgekommen. Er hat wohl gemerkt, wie dämlich sich die junge Frau angestellt hat.
Die Straße ist nach den Angaben des Polizisten leicht zu finden, aber das Haus nicht. Es gibt keine Hausnummern. Eine Nachbarin weiß auch nicht Bescheid, aber inzwischen hat die Vermieterin wohl gemerkt, dass nach ihr gesucht wird und öffnet das schwere Holztor.
Hier geht es sehr formal zu. Alle Daten werden aufgenommen, einschließlich Personalausweisnummer. Ein junger Mann macht das alles mit sehr seriöser Miene. Am Ende erklärt er noch, wie man abends hineinkomme.
Das Zimmer, erhöht gelegen mit Blick auf die Umgebung, ist hervorragend, modern, aber heimelig, mit einem neuen Bad und schönen Möbeln.
Ich gehe wieder in die Stadt zurück und von hier aus an das Seeufer. Da bieten Bootsleute ihre Dienste an.
An der Uferpromenade flitzen Mototaxis entlang. Die heißen hier Motochivas. Wo sich der Name herleitet, vergesse ich zu fragen. Ob es was mit chiva im Sinne von Zicklein zu tun hat?
Der See ist kein richtiger See, obwohl er ganz so aussieht, sondern das, was der Kellner gestern represa nannte, ein Stausee, mit seiner eigenen Geschichte. Schon in den zwanziger Jahren gab es erste Warnungen, dass Medellín eines Tages kein Wasser mehr haben würde. In den fünfziger Jahren erfolgten dann wissenschaftliche Studien, und schließlich wurde eine Initiative zum Bau eines Stausees gestartet und der Staat wurde aktiv. Lange war unklar, wo der Stausee entstehen sollte, am Ende entschied man, dass ein ganzes Dorf weichen musste, El Peñol. Die Menschen wurden evakuiert und umgesiedelt. Auf alten Abbildungen sieht man noch den Kirchturm von El Peñol aus dem Wasser ragen. Heute bedeckt der Stausee ein Drittel der Fläche von Guatapé und sorgt für ein Drittel der kolumbianischen Stromversorgung. Wer immer die Erbauer des Stausees waren, sie haben gute Arbeit geleistet und eine künstliche Naturschönheit geschaffen.
Auf dem Rückweg mache ich in einem kleinen Lokal außerhalb der Innenstadt Halt. Es gibt ein leckeres Kotelett mit allerhand Zutaten. Jetzt, wo es dämmert, wird es in Windeseile kalt.
20. Januar (Freitag)
Ganz in der Nähe der Unterkunft gibt es eine Bäckerei mit lauter wohlriechenden Waren. Vor dem Gebäude steht der Bäcker selbst und backt buñuelos, in Öl frittierte Teigkugeln, etwa in der Art von Krapfen. Sie sind noch warm und schmecken richtig gut, sind aber überraschenderweise nicht süß, sondern schmecken nach Käse.
Immer wieder überraschend der Kaffee. Kolumbien ist der zweit- oder drittgrößte Kaffeeproduzent der Welt und bekannt für die Qualität seines Kaffees, aber im Lande selbst trinkt man überall einen dünnen, süßlichen Kaffee.
Mit einer motochiva geht es zum Felsen. Auf Spanisch heißt der Peñón de Guatapé oder Piedra del Peñol, die Leute hier sagen einfach piedra. Es ist noch früh, aber die Sonne kommt schon rauf. Nach der Landstraße geht es ein ganzes Stück über eine Schotterpiste. Noch am Abend habe ich einen ganz aktuellen Zeitungsartikel zu Guatapé gelesen, höchst kritisch, da wurde die schlechte Infrastruktur beklagt, darunter der Zustand der Straßen. Ebenfalls das Fehlen jeder Regelungen zu dem Schiffsverkehr auf dem See, jeder kann dort ohne Kontrolle herumfahren und Geld verdienen. Dazu kommt, dass der Felsen – man mag es kaum glauben – in Privatbesitz ist.
Der Felsen sieht von Nahem fast enttäuschend aus, grau, schroff, karg, und seine besondere Form kann man aus der Nähe gar nicht richtig schätzen.
Umso schöner ist der Aufstieg. Es geht über eine gut ausgebaute Treppe mit festen, geraden, wenn auch etwas hohen Stufen, mit einem steinernen Geländer, das ganz schön, aber nicht sehr nützlich ist.
Der Abstieg erfolgt auf einem anderen Weg, das ist natürlich sehr hilfreich, es gibt keinen Gegenverkehr, außer von einem verwirrten Geisterläufer später beim Abstieg. Schon jetzt, obwohl es noch so früh ist, höre ich die ersten Leute herunterkommen.
Die Stufen sind nummeriert. Bei 50 bleibe ich zum ersten Mal stehen, aber dann geht es zügig weiter. Ein junges Paar mit Tochter überholt mich und der Müllmann, der die Plastikabfälle einsammelt und nach oben trägt.
Der Ausblick auf die Gegend ist umwerfend! Immer wieder bleibt man unwillkürlich stehen. Der weitverzweigte See, heute bläulich schummernd, mit seinen Bäumen am Seeufer, immer wieder neue, unregelmäßige Wasserflächen, und lauter kleine, dicht bewachsenen Inseln im Wasser, mit ganz unterschiedlichen Formen. Eine ganz längliche sieht so aus, als hätte man hier eine Sprungschanze aus Sand errichtet.
Am Ende sind es „nur“ 675 Stufen, wenn man die Stufen zum Aussichtsturm nicht mitzählt. Der Aussichtsturm ist auch mit bebilderten Sockeln versehen. Auf einem Bild erscheint der erste Ersteiger des Felsens. Der hatte noch keine Treppe zur Verfügung. Daneben eine längliche Furche, die den ganzen Berg von unten nach oben durchzieht, die Axt des Teufels, hacha del diablo. In diese Furche hat man die Treppe gebaut.
Oben gibt es Souvenirläden und Lokale, aber das sieht alles nicht einladend aus.
Bei dem Abstieg sind die Treppen nicht ganz so gut ausgebaut und außerdem nass, aber dafür gibt es, außer in den Kurven, ein eisernes Geländer, an dem man sich gut festhalten kann. Am Ende habe ich insgesamt gerade mal eine Stunde gebraucht.
Unten sehe ich mich noch ein bisschen in den Souvenirgeschäften um. Keine Postkarten. Scheint in Amerika ein rares Gut zu sein.
Zurück geht es zu Fuß über die Schotterpiste und dann an der Straße entlang. Ich frage nach dem Bus nach Medellín. Ja, da gegenüber, da sei eine Bank. Da solle ich warten. Aber ist das denn eine Haltestelle? Egal, einfach winken, der Busfahrer hält schon. Tut er tatsächlich. Als ich einsteige und zahlen will, sagt mir der Fahrer, ich solle mich erst mal setzen. Zahle könne ich später noch. Das tue ich dann beim Aussteigen.
Auf der Rückfahrt erkennt man deutlich den Kessel, in dem Medellín liegt, auf allen Seiten von grünen Bergen umschlossen.
Später treffe ich mich mit Gloria an der U-Bahn-Station. Wir gehen Richtung Parque Bolívar und essen in einem versteckt hinter einer Mauer liegenden Restaurant eine Suppe, immer eine günstige und leckere Alternative in diesen Breiten.
Sie wohnt in Sabaneta, im Süden Medellíns. Sabaneta hört sich nach sábana an, ‚Bettlaken‘, aber das ist natürlich nicht gemeint. Es hat eher was mit Savanne zu tun, einer grasbewachsenen, aber baumlosen Zone, die sich für die Aufzucht von Rindern eignet.
Als mir bei der Schilderung meiner Erlebnisse ein Kraftausdruck rausrutscht, protestiert sie. Solche Wörter solle ich nicht benutzen. Ich verteidige den Gebrauch von Kraftausdrücken, in der passenden Situation gebraucht können sie der Erzählung Emphase verleihen. Sie findet, das sei typisch für die Spanier, die gebrauchten doch ständig solche Ausdrücke. Die Kolumbianer nicht? Doch, die auch. Sie nennt mir dann, einigem Zögern, sogar ein Wort, allerdings ohne es zu nenne, durch ein paar Buchstaben und eine Andeutung: gonorrea. Ich dränge dann nicht weiter, obwohl ich schon gerne wissen möchte, wie es gebraucht wird.
Sie macht sich dann auf dem Weg nach Hause, Mutters Geburtstag wird gefeiert, eine vielfache Uroma von 79 Jahren.
21. Januar (Samstag)
Am Vormittag bleibe ich, solange es geht, in der Wohnung, denn die Weiterfahrt nach Mompox ist erst am Abend. David, bei den wenigen Kontakten, die wir hatten, freundlich wie immer, bietet mir an, den Koffer bis zum Abend hier stehen zu lassen.
Ich gehe die breite, sechsspurige Avenue entlang. Hier ist viel los, auf der Straße wie auf dem Bürgersteig. Dort haben Obsthändler ihre Karren aufgebaut. Einer hat seine Mandarinen zu Männchen aufeinandergestapelt, ein anderer zu Pyramiden.
Eine mir entgegenkommende Frau verliert etwas. Sieht wie zusammengeknülltes Papier aus. Es sind aber zwei Geldscheine. Ich laufe hinter ihr her und sage ihr, das habe sie verloren: „Oh, really?“ ist die Reaktion. Dann gibt sie mir zu verstehen, dass sie das nicht gewesen sein kann. Auch gut. Es sind nur zwei Scheine, 3.000 Peso. Die bekommt eine Frau, die auf dem Bürgersteig sitzt, an eine Hauswand gelehnt. Sie nimmt sie wortlos entgegen.
Bald komme ich zum Parque San Antonio, meinem Ziel, mit der zerstörten Statue, die ich noch von meiner ersten Kolumbienreise in Erinnerung habe, aber nicht mehr genau.
Der Parque ist ein großer, leerer, nicht sehr ansehnlicher Platz, mit ein paar Bäumen an einer Längsseite und mehreren gleichförmigen Trinkständen.
An dieser Längsseite steht der Pájaro von Botero, die Statue, die bei einem fürchterlichen Attentat 1995 zerstört wurde. Botero entschied, sie als Monument an den Schwachsinn, Monumento a la Imbecilidad, stehen zu lassen und daneben eine Replik von der originalen Statue aufzustellen. Der zerstörte Vogel ist in sich zusammengesackt, ist kleiner als er war, aber wie stark die Zerstörung ist, sieht man am besten von hinten, an den durchlöcherten Flügeln.
Hinter den Statuen hat man in großem Format die Titelseite der Tageszeitung angebracht, die am Tag nach dem Attentat erschien. Es gab 22 Tote und Hunderte Verletzte. Auf dem Sockel der zerstörten Statue stehen die Namen der Opfer.
Auf einem Mäuerchen sitzt ein älterer Mann. Der will mir die wahre Geschichte erzählen. Denn das stimme alles gar nicht, was da stehe. Und er müsste es wissen, er sei präsent gewesen. Es habe sich nicht um eine bomba, sondern um zwei explosivos gehandelt, wobei mir nicht klar ist, was der Unterschied sein soll. Ansonsten weicht sein Bericht, soweit ich ihn verstehe, gar nicht von der offiziellen Version ab. Die Bomben waren in Geschenkpapier gehüllt, es herrschte eine Festtagsatmosphäre, auf dem Platz wurde getanzt, und niemand maß den „Geschenken“ irgendeine Bedeutung bei. Er habe gesehen, wie man die einzelnen Körperteile in Plastiktüten gepackt habe und er habe die Schmerzensschreie der Verletzten gehört. Er selbst sei hier gewesen, mit Recycling beschäftigt, wie er es nennt, wohl dem Sammeln von Müll. Abschließend fragt es, warum die Terroristen unschuldige Opfer in Kauf nähmen statt gleich auf die Verantwortlichen loszugehen, die Politiker. Am Ende bittet er um eine monedita für seinen Bericht.
Bei meiner ersten Kolumbienreise lag das Attentat schon 13 Jahre zurück, und trotzdem war es so sehr in das europäische Gedächtnis eingebrannt, dass alle mir von einer Reise nach Kolumbien abrieten. Das ich dann als ganz und gar friedlich erlebte.
Etwas abseits des Platzes steht die Iglesia de San Antonio de Padua (der ja eigentlich aus Lissabon stammte). Als ich in die Kirche gehe, schiebt gerade einer sein Fahrrad heraus.
Die Kirche ist ganz in Rot und Weiß gehalten, mit vergoldeten Kapitellen, aus Holz, genauso wie die Säulen. Am Hauptaltar scheint Christus vom Kreuz zu steigen, mit gekrümmtem Körper, und sich in die Arme von San Antonio fallen zu lassen. Ob sich die Szene an eine Legende anlehnt?
Draußen sind die Zeiten für den Gottesdienst angeschlagen. Sonntags: 7.00 am, 9.00 am, 12.00 am, 4.00 pm, 5.00 pm. Werkstags: 7.00 am, 7.30 am, 4.00 pm, 5.00 pm, 6.00 pm.
Auf einer parallel zur Avenida verlaufenden Straße auf der anderen Seite des Platzes geht es zurück. Hier reiht sich ein Lokal an das andere. Jedes zweite ist bis auf den letzten Platz besetzt.
Dann komme ich aus dem Viertel San Antonio ins Viertel San José. An einem Stand bestelle ich einen kalten Saft. Die Verkäuferin fragt mich, ob ich Zucker will. Keine Ahnung, weiß nicht genau, wie süß der Saft ohne Zucker ist. Als ich nein sage, ist sie überrascht, wirklich keinen Zucker? Und überredet mich, den Saft doch mit etwas Zucker zu nehmen.
Es ist sonnig und heiß, fühlt sich eher nach Sommer als nach Frühling an. Auf einer Bank am Rande eines Platzes lasse ich mir den Saft schmecken.
Auf der nächsten Straße ist ein Flohmarkt. Wieder Verkaufsstände in rauen Mengen: Sonnenbrillen, gebrauchte Bücher, Parfum, Batterien, Billigschmuck. Parallel dazu Läden, auch einer an den anderen gereiht. Halb Kolumbien scheint als Verkäufer tätig zu sein. Die andere Hälfte ist zum Einkaufen unterwegs. Die Häuser müssen leer sein.
Dann komme ich zur Metro-Station Parque del Berrío. Hier ist es noch voller, und ich versuche Abstand zu halten.
Durch dichtes Gedränge gehe ich die Carabobo hinunter, um ein Photo von dem Straßenschild zu machen. Gar nicht so einfach. Entweder ist das Straßenschild durch eine Mauer halb verdeckt oder der Name Calle 54 erscheint statt Carabobo. Am Ende klappt es aber. Gloria hat vermutet, der Name bedeute nicht, was er zu bedeuten scheint – einer, der ein blödes Gesicht macht – sondern bezeichne einen Ort in Venezuela. Tatsächlich heißt eine der angrenzenden Straßen Venezuela. Das Internet gibt ihr Recht.
Als ich an einem Stand mit frisch gemachten buñuelos vorbeikomme, fällt mir ein, wie ich den Jungs vom Handygeschäft meinen Dank abstatten kann. Ich kaufe eine Tüte voll und bringe sie bei ihnen vorbei. Scheint gut anzukommen.
Auf dem Weg Richtung Heimat will vor mir ein Betrunkener die Straße überqueren. Er macht zwei Schritte nach vorn, obwohl von rechts Autos kommen, dann einen Schritt zurück, aber er torkelt und macht wieder einen Schritt nach vorne. Der erste Autofahrer merkt, was Sache ist und will ihn passieren lassen. Der Betrunkene geht über die Straße, und in dem Moment kommt mit Vollgas ein Motorradfahrer an, der, wie das hier so üblich ist, das Auto rechts überholt. Er bleibt im letzten Moment stehen. Das hätte schlecht ausgehen können. Ich muss an eine Szene in Athen vor vielen Jahren denken, als ich einer ganz ähnlichen Situation ein fürchterlicher Unfall passiert ist.
