Kolumbien (2009)

15. September (Dienstag)

Schon am frühen Morgen ist in Frankfurt viel Betrieb. Es ist ausgerechnet der erste Tag der IAA. Am Flughafen ist es dagegen noch ruhig. Ich bin viel zu früh da.

In der Abflughalle sind alle uniformiert, mit dunklen Anzügen und Krawatte und
Tasche mit Laptop. Ich bin auch uniformiert, in meinem Safari-Outfit, aber hier sehe ich
wie ein Individualist aus.

Auf dem Flug nach Madrid sitze ich neben einem Schwaben, der schon öfter in Kolumbien war. Er fragt mich nach den Reaktionen, die meine Reisepläne zu Hause ausgelöst haben. Verblüffung bis Entsetzen: Bist du verrückt? Viel zu gefährlich! Die knallen dich ab oder sprengen dich in die Luft. Das kennt er. Dabei sei Kolumbien das sicherste Land Südamerikas. Er fliegt nach Bogotá und dann weiter nach Santa Marta. An die Karibikküste. „Zehn nach halb vier“ sei es jetzt in Bogotá, meint er, als er die Uhr umstellt.

Santa Marta liegt am Atlantik, im Norden des Landes. Der wird durch Panamá, das früher zu Kolumbien gehörte, von der etwa gleich großen Pazifikküste weiter südlich abgetrennt. Von meinen Reisezielen liegt nur Cartagena an der Küste, Bogotá liegt im Hochland, ziemlich zentral, Medellín etwas weiter westlich. Die großen Städte liegen fast alle in der Nordwest-Hälfte des Landes, die Südosthälfte ist eine Tiefebene mit vielen Flüssen, an das Amazonasgebiet angrenzend. Kolumbien hat aber auch sein eigenes Stück Amazonas. Das bildet die Grenze zu Brasilien. An den Atlantik im Norden schließt sich Venezuela an, an den Süden am Pazifik Ecuador. Unten am Amazonas treffen sich Peru, Brasilien und Kolumbien.

Kolumbien ist das viertgrößte Land Südamerikas. Das klingt nach nicht so viel. Aber es nimmt eine Fläche ein, die der von Frankreich, Spanien und Portugal zusammen entspricht. Brasilien, Argentinien und Peru sind noch größer.

Der Schwabe fragt mich nach dem Fernsehduell der Schlachtrosse von CDU und SPD vor den Wahlen. Er fand es nichtssagend, wie die meisten.

Bei Iberia gibt es auf den europäischen Flügen nichts mehr zu essen und zu trinken. Ryan Air lässt grüßen.

Was macht die 17 zu so einer besonderen Zahl? „17 Jahr, blondes Jahr“, „Ich möchte noch mal 17 sein“, „Mit 17 hat man noch Träume“, „Man kann nicht immer 17 sein“. Auf so was kommt man beim Fliegen. Trick 17 mit Selbstüberlistung.

Barajas ist nicht mehr wiederzuerkennen. Es gibt einen neuen Terminal in einem hypermodernen Flughafengebäude, in das man mit einem Kurzstreckenzug kommt. Die Strecke ist aber viel länger als in Frankfurt.

Madrid bewirbt sich für die Olympischen Spiele. Die Entscheidung steht in den nächsten Wochen an. Mitbewerber sind u.a. Rio und Tokio.

Der lange Flug von Madrid nach Bogotá gibt reichlich Gelegenheit zur Lektüre. Benzinautos trafen bei der Bevölkerung anfangs fast einhellig auf Ablehnung. Sie waren ruckelnde, stinkende Monster. Beim Fahren produzierten sie schwarze Rauchwolken und knallende Zündgeräusche. Ihr explosiver Treibstoff galt als ebenso gefährlich wie Dynamit. Die leiseren und saubereren Elektroautos waren klar im Vorteil. Wegen der schlechten Überlandstraßen spielten sie in den USA noch länger eine bedeutende Rolle. In den Städten konnten sie ihre Vorteile voll ausspielen. Noch 1900 war nur ein Fünftel der Autos Benziner, der Rest war dampf- oder elektrobetrieben. Das Elektroauto verlor erst durch die Autorennen an Boden. Da konnte es nicht mithalten.

Für den neuen Sprachtest bei der Einwanderung muss man 650 Wörter passiv und 300 aktiv können und alle Grundfunktionen der Sprache beherrschen. Das ist eine ganze Menge. Viele Einwanderer überfordert das. Sie sind das Lernen nicht gewohnt, haben oft, wenn überhaupt, nur die Grundschule besucht. Viele Lehrer des Goethe-Instituts halten den Test für zu schwer, einige Juristen halten ihn für verfassungswidrig, da Türken, Vietnamesen und Ukrainer ihn ablegen müssen, Amerikaner und Japaner aber nicht.

Pasolinis Tod ist bis heute unaufgeklärt. Er wurde mehrfach von einem Auto überrollt, in Ostia, 1975. Er hatte zuerst als Volksschullehrer gearbeitet, an der Adria. Nach Bekanntwerden seiner Homosexualität wurde er aus dem Staatsdienst und aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Er ging nach Rom, wo ihn das Milieu der Diebe und Strichjungen in den Vorstädten anzog. Er debütierte erst als Schriftsteller, später erst als Regisseur.

Die Frauen, die in den KZs zur Prostitution veranlasst wurden, wurden angetrieben von der Hoffnung auf die Flucht vor den katastrophalen Lebensumständen in den KZs, Hunger, mangelnde Hygiene, Kälte, Misshandlungen. Moralische Bewertungen sind da fehl am Platze. Für diese Frauen galt auch, dass sie ihre weibliche Identität rekonstruieren konnten. Sie wurden besser ernährt und konnten sich die Haare wachsen lassen. Selbst in den Lagerbordellen blieb nichts dem Zufall überlassen. In dem System hatte jeder seinen Platz und seine Rolle. Die Zwangsarbeiterinnen mussten arisch sein, und deutsche Männer wurden nur deutschen Frauen zugeführt. Selbst die Dauer des Bordellbesuchs war pedantisch festgelegt. Der bürokratisch organisierte Mikrokosmos des Lager-Bordells war ein genaues Abbild der Großstrukturen des 3. Reichs.

Nur ein Drittel der Deutschen findet, die Demokratie funktioniere im Großen und Ganzen gut. Ein Drittel meint sogar, dass wir gar nicht in einer Demokratie leben. Das wird durch den Klamauk vor den Wahlen nicht besser. Im Grunde wissen doch alle, dass das alles eine Farce ist. Es wird auch mit den Liberalen keine große Steuersenkung geben, auch mit den Grünen keinen ökologischen Umbau der Gesellschaft, mit den Linken keine grundlegende Umverteilung des Besitzes, mit der SPD keine vier Millionen neue Arbeitsplätze.

Unser ganzes Wirtschaftssystem beruht darauf, dass wir Dinge kaufen von Geld, das wir nicht haben, um Leute zu beeindrucken, die wir nicht mögen. Beschränkte sich jeder auf das, was er braucht, bräche alles zusammen.

Bei der France Telecom haben sich in anderthalb Jahren 23 Menschen das Leben genommen. Sie hielten den beruflichen Druck nicht mehr aus.

Die Abfertigung am Flughafen in Bogotá ist kompliziert, aber gut geregelt. Noch vor dem Ausgang gibt es eine Stelle zum Geldwechsel. Auch das ist kompliziert. Ich stelle mich etwas dämlich an, weil ich nicht verstehe, was das Mädchen an dem Schalter sonst noch von mir will. Formular, Unterschrift, Geld und Pass hat sie schon. Dann kapiere ich es: Fingerabdruck.

Abgeholt werde ich von einer aus Belgien stammenden, deutschsprechenden Reiseleiterin. Das ist alles von dem Reisebüro zu Hause organisiert worden, genauso wie die Unterkünfte und die Flüge.

