Friedliche Kommunikation

Einer der Gäste einer Talkshow im deutschen Fernsehen sollte damals, 1983, Michael Kühnen sein, Mitbegründer der Aktionsfront Nationaler Sozialisten und prominenter Star der Neonazi-Szene. Kühnen war gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden, nach drei Jahren Haft wegen Verbreitung von Neonazi-Propaganda. Der Rundfunkrat von Radio Bremen debattierte die Einladung, mit dem Ergebnis, dass Kühnen kurz vor der Sendung ausgeladen wurde. Er sah sich die Talkshow zu Hause an. Ein anderer Gast der Sendung war Erich Fried, Dichter der Linken, Freund von Rudi Dutschke, Jude, in Wien geboren, nach London emigriert. Seine Großmutter starb in Auschwitz, sein Vater wurde von Nazis zu Tode getreten. In der Sendung sprach sich Fried vehement gegen die Ausladung aus und warb für das Gespräch. Die Neonazis hätten teils ganz ehrliche, wenn auch verderbliche Ansichten. Nach der Sendung nahm Kühnen mit Fried Kontakt auf. Es entwickelte sich zwischen ihnen eine Korrespondenz, die bis 1984 dauerte. Da litt Fried schon an Krebs. Ein Jahr später starb er. Fried ertrug während dieser Zeit das Leugnen des Holocausts durch Kühnen und Verse zum Muttertag, die er von Kühnen bekam, gedichtet von Adolf Hitler. Er besuchte Kühnen auch im Gefängnis. Sein persönliches Projekt, Kühnen vom Holocaust zu überzeugen, scheiterte, aber er ließ sich nicht beirren. Frieds Freunde und sein Verleger sahen das als Irrsinn an. Aber warum eigentlich? Warum soll es ein Verdienst sein, Andersdenkende vom Gespräch auszuschließen? (Camman, Alexander: „Einstweilen alles Liebe! Dein Erich“, in: Die Zeit 6/2021: 49)

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