Es geht weiter, und am Ende finde ich doch noch einen Frisör. Tolle Sache. Ein kleiner, fensterloser Raum, zur Straße hin offen. Auf dem Bürgersteig davor haben sie eine Bank und ein paar Stühle gestellt, auf der andere Kunden warten. Ich frage, ob sie alle warteten, und ein Mann sagt ja. Ich will schon wieder weitergehen, als einer der Frisöre sagt, kein Problem, ich sei als nächster dran. Die anderen sind wohl nur zum Plaudern hier oder warten auf einen der Kunden auf den Frisierstühlen.
Ein junger Mann kommt und setzt mich auf den freien Stuhl. Er dreht mich merkwürdigerweise zur Straße hin und macht sich an die Arbeit.
Alle drei Friseure haben einen Kurzhaarschnitt, genauso wie die Modelle auf einem Werbeplakat, mit Frisuren, in die Muster eingelassen sind. Auch die beiden anderen Kunden bekommen einen Kurzhaarschnitt verpasst.
Der Friseur macht sich mit Verve an die Arbeit, dabei pfeifend oder singend zu der Musik, die aus dem Lautsprecher kommt. Er scheint ständig in Bewegung zu sein, schneidet, kämmt, schneidet wieder, immer wieder kleine Korrekturen anbringend. Dabei geht er nicht zimperlich vor. Aber macht das echt gut.
Eine Frau auf Krücken kommt vorbei und bittet um eine Münze. Tatsächlich bekommt sie von allen Friseuren etwas. Tolle Geste, sie sind bestimmt nicht reich.
Jetzt kommt der zweite Durchgang. Mit einem winzigen Gerät in der Hand macht sich mein Mann an den unliebsamen Härchen zu schaffen, die sich schon mal da präsentieren, wo sie nicht sein sollten. Er macht das wieder mit großer Akribie und ebenso großer Geduld. Nachher frage ich ihn, was für eine Wunderwaffe er denn da in der Hand hatte. Eine Rasierklinge, waagerecht in zwei Teile geteilt. Damit hat er mir eine solch gründliche Rasur verschafft, wie ich sie noch nie bekommen habe. Abschließend gibt es noch eine Dusche mit Haarspray und eine mit Puder, was für mich eine Erinnerung an früher ist.
Das Trinkgeld, das er verdient hätte, kann ich ihm nicht geben, aber er ist auch so zufrieden und lässt gerne ein Photo von sich machen. Der Haarschnitt hat 12.000 Pesos gekostet. 2,50 €.
An der Plaza Bolívar gehe in eins der Lokale, von deren obere Terrasse man auf den Platz hinunterblickt. Diesmal geht es ganz vegetarisch zu. Als ich nach der Rechnung frage, sagt die junge Kellnerin 28.000. Ob ich eine schriftliche Rechnung bekommen könne, frage ich. Ja, klar. Dann kommt sie mit der Rechnung. 30.000. Hat sie vorher nicht 28.000 gesagt? Ja, sie habe die Suppe vergessen. Aber die kostet doch 5.000. Wie kann das sein? Das kann sie sich auch nicht erklären. Ich addiere noch mal die drei Summen. Sie ergeben 29.500, nicht 30.000. Ja, da habe sie sich wohl bei der Addition vertan, sagt sie.
Ich hole mein Gepäck aus der Wohnung und verabschiede mich von David und dann von dem freundlichen Portier, der wissen will, wohin es mich zieht. Er meint, ich wolle zum Flughafen, aber als wir das Missverständnis geklärt haben, entlässt er mich in die Innenstadt. Nein, jetzt am helllichten Tag könne nichts passieren. Ich könne ruhig zu Fuß gehen.
Ich komme über die Ausländerstraße und dort an dem Lokal Cuernavacas vorbei, benannt nach dem mexikanischen Ort, der wirklich so heißt: ‚Kuhhorn‘.
Auf der Basis des Namens dieser Straße, erfährt man auf einer Schautafel, ist ein ganz spezifisches Wort entstanden: juniniar, auf der Carrera Junín flanieren, sehen, gesehen werden, Schaufenster gucken und Freunde treffen. Damals, in jenen glorreichen Zeiten.
Bei dem Gewimmel vor der Metrostation Parque Berrío ist mir ein bisschen mulmig zumute. Ich trage jetzt alles mit mir herum. Es geht aber gut, obwohl ich den Koffer die Treppen raufschleppen muss. Bei der phantastischen Erneuerung der Verkehrsmittel in Medellín vor einiger Zeit hat man die Rolltreppen vergessen.
Oben angekommen sieht man, was es mit dem Gewimmel unten auf sich hat: Es wird getanzt! Mitten auf dem Platz. Eine ganze Menge, alle in Paaren, bewegen sich zu der Musik einer jungen Sängerin, einige elegant, andere unbeholfen.
Am Busbahnhof bin ich viel zu früh, aber die Zeit geht auch noch um. Als es schon dunkel ist, geht es los. Man sieht das nächtliche, hell erleuchtete Medellín mit Häusern, wohin man auch guckt.
Der Bus ist richtig bequem und hat Internetverbindung, aber die Fahrbahn ist schlecht. Und es ist eiskalt.
Aber das Internet bietet Unterhaltung, und aufgrund der Verbindung bekomme ich noch die neuesten Nachrichten aus der Heimat, als es dort schon morgen ist.
22. Januar (Sonntag)
Gegen Morgen wird die Fahrbahn besser und die Straße ist nicht mehr so kurvenreich.
Gegen sechs Uhr wird es hell. Eine flache, grüne Landschaft, obwohl kein ganz so sattes Grün wie sonst. Man sieht, dass es hier nicht oft regnet.
Auffällig viele Pferdekuppeln, auffällig viele Kapokbäume. Dann kommen Rinder, weiße. Ein schöner schwarz-gelber Vogel macht sich davon, als wir uns nähern.
Auf der linken Seite Wasser, ein toter Flussarm. Und dann kommt auf der rechten Seite der Río Magdalena. Breit, gemächlich vor sich hin fließend. Das Wasser reicht bis zu den Sträuchern an der Böschung. Schiffe sieht man keine.
Der Magdalena, länger als der Rhein, ist Kolumbiens wichtigster Fluss, obwohl er nicht der längste ist. Er ist in der Geschichte und der Folklore präsent, und durchfließt das ganze Land, von Süden nach Norden, von den Anden bis in die Karibik. Für die Ureinwohner und für die Eroberer war der Magdalena angesichts des gebirgigen Landes der wichtigste Verkehrsweg.
Die Landschaft ist schön, sehr grün, wird aber verschandelt von dem vielen Müll, das am Flussufer und am Straßenrand deponiert wird. Ob es hier überhaupt eine Müllabfuhr gibt? An einer Stelle haben Vater und Sohn auf einer Schubkarre Müll gesammelt und suchen ihn nun nach Verwertbarem ab.
Dann kommt Magangué. Die Passagiere vor mir steigen aus, die neben mir steigen aus, die hinter mir steigen aus. Was ist los? Endstation? Umsteigen? Nein, alles in Ordnung, es geht gleich weiter. Nach Mompox will keiner. Das hat seinen Grund: Mompox, am Magdalena und an der Einmündung seines größten Nebenflusses gelegen, war jahrzehntelang das wichtigste Handelszentrum dieser Gegend. Warum sich das geändert hat, wird mir nicht ganz klar, aber es hat etwas mit Versandung und mit einer Veränderung des Flusslaufs zu tun.
Wir sind nur noch zu fünft in dem großen Bus. Der Magdalena verschwindet wieder, aber auf beiden Seiten immer wieder Wasserstellen, vielleicht durch Überschwemmungen ausgelöst. An einer steht eine ganze Schar weißer Reiher um die Pfütze herum.
Dann überqueren wir zweimal den Magdalena über große, geschwungene Brücken. Das ganze Land hier scheint Schwemmland zu sein. Es grünt überall.
Dann verschwindet der Magdalena wieder. Irgendwo am Straßenrand bleibt der Busfahrer stehen und steigt aus. Die anderen klettern ihm hinterher. Ich folge ihrem Beispiel.
Der Busfahrer hat es sich inzwischen bequem gemacht auf einem Plastikstuhl. Hier gibt es an einem Stand, von Mutter, Vater und Sohn betrieben, Kaffee und arepa de huevo. Noch nie gehört. Noch nie gesehen. Der Teig wird glatt geklopft und in runde Scheiben geformt. Darauf wird ein Ei platziert, wie ein Spiegelei. Dann wird der Teig eingeklappt und in Öl frittiert. Man erhält eine Teigtasche mit einem harten Spiegelei drin. Schmeckt gut.
Es geht weiter. Das dicke Ende kommt noch. Jetzt geht es über eine echte Marterstrecke, und der flotte Busfahrer muss sich und den Bus bremsen. Man wird hin und her geschaukelt.
Dann kommt Mompox. Ganz anders als ich es mir vorgestellt habe. Von Kolonialstadt nichts zu sehen. Ausgeladen wird man am Rande der Landstraße. Hier geht es ziemlich lebendig zu. Ein Mototaxi wartet schon auf Fahrgäste. Es hat sogar hinten einen Kofferraum.
Der Mann bringt mich die kurze Strecke zur Unterkunft, aber wo die genau ist, weiß er auch nicht. Als Orientierungspunkt ist das Centro de Rendimiento genannt worden, eine große, weiße, moderne Halle, die völlig aus der Reihe fällt, mit dem Rest des Ortes nichts zu tun hat. Sie wird bewacht von Soldaten mit Maschinengewehren. Vielleicht ein Leistungszentrum für Sportsoldaten.
Die Unterkunft soll „diagonal“ dazu liegen, aber während wir noch überlegen, was das wohl zu bedeuten hat, winkt mir eine Frau mit gelber Kappe etwas weiter hinten zu: Sandry.
Wieder bin ich reingefallen auf die Bezeichnung der Stockwerke. Das 1. Stockwerk, in dem die Wohnung der Beschreibung nach liegen soll, ist das Erdgeschoss!
Die Begrüßung ist echt herzlich. Es gibt sogar ein Willkommenspräsent. Ein Schächtelchen mit einem Fläschchen Wein, einem Tütchen Kaffeepulver und einem Begrüßungstext.
Aber: Was ist dieses Geräusch? Sie beantwortet meine Frage, bevor ich sie stellen kann. Keine Sorge, wir haben Probleme mit der Wasserversorgung, und diese Pumpe wird eine Stunde pro Tag aktiviert, und dann ist Ruhe. Wasser wird immer vorhanden sein.
Sie macht noch etwas Werbung für Mompox: schöne Stadt, freundliche Leute und völlig ungefährlich. Sie sei gerade ganz offen mit dem Handy in der Hand hierhergekommen.
Sie erklärt mir noch schnell, wo der nächste Supermarkt ist, und verschwindet.
Mein erster Weg ist zu dem Supermarkt, einem D1: Wasser, Coca-Cola, Bier. Die Coca-Cola sieht ganz echt aus, ist es aber wohl nicht. Auf dem Etikett steht Sabor original. Also ein Imitat? Das wird ohne die Erlaubnis von Coca-Cola wohl nicht gehen. Vielleicht eine Vereinbarung: Wir machen unsere eigene Cola und vermarkten sie, als ob es Coca-Cola wäre. Beim Bier zögere ich, nur eine Marke, in Dosen: Brunania, mit einem Schriftzug auf den deutschen Farben. Schmeckt hervorragend!
Danach geht es in die Stadt. Die ganze Umgebung hier ist einfach, aber ganz schön, lauter kleine Häuser, alle einstöckig. An die Bäume hat man alte, ausgeschnittene Waschmitteldosen gehängt, die als Blumentöpfe dienen.
Dann kommt die Kolonialstadt. Auch hier alle Häuser einstöckig, aber viel höher. Alle in Weiß. Man kann in die Innenhöfe sehen und auch in viele Räume. Die meisten sind mit alten Möbeln ausgestattet. Viele von ihnen dienen als Hotels, aber hier in der Gegend ist kaum jemand zu sehen.
In einem Haus ist das Centro de Cultura untergebracht. Kann man besichtigen. Ich schiebe es aber auf morgen auf, da öffnen sie schon um acht Uhr.
Die Stadt ist schön, aber eine einzige Baustelle. Ganze Straßenzüge sind aufgerissen, überall stapeln sich Pflastersteine.
Über einen kleinen, belebten Platz, auch Baustelle, komme ich zu dem Platz mit der alten Markthalle, ein schöner, zweistöckiger Bau mit einem Söller in der Mitte. Unten eine Art Durchgang, und wenn man sich dem nähert, sieht man plötzlich auf der anderen Seite den Magdalena!
In dem Gebäude ist auch die Touristeninformation untergebracht, aber die ist geschlossen. Auf dem Schild die Schweizer Fahne, oder das, was man dafür hält. Es ist die Fahne von Mompox. Identisch mit der Schweizer. Sie taugt hier überall auf. Das Kreuz bezieht sich vermutlich auf den kompletten Namen der Stadt, Santa Cruz de Mompox (oder Mompós, wie man auch immer wieder mal liest, da scheint es keine einheitliche Regelung zu geben).
Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes eine Kirche, die Inmaculada. Sie hat eine schöne Kuppel und, wie viele Kirchen dieser Gegend, einen einseitigen Glockenturm. Innen dreischiffig, mit einem Kreuzweg an den Wänden der Seitenschiffe.
Ich gehe zum Fluss hinunter. Hier kann man ein ganzes Stück entlang promenieren. Ein Reiher steht auf einer Mini-Insel am Uferrand, ein Leguan klettert einen Baumstamm hinauf. Auch hier wieder wunderbare, stämmige Bäume, mit ungewöhnlichen Formen.
Hier am Fluss geht es etwas touristisch zu, und überall wird für Flussfahrten und für den Wein von Mompox geworben.
Je weiter man vom Marktplatz wegkommt, umso ruhiger wird es. Ich gehe in das letzte Lokal der Reihe, auch in einem Bau aus der Kolonialzeit untergebracht. Sieht einladend aus. Nur zwei alte Damen sitzen hier. Sie grüßen freundlich und rufen die Bedienung herbei. Ein ganz junge Frau, sie rattelt herunter, was es alles gibt, aber in dem Moment taucht der Wirt auf und „übernimmt“. Auch er zählt auf, was es alles gibt, und als das Wort típico fällt, unterbreche ich ihn und sage, das wolle ich haben. Ein echter Volltreffer! Wird in einer Schüssel serviert und mit einem Holzlöffel gegessen. Leider verpasse ich es, den Namen des Gerichts zu notieren. Es ist ein Eintopf mit Mais, Jukka, Bohnen, verschiedenen Fleischstücken. Dazu wird suero costeño serviert, eine Creme. Wenn man die hinzufügt, ändert sich der Geschmack noch mal. Mit und ohne – beides ausgesprochen lecker.
Der redselige Wirt steht die ganze Zeit dabei und unterhält mich. Diese alten Häuser seien aus Lehmziegel gefertigt. Das sieht man ihnen nicht an. Er selbst verweist auf den Türsturz des Lokals. Den habe er mit Beton verstärken müssen.
Er spricht auch von den regelmäßigen Überschwemmungen. Erklärt auch, wann die auftreten, wobei ich nicht ganz verstehe, was er mit Winter meint. Die letzte jedenfalls hat die Bananenernte betroffen, er nennt mir genau den Betrag, um den der Preis für Bananen gestiegen ist.