Wir steigen in ein Taxi. Die Frau redet während der Fahrt ins Zentrum pausenlos auf mich ein. Sie spricht Deutsch mit holländischem und Spanisch mit so einem deutschen Akzent, dass jeder Satz wehtut. Deutsche Männer, sagt sie mir, seien hier sehr begehrt. Man müsse vor lauter Angeboten auf die Bäume flüchten. Schöne Aussichten.

Um die Verkehrsprobleme zu bekämpfen, hat man den Transmilenio eingeführt, einen Bus mit eigener Trasse, Resultat des 30 Jahre währenden Kampfs um den Bau einer U-Bahn. Behoben sind die Verkehrsprobleme damit nicht.

Bogotá hat 7 Millionen Einwohner und ist die viertgrößte Stadt Lateinamerikas. Was sind wohl die anderen drei? Mexiko und Sao Paulo kommen mir in den Sinn. Die andere ist vielleicht Lima?

Bogotá liegt auf einer Höhe von 2.600 Metern. Damit ist es die dritthöchste Hauptstadt Südamerikas, nach La Paz und Quito.

Während der gesamten Fahrt gießt es in Strömen, und die Strecke ist alles andere als schön. Erst, als es ins Zentrum geht, wird es etwas ansehnlicher. Und richtig schön wird es, als wir dem Hotel näherkommen.

Das ist das Hotel de la Ópera, so zentral gelegen, wie man sich es nur vorstellen kann, mitten im historischen Kern des zentralen Stadtviertels, La Candelaria.

Das Hotel ist vom Allerfeinsten. In einem alten Kolonialgebäude untergebracht, mit Innenhöfen und Galerien, geschnitzten Geländern und bleigefassten Fenstern. Alles sehr geschmackvoll.

Das Zimmer hat die Größe eines Apartments und ist mit einem Bogen in zwei Teile geteilt. Es hat einen hölzernen Balkon mit Glasüberdachung.

Am Abend mache ich mit einem vom Hotel zur Verfügung gestellten Regenschirm einen Spaziergang durch das Viertel um das Hotel herum. Man muss den spritzenden Autos ausweichen, gar nicht mal so leicht auf den schmalen Bürgersteigen.

Später probiere ich im Hotel kolumbianisches Bier, ein helles, leichtes, das nach nichts schmeckt, und ein dunkles, kräftigeres, das gut schmeckt.

Das Hotel hat auch freien Internetzugang. So beantworte ich studentische Anfragen am Ende meines ersten Urlaubstages.

16. September (Mittwoch)

Der Himmel ist bedeckt, aber es regnet nicht mehr. Bogotá hat das ganze Jahr über sehr stabile Temperaturen. Die durchschnittliche Tiefsttemperatur sinkt nie unter 10°, die durchschnittliche Höchsttemperatur steigt nie über 20°. Wenn es einmal 8° oder 22° ist, dann empfindet man das als extrem kalt oder warm. Schwankungen während des Jahres sind ebenfalls minimal.

In Medellín ein ähnliches Bild, aber 5° mehr, in Cartagena auch ein ähnliches Bild, aber 10° mehr. Hier sind die Unterschiede zwischen Höchst- und Tiefsttemperaturen sogar noch geringer. Jahreszeiten ergeben sich nur durch die Niederschläge. In Medellín und Cartagena gibt es nur zwei, in Bogotá gibt es vier Jahreszeiten. Jetzt ist der Beginn der Regenzeit. Wie ich gestern feststellen konnte. Aber der Regen wird als Segen empfunden. Die traditionelle Prozession, die zu einem Heiligtum außerhalb Bogotás führt, ist eine Regenprozession, eine Prozession mit Bitte um den Regen, anders als bei uns die Hagelprozession.

Am frühen Morgen höre ich ein merkwürdiges Geräusch an der Tür. Ich bin wegen der
Zeitumstellung hellwach und befürchte schon das Schlimmste. Es ist gar nichts: Zum
Service des Hotels gehört es, dass eine Tageszeitung unter der Tür hergeschoben wird.

Frühstück gibt es ab 6 Uhr. Seit 3 Uhr stehe ich in den Startlöchern, und um 5 nach 6 bin unten, in einem überdachten Innenhof. Dort sitzen schon drei Männer, gut gekleidete Geschäftsleute.

Es gibt ein reichhaltiges Frühstücksbuffet. Es gibt gebackene Bananen und Yucca und Pfannkuchen mit Honig und Ananas und Papaya.

Man sitzt an schmiedeeisernen Tischen auf schmiedeeisernen Stühlen, mit leicht gebogenen Stäben. Das passt alles gut zu dem Ambiente und gibt dem Haus einen vornehmen, aber gleichzeitig ländlichen Charakter.

Eine Kellnerin kommt zu den drei Männern und nimmt die Bestellung auf. Der erste bestellt einen Tinto. Und ich denke mir, mein lieber Mann, der fängt ja gut an, mit Rotwein morgens um 6. Dann schließt sich der zweite an. Der will auch einen Tinto. Der dritte auch. Ich bin echt bass. Ist das hier so üblich? Dann kommt die Kellnerin. Und bringt 3 Tassen Kaffee, schwarzen Kaffee. Der heißt hier Tinto!

Fast ebenso verwirrend: Ein bocadillo ist hier keine Stulle, sondern eine Süßspeise, ein Nachtisch, meist mit einer Paste aus Guaven, guayaba, oder einer Melasse aus Zuckerrohrsaft, panela.

Auf der oberen Ebene des kolonialen Innenhofs stehen die Teilnehmerinnen einer Tagung herum, die hier stattfindet. Alle mit Handy in der Hand.

Gleich gegenüber dem Hotel befindet sich der Palacio de San Carlos, heute Sitz des Außenministeriums. Eine Tafel an der Fassade erinnert – auf Lateinisch! – an eine Episode aus dem Leben Bolívars. Der entkam hier eines Tages knapp einem Attentat, in einem Moment, als er gerade in der Badewanne saß. Er musste, halbnackt und eingeseift, durch ein Fenster fliehen.

Gleich neben dem Hotel befindet sich das Teatro Colón, mit schöner, reich ornamentierter Fassade. Es wurde zum 400. Jahrestag der Entdeckung Amerikas eröffnet.

Die Stadt ist im Schachbrettmuster angelegt und die Straßen sind durchnummeriert: Carrera 8, Calle 10. Die beiden Angaben gehören zusammen, eine bezeichnet die Nord-Süd-Achse, die andere die Ost-West-Achse. Für die Einwohner scheint das klar zu sein, für den Touristen ist es gewöhnungsbedürftig. Manche Straßen haben außerdem noch einen „richtigen“ Namen, aber der wird kaum gebraucht. Ich stoße auf die Calle de las Culebras und die Calle del Divorcio.

Auf Tour geht es ohne Uhr. Man soll keine Begehrlichkeiten wecken – wird mir eingetrichtert – und ohne Pass. Kopie genügt. Zuerst geht es zur Plaza Bolívar, dem zentralen Platz der Altstadt. Er ist zu leer, um schön zu sein, obwohl er von Tauben und blauuniformierten Schulkindern bevölkert wird. In der Mitte steht die Bronzefigur von Bolívar. Fast scheint es, mit römischer Toga, aber das sieht nur von weitem so aus. Um den Sockel herum verschiedene Zitate. In einem davon sagt er, er werde lieber Bürger als Befreier genannt.