Als er hört, dass ich aus Deutschland komme, beginnt er sofort, von seinen vielen internationalen Freunden zu sprechen. In Berlin hat er einen Freund namens Max. Er zeigt mir die Telefonverbindung. Gespeichert hat er ihn unter Max Berlin. So sind früher einmal Nachnamen entstanden.
Dann geht es um den Wein. Er macht viel Werbung für den Wein von Mompox. ER habe einen Alkoholgehalt von 14%, verkündet er stolz. Die Etiketten auf den braunen Flaschen ähneln sich überall. Auch er hat ein ganzes Regal mit seinen Weinen bestückt. Wo denn die Weinfelder seien, will ich wissen. Hab keine gesehen. Nein, Weinfelder gebe es keine. Wein ohne Weinfelder? Dann langsam fällt bei mir der Groschen: Der Wein hier wird nicht aus Weintrauben hergestellt! Ich muss zweimal nachfragen, um zu verstehen: corozos. Das sind die Früchte, aus denen der Wein gemacht wird!
Am Abend gehe ich noch mal in die Stadt. Wie Sandry gesagt hat, hier ist es völlig ungefährlich, auch im Dunkeln rauszugehen.
Auf den ersten Blick fallen die Sterne gar nicht so auf, aber wenn man länger hinguckt, werden sie immer deutlicher – und scheinbar immer mehr. Der Himmel ist dunkel, fast schwarz, und von dem heben sich die Sterne deutlich ab.
Bei den Kolonialhäusern fällt mir auf, dass sei keine Fensterscheiben haben. Man schließt sie mit Fensterläden. Davor geschmiedete Gitter.
Am Fluss komme ich zu Santa Barbara, der meist photographierten Kirche der Stadt. Sie ist so sehr mit bunten Lichtern beleuchtet, dass man von der Fassade fast nichts sieht.
Der Fluss ist nur schwach beleuchtet. Irgendwas schwimmt darin, in schneller Geschwindigkeit. Tiere? Gar Krokodile? Baumstämme können es nicht sein, die wären nicht so schnell.
Vor einem der alten Häuser stehen mehrere Schaukelstühle, mit geflochtenen Sitzen. Für die ist Mompox bekannt. Immer wieder stößt man auf sie. Hier sitzt ein kleines Mädchen in einem unter dem Dach vor dem Haus, völlig gedankenverloren.
In dieser Gegend ist gediegener Tourismus. Reisende sitzen zu zweit oder in kleinen Gruppen vor den Lokalen. Es geht ruhig zu. An einem Lokal kann ich ein Photo machen von der Tafel, auf denen angepriesen wird, was sie alles haben, darunter Tinto, also schwarzer Kaffee.
Das Gegenteil dieser Gegend erlebe ich dann, als ich nach Santo Domingo komme, außerhalb des Kolonialbereichs. Hier ist echt was los. Der ganze Platz ist voll mit Menschen, von Kleinkindern bis zu Senioren, viel Bewegung, viel Krach. Die Dorfjugend ist auf Motorrädern unterwegs, auch viele junge Frauen. An den Straßenrändern stehen die Motorräder aufgereiht. Ich versuche, ein Photo zu machen, aber das ist gar nicht so leicht. Ständig bleibt eins direkt vor mir stehen, dann kommt eins um die Ecke, dann startet eins gleich vor mir, und immer sind es drei, vier hintereinander, die die Straße hinunterkommen. Eine lebendige Stadt, obwohl fernab von Gut und Böse.
23. Januar (Montag)
Nach den Hähnen kommen schon die Verkäufer, die an unserem Sträßchen entlang ziehen und laut ihre Ware ausrufen, einer zu Fuß, einer auf dem Fahrrad, einer auf dem Moped. Ich kaufe almojabanas und lerne dabei mal wieder war Neues kennen, Milchbrötchen aus Reismehl, mit Käsegeschmack.
Erst einmal kümmere ich mich um die Weiterfahrt morgen. An der Hauptstraße soll ein Busunternehmen ein Büro haben.
An der Hauptstraße erlebe ich mal wieder die Unempfindlichkeit der Kolumbianer gegen Lärm. Das Durcheinander der knarrenden, hupenden Autos, Motorräder und Mototaxis reicht nicht, aus einem Lautsprecher dröhnt Musik, aus einem anderen hört man die Stimme eines Bananenverkäufers: „Plátanos verdes. Plátanos amarillos. 12 a 10.000. A la orden.“
Auf der anderen Straßenseite ist tatsächlich das Büro, in einem Verschlag untergebracht, kaum zu erkennen. Von den beiden Männern tut der eine ganz unbeteiligt, der andere gibt bereitwillig Auskunft, ist aber mit Preisen und Abfahrtszeiten und Fahrtdauer so schnell dabei, dass ich nicht mitkomme. Als ich schon rausgehe, begleitet mich ein dritter Mann, der wie aus dem Nichts auftaucht und mir in Ruhe alles erklärt: Morgen früh einfach hierher kommen, sich an den Straßenrand stellen. Von hier aus nach Santa Ana fahren. Dort einen Bus nach Santa Marta nehmen. Der gebe mehrere im Laufe des Vormittags. Der letzte fahre um 2 Uhr ab, also möglichst früh starten. Nein, Karten könne man vorher keine kaufen. Platz gebe es immer. Sein Wort in Gottes Ohr.
Wieder Richtung Innenstadt gehend, sehe ich vor einem Haus und einer Werkstatt verschiedene Männer auf Stühlen sitzen, im Freien. Einer steht an einem der Stühle und macht sich an dem Kopf eines der Sitzenden zu schaffen. Es ist ein Freiluftfriseurladen. Ich bin in einiger Distanz und will heimlich ein Photo machen, aber der Friseur hat mich längst bemerkt und lächelt freundlich in die Kamera.
Bei dem obligatorischen Gang zum Geldautomaten komme ich wieder über einen Platz, den ich von gestern kenne, eine einzige Baustelle. Das hindert die Verkäufer aber nicht daran, ihre Ware oder Dienste anzubieten: Schuhputzer, Aphrodisiaka, Telefonate. Hier kann man für den entsprechenden Preis das Handy des Anbieters benutzen und damit telefonieren.
Ich komme zur Touristeninformation. Der junge Mann ist genauso inkompetent wie seine Kollegen in Medellín und Guatapé. Ein echtes Trauerspiel. Einen Stadtplan hat er nicht, wie das typische Gericht von gestern heißt, weiß er nicht, und als ich nach dem Cauca frage, den größten Nebenfluss des Magdalena, und wo der hier in den Magdalena des Magdalena, zeigt er auf eine Karte, wo man alle möglichen Nebenflüsse sieht, nur den Cauca nicht. Er liest mir die Namen der Flüsse vor. Ich frage stattdessen nach dem anderen Arm des Magdalena. Dies ist ist doch eine Insel. Davon weiß er nichts. Stattdessen weist er auf den QR-Code, den solle ich einscannen, da würde ich alle Information finden.
Ich gebe es auf und gehe zum Friedhof. Vorsichtshalber frage ich ihn nicht, wo der ist.
Am Eingangsportal zwei entzündete Fackeln, die nach unten zeigen, ein traditionelles Symbol des Todes.
Der Friedhof sieht von hier aus wunderbar aus: weiße Marmorgräber und weiße Marmorstatuen zu beiden Seiten der weißen Kapelle hinter dem weißen Eingangsportal.
Weiter hinten sieht man rechts und links davon und hinter der Kapelle ärmere, richtig heruntergekommene Gräber, aber auch die haben teils ihren Reiz, wie eins mit zwei kupfernen Kerzenhaltern, an denen das heruntergetropfte Wachs noch festklebt. Besser kann man Vergänglichkeit nicht versinnbildlichen.
Viele Gräber haben moderne, farbige Photos der Verstorbenen oder kitschige Christusdarstellungen. Auf einer sieht er aus wie Conchita Wurst.
Auf dem besseren Teil des Friedhofs gefällt mir vor allem die Statue eines Engels, der den Finger zum Schweigen an den Mund legt.
Gleich am Weg die Grabplatte für einen gefallenen Soldaten, der zu allem Übel auch noch Guerrero heißt. Mit 20 im Koreakrieg ums Leben gekommen. Was hat ein zwanzigjähriger Kolumbianer in einem Krieg in Fernost zu suchen, um dort für die Interessen einer fremden Macht zu kämpfen und zu sterben? Es ist ein Elend mit dieser Welt.
Ich gehe zurück und zum Fluss runter. Ein Leguan klettert einen Baum rauf, ein Reiher steht auf einer winzigen Insel am Flussufer.
Ich komme zu Santa Barbara, die sich heute ganz anders präsentiert als gestern Abend. Jetzt kann man die eigenwillige Fassade gut erkennen, in einem Zuckerbäckerstil, mit einem Rundturm irgendwo in der Mitte, der besser zu einer späten Burg oder einem frühen Schloss passen würde. Dennoch: Die Fassade hat was.
Am Flussufer verkauft ein Mann etwas, das ich nicht kenne. Er identifiziert mich sofort als Deutscher, als ich nachfrage. Er verkauft ein Getränk, das raspado heißt. Mit einer alten, eisernen Mühle zerkleinert er einen Eisblock, indem er an einer Kurbel dreht. Die Maschine selbst ist schon ein Photo wert. Das zertrümmerte Eis wird in einen Becher gegeben. Da kommt eine rötliche Flüssigkeit rein und oben drauf eine süße Soße. Schmeckt gar nicht schlecht.
Ich sehe mir einige der Kolonialhäuser an. Ein durch seine Galerie ganz auffälliges ist das ehemalige Wohnhaus einer umtriebigen Marquise, der letzten Generation der Adeligen angehörend, ehe die Revolution den Adel abschaffte. Sie hatte hier unter anderem Humboldt und Bonplang zu Besuch. Die langgezogene Galerie stützt sich auf Holzsäulen und hat ein schräges Schindeldach, ein Haus. Die machen das Gebäude unverwechselbar.
Ein anderes Haus trägt den Namen Casa Malibües. Hier war in alten Zeiten die Tesorería Real untergebracht, so was wie das koloniale Schatzamt. Hier wurden alle Waren geprüft und geschätzt, vom Vieh über den Tabak, den Kakao, die Baumwolle bis zu Reis, Mais und Salz. Der Name bezieht sich auf eine indigene Sprache.
Nach einiger Suche finde ich die Casa de Cultura von gestern wieder. Die Tür ist nur einen Spalt weit geöffnet. Das Haus ist geschlossen? Warum denn, auf den Öffnungszeiten steht doch, dass montags geöffnet ist. Ich bekomme die wenig einleuchtende Erklärung, man habe gestern geöffnet und müsse deshalb heute schließen.
Ich komme zu San Agustín, einer weiteren der bekannten Kirchen von Mompox. Innen hat man die Ausstattung sinnvoll ergänzt: An jedem Pfeiler hängen zwei Ventilatoren!
Man kann in den ehemaligen Kreuzgang gehen. Auf dem Klostergelände oder was davon übriggeblieben ist, ist heute eine Art Ausbildungsstätte für Kunsthandwerker untergebracht. Ganz schlau werde ich daraus nicht. Das erklärt wohl auch die Präsenz einer merkwürdigen Skulptur, mitten im Innenhof, einen bebrillten Mann darstellend, der etwas unheimlich steif auf einem Stuhl sitzt und Hände wie die eines Roboters hat.
Wieder lande ich auf dem Platz vor der alten Markthalle. Erst jetzt sehe ich mir das schwarze, filigran gearbeitete Kreuz an, das auf einem Sockel im Zentrum des Platzes steht. Auf dem Sockel In hoc signo vinces, Konstantins Motto, das hier von der spanischen Kolonialmacht adoptiert worden ist.
Versunken vor dem Kreuz stehend, werde ich von einem Mann angesprochen, der etwas verkauft, das ich nicht kenne. Ich muss nachfragen, bis ich verstehe: queso de capa. Ein Käse in der Art von Mozzarella wird in mehrere Schichten gewickelt zu einem kleinen Bündel, das man mit der Hand essen kann. Es gibt zwei Varianten, mit und ohne bocadillo. Wieder stehe ich auf dem Schlauch. Wo soll da das Brötchen drin sein? Ich kaufe eins mit bocadillo, und als ich reinbeiße, erinnere ich mich wieder: In Kolumbien ist bocadillo kein Brötchen, keine Stulle, sondern eine süße gezuckerte Masse, auf einer Frucht basierend, wie man sie als Brotbeleg verwendet.
Am Abend lande ich auf der Suche nach etwas Essbarem in einem unscheinbaren Hinterhof. Hier sitzen nur zwei Männer, die sofort die Bedienung rufen, als ich erscheine, dann aber bald aufbrechen. Ich bin und bleibe der einzige Gast, bekomme aber ein richtig leckeres Essen, mit einer kraftvollen Suppe und einem Hammelgericht, das köstlicher nicht sein könnte – und zarter auch nicht. Zum zweiten Mal Glück gehabt mit dem Essen in Mompox.
24. Januar (Dienstag)
Die Abnahme der Wohnung erfolgt durch Sandrys Vater. In knapp einer Minute erledigt.
An der Hauptstraße das übliche Gewimmel und Durcheinander von Stimmen und Geräuschen.
Ein Mann verkauft auf einem Holztisch rohes Fleisch, ohne Verpackung und Unterlage. Ein Motorradfahrer transportiert quer hinter sich eine ganze Matratze. Erst als er vorbei ist, sieht man, dass hinten noch einer sitzt, der die Matratze festhält.
Ich brauche gar nicht nach dem Ziel zu fragen, sofort kommen mir Männer entgegen, die fragen, wohin ich will und mich sofort an ein weißes Auto verweisen. Scheint eine Art Sammeltaxi zu sein. Ein Passagier sitzt schon drin, einen zweiten holen wir an einem Hotel ab. Der erscheint aber nicht und antwortet auch nicht auf Anrufe und auf lautes Rufen. Irgendwann kommt er dann doch und setzt sich grußlos und ohne Entschuldigung nach vorne. Dann sammeln wir noch eine schmächtige alte Dame ein.
In Santa Ana kommen gleich auch Männer auf mich zu, die verschiedene Reiseziele anbieten, aber ich frage erst mal bei der Busgesellschaft nach. Deren erster Bus fährt erst um 14 Uhr, also begebe ich mich in die Hände der Männer am Straßenrand. Sofort wird mir ein Plastikstuhl unter den Hintern geschoben. Andere Passagiere sitzen hier auch schon. In 20 Minuten geht es los.
Es kommt ein moderner Kleinbus, mit zwei Fahrern ausgestattet. Der erste ist sehr freundlich und fordert mich ausdrücklich auf, auszusteigen, als eine Pause gemacht wird. Hier gebe es Toiletten und Kaffee – umsonst. Als ich dann an dem kleinen Kiosk ankomme und eine Kleinigkeit bestelle, hat er mir schon einen Kaffee gezapft. Der geht auf Kosten des Hauses.
Von dem Dach des Hauses wird auf die Passanten in regelmäßigen Abständen Wasser heruntergesprayt. Tolle Erfindung!
Der andere Fahrer übernimmt, und es geht zügig weiter. Wir passieren eine Stadt mit dem wunderbaren Namen El Difícil, und in einem lebendigen Ort geht es rechts nach Bogotá und links nach Santa Marta. Irgendwo erscheint ein Wegweiser nach Aracataca, einem meiner Ziele.
Die Strecke ist flach, aber plötzlich erscheinen vor uns Berge – und was für welche! Das ist die Sierrra de Santa Marta, mit Bergen, die über 5000 Meter hoch sind! Die Sierra ist die höchste der Welt in Meeresnähe und die höchste der Welt in der tropischen Zone. Hier leben noch verschiedene Eingeborenenstämme ganz isoliert von der Zivilisation. Und hier befindet sich die sagenumwobene Ciudad Perdida, die Ruinen der Stadt einer unbekannten präkolumbianischen Zivilisation, die ich mir leider entgehen lasse. Mangel an Entschlossenheit.
Dann kommt schon das Meer in Sicht. Über eine breite Straße geht es auf Santa Marta zu. Am Stadtrand ist plötzlich Schluss. Wir werden auf einzelne Taxis verladen, die uns zu den individuellen Zielen bringen. Dafür muss man noch mal 10.000 draufzahlen. Das hatte ich anders verstanden. Ich habe vorher schon 30.000 und 60.000 für die Busse bezahlt.
Das Taxi ist so voll, dass die Koffer aufs Dach kommen. Sie werden mit einer einfachen Kordel festgebunden, aber so gut, dass nichts passiert.
Ich bin als letzter dran. Auf einer schmalen Straße mitten im geschäftigen, wirbeligen Zentrum werde ich ausgeladen. Eine Frau, die im Auftrag der Gastgeberin arbeitet, steht schon bereit und schließt das Gitter auf. Sie zeigt mir ohne viel Aufhebens, wo alles ist und verschwindet wieder.
Ich gehe Richtung Meer. Der erste Eindruck ist alles andere als schön, es ist staubig, schmutzig, Lastwagen werden rangiert, die Bürgersteige sind holprig und der Wind wirbelt den Staub auf.
Ich komme zum Ufer, direkt an den Hafen. Zwei große Ladekräne und mehrere Lastschiffe. Ganz nahe dabei eine schöne Felseninsel. Trotzdem kein schöner Anblick.
Etwas weiter Richtung Innenstadt wird es etwas gefälliger, ich passiere ein paar Plätze, ein paar Kirchen und eine Gasse mit Wirtschaften für Touristen. Hier wirkt die Sache schon etwas freundlicher. Lässt für die nächsten Tage hoffen.
25. Januar (Mittwoch)
Santa Marta ist eine Stadt, die spät in die Gänge kommt und abends früh die Bürgersteige zuklappt, aber dazwischen gibt es das satte Leben.
Ich erlebe die morgendliche Ruhe vor dem Sturm, kaufe bei einem der wenigen ambulanten Verkäufer ein paar Bananen und nehme ein Taxi. Zur Quinta de San Pedro Alejandrino kommt man nur so. Ein gutes Geschäft für die Taxifahrer, wie man dort sieht. Als der Fahrer auf eine Tankstelle fährt, ahne ich schon, was das soll: Er schneidet eine Kreuzung ab.
Auf dem Weg zur Quinta kann man sich angesichts der großen Brücken, der vielen Laster und Industriegebäude kaum vorstellen, dass hier Simón Bolívar vor 200 Jahren mit der Pferdekutsche entlang gefahren ist, die man später in der Quinta ausgestellt sieht.
Das wird anders, sobald man abbiegt und über die lange Allee auf die Quinta zufährt. Im Tor ist die Rezeption untergebracht. Ausländer bezahlen hier mehr als Einheimische, aber alte Ausländer weniger als junge Ausländer. Die Frau hinter dem Gitterfenster ist die Freundlichkeit selbst.
Geführt wird man von Freiwilligen, ich als einziger Ausländer in einer Gruppe von Kolumbianern, einschl. einer Familie mit zwei schlecht erzogenen Kindern. Der freundliche, etwas schüchterne Führer, der wie junger Valderrama aussieht, macht sogar selbst im Laufe der Zeit eine entsprechende Bemerkung.
Bolívar kam hierher, erfahren wir, nachdem er drei Monate lang vergeblich in Cartagena auf die Ausschiffung auf Europa gewartet hatte. Er wollte sich dort behandeln lassen. Als das nicht klappte, kam er hierher, mit der genannten Pferdekutsche, einer Berline, französisches Fabrikat, deutsches Modell. Vorher hatte er eine Einladung eines anderen Gutsbesitzers abgelehnt, weil der Spanier war. Das kommt mir für einen Freiheitshelden und einen aufgeklärten Menschen als sehr kleinlich vor.
Hier konnte man es jedenfalls aushalten. Das große Gelände ist gepflegt, mit schönen Wegen und Parks ausgestattet und einladend aussehenden niedrigen Gebäuden. Es ist brennend heiß.
Am Eingang zum ersten Gebäude sieht man eine kleine Kapelle, dem Hl. Petrus von Alexandrien gewidmet, dem Namensgeber der Quinta, einem spanischen Theologen aus der Schule von Salamanca.
Neben dem Eingangsportal der letzte Aufruf Bolívars, eine Art politisches Testament. Es ist an die „Colombianos“ gerichtet, womit aber nicht nur Kolumbier im heutigen Sinne gemeint sind, sondern alle Einwohner des damaligen Gran Colombia. Er muss aber schon selbst geahnt haben, dass dessen Einheit nicht halten würde.
Rechts davon das Sterbezimmer Bolívars. Er war bettlägerig gewesen, war dann aber wieder ein paar Tage wieder auf gewesen und dann plötzlich verstorben. Einer seiner Gefolgsleute durchschlug das Pendel der Pendeluhr in dem Sterbezimmer, so dass die bis heute den Zeitpunkt des Todes anzeigt. Auch sonst wurde alles wie vorher belassen in dem Sterbezimmer. Das war 1830.
Bolívar starb an Tuberkulose, genauso wie sein Vater und seine Mutter. Die Tuberkulose war aber nicht erblich, sondern einfach die gängigste Todesursache der Zeit. Vielleicht auch ein Wort, mit dem man andere, bis dahin unbekannte Krankheiten bezeichnete.
Am meisten überrascht mich das Alter: Bolívar wurde nur 47. Irgendwie hat man durch die staatsmännischen Darstellungen immer den Eindruck, dass es sich um einen älteren Herrn gehandelt hat.
Der Arzt der Quinta hatte bis zum Schluss drei Arzneien verordnet, ein Heilkraut, Hühnerbrühe und Wein. Aber auch die konnten nichts mehr anrichten.
Die Autopsie wurde merkwürdigerweise in der Backstube vorgenommen. Nur die hatte einen Tisch, der lang genug war. Hinten an der Wand der Backstube sieht man eine Durchreiche. Durch wurden den Sklaven der Quinta das Essen gereicht. Das Betreten der Quinta selbst oder seines Hauptflügels war ihnen verboten. Auch komisch: halb Amerika befreien und sich von nicht befreiten Sklaven bedienen lassen.
Im Wohnzimmer ist der Tisch gedeckt mit einem Service aus Sèvres. Schlecht lebte man hier nicht.
In der Bibliothek werden einige der Bücher aufbewahrt, die Bolívar besaß, darunter Rousseaus Contract Social, eine Vulgata und der Don Quijote.
In den übrigen Räumen werden Bolívar und seine Zeit dokumentiert. Eine liegende Skulptur von ihm hat einen Kopf, der nach der Totenmaske geformt wurde.
In einem Raum hängt ein Photo eines Gemäldes, das die Hochzeit Bolívars darstellt. Es sieht so aus, als habe er in Spanien geheiratet! Auf dem Photo trägt der Bräutigam den Brautstrauß, unserem Führer zufolge ein Zeichen dafür, dass der Bräutigam jünger als die Braut ist. Jedenfalls waren beide noch blutjung. Seine Frau starb schon acht Monate nach der Eheschließung an Gelbfieber, und Bolívar legte an ihrem Sterbebett das Gelübde ab, nie wieder zu heiraten. Was er auch nicht tat. Er hatte allerdings zahlreiche Geliebte, aber keine Kinder, jedenfalls keine von ihm anerkannte Kinder.
In den anderen Räumen sieht man Porträts seiner Mitstreiter und von Francisco Mariano, den Vorläufer Bolívars und Vordenker der Unabhängigkeitsbewegung, dessen Bedeutung immer unterschätzt wird.
Dann kommen Photographien von der Hundertjahrfeier der Wiederkehr des Sterbetags, 1930, mit riesigen Paraden und volksfestartigen Aufläufen. Das ist wohl der Beginn der Heldenverehrung.
Außerhalb des Haupthauses sieht man noch die Destille, mit großen Kesseln, das Gebäude, wo das Zuckerrohr geschnitten wurde und das Gebäude, in dem der Abfall des Zuckerrohrs gelagert wurde.
Das ganze Gelände ist bestanden mit riesigen, imposanten Bäumen und hat einen etwas verwilderten Garten.
Ganz in der Mitte, ganz in Weiß, von den anderen, beigefarbenen und niedrigeren Gebäuden abgesetzt, befindet sich das anlässlich der Hundertjahrfeier aufgestellte Denkmal, passend Altar de la Patria genannt. Es hat wirklich religiöse Züge. Im Zentrum steht die Siegesgöttin, mit Rechtsbuch und Köcher in den Händen, mit den Füßen das spanische Joch zertretend, links davon die Allegorie des Reichtums mit dem Füllhorn in der Hand, rechts davon die Allegorie der Freiheit. Über allem thront Bolívar, hier immer nur El Libertador genannt. Er trägt Schwert und Uniformmantel. In der Figur gibt es eine interessante optische Täuschung. Sie sieht von nahem älter aus als von weitem, besonders alt von der Seite. Das Schwert sieht dann wie ein Gehstock aus.
Auf dem langgestreckten Platz vor dem Denkmal stehen zu beiden Seiten hohe Flaggenstäbe mit den Fahnen aller lateinamerikanischen Länder. Erstaunlich, wie wenige man davon identifizieren kann.
Nach der Besichtigung geht es wieder mit dem Taxi zurück in die Stadt. Vor der Quinta stehen schon mehrere Leute Schlange. Der Aufseher sorgt davor, dass immer neue Taxis anrücken.
In Santa Marta bleibt noch Zeit für die Besichtigung des Museo de Oro Tairona, im ältesten Gebäude Santa Martas untergebracht, einem schönen, zweistöckigem Kolonialgebäude mit einem umlaufenden Balkon aus Holz. Das Haus selbst ist auch einen Besuch wert. Von dem Balkon aus hat man einen schönen Blick in verschiedene Richtungen, auch auf das nahegelegene Meer.
Passt gut zu der Besichtigung der Quinta: Auch hier war Simón Bolívar zu Gast, wohl eine längere Zeit. Dieser Aufenthalt wird in El General en su Laberinto thematisiert. García Márquez erzählt, wie Bolívar sich meist nicht in dem Zimmer aufhielt, das ihm zugewiesen war, sondern in dem einzigen, das eine Vorrichtung für eine Hängematte hatte.
Im oberen Stockwerk geht es um die Geschichte von Santa Marta. Sie ist Kolumbiens älteste Stadt. Wenn man das ihr nicht ansieht, liegt das an dem Erdbeben von 1834, das große Teile der Stadt zerstörte.
Eine große Bedeutung für die moderne Entwicklung der Stadt hatte der Bau der Eisenbahn. Sie erreichte in 24 Jahren nur eine Länge von 95 Kilometern, bis Fundación, aber fördere entscheidend Anbau und Handel von Bananen. Der wiederum zog Migranten an, auch aus dem Ausland, und bewirkte ein rasantes Anwachsen der Bevölkerung. Als dann in der Ölkrise Energieknappheit zum Thema wurde, stellte man um von Bananen auf Kohle, und aus dem Tren de Banano wurde der Tren de Carbón.
Die eigentliche Ausstellung ist aber im Erdgeschoss untergebracht. Es geht, trotz des Namens des Museums, nicht nur um Gold, auch wenn die erstaunlichsten Exponate aus Gold sind. Man steht bewundernd vor der Kunstfertigkeit, aber auch der Phantasie der Künstler.
Es geht um die Tairona, im engeren Sinne nur eine von mehreren von den Spaniern identifizierten Stämmen, der aber im Laufe der Zeit zu einem Sammelbegriff für mehrere Stämme wurde. Auf einer Karte sieht man sehr gut, wie diese Stämme sich in zahlreichen Dörfern über vier verschiedene Zonen verteilen, mit unterschiedlichem Schwerpunkt: Gente de Mar, Gente de Sierra, Gente de Río, Gente de Sabana.
Wie es zeitlich einzuordnen ist, wird nicht so ganz klar, aber die ältesten Exponate stammen aus vorchristlicher Zeit. Die ganze Zeitspanne umfasst vielleicht tausend Jahre.
Unter den ältesten Exponaten befinden sich Pfeifen, die wie die aus unseren Stutenkerlen aussehen. Man kann aber nicht erkennen, welchen Zweck sie hatten.
Ausgestellt sind auch Keramikgefäße mit menschlichen oder menschenähnlichen Gesichtern. Die dienten der Aufbewahrung menschlicher Knochen. Es wurde eine sog. sekundäre Bestattung vorgenommen. In die Keramikgefäße kamen die Knochen von vorher bereits Bestatteten. Das erlaubt den Archäologen wiederum eine Unterscheidung von anderen Stämmen, die primäre Bestattung betrieben.
Eine Besonderheit der Tairona ist das Verbergen von Schätzen, wohl als Opfer an die Götter gedacht, zum Erhalt von Wohlergehen und Fruchtbarkeit. Solche verborgenen Schätze hat man an Lagunen, Tempeln, Wegen und an Behausungen. Sie enthalten vor allem Ketten, Muscheln, Keramikbehälter, Goldschmiedearbeiten, aber auch Baumwolle und Samen. Ein wahrer Schatz für die Archäologen.
Viele kleine Keramikfiguren sind ausgestellt, darunter ein Affe, der die Hände vors Gesicht schlägt. Ob das als Amulett getragen wurde?
Einige der Exponate erlauben Rückschlüsse auf die Lebensweise der Tairona. Es gibt zum Beispiel Figuren mit einer aufgeblasenen Backe auf einer Seite. Das signalisiert das Kauen von Coca-Blättern. Das wurde praktiziert, um bei der Arbeit nicht so schnell zu ermüden, aber auch bei den langen Ritualen.
Eine andere Figur hat ein zylindrisches Holz quer durch die Nase gesteckt. Aus den Erläuterungen geht hervor, dass Piercing, auch wenn das Wort noch nicht erfunden war, gängige Praxis war. Nichts Neues unter der Sonne.
Bei den wunderbar filigran gearbeiteten Goldschmiedearbeiten sieht man immer wieder Spiralen, in einigen Objekten mehrere ineinandergreifende Spiralen unterschiedlicher Größe.
Besonders phantasievoll sind die Mischwesen gestaltet, Katzenmenschen, Schlangenmenschen, Eidechsenmenschen, Vogelmenschen. Die, so glaubte man, kontrollierten durch Rituale die Natur, die kosmische Ordnung und die Aktionen der Menschen.
Auffällig auch die Figur einer Schlange mit einem Kopf vorne und einem Kopf hinten, und eine menschliche Figur mit der Haut einer Schlange und eines Jaguars, die einen „Rucksack“ auf dem Rücken trägt. Der wird in der Vitrine durch einen Spiegel sichtbar gemacht.
Das wichtigste Thema ist aber die Fledermaus. Der Häuptling des Stammes nahm bei den Festen die Figur einer Fledermaus an. Masken und verschiedene Ornamente dieses Rituals sind ausgestellt.
Die Fledermaus ist auch Teil des vielleicht komplexesten Ausstellungsstücks, einem Vogel mit ausgebreiteten Flügeln, auf dem Fledermausmenschen in hockender Stellung abgebildet sind.
Schließlich gibt es auch noch ein interessantes technisches Detail. Zwei identische Ausstellungsstücke hängen nebeneinander, eins kupferfarbig glänzend, das andere golden glänzend. Es handelt sich um Stücke aus Tumbaga, einer Legierung. Mittels eines Bades in Salzwasser und vegetarischen Säuren wurde der Kupferanteil entfernt und das Stück, im wahrsten Sinne des Wortes, vergoldet.