Die Gebäude, die sich um den Platz herum gruppieren, sind eine Stilmelange der besonderen Art. Die barocke Fassade der Kathedrale, das neoklassische Kapitol (Sitz des Kongresses), ein breites Gebäude im Stil der französischen Klassik (Sitz des Bürgermeisters), das älter aussieht als es ist, mit endlosen Reihen weißer Sprossenfenster, und der ganz moderne Oberste Gerichtshof. Dass es aus dem Rahmen fällt, hat seinen Grund: Es wurde beim Bogotazo abgebrannt, das nachfolgende Gebäude wurde bei einem Sturmangriff der Guerilla zerstört.

Dass man Kolumbien mit Gewalt assoziiert, kommt nicht von ungefähr, aber dabei wird vergessen, dass die Gewalt in den Städten, und überhaupt in den meisten bewohnten Gegenden, längst vergangen ist. Die Drogenbanden, die hauptsächlich für die Gewalt verantwortlich sind, haben sich in die unzugänglichen Gebiete im Südosten des Landes zurückgezogen.

Obwohl ich auf der Hut bin und mich ständig nach allen Seiten umschaue, habe ich hier überhaupt nicht das Gefühl, dass irgendwo Gefahr lauern könnte, nicht einmal von Taschendieben.

Typischerweise ist die einzige Situation, in der ich während der gesamten Reise in Gefahr komme, eine, die nichts mit organisierter Gewalt oder mit Kriminalität zu tun hat, sondern mit dem Verkehr. Als ich in Medellín eine Straße überquere, entkomme ich nur knapp einem mit Höchstgeschwindigkeit durch die Gegend rasenden, auf die Nebenstraße abbiegenden Motorradfahrer.

Jetzt kann ich mich aber erst einmal in aller Ruhe der Besichtigung widmen. Die Kathedrale, die ich mir als erstes ansehe, ist eine dreischiffige, barocke Angelegenheit, mit so hohen Schiffen, dass man sie als einen einzigen Raum wahrnimmt. Die vielen Seitenkapellen verstärken den Eindruck noch.

In einer Seitenkapelle das Grabmal des Gründers von Bogotá, Quesada, mit einer liegenden Marmorfigur. Er gab dem Ort den Namen Santa Fe, nach seiner spanischen Heimatstadt, und während der Kolonialzeit war es fast ausschließlich unter diesem Namen bekannt. Heute gebraucht man in der Regel Bogotá oder, wenn man es ganz staatsmännisch haben will, Santa Fe de Bogotá.

Schöner als die Kathedrale ist ihr Gegenstück, die gleich daneben liegende Capilla del Sagrario, ein einschiffiger Raum mit einer Ausstattung in Rot und Gold und einem ebensolchen Gewölbe. Dieser Stil heißt santafereña, nach dem alten Namen von Bogotá.

An einer Ecke des Kolonialplatzes befindet sich ein schönes altes, weiß getünchtes Kolonialgebäude, mit Balkon in schwarzem Holz. Darauf weht die kolumbianische Flagge. Hier ist das Museum für die Kämpfer für die Unabhängigkeit untergebracht. Leider geschlossen.

Auf der anderen Seite des Platzes erinnert eine Gedenktafel an Helden, die auf diesem Platz ihr Leben gelassen haben, darunter Camilo Torres, der Priester und Befreiungstheologe.

Etwas abseits des Platzes ein Gebäude mit einer schönen Kuppel, und gleich hinter dem Platz die Ausläufer der Cordillera. Bei schönem Wetter gibt das bestimmt was her.

Dann unterbreche ich die Besichtigung für einen Briefmarkenkauf. Der gestaltet sich schwierig, obwohl ich der einzige Kunde bin und nur eine Sorte Marken benötige. Am Ende bekomme ich ein Sammelsurium von Marken. Die sind schön, aber teuer. Das Gebäude, grau, mit dicken Glasscheiben am Schalter, durch die man durch eine Ritze spricht, erinnert an die sechziger Jahre, ebenso die Auslagen in einem Geschäft für Herrenkleidung nebenan.

Dann kaufe ich, als Reverenz an Kolumbien, noch eine Erzählung von García Márquez. Alle Bücher sind eingeschweißt, man kann nicht hineinsehen. Das Buch kostet 21.000 Pesos. Das sind 7,21 €.

In der Umgebung der Plaza Bolívar befindet sich in einem Park ein weiß-grauer, turmartiger Bau, die Sternwarte, das Astronomische Observatorium, das erste überhaupt in Amerika (1803).

Auf dem Weg dahin stoße ich auf das ehemalige Konvent Santa Clara. Der längliche Bau ist nur von der Straße aus durch zwei Holztüren zugänglich und fast fensterlos. Der Innenraum ist überwältigend. Er ist über und über mit Gemälden und in Rot und Gold gehaltenen Schnitzereien versehen. Diese üppige Fülle ist deshalb ertragbar, weil es keine barocken Struktur- oder Bauelemente gibt, sondern einen ganz einfachen, einschiffigen Raum mit Tonnengewölbe. Im Westen eine geschnitzte Empore. Auf der stand der Chor. Und im Norden ein ähnlich geschnitzter Vorbau zur Aufbewahrung der Instrumente. Die Chormitglieder hatten eine hohe Stellung im Orden, sie kamen gleich nach der Äbtissin. Die wurde gewählt und alle drei Jahre durch eine andere abgelöst. Eine Tafel erinnert daran, dass damals das Klosterleben die einzige Alternative zur Rolle der Ehefrau und Mutter für die Frauen war – und der einzige Zugang zu Bildung.

Unterwegs gehe ich in eine Imbissstube, wo es eine mit Reis gefüllte Empanada und ein Sandwich gibt, das nur durch großzügige Beigabe von Senf zu retten ist. Dazu gibt es eine süße Limonade, die auch mit Senf nicht zu retten ist.

Die Gäste versuchen, lauter als der Fernseher zu sprechen. In dem ungemütlichen Raum steht eine mit Farbe bekleckste Leiter herum. An den verputzten Wänden entlang verlaufen provisorisch befestigte Kabel. Und darüber und darunter und daneben hängen Spiegel aller Art, selbstgemachte Aquarelle, ein paar schiefe blaue Lampen, nicht funktionierende Telefonapparte, schwarz-weiß-Photos des alten Bogotá, ein Schrein mit arabischer Inschrift und Plakate und PC-Ausdrucke: Rauchen verboten! Toilettenbenutzung 500 Pesos.

Als ich an der Theke bestellen will, sagt man mir, ich möge mich setzen, ich würde wie ein König bedient werden.

Das Wetter wird immer besser. Auf der Straße bieten Händler auf Handkarren frisch zubereitetes Obst an, andere Naschzeug auf umgearbeiteten Kinderwagen. An einer Straßenecke gibt es sogar Hängematten.

Dann kommt das Goldmuseum, das wichtigste Museum Bogotás und das vielleicht bedeutendste Goldmuseum der Welt.

Als ich im Eintritt bezahlen will, werde ich gefragt, ob ich zur tercera edad gehöre. Dann gebe es Seniorenrabatt. Entrüstet lehne ich ab und bestehe darauf, den vollen Preis zu
bezahlen.

Gold wurde in den unterschiedlichsten Teilen der Welt unabhängig voneinander gefunden und verarbeitet, so in Anatolien, in den Anden, in China, in Nordamerika.

Man erfährt, wie schwierig der Prozess des Schmelzens ist. Und wie erfindungsreich die Menschen waren. In einem Gefäß wird Kohle zum Brennen gebracht, der Schmelztiegel wird auf die Kohle gelegt. Mittels eines Rohrs, das mit dem Gefäß verbunden ist, kann der Bläser Luft unter die Kohle pumpen, um eine gleichmäßig hohe Temperatur zu erreichen. In einem modernen Experiment konnten drei Versuchspersonen, die sich abwechselten, tatsächlich eine Temperatur von 1200° aufrechterhalten, genug, um Gold zum Schmelzen zu bringen. Damit der Bläser sich nicht die Zunge verbrannte, wurden eigens Mundstücke gefertigt. Davon sind hier zahlreiche Exemplare zu sehen. Eins davon ist tatsächlich an einem Ende angesengt.