Nach dem Museum gehe ich noch ein bisschen durch die Innenstadt. Ich frage eine Polizistin nach dem Weg zur Kathedrale und ob die Kathedrale und San Francisco dasselbe seien. Nein, das seien zwei verschiedene Kirchen, sagt sie. Wie denn die Kathedrale heiße, frage ich überflüssigerweise. Die heiße einfach Kathedrale, meint sie. Als ich dann zur Kathedrale komme, stellt sich heraus, dass sie den naheliegendsten aller Namen hat: Santa Marta.
26. Januar (Donnerstag)
Am Morgen gehe ich zum Kai runter, noch ist nichts los in der Stadt, unten am Meer ist aber schon Betrieb. Das Meerespanorama wird von Tag zu Tag schöner. Selbst der Hafen mit den Lastkränen und den Containerschiffen sieht nicht mehr so abschreckend aus. Der helle Sonnenschein trägt seinen Teil dazu bei. Vor dem Hafen liegen ein paar Fischerboote, eigentlich eher Schiffe.
Ich gehe einmal den ganzen Kai hinunter. Unterwegs sind sehr schöne Fitnessgeräte aufgebaut. Ein Opa gibt mit seinem Enkel den Takt vor, und ich schließe mich an.
Am Ende des Kais ist ein Yachthafen. Auf dem Rückweg bestelle ich bei einem Kaffeeverkäufer einen perico, schon um das Wort mal auszuprobieren. Er hat zwar keinen, versteht mich aber. Statt des perico nehme ich dann einen tinto.
Mit dem Bus geht es zum Strand, zum Rodadero, außerhalb der Stadt. Der Bus wartet regelrecht auf mich, der Schaffner steht auf der Straße und proklamiert laut den Namen des Fahrtziels.
Komischerweise geht es in die Berge. Ob das richtig ist? Ich vertraue auf die Badekleidung einer Frau in der ersten Reihe.
Wir fahren mit offenen Türen, und an einer Ampel kauft eine Frau schnell für ihr Kind durch die Bustür hindurch eine Flasche Wasser.
Kaum am Rodadero angekommen, wird man überfallen mit Ausflugsangeboten zur Playa Blanca und nach Taganga. Beide sollen schönere Strände sein, und sind es wohl auch wirklich, aber für meine Ansprüche genügt der hier.
Es ist der typische Badestrand für die ganze Familie. Der Strand ist gut besetzt, aber nicht übervoll. Im Wasser ganz vorne schwimmen überdimensionale Enten, und Eltern spielen mit ihren kleinen Kindern im Wasser. Am Strand entstehen Sandburgen.
Der ganze Badestrand, vielleicht einen Kilometer lang, ist gesäumt Hochhäusern mit Hotels. Die scheinen, den Balkonen und den Marquisen nach zu schließen, nicht voll besetzt zu sein. Hochsaison ist hier um Weihnachten und um Ostern herum. Baden kann man hier das ganze Jahr über, auch jetzt, mitten im Winter.
Ich leihe einen Plastikstuhl aus, und kaum habe ich es mir darauf bequem gemacht, erscheint ein Strandwächter, begleitet von zwei streng blickenden Touristenpolizistinnen, und trommelt die Herumsitzenden zusammen, um es nicht jedem einzelnen sagen zu müssen. In hochbeamtlichem Ton lässt er uns wissen, diese sei eine verbotene Zone für Stühle und fordert uns auf, sie weiter hinter aufzustellen. Ist schnell erledigt, aber kein Grund für so viel Theater.
Ich bitte einen vertrauenswürdigen Mann, auf meine Siebensachen aufzupassen und stürze mich ins Wasser. Die Temperatur ist ideal, nicht zu kalt und nicht zu warm. Und hinten, wo man nicht stehen kann, hat man auch genug Platz.
Der Name des Strandes, Rodadero, soll mit rodar zusammenhängen, ‚rollen‘. Und das wiederum kommt daher, dass man früher von einem sandigen Hügel aus sich ins Meer rollen lassen konnte. Tolle Vorstellung! Vom Wasser aus sieht man tatsächlich einen Hügel, der dafür in Frage käme.
Der Strand zieht sich an einer Bucht entlang, begrenzt von niedrigen Bergen an beiden Enden. Kein Hingucker. Schön dagegen ist die einsame Felseninsel mitten im Wasser, von Ausflugsboten umrundet. Oben auf dem Felsen zwei langgestreckte Häuser. Wie man da wohl lebt?
Sobald man wieder sitzt, kommen Verkäufer auf einen zu und bieten ihre Ware an: Schmuck, Piña Colada, Garnelen, Strohhüte, Ausflüge, Churros, Sonnenbrillen, Massagen: „A la orden.“ Sie reden mich unterschiedlich mit Amigo, Padrón oder Papi an.
Die Verkäufer sind von Kopf bis Fuß eingepackt, tragen am Kopf Schirmmütze, Halstuch und Kopftuch. Wenn sie dann noch eine Sonnenbrille tragen, sieht man gar nichts mehr von ihnen.
Essen wird von konkurrierenden Anbietern in Styropordosen angeboten. „Rico almuerzo, barato, arroz con coco, carne, pollo.“ Ich greife zu, Hähnchenbrust mit Reis und Linsen, schmeckt richtig gut, und wird einem auf dem Platz serviert. Man isst alles mit dem Löffel, oder mit den Händen.
Ein Verkäufer, dem ich schon mehrmals sein Essen ausgeschlagen habe, sagt mir, er mache sich langsam Sorgen um meine Gesundheit. Alle Umstehenden lachen.
Dann hört man plötzlich Freudenschreie: Delfine am Strand. Sie machen ihre Sprungübungen, genauso, wie man es aus Filmen kennt. Als alle mal an der Reihe waren, machen zwei dann einen Doppelsprung in perfekter Abstimmung. Und noch einen. Und noch einen.
Auf dem Rückweg dieselbe Szene wie auf dem Hinweg. Der blaue Bus, eine buseta, steht bereits abfahrbereit, und ich habe längst aufgegeben, den noch zu kriegen, aber der Schaffner steht draußen und wartet, bis ich da bin: „A la orden, caballero.“
Auf dem Rückweg sieht man deutlich die karge Landschaft, mit kahlen Bäumen, ein paar dürren Sträuchern und vielen Kakteen. An einem Berghang eine einsame Bergziege. Im Hintergrund die Sierra.
Hinter einer Kurve kommt dann unerwartet die Bucht von Santa Marta in Sicht. Auch jetzt fahren wir mit offenen Türen, und man steigt einfach da aus, wo es einem am besten passt. Bei mir ist das die Kathedrale.
Der Platz hat neben der dominierenden Kathedrale den (ehemaligen) Bischofspalast und das (ehemalige) Rathaus, alle drei in glänzendem Weiß. Die Kathedrale hat einen Glockenturm und drei unregelmäßig auf das ganze Gebäude verteilte Kuppeln.
Es gibt aber Interessantes zu erfahren: Der ursprüngliche Kirchenbau wurde finanziert durch Steuern, und zwar durch die Schnapssteuer! Der ganze Bau wurde, heißt es, während des Bürgerkriegs zerstört (Was für ein Bürgerkrieg?), genauso wie das Rathaus. Er wurde dann in einem klassizistischen Stil neu errichtet und später, durch Pius XII., zur Basilika Minor gemacht. Deshalb sprechen hier alle von Basilika, nicht von Kathedrale.
Da die Kirche geschlossen ist, gehe ich noch zum Parque de los Novios, schon wegen des Namens ein Anziehungspunkt. Dort stelle ich aber fest, dass ich da dieser Tage schon mal vorbeigekommen bin. In der Mitte steht die Statue von Santander, dem „Mann der Rechte“, dem Revolutionär, der sich am meisten um die Gesetzgebung der neuen Republik kümmerte.
Der Platz selbst hat im Laufe seiner Geschichte verschiedenen Namen gehabt, darunter Plaza Madrid. Der Name bezieht sich aber nicht auf die Stadt, sondern auf einen Mann namens Madrid.
Diese ganze Gegend ist eine Mischung aus Touristenzentrum und Schickimicki, aber der Durst ist zu überwältigend, und ich bestelle in einer harmlos aussehenden Pizzeria ein Bier, aus Versehen das falsche, Stella Artois. Ich habe Estela verstanden. Ich gucke mich um, als die Rechnung kommt: 12.000. Mehr als ich für das komplette Mittagessen am Strand bezahlt habe! Und doppelt so viel wie ein einheimisches Bier gekostet hätte.
Es ist inzwischen windig geworden, so sehr, dass mehrere Sonnenschirme umkippen, hier und im Lokal nebenan. Einer landet sanft auf meinem Kopf. Lächelnd macht man sich daran, die Schirme einzuklappen und für heute aus dem Dienst zu entlassen.
In dem kleinen Lokal, wo ich mein abendliches Bier kaufe, erfahre ich noch was zum Wind. Den gebe es immer um diese Jahreszeit, sonst nicht. Las brisas locas ist die lokale Bezeichnung dafür. Man sollte öfter Bier kaufen gehen. Ist sehr instruktiv.
Am Abend finde ich noch das hier zum Bürgerkrieg des 19. Jahrhunderts. Der konfrontierte Konservative und Liberale mit ihren zwei unterschiedlichen Auffassungen vom Staat, einem zentralistischen und einem föderativen. Die Liberalen gewannen und setzten ihre Idee eines föderativen Staats durch. Es sei das einzige Mal in der Geschichte des Landes, heißt es, dass die aufständische Seite einen Konflikt gewonnen habe. Der Bürgerkrieg dauerte von 1860-1862, spielte sich also ab, nachdem Kolumbien schon 30 Jahre unabhängig war und bereits Colombia hieß und nicht mehr Nueva Granada.
27. Januar (Freitag)
Aracataca – das ist der vollklingende Name des Geburtsorts von Gabriel García Márquez. Auch hier ist es schön warm das ganze Jahr über, so sehr, dass García Márquez in Barcelona und in Mexiko immer ein Heizöfchen auf dem Zimmer hatte. Es heißt, er habe nur schreiben können mit den Füßen auf dem Heizöfchen.
Leider ist Aracataca doch weiter von Santa Marta entfernt, als ich gedacht habe, und wieder muss ich in den Bus – in zwei genau genommen. Erst in einen Stadtbus zum Bahnhof, dann in den Bus nach Aracataca.
Sobald ich aus dem Haus bin, mache ich wieder eine Begegnung mit der unglaublichen Freundlichkeit der Kolumbianer. Ich frage einen Apotheker nach dem Bus zum Busbahnhof. Er weiß gut Bescheid und erklärt mir den Weg, aber damit gibt er sich nicht zufrieden, sondern hält einen Bus an und ruft dem Fahrer die Frage zu. Der bestätigt, was er gesagt hat. Als ich der Haltestelle nahe komme, ruft mir sofort ein Mann, der vor einer Hauswand auf dem Boden sitzt, die Frage zu, wohin es gehe. Ja, das hier sei richtig, und er nennt mir noch das Wort, das auf dem Bus stehen muss, damit ich den richtigen erwische. Dann kommt ein Bus nach dem anderen, kleinere Busse, die hier buseta genannt werden, einer so blau wie der andere. Mindestens jeder zweite Fahrer hält an und fragt mich, wohin ich wolle. Ich bin so überwältigt von der Freundlichkeit, dass mir das Warten nichts ausmacht.
Dann kommt endlich mein Bus. Ich erwarte 3-4 Haltestellen, aber es sind eher 30-40. Ist das wirklich der Bus zum Busbahnhof? Ja, ist richtig. Auf dem letzten Teil der Strecke bin ich alleine, alle anderen sind ausgestiegen.
Als wir vor einer roten Ampel stehen, steigt ein Junge durch die offene Tür schnell in den Bus und bietet Wasser an. Bevor die Ampel auf Grün springt, ist er schon wieder draußen. Ich kaufe ihm eine Flasche ab: 1.000 Pesos. Auf der Flasche steht der Originalpreis: 500 Pesos. Er verdient an einer Flasche 500 Pesos, das sind gerade mal 10 Cent. Wie viele Flaschen muss er verkaufen, um über die Runden zu kommen?
Am Busbahnhof kauft man dann die Fahrkarte nach Aracataca. Es soll zwei Stunden dauern, ich habe mit einer gerechnet, am Ende sind es anderthalb.
Man sitzt in dem Bus schrecklich eingezwängt, und es ruckelt gewaltig angesichts der schlechten Straße.
Ein Mann auf der anderen Seite brüllt in sein Handy, ohne zu merken, dass er damit die gesamte Gesellschaft unterhält. Als er endlich fertig ist, nimmt er sich seinen Nachbarn vor, mit derselben Lautstärke.
Dann kommt Aracataca. Am Ortseingangsschild steht Aracataca und darunter Macondo. So heißt der Ort in Hundert Jahre Einsamkeit. Es hat einmal eine Abstimmung gegeben, den Ort in Aracataca-Macondo umzubenennen, aber die ist an Mangel an Beteiligung gescheitert.
Mit einem Mototaxi geht es ins Zentrum. Wir bleiben am Bahnübergang stehen und müssen einen Zug passieren lassen. Der ist unendlich lang. Der Fahrer vermeldet stolz: 125 Waggons, alle 20 Minuten so ein Zug. Transportiert Kohle. Die werde in andere Länder exportiert. Kolumbien halte andere Länder warm.
Er setzt mich direkt vor dem Geburtshaus ab. Ich habe Glück, bin noch vor der Mittagspause da. Hier wird man sofort von Stadtführern angesprochen, und auf der Straße werden Souvenirs verkauft, aber sonst ist Aracataca, wie ich später feststellen kann, ein ganz normaler Ort.
Das Geburtshaus ist nicht original, sondern eine Rekonstruktion, zu der García Márquez aber seine Zustimmung gegeben hat. Das Haus ist groß, ein Zimmer reiht sich an das andere. Das Haus ist niedrig, gemütlich, alle Wände weiß gekalkt. Die Räume haben keine Türen.
Die Ausstellung ist gut gemacht. Jeder Raum hat eine Beschreibung, ein passendes Zitat aus der Autobiographie und ein passendes Zitat aus einem Roman. Außerdem sind in jedem Raum ein paar originale Objekte zu sehen, eine alte Schreibmaschine, ein altes Wörterbuch, alte Taschen und Truhen und ein sehr schönes Service auf dem Esstisch. In einem Raum hängen die kleinen Fische, die einer der Charaktere in dem Roman herstellt. Der lehnt sich an den Großvater von García Márquez an. Der sei, sagt er, der wichtigste Mann in seinem Leben gewesen. Er erregte sein Interesse an Sprache und an Geschichte, von Kind auf. García Márquez wuchs bei seinen Großeltern auf.
Das Interesse an Geschichten aller Art erweckten die vielen Frauen im Haus, die Großmutter, verschiedene Tanten, die hier lebten und die beiden Indio-Frauen, die irgendwann irgendwoher auftauchten und hier, genauso wie in dem Roman, Unterschlupf fanden. Sie lebten in einem etwas weiter hinter gelegenen Häuschen. García Márquez hörte seine Großmutter mit ihnen in ihrer Sprache sprechen. Das muss eine magische Wirkung auf ihn gehabt haben. Von den Indio-Frauen hörte er die Erzählungen ihres Volkes, von einer der Tanten wurde er in die westliche Literatur eingeweiht. Sie habe die Gabe gehabt, heißt es, die Odyssee oder den Don Quijote so zu erzählen, dass Kinder sie verstehen konnten. Alle diese Frauen konnten die verrücktesten Dinge so erzählen, als wären sie das normalste in der Welt.
Eine dritte Quelle waren die Bücher selbst. Es gibt einen Abstellraum, dessen Betreten verboten war. Eines Tages, erzählt García Márquez in seiner Autobiographie, habe er sich unbemerkt hineingeschlichen und die 1001 Nacht entwendet, ein weiteres Werk, das ihn nachhaltig beeinflusste.
Auch mit dem Tod machte er früh Berührung. Zwei der Tanten starben noch, während er in diesem Haus lebte. Ihr Leichnam wurde hier aufgebahrt.
In allem spürt man die Verbindung von Leben und Literatur, und in den Erzählungen die Mischung aus Realismus und Phantasie, die so schön in dem Wort magischer Realismus ihren Ausdruck findet.
Auch mit der Politik und der Gesellschaft kam García Márquez früh in Berührung, und zwar durch das Auftauchen der United Fruit Company, in Aracataca wie in Macondo. Mit ihr und dem Bananenboom kamen Migranten aus allen Ecken nach Aracataca und destabilisierten das soziale Gleichgewicht. Das Monopol der United Fruit Company bedeutete Kontrolle der Preise und den Ausschluss der kleinen Geschäftsleute und der kleinen Bauern vom Handel mit Bananen. Die Auseinandersetzung über die Löhne und Leistungen der Arbeiter sorgten für soziale Spannung und für Unruhe. García Márquez erlebte das Ende einer Epoche.
Nach dem Museum geht es in die Stadtmitte. Auf dem zentralen Platz steht eine Kirche mit einer wunderschön verspielten Fassade, ganz in Weiß wie hier üblich. Auf dem Platz vor der Kirche eine Bronzeskulptur, die García Márquez darstellt, vor der Schreibmaschine sitzend, die er mit zwei Fingern traktiert. Er ist sofort zu erkennen, mit den kantigen Gesichtszügen, den buschigen Augenbrauen und dem mächtigen Schnäuzer.
Außer dem Geburtshaus ist auch noch das Telegraphenamt zu besichtigen. Hier gibt es (noch) nicht viel zu sehen, das Museum befindet sich noch im Aufbau. Aber es spielte eine Rolle im Roman wie in der Geschichte. Der Vater war der erste Telegraphist hier, ein Amt, das Rang und Ansehen bedeutete. Die Telegraphie war die einzige Kommunikationsform zwischen zwei Parteien, die sich nicht am gleichen Ort befanden. Und ich verstehe jetzt endlich, wie es sich mit den Eltern verhält: Die waren, wegen einer Anstellung des Vaters, mit den jüngeren Geschwistern nach Sucre gezogen und hatten den ältesten Sohn in der Obhut des Großvaters gelassen. Als der starb, musste der Sohn auch ins ungeliebte Sucre, und dann kehrte die ganze Familie nach Aracataca zurück, als der Vater das Amt des Telegraphisten erlangte. García Márquez spricht sehr positiv von seinem Vater, einem Menschen, der viel Wert auf Bildung legte und seinem Sohn alle Freiheiten ließ.
Ich streife noch ein bisschen durch den Ort und mache mich dann auf den Weg zu der Landstraße, diesmal zu Fuß. Wieder muss ich an dem Bahnübergang stehen bleiben, wieder kommt so ein langer Güterzug. Ein junger Mann hat sich mit seinem Wägelchen strategisch gut hier aufgestellt, wo alle warten müssen. Er verkauft borojaso, genau genommen borojaso costeño. Was ist das nun wieder? Vereinfachte Antwort: ein Energydrink. Gemacht aus natürlichen Früchten, aus dem borojó, einer Frucht, für die es kein deutsches Äquivalent zu geben scheint. Nahrhaft und energiereich. Das Getränk hat hier eine lange Tradition und gilt unter anderem als Aphrodisiakum. Wird hier mit zerstoßenem Eis und einer Creme oben drauf serviert.
Wieder in Santa Marta komme ich beim Bummeln durch die Stadt noch zu einer weiteren Kirche, wieder weiß, wieder Kolonialstil, wieder mit einem seitlich versetzten Kirchturm. Am interessantesten ist die leidvolle Geschichte der Kirche. Sie wurde schon früh von englischen, französischen und holländischen Piraten besetzt und als Gefängnis benutzt, wurde dann bei dem Erdbeben zerstört und dann noch einmal bei einem Brand im 20. Jahrhundert. Bei dem Wiederaufbau blieb nur noch die Fassade dem Original treu.
Mein Magen hängt auf halb acht, aber ich sehe überall nur Touristenlokale. Irgendwo entdecke ich dann doch noch von weitem das Schild Almuerzo vor einem Lokal. Es ist ein Volltreffer, auch wenn die Einrichtung an eine Kantine erinnert. Aber das Essen ist hervorragend, vor allem das saftige und gleichzeitig knusprige Hähnchen.
28. Januar (Samstag)
Ganz früh am Morgen geht es los. Es ist stürmisch, der Wind heult und treibt alle möglichen Gegenstände über die Straße und lässt sie an die Hauswände prallen.
Trotz der frühen Stunde steht sofort ein Taxi bereit. Es geht zum Flughafen. Zwei kurze Flüge ersparen mir zwei lange Busfahrten.
Der Taxifahrer drückt ordentlich auf die Tube und fährt ungeniert über alle roten Ampeln. Irgendwann biegen wir von der Schnellstraße ab und kommen in eine ganz ländliche Gegend. Ob das alles so seine Richtigkeit hat? Ja, hat es, da tauchen in der Ferne die Lichter des Flughafens auf.
Der Taxifahrer knöpft mir 40.000 ab. Er behauptet, das sei der Standardpreis für den Flughafen. Ich hatte unsere Vereinbarung aber anders verstanden.
Die Abfertigung geht schnell, noch ist kaum jemand da, und ich muss sogar noch warten, bis das erste Café um 6 Uhr öffnet.
Das Flugzeug ist erstaunlich groß und bis auf den letzten Platz besetzt. Der Abflug über das Meer und den Anflug an Bogotá mit den grünen Bergen sind ausgesprochen schön.
In gut einer Stunde sind wir in Bogotá. Dort ist es merklich kälter, sogar in dem Flughafengebäude. Bogotá liegt auf 2.000 Metern Höhe. Es ist die viertgrößte Stadt Südamerikas, mit über 8 Millionen Einwohnern, doppelt so viel wie Berlin. Die viertgrößte? Was sind die anderen drei? São Paulo und Buenos Aires fallen mir sofort ein. Die dritte will mir nicht in den Sinn kommen. Am Ende entscheide ich mich für Lima. Stimmt.
Auch das Flugzeug nach Pereira ist groß und voll, ich habe aber das Glück, dass der Platz neben mir frei bleibt. Pereira liegt im Eje Cafetero, dem Kaffeedreieck Kolumbiens. Heißt in der Alltagssprache País Paisa, und seine Bewohner sind die paisas.
Vom Flughafen geht es mit dem Taxi nach Pereira. Das hat nichts weiter zu bieten, aber zwei Dinge will ich auf jeden Fall sehen, bevor es weiter geht nach Filandia, meinem eigentlichen Ziel. Allerdings nennt der Taxifahrer noch eine dritte Sehenswürdigkeit, das Centro Comercial. Mir gelingt es so gerade, das nicht zu kommentieren.
Der zentrale Platz heißt natürlich Parque Bolívar, und hier liegen auch gleich die beiden Sehenswürdigkeiten, die ich im Sinne habe, die Statue von Bolívar und die Kathedrale. Das Monument ist wahrlich monumental, viel größer, als ich es mir vorgestellt habe. Bolívar, den Kopf energisch nach vorne gewandt, sitzt nackt auf seinem nach vorne sprengenden Pferd. Wenn das Monument eins verkörpert, dann Dynamik. Warum Bolívar nackt dargestellt wird, ist nicht so klar, und so war die Statue anfangs auch sehr umstritten. Inzwischen ist sie aber zum Wahrzeichen Pereiras geworden. Sowieso ist der nackte Körper doch sehr dezent abgebildet.
Am selben Platz steht die Kathedrale, mit einer sehr, sehr eigenwilligen Fassade, deren unterer Teil, auch sehr originell, überhaupt nicht zu dem oberen passen will. Der untere Teil ist sehr schön, aus Backstein, mit Säulen, die oben eingestellt sind. Es sieht fast römisch aus. Der obere Teil ist so eine Art Klassizismus und sieht wie in Cellophanpapier eingepackt aus.
Innen ist vor allem das Dach bemerkenswert. Es ist ganz aus Holzstreben gemacht, die sich noch ein Stück die Wand runterziehen und verschiedene Muster bilden. Schön und gleichzeitig originell.
Dann geht es zum Busbahnhof, wieder mit dem Taxi, und dann mit dem Bus nach Filandia.
Dort wird man am Straßenrand rausgelassen. Ich bin zuversichtlich, dass man mit der Adresse, die ich im allerletzten Moment vor der Abreise bekommen habe, die Unterkunft finden kann, zumal die Unterbringung auch noch einen Namen hat, Altos de Bremen. Da habe ich mich aber verkalkuliert. Die Leute sind alle sehr hilfsbereit, vor allem der erste Mann, der gleich seinen Pinsel fallen lässt und mich ein Stück die Straße runter begleitet. Das Stadtviertel, das ich suche, sei nicht hier, sondern weiter unten. Dann habe ich eine Frau im Schlepptau, die mich in die Stadtmitte bringt. Hier fragen wir bei einem Reiseveranstalter. Die Frau sagt, sie könne mir sagen, wo das sei, aber es sei ganz weit von hier entfernt. Das höre ich dann immer wieder. Später stellt sich heraus, dass die Eigentümerin des Apartments selbst eine Finca hat, die auch Altos de Bremen heißt, wie das Apartment. Ich laufe durch die wunderschöne Innenstadt, kann aber die Schönheit der Häuser und das bunte Treiben kaum richtig wahrnehmen. Einzig in der Nähe einer Aussichtsterrasse mache ich einmal Halt, wo eine dreiköpfige Rentnerband mit einer zahnlosen Oma als Sängerin das Volk unterhält und zum Tanzen bringt.
Es geht rauf und runter, runter und rauf, ich werde müde und des Suchens überdrüssig. Kann es sein, dass ich die Adresse falsch notiert habe? Manzana 1, Casa 9. Vielleicht ist es Manzana I, Casa 9. Hier haben nämlich alle Viertel einen Buchstaben im Namen. Aber ein I ist nicht dabei.
Schon habe ich fast die Hoffnung aufgegeben, da stehe ich wieder vor dem Mann mit dem Pinsel. Er legt wieder seinen Pinsel aus der Hand, wir gehen eine Straße rauf, eine runter und wieder eine rauf. Hier ist tatsächlich die Manzana 1. Jetzt gilt es nur noch, das richtige Haus zu finden. Gar nicht so einfach, denn die Nummern gehen um den Häuserblock herum. Aber dann sind wir da. Ich kann ihm nur ein müdes Gracias hinterherrufen, er ist schon verschwunden. Ich klopfe an. Keine Reaktion. Noch mal. Wieder keine Reaktion. Dann erscheint oben auf dem Balkon ein Mann. Nein, er wohne nicht hier, er sei auch Gast. Aber er hat eine Telefonnummer. Nicht von der Vermieterin, aber von der Verwalterin. Die wohnt um die Ecke, ist nach zwei Minuten da, schließt aus und entschuldigt sich. Man habe mir eine Nachricht geschickt und nach der Ankunftszeit gefragt. Aber ich kann Nachrichten unterwegs nicht empfangen. Egal, jetzt bin ich da.
Ich mache noch einen Spaziergang durch die Stadt. Die ist wirklich wie aus dem Bilderbuch, ein einziges schönes Ensemble mit lauter kleinen, bunt bemalten Häusern.
Der zentrale Platz heißt natürlich Parque Bolívar. Am Rande des Platzes türmt sich die Kirche auf, zu groß und stilistisch unpassend, aber sehr schön mit ihren zwei abwechselnden Farben an der Fassade und den abgerundeten Türmen.
Innen sieht man Bilder von dem Erdbeben. Das hat einen Teil der Wand der Kirche rausgerissen und das benachbarte Pfarrhaus zerstört. Das hat man inzwischen wieder aufgebaut. Das Epizentrum des Erdbebens war in Armenia, und Filandia ist weitgehend verschont geblieben, wie ich später erfahre.
Ganz in der Nähe befindet sich eine wunderbare Bäckerei, in der ich in den nächsten Tagen Stammgast werde. Ständig wird frisch Gebackenes aus dem Ofen geholt, und es riecht so gut wie es schmeckt.
In den Straßen und den Souvenirläden drängen sich die Leute, aber ohne jede Hektik. Eher angenehme Betriebsamkeit. Angesprochen wird man an jeder Ecke, aber die Leute sind nicht aufdringlich. Schon bin ich fast für die blöde Suche nach der Unterkunft entschädigt.
29. Januar (Sonntag)
Bei der Suche nach dem Treffpunkt, für den ich eine Adresse habe, hilft mir eine Frau, die mich sogar begleitet. Sie führt mich in eine Richtung, die nach meiner Kalkulation falsch ist, aber ich folge ihr einfach mal und versuche, mit dem Photo, das ich bekommen habe, den richtigen Ort zu lokalisieren. Wir kommen an die Stelle, wo in einer Art Garage eine Frau an einem Tisch sitzt. Davor steht ein Mann. Wir fragen nach der Adresse, aber damit kann er nichts anfangen. Was ich denn suche, will er wissen. Kaffeeplantage? Julián? Das ist hier! Da erwarte mich ein schöner Tag, Julián mache das ganz wunderbar. Ich soll auf jeden Fall pünktlich sein, aber es ist noch Zeit für ein Frühstück in der wunderbaren Bäckerei.
Als ich zurückkomme, hat sich schon einiges angesammelt an Ausflüglern. Der Mann von vorher übernimmt die Organisation: Wandern – hier rüber, Kaffeeplantage – dort drüben. Außer mir zwei Schweizer und zwei Kolumbianer.
Und schon kommt Julián, mit seinem Allradwagen. Der ist auch nötig, auf der holprigen Strecke zu der Finca.
Schon auf dem Weg unterhält er uns mit allen möglichen Details über Filandia. Dies sei eine Gegend, die stark von europäischen Einwanderern geprägt sei, daher alle die europäischen Ortsnamen: Montenegro, Armenia, Barcelona, Bremen, Córdoba, Salento. Filandia sollte eigentlich Finlandia heißen, aber das habe es wohl einen Rechtschreibfehler gegeben.
Das mit den farbigen Häusern sei eine baskische Tradition. Anfangs signalisierten die Farben die Berufe: Grün stand für Kaffee, Gelb für Landwirtschaft, Rot für Viehzucht. Aber dann habe sich das alles in ein rein dekoratives Element verwandelt.
Filandia lebe in erster Linie vom Kaffee, in zweiter Linie vom Tourismus. Die Stadt hat 13.000 Einwohner, auf Stadt und Land gleichmäßig verteilt und kann zu Hochzeiten am Wochenende 100.000 Besucher haben. Der dritte Erwerbszweig ist der Avocado, der hier überall angebaut wird. Dabei gibt es sehr verschiedene Sorten, groß und glatt und hell und klein und schrumpelig und dunkel, dass man meinen könnte, es handele sich um unterschiedliche Früchte. Jeder einzelne Baum liefert 300 Kilogramm pro Jahr. Das vierte Element der Wirtschaft Filandias ist die Korbflechterei.