Eine große, geschwungene Muschel aus Gold bildet eine natürliche Muschel perfekt nach. Wie ist das möglich? Die Antwort: Das Gold wurde auf einer Muschel aufgetragen. Die brach im Laufe der Jahre weg, der Goldüberzug blieb. Die Natur ist verschwunden, die Kunst bleibt!

Dann gibt es in einer ganzen Reihe von Sälen unendlich viele Objekte aus Gold aus verschiedenen Kontinenten und Teilen Kolumbiens: Totenmasken, Grabbeigaben, Schmuck, Phantasiegestalten, Musikinstrumente, mystische Gestalten, rituelle Gegenstände.

Sehr schön einige winzige, kunstvoll gefertigte Fabeltiere mit Fischschwanz, Vögelflügeln und Jaguarkopf.

Das berühmteste Stück der Ausstellung ist das Floß der Muisca, einem Volk der Chibcha, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts ausgedehnte Gebiete im Nordwesten Südamerikas bewohnten bis weit hinein nach Mittelamerika. Auf dem sehr fein gearbeiteten Floß steht der Häuptling, mit Kopfschmuck und mit Gold bestäubt, ansonsten nackt, umgeben von seinen Priestern und von sechs Ruderern. Es wird die Szene dargestellt, in der der Häuptling auf dem Weg zur Mitte des Sees ist, dem er Opfergaben aus Gold darbietet. Das Gold, assoziiert mit der Sonne, stellt das männliche Element dar, der See das weibliche Element, den Uterus. Damit wird rituell der Fortbestand der Welt heraufbeschworen.

Sehr kulturspezifisch sind kleine, als Figuren gestaltete Behälter. Für Kalk. Den nahm man zu sich, wenn man Kokablätter kaute, zum „Verdauen“.

Bei den Muisca und einigen anderen Völkern gab es auch Mumien. Die wurden durch Wasserentzug „haltbar“ gemacht und in besonders trockenen Höhlen aufbewahrt. Sie nahmen aber weiter am Leben teil und wurden auch auf Schlachten mitgenommen, in Jutesäcken. Ein besonders beunruhigendes Exemplar hat man hier mit der Mumie eines Häuptlings, der mit hohlen Augen und fast vollständig erhaltenen Zähnen aus seinem Jutesack hervorguckt, die Hände wie entsetzt an sein Kinn fahrend.

Ein erst wie ein Kanu aussehender rundlicher Holzkasten entpuppt sich als Sarg. Die Öffnung scheint viel zu klein zu sein und passt auch gar nicht zu dem breiteren Deckel darüber. Die Erklärung: Das Holz hatte sich im Boden unversehrt erhalten, aber als es in Berührung mit der Luft kam, zog es sich zusammen.

Als ich einen Aufseher bitte, mir zu sagen, wie spät es ist, und mich frage, ob er wohl eine Uhr hat, sagt er mit vollendeter Höflichkeit, „Ja, selbstverständlich!“ und zieht sein Handy aus der Tasche.

Auf dem Rückweg von dem Museo de Oro komme ich, sehr angemessen, an lauter
Juweliergeschäften vorbei, Dutzende kleiner Geschäfte mit länglichen Räumen. Hier gibt es
aber nicht nur Gold, sondern vor allem Smaragde. Das ist einer der wichtigsten
Exportartikel Kolumbiens. Kolumbien produziert 50% weltweit und hat vielleicht sogar 90%
der weltweiten Vorräte. Aber nicht alles ist Gold im Smaragdland: Auch hier gibt es, wie
beim Kokain, Banden, die sich bekämpfen, bis aufs Messer. Der Staat hat die Kontrolle
darüber verloren. In einer besonders heißen Phase des Smaragdkriegs hat es innerhalb
weniger Jahre Tausende von Toten gegeben.

Am Abend mache ich mich auf die Suche nach der Puerta Falsa, dem ältesten Lokal Bogotás und vielleicht ganz Kolumbiens. Auf dem Weg spricht mich vor dem Supermarkt ein Obdachloser an. Ob ich ihm Reis kaufen könne. Er bettelt nicht, er will kein Geld – man lässt ihn einfach nicht rein!

Drinnen ist alles einfach, und es gibt alles, Reise geradezu säckeweise. Vor den Kassen lange Schlangen, obwohl elektrisch kassiert wird. Es dauert so lange, weil die Kassiererinnen nicht nur kassieren, sondern die Ware auch gleich einpacken.

Die Puerta Falsa, gegründet 1802, ist ein winziges Lokal. Unten besteht es nur aus einer länglichen Theke, hinter der gekocht wird, und einer parallel dazu verlaufenden Bank, mit einem Brett an der Wand. Da können vielleicht 3-4 Gäste essen. An der Stirnwand hängt die Speisekarte, und darunter in einer verglasten Nische eine Jungfrau Maria. An ihr vorbei geht es nach oben, wo es 4-5 Tische gibt für nicht mehr als 15-20 Personen. Die gesamte rechte Seite des Raums ist verspiegelt, damit er größer aussieht, aber er ist maximal drei Meter breit.

Hier gibt es traditionelle Gerichte. Eins davon bekomme ich. Es besteht aus Panela, einem heißen, wie Tee aussehenden, nach Honig schmeckenden Getränk, einem Stück Schmelzkäse, Brot und einem entfernt nach trockenem Berliner ohne Füllung schmeckenden Gebäck. Jetzt kommt der Clou: der Schmelzkäse kommt nicht aufs Brot, sondern in die Panela! Da bleibt er so lange, bis er halb geschmolzen ist und Fäden zieht. So löffelt man ihn aus der Tasse heraus.

Dann kommen Musiker. Auch die passen hier noch rein, einer auf, der andere am Fuß der Treppe stehend. Beide spielen Gitarre. Die eine klingt normal, die andere hat einen hohen, etwas stählernen Klang. Sie hat einen langen Steg mit 10 oder 12 „Knöpfen“. Ob sie auch so viele Saiten hat, kann ich nicht sehen. Sie spielen zunächst einen Pasillo, typische Musik aus Bogotá, dann zwei Stücke aus anderen Regionen. Das klingt alles sehr schön.

17. September (Donnerstag)

Durch ein Missverständnis habe ich offensichtlich eine Stadtführung verpasst, die mir
zustand. Das finde ich nicht so tragisch, aber nehme gerne das Angebot an, stattdessen zu der Laguna de Guatavita gefahren zu werden, der heiligen Statte der Muisca. Da wäre
man mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur schwer hingekommen. Es fährt mich die Tochter
der belgischen Touristenführerin. Die hat früher bei Avianca gearbeitet und sich dann als
Dienstleisterin für verschiedene Organisationen, Ministerien, Tourismusunternehmen
selbständig gemacht. Mit Stolz erzählt sie, Avianca sei die zweitälteste Fluglinie der
Welt, nach KLM. Ihr Handy klingelt unentwegt, und sie nimmt alle Gespräche ohne Zögern an – das meiste ist geschäftlich – und nimmt sich ihre Zeit dafür, obwohl es verboten ist,
wie sie selbst immer wieder sagt.

Sie hätten zwei Autos, erklärt sie mir, diesen hier, ganz neu, und einen alten Hyundai. Das hat seinen Grund. Die Autos in Bogotá haben, je nach Kennzeichen, zwei Tage pro Woche Fahrverbot. Wenn man zwei Autos hat, kann man das Fahrverbot aushebeln.

Die meisten Autos sind Chevrolets oder Renaults oder japanische Marken. Für deutsche Autos bekommt man schlecht Ersatzteile. Ihr Mann hatte einen Passat, und sie musste die Ersatzteile von ihren Flügen aus Brasilien mitbringen.