Eine Besonderheit der Gegend ist eine Palme, eine Palme, die sich nicht reproduzieren lässt. Sie ist außergewöhnlich groß und wird außergewöhnlich alt. Für die Vermehrung werden Papageien benötigt. Die müssen die Samen essen und wieder mit dem Kot ausscheiden, dann wächst eine neue Palme. Es klappt nur beim Papagei. Ein von einem Pferd verdauter Samen nutzt nichts.
Unser Mann, Julián, erklärt auch, dass mit Eje Cafetero ein Dreieck gemeint ist. Er nennt auch die drei Orte an den Spitzen des Dreiecks, aber ich verpasse es, die rechtzeitig zu notieren.
Wir hätten Glück gehabt, wir hätten jetzt mehrere trockene Tage gehabt, in der Regel regnet es hier jeden Tag. Der Kaffee braucht offensichtlich Regen. Hätte ich nicht gedacht.
Dann kommen wir auf die Finca, wo wir zunächst mit einem Hut und einem um den Bauch gewundenen Korb ausgestattet und mit einem Kaffee begrüßt werden. Julián selbst trägt auch einen Ranger-Hut, hat beringte Finger, trägt einen Bart und hat einen Fingernagel in den Farben Kollumbiens bemalt.
Sie seien eine kleine Farm, er habe 3 Hektar Land, sein Nachbar habe 100 Hektar. Deshalb könne er es sich leisten, das alles so zu machen, wie er es für richtig hält, organisch, nachhaltig, unabhängig. Die Führung bestätigt das später eindrucksvoll.
Der Kaffee schmeckt gut und ist nicht so stark wie erwartet. Er selbst trinke bis zu 20 Tassen Kaffee am Tag, auch vor dem Schlafengehe. Kaffee sei gesund – wenn er richtig angebaut werde. Er hört gar nicht mehr auf, die positiven Eigenschaften aufzuzählen. Da fragt man sich doch, ob der Kaffee nicht auch negative Eigenschaften hat. Auch, dass er so abfällig von anderen Kaffeemachern spricht – alles Abfall – gefällt mir nicht so gut, aber davon abgesehen ist alles völlig einleuchtend und instruktiv.
Sie betreiben die Finca in fünfter Generation. Auf dem Rückweg frage ich ihn später, ob die sechste Generation denn auch übernehme. Nein, wohl nicht.
Auf dem Weg zur Plantage kommen wir an einem Hühnerstall vorbei. Die Hühner hält er aus drei Gründen, sie liefern Eier und Fleisch, und ihr Kot wird als Dünger verwandt. Der Kot riecht ja gar nicht. Warum? Es wird das verbrannte Holz der abgeholzten Kaffeebäume beigemischt. Das Holz steht in einem Schlag schon bereit, kleingehackt.
Er züchtet die neuen Kaffeebäume selbst. Zunächst einmal wird eine Kaffeebohne mit dem krummen Teil nach unten in Erde gedrückt und wächst dort einige Zeit. Dann wird das Ganze in einen kleinen Blumentopf mit Kompost umgepflanzt, und nach einiger Zeit erscheint eine Blüte, eine richtig schöne weiße Blüte. Es entsteht der Trieb. Der wird dann gepflanzt.
Der Kaffeebaum wird bis zu sechs Meter hoch, wird aber gestutzt, damit man an die Früchte dran kommt. Wir sehen drei Exemplare in nächster Nähe, einen einjährigen, einen dreijährigen, einen fünfjährigen. Bei dem ist der Baumstamm nicht mehr so glatt – Alterserscheinung. Der Baum wird nach drei Durchläufen gestutzt, und fängt, wenn alles gut geht, noch mal von vorne an.
Wir bestätigen uns jetzt als Kaffeepflücker. Keine leichte Arbeit, obwohl hier in Terrassen angebaut wird und obwohl der Boden einigermaßen trocken ist. Unsere Ernte ist ziemlich miserabel, man sieht überall nur grüne, keine braunen Früchte, und es ist nicht so leicht, sich durch das Pflanzendickicht zu kämpfen.
Von einer Stelle haben wir einen Blick in die Umgebung. Ist das alles Kaffee? Ja. Hätte ich vorher nicht erkannt, und es gibt auch große Unterschiede zwischen den jungen und den alten Plantagen und den Anbauweisen.
Zwischen den Kaffeebäumen stehen Avocados, Bananen, Zitronen und andere Pflanzen. Die Kaffeepflanzen in deren Nähe riechen tatsächlich unterschiedlich. Die Banane hat gleich mehrere Funktionen: Sie schützt mit ihren Blättern den Kaffee vor allzu viel Regen und allzu viel Sonne, und sie zieht Spinnen an. Die tun dem Kaffee nichts zuleide, fressen aber die Insekten. Außerdem liefert die Banane natürlich Nahrung für die Familie und die Angestellten.
Geerntet wird zweimal pro Jahr, das ist ungewöhnlich. Er hat aber eine feste Mannschaft. Die Männer bekommen außerhalb der Erntezeit einen festen Lohn, in der Erntezeit arbeiten sie nach Akkord.
Der Kaffee hat zwei Feinde, Milben und Würmer. Milben haben sie hier keine, vielleicht wegen der organischen Anbauweise. Aber Würmer. Da keine chemischen Mittel eingesetzt werden, muss ständig kontrolliert werden, ob einzelne Früchte Würmer haben. Wenn eine befallen ist, kann der Rest des Baumes trotzdem gesund sein, also muss man Frucht für Frucht durchsuchen. Julián zeigt uns, wie man das erkennen kann: Ganz oben befindet sich ein kleines Loch. Er öffnet die Frucht, und drinnen bewegt sich der Wurm!
Er legt ein Blatt auf die Hand der Schweizerin, und darauf legt er eine Blüte, eine grüne, also unreife Frucht, eine braune, also reife Frucht und eine Kaffeebohne. Wir müssen wieder ran. Die Frucht muss zuerst geknackt werden, nach einigen Versuchen geht das ganz gut. Dann muss noch die Schale entfernt werden, und zum Vorschein kommt die zweiteilige Kaffeebohne.
Dann sehen wir, wie das mechanisch gemacht wird. Die Früchte kommen in einen Behälter und gehen durch eine Maschine, die sie knackt und von der Schale befreit. Das funktioniert perfekt. Die Früchte fallen dann in ein Wasserbecken. Was oben schwimmt ist Abfall und wird wiederum dem Kompost zugefügt, was unten schwimmt, wird zu Kaffee.
Der muss jetzt erst einmal getrocknet werden. Das geschieht auf einem Dachboden mit einer Plane als Dach. Es ist richtig heiß hier. Der ganze Boden liegt voller Kaffeebohnen. Sie müssen immer mal wieder mittels eines Schiebers bewegt werden.
Dann setzen wir uns und bekommen zur Erfrischung ein Bier. In einem kleinen Topf wird der Kaffee, nur zur Illustration, geröstet. Später wird er dann gemahlen. Aus fünf Kilo bei der Ernte kommt 1 Kilo gemahlener Kaffee heraus.
Zum Abschluss wird uns noch Kaffee serviert, mit drei verschiedenen Zubereitungsformen: mit einer „französischen“ Kaffeepresse, mit einem „deutschen“ Filter und mit einer „italienischen“ Espressomaschine. Er bereitet mit allen einen Kaffee zu und erklärt noch ein paar Details, auf die man achten soll, zum Beispiel, dass man bei der Espressomaschine den Deckel nicht herunterklappt. Welche denn die beste Zubereitungsform sei, wollen wir wissen. Reine Geschmackssache. Mir schmeckt der Filterkaffee am besten.
Dann gibt es noch zwei Varianten, einen Kaffee mit Zitrone und einen Kaffee mit Zitrone und Schnaps. Herrlich!
Wir werden, alle richtig zufrieden mit dem Ausflug, wieder nach Filandia gekarrt. Heute Nachmittag steht für Julián die nächste Besuchergruppe auf dem Plan.
Dort bleibt mir noch Zeit für ein kleines Museum. Es hat kaum richtige Exponate, fast nur Plakate, Zeitungsausschnitte, Photos. Der Betreiber ist Historiker und hat sich der Geschichte Filandias verschrieben. Er erklärt etwas zu einem sensationellen Goldschatz, der hier vor einigen Jahren gefunden wurde. Hier kann man Photos davon sehen. Er stammt von den Quimbaya. Julián hatte erzählt, man habe den Schatz grundlos der spanischen Krone vermacht. Aber ganz so einfach ist es nicht. Vier Fünftel des Schatzes wurden von den Findern eingeschmolzen, das restliche Fünftel ging nach Spanien, als Anerkennung für eine Vermittlung in einem Streit zwischen Kolumbien und Venezuela.
Überall hängen Photos von den Darstellern und von Szenen eines hier in Filandia verfilmten Romans, Café con aroma de mujer. Scheint ein großer Publikumserfolg gewesen zu sein. Je mehr ich darüber lese, umso mehr habe ich den Eindruck, dass es sich bei novela nicht um einen Roman, sondern um eine telenovela handelt, eine Seifenoper.
In dem kleingedruckten Teil einer Zeitung kommt auch noch was zu dem Namen Filandia zum Vorschein. Es werden drei Philologen vorgestellt, die nicht glauben, dass es sich um einen Rechtschreibfehler handelt. Sie glauben, dass der Namen von lat. filius und den Anden kommt, also so was wie ‚Sohn der Anden‘ bedeutet.
Nach all dem Kaffee und dem frühen Frühstück ist mir nach einem herzhaften Essen zumute. Und ich finde das Richtige, eine bandeja paisa, das klassische, deftige, fleischhaltige Gericht dieser Gegend, in ganz Kolumbien bekannt. Ich nehme die dreigeschossige. Es gibt sogar eine viergeschossige. Auf jedem Geschoss der Etagere wird etwas anderes serviert, das man dann nach Belieben mischen kann. Am kräftigsten schmeckt die Speckgriebe, chicharrón, ganz oben aufder Etagere. Man muss sie zur Not mit den Fingern essen.
30. Januar (Montag)
Man sieht am Morgen, wie stark die Stadt vom Tourismus geprägt ist. Das Wochenende ist vorbei, die Stadt wirkt beinahe leer im Vergleich zu gestern.
Ich komme am Hotel Shaddai vorbei. Ungewöhnlicher Name. Im Internet finde ich später, dass Shaddai eine der hebräischen Bezeichnungen für Gott ist.
In der wunderbaren Bäckerei, wo ich beinahe Stammgast bin, liegt in der Vitrine ein Gebäck, das wie Speckgriebe aussieht, und auch so aussehen soll und auch so heißt: chicharrón. Daneben ein Gebäck, das wie ein Hot Dog aussieht.
Ein Mann auf der anderen Straßenseite, der mich laut anspricht, bringt mich in den Genuss einer weiteren Anredeform: „¡Oye, paisano!“
Die beiden Museen sind, und jetzt fängt es tatsächlich an zu regnen. Ich ziehe mich in die Wohnung zurück.
Am Nachmittag hat der Regen wieder aufgehört, und eins der Museen, das Museo del Abuelo, hat geöffnet. Die Tür ist noch halb angelehnt, und ich bin der erste Besucher. Später kommt noch eine kolumbianische Familie herein.
Das Museum, in einem schönen alten Haus untergebracht, ist auf beiden Etagen ausgestopft mit Alltagsgegenständen von Anno Dazumal: Schreibmaschinen, Heiligenbildchen (darunter, wie ich erfahre, der Hl. Caetano, der nie fehlen darf, weil er für Wohlstand sorgt), Bügeleisen (die modernen schon mit Kohle betrieben), Grammophone, Monatshefte mit den Porträts berühmter Männer), Henkelmänner, Kruzifixe, ein Samowar (den man hier Kaffeemaschine nennt), Milchkannen. Der Betreiber des Museums, selbst vermutlich Opa, hat das Sammelsurium zusammengetragen, in mühsamer Kleinarbeit, über inzwischen dreißig Jahre, unter der Mithilfe von Verwandten, Freunden, Bekannten, Nachbarn und auch dem Müllhaufen. Hier hat kein Einzelteil irgendeinen Wert, wohl aber das Ensemble.
Oben gibt es Photos, ein Gemälde und Dokumente zu einer gewissen Olga de Chica. Nie gehört, vermutlich aber schon mal gesehen. Sie ist eine produktive Künstlerin und hat schon viele Weihnachtskarten für die UNICEF gestaltet. Tatsächlich kommen mir einige bekannt vor. Sie wird hier als Poetisa del color präsentiert. Sie klammert aus ihren Bildern alles Ungemach dieser Welt aus, präsentiert eine Welt nicht wie sie ist, sondern wie sie sein sollte und wie sie vielleicht manchmal in den Köpfen von Kindern ist.
Ich kenne ein Wort nicht in der Beschriftung eines Gegenstandes, den ich auch nicht kenne: bejuco, und der freundliche Mann erklärt nicht nur, sondern erzählt dazu auch noch eine bewegende Geschichte. Filandia ist bekannt für seine Korbwaren, und das geschlossene Museum handelt eben davon. Man sieht Körbe aller Art auch in den Touristenläden. Sie werden aus dem Holz des bejuco gemacht, das bedeutet offenbar ‚Liane‘. Das Gerät, das man hier sieht, dient zum Schälen des Stamms der Liane. Dieses Gerät, nebst dem danebenliegenden Arbeiterhemd und einer Mütze, gehörte einem alten Mann, der sich sein ganzes Leben lang der Herstellung von Körben gewidmet hatte und sich das Material dazu aus dem Wald besorgte. Bis ein junger Umweltschützer auf den Plan trat und ihn beschimpfte, ihm Vorwürfe machte, ihm klarmacht, er würde den Wald zerstören und ihn aufforderte, den Wald nicht mehr zu betreten. Der alte Mann hörte sich das wortlos an, versank in sich, ging nicht mehr in den Wald und verstarb drei Wochen später, voller Gram, wie es im Märchen heißen würde. Als Andenken an ihn werden diese Gegenstände jetzt hier präsentiert. Die Witwe des Mannes gab ihr Einverständnis, obwohl es ihr peinlich war, das Hemd in diesem Zustand hier ausgestellt zu sehen. Es war nämlich nicht gewaschen.
Dann kommt noch eine ganz andere Geschichte. An einem Pfeiler hängt ein Plakat von einem Film, der in Filandia gedreht wurde, Milagro en Roma. Das Drehbuch stammt von García Márquez und beruht auf einer Erzählung mit dem Titel La Santa. Sie handelt von einem Mann, der mit dem unversehrten Körper seiner Tochter durch Rom streift und den Papst bittet, seine Tochter heiligzusprechen, aber abgewiesen wird. Als der Erzähler Jahre später noch mal nach Rom kommt, wo längst verschiedene Päpste auf dem Thron gesessen haben, ist der Mann immer noch da und trägt sein Anliegen dem neuen Papst vor. Wieder wird er abgewiesen. So endet die Geschichte. Wie der Mann hier im Museum weise sagt: Der Vater ist der eigentliche Heilige dieser Geschichte, nicht die Tochter.
Nach dem Abschluss der Dreharbeiten hier in Filandia brannte der Brunnen des Ortes zusammen mit vier Häusern ab. Der Film bewahrt die Erinnerung daran. An der Wand steht eine Kopie des Schildes, das früher auf den Brunnen verwies und das im Film eine große Rolle spielte.
Danach lande ich in einem Lokal mit dem Namen Mil de Cilantro. An den Wänden hängen Plakate mit Aussprüchen, die die vielen positiven Eigenschaften des Korianders preisen. Unter anderem dient er als Appetitanreger. Den brauche ich aber nicht.
Ich bestelle Sancocho, das kolumbianische Nationalgericht, das es in unendlichen Variationen gibt, im Grunde ein Eintopf mit Kartoffeln, Jukka, Möhren usw. Und einem mächtigen Knochen, an dem man, wenn man gut sucht, doch noch eine Menge Fleisch findet. Zu dem Gericht werden zwei Schälchen serviert, eins mit einer feurigen Soße, das andere mit – Koriander.