Obwohl das Auto nagelneu ist, fehlt schon der rechte Außenspiegel, genauer gesagt, nur
das Glas. Es gibt Banden, die sich darauf spezialisieren, an Straßenkreuzungen durch
einen Druck auf das Glas sekundenschnell den Spiegel rauszudrücken. Der wird dann an
Taxifahrer weiterverkauft. Die nutzen dasselbe Fabrikat.

An der Straßenkreuzung verdienen sich Jungs als Jongleure Geld. Sie lassen Bälle in der
Luft kreisen, mit viel Geschick, aber das Besondere dabei ist, dass einer auf den
Schultern des anderen steht.

María José ist keine Touristenführerin, aber unterwegs erfahre ich allerhand über das
Alltagsleben in Kolumbien, unter anderem, dass Motorradfahrer eine Weste tragen müssen,
auf den in großen, leuchtenden Lettern die Zahlen des Kennzeichens des Motorrads
erscheinen, eine Maßnahme zur Bekämpfung der Gewalt. Früher wurde oft von vorbeifahrenden Motorrädern aus auf wirklich oder vermeintliche Gegner im Drogenkrieg geschossen, und die Fahrer konnten nicht identifiziert werden. Das ist an sich schon interessant, aber noch schöner ist, dass ich später, in Medellín, Mädchen auf der Straße sehe, die Jacken tragen, die diese Westen imitieren. Aus der staatlichen Maßnahme ist Mode geworden.

Freundlicherweise fährt die Frau nicht über die Autobahn, sondern über die Landstraße. Das sei die schönere Strecke. Trotzdem müssen wir zwischendurch Maut bezahlen. Die Straßen werden von privaten Firmen betrieben, und die holen sich so ihre Investition wieder rein.

Wir fahren durch den vornehmen Norden von Bogotá. An den Süden des Zentrums schließen sich riesige Slum-Gebiete an, die ich während der ganzen Zeit nicht zu sehen bekomme.

Die Häuser in Bogotá brauchen weder eine Heizung noch eine Klimaanlage, obwohl viele ein
Heizöfchen haben, das im Bedarfsfall eingesetzt werden kann. Es gibt auch kaum Klagen
über die Kosten für Elektrizität, wohl aber über die für Wasser und Abwasser, mehrere
Hundert Dollar alle zwei Monate. Die Herde haben im Normalfall sowohl Gas als auch
Elektroplatten.

Die Abgaben für Wasser und Elektrizität werden nach estratos bezahlt, nach sozialem Stand. Je höher der Stand, umso höher die Preise. Aber: Wie findet man heraus, zu welchem Stand jemand gehört? Ganz einfach: durch die Wohnlage. Ausschließlich.

Arbeitslosengeld gibt es nicht. Wohl aber eine Krankenversorgung, die im Zweifelsfalle
auch gratis gewährt wird. Allerdings ist man, wenn es sich um besondere Eingriffe
handelt, dann oft am Ende einer langen Schlange, und die besser Gestellten haben
eine oder sogar zwei Krankenversicherungen, mit denen sie eine bessere oder gute Versorgung sicherstellen.

Wir kommen an einem Staudamm vorbei, der von einem Deutschen namens Wiesner, noch zu der Zeit Humboldts, gebaut wurde und der heute noch für die Wasserversorgung von Bogotá sorgt.

Nach längerer Fahrt durch erstaunlich grüne Gegend, mit Bergen zu einer und Abhängen zur anderen Seite, kommen wir an einem weiteren, riesigen Wasserreservoir vorbei. Es befindet sich in einem Tal, in dem einst ein Dorf war. Die Bewohner dieses Dorfes wurden
umgesiedelt, und es wurde ihnen ein neues Dorf gebaut, in einem historisierenden Stil, wie ein andalusisches Dorf aus der frühen Neuzeit, mit weiß getünchten Häuserwänden. Das Dorf heißt Guatavita, wie die Laguna, zu der wir fahren. Auf dem fast leeren Dorfplatz
begegnen wir zwei alten Männern in Umhängen, ruanas, aus Wolle gefertigt. Hier kann es
schon mal kalt werden. Bogotá liegt auf 2.600 Metern Höhe, Guatavita auf 2.900, die Lagune auf 3.100!

Als wir aussteigen, kommt ein Junge auf uns zu und bietet an, uns die Legende der Lagune
von Guatavita zu erzählen. Er hat seine Sache perfekt auswendig gelernt und betet sie mit
großer Monotonie herunter, mit dem Ergebnis, dass man kaum folgen kann. Als er von der
Bedeutung des Wortes Guatavita spricht, bitte ich ihn, das zu wiederholen und bringe ihn
damit völlig aus dem Konzept. Er muss wieder ganz von vorne anfangen.

Es geht um die Tochter eines Cacique, die nicht den Mann heiraten wollte, der für sie ausgesucht war und deshalb voller Verzweiflung in die Lagune sprang. Dort lebte aber ein Drache, und diesen Drachen ehelichte sie. Noch heute soll der Drache in der Lagune gelegentlich zu sehen sein, wie das Monster von Loch Ness. Es gibt auch ein paar pikante Details wie die Hoden irgendeines Mannes, die irgendwem zum Essen serviert wurden, aber ich wage nicht, den Jungen noch mal zu unterbrechen.

Wir trinken in dem leeren Lokal einen Kaffee und fahren dann weiter zu der Lagune. Dort
werde ich einer Gruppe hinterhergeschickt, die gerade losgegangen ist. Es ist eine
Schulklasse. Sofort werde ich von dem Führer, einem Indio mit Pferdeschwanz, herzlich
begrüßt. Er macht seine Sache gut und bezieht die Kinder durch Fragen geschickt ein:
Stellt euch vor, ihr wärt ein Spanier aus dem 16. Jahrhundert und wolltet an das Gold aus
der Lagune kommen. Wie würdet ihr das machen? Die Kinder nennen die verschiedenen Möglichkeiten, und er diskutiert mit ihnen, wie schwierig die alle sind. Tauchen ist unter anderem deshalb schwierig, weil der See zu tief ist, um ohne Hilfsmittel zum Boden zu gelangen, und weil er auch zu kalt ist,

Dann geht es weiter hoch, über einen schönen gepflasterten Weg mit Holzgeländer, der
durch dichtes Gewächs führt und ab und zu den Blick auf die schöne Gegend frei gibt.

Oben angekommen, ist man zuerst einmal überrascht, wie klein die Lagune ist. Man könnte
ohne weiteres durchschwimmen. Dann überrascht die Form. Die Lagune ist kreisrund. Und
dann überrascht die Farbe. Das Wasser ist grün und passt sich perfekt den sie umgebenden
Hängen an. Die Lagune liegt vielleicht 50 Meter unter uns. Das ist das Ergebnis der
vielen Versuche, sie auszutrocknen oder das Wasser umzuleiten. Ursprünglich reichte sie
bis zu der Höhe, auf der wir stehen. Im Allgemeinen sagt man, es handele sich um einen
Meteoriteneinschlag, aber unser Führer stellt das in Frage und weist auf winzige glitzernde
Steinchen hin, die auf dem Boden vor unseren Füßen liegen: Salz. Dies konnte ursprünglich
das Meer gewesen sein.

Am Ende müssen die Kinder noch raten, wie die Muisca die Mitte des Sees ausmachten. Sie
sind mit der Orientierung an den Himmelsrichtungen nah dran, aber es fehlt ihnen ein
Werkzeug: das Seil. Das wurde von Norden nach Süden und von Osten nach Westen gespannt, und da, wo sie sich trafen, war die Mitte.