31. Januar (Dienstag)
Auf kolumbianische Art und Weise erfolgt die Rückfahrt nach Medellín. Man stellt sich an den Straßenrand und wartet auf den nächsten Bus zum Busbahnhof, nach Pereira. Dort angekommen, löst man an einem Schalter eine Fahrkarte zum Zielort, nach Medellín. Bei der Aufgabe des Koffers höre ich vor mir Sabaneta und frage nach. Ja, der Bus hält auch in Sabaneta. Das erleichtert die Sache.
Allerdings dauert die Fahrt sieben statt der vorgesehen fünf Stunden. Warum, das wird im Laufe der Fahrt klar: Baustellen, ellenlange Baustellen, Straßenarbeiten. Wir stehen lange ganz an einer Stelle, und auch sonst geht es nur langsam voran, die Strecke ist kurvenreich, die Fahrbahn schlecht, und die vielen Steigungen bewältigt der Bus nur mit Ächzen und Stöhnen.
Vorne läuft ein Film, in dem es Schüsse und Explosionen als menschliche Stimmen gibt, und wenn die mal auftauchen, dann meist als Schreie. Dazu schrille Musik.
Aber die Landschaft entschädigt dafür. Wo man hinsieht, ist es grün, Natur pur, Hügel, soweit die Augen blicken können.
Immer wieder Kaffeeplantagen, obwohl Plantagen eher irreführend ist. Es sind eher Felder, oft an den Hängen liegend, mal ganz fein geordnet wie ein Weinfeld, mal wild durcheinander wachsend wie auf der Finca in Filandia.
Auf der Strecke passieren wir Orte mit den Namen Palestina, Marruecos und Jérico und schließlich einen mit dem wunderbaren Namen Bolombolo.
Eine Mitreisende, die sieht, wie ich meine Photos Revue passieren lasse, eine ganz kleine Frau, deren Beine nicht bis auf den Boden reichen, erklärt mir den Namen des Restaurants von gestern: Mil de Cilantro. Scheint so etwas wie ‚eine Prise Koriander‘ zu bedeuten. Ist aber in keinem Wörterbuch zu finden.
Nach der Mittagspause taucht auf einmal der Cauca auf, der verlorene Fluss von Mompox. Er ist breit genug, um der größte Nebenfluss des Magdalenas zu sein. Jetzt geht es durch ein enges Tal, immer am Fluss entlang.
Dann öffnet sich die Landschaft wieder, jetzt mit hohen schroffen Bergen hinter den grünen Hügeln. Der auffälligste ist der Cerro Tusa, eine fast einmalige Naturerscheinung. Seine Form ist ein perfektes Dreieck, wie mit dem Lineal gezogen. Am Fuße des Berges gibt es auch Spuren einer alten Zivilisation, der der Berg heilig war.
Jetzt tauchen auch einzelne Häuser und Hütten am Wegesrand auf, und dann kommt Medellín, genauer gesagt Sabaneta.
Der Taxifahrer kann weder mit der Adresse noch mit dem Namen des Gebäudes, Nevada Loft, was anfangen, und mir geht das Geld aus. Ich sage ihm, er solle mich hier am Rande der Hauptverkehrsstraße rauslassen. Kaum stehe ich auf dem Bürgersteig, schon spricht mich ein Mann an und fragt, was ich suche. Er hat seine kleine Tochter im Schlepptau. Er zückt sofort sein Handy, sucht nach der Adresse und erklärt mir den Weg. Hinter der Tankstelle abbiegen, und dann in ein Wohnviertel rein. Trotz der miserablen Beschreibung des Zugangs durch die Vermieterin mit zwei verschiedenen Codes komme ich in das Apartment, das klein, aber modern ist, sogar reichlich Steckdosen hat, was sonst hier ein rares Gut ist.
In meinem Portemonnaie ist Ebbe, nur noch ein paar Münzen, aber ich frage mich zum Euro durch, einem großen Supermarkt mit angeschlossenen Geschäften. Dort gibt es Geldautomaten. Vor denen steht eine Schlange, die sich die halbe Rampe runterzieht, aber es geht flott voran, weil es vier Geldautomaten gibt und alle funktionieren. Erleichtert steuere ich ein kleinen Schnellimbiss an und esse ein paar Hähnchenflügel.
1. Februar (Mittwoch)
Als ich am Morgen aus dem Haus gehe und etwas verloren in der Gegend herum stehe, werde ich sofort wieder von jemandem angesprochen und gefragt, was ich denn suche. Einen Ort zum Frühstücken. Ob ich gerade aus der Nevada Loft käme, will er wissen. Ja. Dann sei ich doch sicher der Deutsche. Er ist der Hausmeister des Nevada Lofts. Er nimmt sich Zeit mit der Erklärung, fragt, was meine Präferenzen seien, begleitet mich bis an die Ecke, zeigt mir ein kleines Café direkt vor uns, zeigt dann aber auf die nächste Kreuzung. Da sei eine Bäckerei. Da kaufe er selbst sein Brot. Da gehe ich natürlich hin.
Bei der Bestellung hapert es mit dem Verständnis. Ich muss nachfragen, obwohl diese Situation doch längst Routine ist. Die Verkäuferin will wissen, ob ich einen Plastikbecher oder eine Tasse haben will.
Heute steht der Tag unter dem Signum des Geldausgebens. Nach dem Frühstück leiste ich mir ein Taxi, um zur Reinigung zu kommen. Der Betrag ist nicht sehr hoch, aber er kassiert mehr als das, was der Taximeter anzeigt, das sei der Minimalbetrag. Er wartet auf mich, ohne die Wartezeit zu berechnen, und auf dem Rückweg wieder dasselbe Spiel. Er rundet zu seinen Gunsten auf. Auf dem Rückweg, als es durch das Wohnviertel geht, habe ich den Eindruck, dass ich das auch hätte zu Fuß machen können.
Gloria ist beschäftigt, mit Aerobic am Vormittag und Kirche am Abend, und außerdem steht die Wohnungssuche an, aber sie nimmt sich Zeit, mich auf meinen Besorgungen zu begleiten.
Bei der Wohnungssuche steht heute kein Termin an, aber ihr Bericht darüber gibt auch einen kleinen Einblick in die Alltagskultur. Sie und ihre Eltern müssen ausziehen, das Haus soll verkauft werden, der Termin ist Mitte Februar. Seit September wissen sie Bescheid. In den letzten Wochen hat es bestimmt ein halbes Dutzend Angebote gegeben, alle abgelehnt: zu klein, zu weit, zu hoch gelegen, nur ein WC. So viele Nerven würden die meisten von uns nicht haben. Man müsste in so einer Situation nehmen, was man kriegt.
Zuerst versuchen wir, einen Termin für eine Zahnreinigung zu bekommen. Wir machen drei Versuche, bei allen bekommt man heute oder morgen einen Termin, die Preise sind unterschiedlich. Wir nehmen einen für heute.
Es bleibt noch Zeit für den Kofferkauf. Dazu muss man ins Einkaufszentrum. Das ist ein ganzes Stück zu gehen, und dann kommt noch mal die Sucherei im Einkaufszentrum dazu. Am Ende erfolgreich. Wir kommen zu einem Geschäft, in dem es Totto gibt, einer, wie mit Stolz vermerkt wird, kolumbianischen Marke.
Die Verkäuferin ist freundlich und macht ihre Sache gut, aber die Entscheidung fällt mir schwer: Größe, Farbe, Fächer, Schale, Preis, so viele Faktoren, so viele Kandidaten. Am Ende bin ich meiner Unentschlossenheit überdrüssig und entscheide mich endlich. Ein Exemplar des Koffers muss aus dem Lager geholt werden, aber da ist keins mehr, also wird eins aus einer anderen Filiale geholt. Das dauert, und dann gibt es keinen mehr von der gleichen Farbe. Ich versuche, für das Vorführexemplar noch einen Rabatt rauszuschlagen, vergebens. Egal. Der wird jetzt genommen. Für den Kauf muss man den Personalausweis vorlegen und eine Mailadresse angeben.
Wir schieben den Koffer über den unebenen Bürgersteig zurück ins Zentrum. Es ist inzwischen richtig heiß. Gloria erinnert sich an zwei verwaiste Flaschen Bier, die noch bei ihr im Kühlschrank liegen und lädt mich zu sich ein.
In dem schönen, kleinen Haus mit Vorgarten und vielen Kräuterkästen auf der kleinen Terrasse werde ich von den Eltern begrüßt, Vater im Schaukelstuhl vor dem Fernseher, Mutter in der Küche beim Wischen.
Ich werde zum Essen eingeladen, nehme an und bekomme ein köstliches Mittagessen serviert, Schweinepfoten mit den üblichen Zutaten, Kartoffel, Jukka, Reis.
Man kann sich vorstellen, warum die Eltern hier nicht wegwollen. Das kleine Haus mit großem Vorgarten und vielen Kräutertöpfen auf der kleinen Terrasse vor dem Eingang sieht gemütlich aus. In dem Vorgarten, dicht mit Bäumen und Sträuchern besetzt, tummeln sich exotische Vögel, guacharacas, wie ich erfahre. Sie werden von Glorias Bruder mit Leckereien verwöhnt.
Dann geht es zur Zahnreinigung. Es ist alles wie bei uns: das Licht, der Stuhl, die Apparate, die Prozedur, die kleinen Schmerzensstiche, die man zwischendurch spürt. Und auch das Gefühl der Erleichterung ist dasselbe, wenn die Prozedur zu Ende ist.
Ich leiste mir zur Feier des Tages – schließlich ist heute der 1. Februar – ein weiteres Taxi und lasse mich und meinen Koffer zur Nevada Loft bringen.
Am Abend kaufe ich an einem winzigen Pizza-Stand eine Pizza. Das Spanisch des Verkäufers kommt mir nicht ganz koscher vor. Er ist Italiener. Sobald er hört, dass ich Deutscher bin, wechselt er aufs Deutsche. Er spricht fließend, fast ohne Akzent, muss aber nach Worten ringen. Er hat jahrelang in der Schweiz gelebt und hat dort auch noch Kinder und Enkel von seiner ersten Frau, einer Italienerin. Jetzt lebt er schon zwölf Jahre hier in Medellín. Als Jugendlicher hat er zwei Jahre in Frankfurt gearbeitet, und hier in Medellín hat er einen deutschen Freund, aus Mannheim. Am Ende geht es mit den Sprachen ziemlich durcheinander, und wir sprechen ein Kauderwelsch aus drei Sprachen und verstehen uns dabei prächtig.
2. Februar (Donnerstag)
In einem Tante-Emma-Laden mache ich die Erfahrung, dass man in Kolumbien Klopapierrollen auch einzeln kaufen kann.
In der Bäckerei lasse ich mir einen Geldschein andrehen, den ich nachher nicht mehr loswerde: Da müssen Sie zur Bank gehen, die wechseln Ihnen den.
In einem kleinen Laden, bei dem man den Einkauf auf der Straße stehend erledigt, antwortet mir der Verkäufer in auffällig gutem Englisch. Er fragt, woher ich komme, und als ich meine Standardantwort an den Mann bringe – „Abroad“ – die sonst immer für Verwirrung sorgt, lacht er laut. „Good answer.“ Ich lasse ihn raten, woher ich komme. Über England geht es nach Australien und dann nach Holland und die Schweiz. Auf Deutschland kommt er nicht.
Ich komme an einem Geschäft vorbei, das La Media Naranja heißt und eine halbe Apfelsine im Emblem trägt und an einer Agentur, die Feiern ausrichtet, darunter 15 años, das unglaublich aufwändige Fest, das jede lateinamerikanische Mutter für ihre Tochter ausrichtet, wenn die 15 wird, ein klassischer Initiationsritus. Aus dem Mädchen wird eine Frau.
Ganz eng auf dem knappen Platz auf einem Bürgersteig stehen zwei Frauen, bekittelt, mit Töpfen vor sich. Ich frage neugierig nach, was das denn sei: mazamorra. Sie erklären, sie seien nur einmal pro Woche hier, immer am Donnerstag, und sind hoch erfreut, als ich ein Photo von ihnen machen will. Wie so oft bei Begriffen aus der Küche kann mazamorra alles Mögliche bedeuten, in diesem Fall scheint es ein gut gekochter Getreidebrei zu sein. Schmeckt nach nichts.
An der Ecke zum Park werden gerade frische buñuelos gemacht, wie in Guatapé, in unterschiedlichen Größen, und in einem Laden in der Nähe gibt es tamal, die in Bananenschalen eingewickelten Gerichte, die man hier fertig kaufen kann.
Gloria hat Gymnastik am Morgen und muss dann Besorgungen machen – diligencias – aber ich soll zum Mittagessen kommen. Mama kocht bandeja paisa, und es ist genug übrig. In einem Supermarkt kaufe ich Wein als Mitbringsel. Am Ausgang steht ein Wachmann. Der bittet mich, die Quittung des Einkaufs vorzuzeigen.
In einem weiteren Supermarkt auf dem Weg ins Zentrum achte ich zum ersten Mal, durch eine Frage aus der Heimat angeregt, auf die Einkaufswagen. Die sind kleiner als bei uns und haben keinen Münzschlitz. Man benutzt sie einfach so, wenn man will, aber die meisten machen keinen Gebrauch davon. Man könnte auch gar nicht mit ihnen nach außen entkommen, selbst wenn man wollte, denn alles ist im Blickwinkel des Kassierers. Und hier fährt keiner mit dem Auto vor dem Supermarkt vor.
In der Schlange vor dem Geldautomaten komme ich mit zwei Frauen ins Gespräch, Schwestern, von denen die eine hier, die andere in Kanada lebt. Sie erzählt, wie bequem sie mit einer Airline jetzt hierher komme, nur mit einem kurzen Zwischenaufenthalt in Panama. Morgens um 9 in Montreal weg, nachmittags um 5 in Medellín. Nicht schlecht. Wir unterhalten uns über das Reisen und über Kolumbien, und sie beginnen, ein Loblied auf Kolumbien zu singen. Bevor das ausgreift, sind sie aber an der Reihe.
Am Geldautomaten fällt mir zum ersten Mal auf, dass man geduzt wird, wenn der Automat schreibt, aber gesiezt wird, wenn der Automat spricht.
Bei Gloria zu Hause ist alles wie gehabt. Vater schläft im Schaukelstuhl vor dem Fernseher, Mutter steht in der Küche. Wir beide essen alleine, es schmeckt spitzenmäßig.
Dann gehen wir noch zum Parque und trinken einen Kaffee und essen anschließend noch ein Eis. Eins ist klar: Kolumbien entlässt mich mit Sommertemperaturen und Sonnenschein.
Abschließend machen wir noch ein Photo von Golosa, dem Kinderspiel, bei dem man in Kästchen hüpft oder diese überspringt. Hier sind die Kästchen fest in den Böden eingelassen, früher malte man sie mit Kreide auf das Pflaster. Inzwischen habe ich gelernt, dass das Spiel auf Englisch hopscotch heißt und wir es als Kinder Hinkeln genannt haben, obwohl nicht ganz klar ist, ob es sich um ein und dasselbe Spiel handelt. Bei uns gibt es offensichtlich auch die Variante Himmel und Hölle (wie ein Photo aus der Heimat belegt), vielleicht näher am hopscotch dran. Wie dem auch sei, es gibt unendlich viele Varianten des Spiels und noch mehr Namen. Und das Spiel hat eine uralte Tradition: In England ist es schon im 17. Jahrhundert dokumentiert, aber auch bei den alten Römern und den alten Persern wurde es schon gespielt!