Im Gegensatz zu den großen Reichen der Azteken, der Maya und der Inkas gab es in Kolumbien zahlreiche kleinere Reiche, auf die Anden und die Küsten des Pazifiks und des Atlantiks verteilt: Muisca, Tayrona, Tolima, Tumaco, Nariño usw.

Dass die Muisca den Spaniern nicht standhalten konnten, lag vor allem daran, dass sie selbst in zwei befeindete Lager aufgespalten waren, den Zipa aus Bogotá und den Zaque aus Tunja.

Der Weg zurück nach Bogotá geht über die Autobahn, aber er kommt mir unendlich vor. Dann biegen wir ab und verfahren uns auch noch. Wir müssen zwei Studentinnen von einer Schule abholen. Als wir ankommen, sieht man an ihren langen Gesichtern, dass sie das Warten leid sind, aber sie überspielen das bald und sind trotzdem ausgesprochen höflich. Jedenfalls erfahre ich etwas Neues: Die beiden verdienen sich Geld, indem sie an verschiedenen Schulen Informationsveranstaltungen durchführen und über ihre Universität, die Universidad Externado, informieren – und für sie werben. Die Informationsveranstaltungen werden möglichst so gelegt, dass sie sich nicht mit Vorlesungen überschneiden. Aber wie das denn heute gewesen sei, will ich wissen. Die Antwort: Es gibt gerade eine Woche Ferien. Am Ende bekomme ich noch einen Kuli von der Uni geschenkt. Alle Universitäten kosten Geld, über Schulen bekomme ich keine einheitlichen Informationen. Mir scheint, dass auch die kostenpflichtig sind.

Ich werde am Stadtrand von Bogota herausgelassen, gleich am Eingang zu der Quinta de
Bolívar
. Sie wurde um 1800 gebaut, zu einer Zeit, als Bogotá gerade einmal 23.000
Einwohner hatte. Damals lag sie außerhalb der Stadt. Die Bezeichnung Quinta kommt daher, dass ursprünglich ein Fünftel der Gewinne, die man auf so einer Quinta durch Obst- und Gemüseanbau erwirtschaftete, an den Staat abgetreten werden musste. Diese Quinta war aber schon lange nicht mehr eine Quinta in diesem klassischen Sinne, sondern eine Art Wochenendhaus. Ihren Namen trägt sie deshalb, weil Bolívar hier eine Zeitlang lebte, aber nur ca. 10 Jahre, und während dieser 10 Jahre verbrachte er insgesamt keine 2 Jahre hier. Die Quinta wurde ihm 1821 von einem kolumbianischen Freund geschenkt, als Dank für seinen Kampf für die Unabhängigkeit Kolumbiens.

Die Quinta ist einstöckig und ganz symmetrisch aufgebaut: Hinter der breiten Front
befinden sich zu beiden Seiten der Eingangshalle gleich große, schön eingerichtete Räume,
mit Mobiliar der Zeit, links der Raum Bolívars, rechts der von Manuelita, der Frau, mit
der ihn eine oft stürmische und vor allem sehr unbeständige Beziehung verband.

Das Mobiliar ist keineswegs ländlich-rustikal, sondern eher vornehm, im Empire-Stil. In
Bolívars Raum befindet sich unter anderem ein Kamin, einer von insgesamt nur dreien, die
es zu dieser Zeit in Bogotá gab. Auf dem Kamin eine bronzene, figurenbekrönte Standuhr.
Überhaupt sieht man, dass man es keineswegs mit einem Proletarier zu tun hat, wie man
sich einen Revolutionär vielleicht vorstellt, sondern mit einem Mitglied der Bourgeoisie
mit aristokratischen Allüren, nicht so sehr anders als die Leute, die er bekämpfte.

Die Symmetrie des Hauses wird dadurch gestört, dass Manuelitas Raum keinen Zugang zu dem Innenhof dahinter hat. Man vermutet, dass dieser Raum ursprünglich als Kapelle benutzt wurde.

Eine weitere Asymmetrie fand ihre Erklärung, als man sich an die Renovierung des Hauses
machte, das zwischenzeitlich u.a. als Werkstatt und als Irrenhaus gedient hatte: Im Speisesaal befand sich nur zu der einen Seite ein Bullauge, mit Aussicht auf den Innenhof. Das kam den Renovierern komisch vor, und sie buddelten und siehe da, hinter einem Putz
erschien das zweite Bullauge.

In Manuelitas Raum sind bis auf ein winziges Pianoforte, dem Vorläufer des heutigen
Klaviers, keine Möbel, die ihr gehörten. Sie starb an Diphterie, und es wurde alles
verbrannt, womit sie in Berührung gekommen war.

Im hinteren Teil des Innenhofs befinden sich in kleinen, fensterlosen Räumen die Küche,
der Abstellraum und der Schlafplatz von Jose Palacio, dem sagenumwobenen Diener Bolívars, der in der Eingangsszene von Der General in seinem Labyrinth zum Leben erweckt wird.

Ausländische Besucher vermerkten überrascht, dass man in Kolumbien zu der Zeit fünf
Mahlzeiten am Tag einnahm, um 7, um 10, um 12, um 17 und um 22 Uhr. Es kann sich aber um ein sprachliches Missverständnis handeln. Unter diesen fünf Mahlzeiten befinden sich nämlich zwei, die chocolate heißen. Ich habe hier auch manchmal schon auf die Frage, ob man schon gegessen habe, die Antwort bekommen: Ja, einen Kaffee. Und der café raspao, den wir später in Medellín zu uns nehmen, wird gegessen.

Bolívar lebte, nach heutigen Maßstäben, sehr gesund. Er aß viel Obst und Gemüse und legte Wert auf eigenen Anbau. Im Innenhof kann man tatsächlich auch heute noch Gemüsebeete sehen. Bolívar zitierte eines Tages einen spanischen Gärtner zu sich. Der war voller Angst, denn er fürchtete, als Königstreuer angeklagt oder bestraft zu werden. Er
fürchtete sogar um sein Leben, und war völlig verängstigt, als Bolivar ihn nach seiner
Herkunft und seinen persönlichen Daten befragte, und entsprechend erleichtert, als
Bolívar ihm dann den Posten seines Gärtners anbot.

Bolivar selbst starb hier, krank, verlassen, enttäuscht. Er soll auf dem Totenbett gesagt
haben: In der Geschichte hat es drei Trottel gegeben: Jesus, Don Quixote und mich. Zeugt
nicht gerade von Bescheidenheit.

Erst am Abend geht es dann den Montserrate hinauf, mit der Drahtseilbahn. Die wurde
passenderweise von Schweizern gebaut. Es ist fast völlig leer hier oben, aber merkt an den
Vorrichtungen und den vielen Lokalen, dass hier an Wochenenden der Teufel los ist.
Oben hat man einen schönen Blick auf das erleuchtete Bogota. Man sieht deutlich den
kerzengeraden Verlauf der Straßen. Als ich aus der Bahn auf den Platz trete, pfeift ein
kalter Wind. Dies ist vermutlich das einzige Mal während der Reise, dass ich friere. Ich
gehe in die Kirche, in der die hochverehrte Skulptur des Señor caído am erleuchteten
Altar der eigentliche Anziehungspunkt war, bevor das Ganze sich in einen Ausflugsort
verwandelte. In einem kleinen Lokal gibt es canelazo, eine Art Zuckerrohrsaft mit
Schnaps, der nach Anis schmeckt. Großartig, und genau das Richtige bei der Kälte.

18. September (Freitag)

Der Tag beginnt mit einem traumhaften Geschmackserlebnis: Pitahaya, eine Frucht mit gelber, dicker Schale, die aufgeschnitten wird. Das Fruchtfleisch wird dann ausgelöffelt. Die vielen kleinen Samen sind so weich, dass man sie gar nicht spürt. Die wird von einem der freundlichen Kellner serviert, die allzeit zur Stelle und nie aufdringlich sind. Er stellt sich vor, es heiße Nestor, und fügt mit Stolz hinzu, er sei seit 3 Uhr am Morgen auf, um das Frühstücksbuffet vorzubereiten.

Da ich am frühen Morgen der einzige Gast bin, will einer den anderen an Dienstfertigkeit übertreffen. So komme ich auch noch an Maracuja-Saft und das allgegenwärtige tamal, eine Art Nationalspeise. Es besteht aus Maisteig und wird mit verschiedenen Zutaten gefüllt. Es gibt vegetarische und nicht-vegetarische Varianten. Sie wird in grünen Blättern serviert. Nach einem erfolglosen Versuch, diese Blätter durchzuschneiden, frage ich, ob man die Blätter mitesse und bekomme ein emphatisches Nooooo zu hören.

Ich muss mich gestern wohl brav verhalten haben, die Belgierinnen bieten einen weiteren Ausflug an. Wieder sind Mutter und Tochter dabei, und sie haben zur Ergänzung noch eine Nichte mitgebracht, eine junge Kolumbianerin, für die dies ein Feiertag ist, sie kennt unsere Ausflugsziele selbst nicht.

Ich erfahre, dass der Bürgermeister hier im Stadtviertel La Candelaria Farbtöpfe gratis an die Bewohner verteilt hat, damit sie ihre Fassaden streichen. Daher die vielen bunten Fassaden in intensiven Farben. Aber auch die Innenhöfe der nicht bemalten Häuser sehen gepflegt aus.

Wir kommen am Hospital Militar vorbei. Dort gibt es ein Bettenkontingent für nicht versicherte Unfallopfer.

In Usme, einem Stadtviertel im Norden Bogotás, hat man beim U-Bahn-Bau Muisca-Gräber gefunden, mit Kindern mit krampfhaft geschlossenen Händen. Wurden sie lebendig begraben? In den Gräbern hat man kein Gold gefunden, wohl aber Werkzeug.

Unsere erste Station ist Zipaquirá. Das ist, einer Umfrage zufolge, mit seiner Salzkathedrale Kolumbiens wichtigste Sehenswürdigkeit.

Der erste Eindruck ist eher enttäuschend, denn statt weiß ist alles grau oder schwarz. Später entdeckt man aber immer wieder weiße Flecken, Stellen, die man gereinigt hat als Experiment für eine Generalüberholung der Salzkathedrale. Wasser kann hier logischerweise nicht zum Einsatz kommen.

Durch einen langen Schacht geht es an modernen, mit einfachen Mitteln gestalteten Kreuzwegstationen vorbei – der Fall unter dem Kreuz wird ohne Figuren dargestellt, durch ein immer tiefer sinkendes Kreuz, das Schweißtuch der Veronika durch eine schattierte Wand. Der Gang führt direkt in die Kirche. Von der Chorbühne aus hat man einen Blick auf das überdimensionale Kreuz hinter dem Altar. Steht es? Hängt es? Schwebt es? Keins davon. Es ist eine optische Täuschung. Das Kreuz ergibt sich durch die Auslassung der Form in der von hinten beleuchteten Wand.

Im Altarraum sieht man auch, dass nicht alles Salz ist. Zwischen dem Salz verlaufen dunkle Streifen: Kohle! Und hin und wieder gibt es rote Flecken. Das ist Eisenerz! Das Salz macht insgesamt 80% aus.

Vor dem Kreuz der Altar, ein rechteckiger Block, der ursprünglich ein einziges Stück war,
dann aber in drei Teile zerschnitten werden musste, und zwar für den Transport aus der
alten in die neue Kathedrale. Das war nötig, weil die alte einzustürzen drohte. Man kann
sich kaum vorstellen, dass Salz solche Objekte formen kann, da man es als
Normalverbraucher nur rieselnd kennt. In der Kathedrale wird tatsächlich jeden Sonntag
eine Messe abgehalten.

Der ursprüngliche Stimulus, eine Kathedrale aus Salz zu bauen, ergab sich, als diese
Salzmine geschlossen wurde, nachdem man eine ertragreichere in der Umgebung gefunden hatte. Kolumbien hat geradezu unerschöpfliche Vorräte an Salz.

Zwei Dinge sind überraschend, die miteinander in Verbindung stehen: Es ist hier nicht
feucht, und es bilden sich auch keine Stalaktiten und Stalagmiten. Irgendwo steht ein
Auffangbecken für Wasser herum, und es ist tatsächlich ganz salzig, aber woher das Wasser
kommt, weiß man nicht. Das zweite ist die Atemluft, die gut ist, obwohl man nicht weiß,
woher die frische Luft kommt. Dringt sie von dem Eingang bis hierher vor? Oder sind die
Wände porös?

Dann geht die Fahrt weiter. Immer wieder machen wir Halt und probieren etwas bei den Straßenhändlern: Bananen (lecker!), Erdnüsse (die hier, wie in Kuba, maní heißen und nicht cacahuetes), Turrón, Rosinen, Hafergebäck und ajonjolí. Das sind Sesamkerne. Die sollen sehr gesund sein.

Kolumbien, erfahre ich, exportiert Rohöl, importiert aber raffiniertes Öl aus Venezuela. Es hat nicht genug Raffinerien.

Kolumbien ist ebenfalls ein großer Exporteur von Blumen. Rosen, Nelken, sogar Christsterne. Und Chrysanthemen. Kolumbien ist der weltweit größte Exporteur von Chrysanthemen. Unsere „holländischen“ Blumen stammen aus Kolumbien. Drei Flugzeuge pro Tag bringen sie nach Deutschland. Wir fahren hier, in der „Savanne“, an einer endlosen Kette von Treibhäusern vorbei.

Am Straßenrand sieht man, wie auf Handkarren Grünzeug transportiert wird. Was ist das? Futter für die Kanarienvögel!

Dann lerne ich einen Ausspruch kennen: Siempre palante, nunca patrás, ni para coger impulso – Immer vorwärts, nie rückwärts – nicht einmal, um Anlauf zu nehmen. Angeblich bezieht sich das auf die Frau Lots, die sich gegen die Regel umblickte und zur Salzsäure erstarrte.

Wir kommen zur Laguna de Fúquene, dem heiligen See der Muisca. Am Seerand Binsen und Verkaufsstände, an denen Körbe, Schalen und Matten aus Binsen angeboten werden.

Heute befindet sich hier das Zentrum der Milchwirtschaft, und entsprechend viele Kühe weiden hier, Holsteiner und Pardo Suizo, hellhäutige Kühe, die ursprünglich aus der Schweiz kamen und dann nach Amerika exportiert wurden. Hier probieren wie Guaven mit Käse.

Wir halten an einer Tankstelle. Das Benzin wird in Gallonen gemessen. Die Umrechnung ist etwas kompliziert, aber es dürfte auf einen Dollar pro Liter hinauslaufen.

Der Name eines Lokals ist Indio comido, indio ido. Das ist eine ironische Bezeichnung für jemanden, der zum Essen kommt und dann sofort die gastliche Stätte verlässt.

Einige Straßenhändler verkaufen llamadas, Telefonanrufe. Sie überlassen dir ihr Handy, damit du einen Anruf tätigen kannst. Die Preise schwanken zwischen 180 und 250 Pesos. Pro Anruf, vermute ich.

Wir kommen in Chiquinquirá an, dem religiösen Zentrum Kolumbiens. Dort verkauft ein Junge an einem Karren Kaffee. Der Karren hat einen Baldachin in den kolumbianischen Nationalfarben und blankgeputzte Messinggeräte. Wir bekommen Erklärungen zu den verschiedenen dampfenden Kesseln und einen heißen Mokka, einen der besten Kaffees, die ich überhaupt jemals getrunken habe.

Dann zwei weitere Jungs mit Handkarren. Sie verkaufen allerhand exotische Sachen, die ich nicht identifizieren kann, darunter durazno, eine Frucht, die wie Pfirsich schmeckt, und chontarudo, die wie eine kurze, gelbe Möhre aussieht. Sie wird in zwei Varianten gegessen, mit Salz und mit Honig. Die mit Salz schmeckt mir besser.

Dann geht es in die sonnenbeschienene weiße Basilika. Nichts Besonderes. Auch, dass Johannes Paul II. schon hier war, ist nichts Besonderes. Vor einem Heiligenbild im Chorumgang gibt es Votivgaben aus Wachs, die mit der Sache, um die es geht, in Verbindung steht, wie ein Arm für eine überstandene Verletzung, ein Baby für einen Kinderwunsch.

Auf dem Platz vor der Basilika eine ältere Frau in traditioneller Kleidung. Man würde sie auf den ersten Blick in die Anden, nach Peru oder nach Bolivien verorten. Sie trägt einen kurzen Rock, rosafarbene Kniestrümpfe, einen Hut und einen ponchoartigen Umhang und hat indigene Gesichtszüge. Sie bittet um Geld und lässt sich im Gegenzug dafür photographieren.

Chiquinquirá gehört noch zu der Provinz Cundinamarca, die Bogotá umschließt. Am Wegesrand sieht man weißblühende Holunderbäume, Orchideen und pilanzias (?), ein Gewächs mit grauweißen Fäden, die ich dichten Bündeln von dem Baum herunterhängen, in dem es sich eingenistet hat, ein Parasit vermutlich. Man kann die Fäden einfach mit der Hand herunterziehen.

Aus der Provinz Condinamarca geht es dann in die Provinz Boyacá, mit einem abrupten Szenenwechsel. Statt grüner Wiesen kahle Hänge. Es geht beständig bergab und es wird immer wärmer.

Boyacá ist die einzige Region in Kolumbien, wo Oliven angebaut werden. Sogar Wein
wird hier angebaut, aber der kolumbianische Wein hat keinen guten Ruf. Hier trinkt man
teure Exportweine aus Chile und Argentinien.

Boyacá ist im doppelten Sinne historisch bedeutend, als Nukleus der spanischen Besiedlung und als Schauplatz der wichtigsten Schlachten im Unabhängigkeitskrieg.

Die Bewohner von Boyacá betrachtet man mit einer Art freundlicher Überheblichkeit. Sie gelten als etwas hinterwäldlerisch und eigenbrötlerisch. Und sie sind für ihre altmodische Höflichkeit bekannt: Buenos días, vuestra merced, Buenos días, vuestra persona.

An Tunja, der Hauptstadt von Boyacá, fahren wir vorbei. Aber in diesem Zusammenhang taucht auf einmal der Name Hitler auf. Was hat der hier zu suchen? Es geht um einen gewissen Adolf Schüttelmayor (vermutlich eher Schüttelmayer), der hier nach dem Ende des 2. Weltkriegs lebte. Auf einem Photo hat er eine verblüffende Ähnlichkeit mit Hitler. War Hitler doch nicht tot? Hatte er es geschafft, sich nach Kolumbien abzusetzen? Man weiß, dass verschiedene alte Nazis hier lebten. Die CIA (oder deren Vorgängerin) ging der Sache jedenfalls nach. Die Amerikaner hatten keine Beweise für das Ableben Hitlers im Bunker. Stalin hatte ziemlich verlässliche Beweise, aber die teilte er, aus welchen Gründen auch immer, nicht mit den Amerikanern. Unterm Strich: Alles eher unwahrscheinlich, aber ein verlockender Gedanke.

Als erstes geht es nach Ráquira, einem Straßendorf, das in einen schönen Platz ausläuft und das ein einziger Souvenirladen ist. Das liegt an der Keramikproduktion, die hier beheimatet war. In Erinnerung daran stehen auf dem Platz große tonfarbene Krüge und Figuren herum, dekorativ zwischen einem Brunnen und bunten Blumenbeeten aufgestellt.

In dem Obergeschoss eines schönen, rot gefassten Hauses gibt es das beste Esslokal der Umgebung, aber ich werde auf später vertröstet, auf Robertico. Als der nach der Weiterfahrt durch eine eher öde Gegend in Sicht kommt, haben wir spanische Essenszeiten erreicht. Wir sind die letzten Gäste, die eintreffen.

Das Warten hat sich gelohnt. Es gibt wunderbare, deftige Kost, die man draußen sitzend genießen kann: mit Reis und Erbsen gefüllte Rippchen, gefüllte Blutwurst, verschiedene Arten von Kartoffeln, von denen die papas criollas am besten schmecken. Man solle sie aber, wird mir erklärt, nicht allzu oft essen, denn sie produzieren Winde. Auch die Teigtaschen, arepas, gibt es wieder, aber die sind hier, in Boyacá süß statt herzhaft. Zu all dem gibt es verschiedene Soßen und Cremes. Dazu kann man nur Bier trinken.

Dann geht es über einen rumpligen Feldweg nach El Fósil. Was es mit dem ungewöhnlichen Namen des Ortes auf sich hat, verstehe ich erst, als wir ankommen. Hier steht das prähistorische Skelett eines Kronosaurus, eines im Wasser beheimateten Sauriers, der hier lebte, als die Gegend noch Meer war. Der Kronosaurus ist 120 Millionen Jahre alt!

Er wurde gefunden, als der Sohn eines Bauern mit der Hacke das Feld bearbeitete, aber wegen des harten Bodens nicht weiter kam. Sein Vater sagte ihm, er solle sich nicht so schwächlich anstellen, er solle ordentlich zuschlagen. Das tat der Sohn und zertrümmerte damit im Schweiße seines Angesichts eine der Extremitäten des Sauriers.

Der Rest blieb aber erhalten (bis auf den Schwanz) und ist an Ort und Stelle auf einer Schräge ausgestellt. Weil der Schwanz fehlt, ist das Skelett nur 7 Meter lang. Mit Schwanz wäre es 12 Meter lang. Das Tier ist durch die lange Wartezeit unter der Last der Erde etwas plattgedrückt und sieht auf den ersten Blick eher wie ein Krokodil aus.

In Vitrinen daneben sind unzählige weitere Funde ausgestellt, darunter Blätter, Schnecken, Muscheln, einige davon tiefschwarz.

Nach dem Fund gab es Streitereien, und der örtliche Pfarrer bemächtigte sich zweier weiterer Saurierfossilien und gründete sein eigenes Museum. Wir sehen uns aber das „rechtmäßige“, das der Gemeinde, an.

Von hier geht es nach Villa de Leyva. Hier fühlt man sich in die Vergangenheit versetzt. Die Zeit seit der spanischen Besiedlung scheint stehengeblieben zu sein. Weiß getünchte Häuser mit grünen Türen und Fensterläden und rostfarbenen runden Dachziegeln. Die unvermeidlichen Souvenirgeschäfte sind hier in schönen Innenhöfen und Fluren versteckt, so dass nichts den einheitlichen Eindruck stört. Der riesige Platz, der hier einmal nicht nach einem Helden benannt ist, sondern einfach Plaza Mayor heißt, hat Kopfsteinpflaster mit unregelmäßigen und ungleich großen Steinen. Im Zentrum ein Brunnen.

Um den Platz herum finden sich etwas höhere Kolonialbauten, darunter die Kirche und das Rathaus.

Nach Villa de Leyva hat sich Nariño, einer der wichtigsten Mitstreiter Bolívars, zum Sterben zurückgezogen. Auch er litt nach all den Feldzügen durch feuchte Gegenden unter Tuberkulose.

Wir fahren auf eine Anhöhe, wo man von dem Balkon eines schönen Hotels aus den besten Blick auf die Stadt hat.

Auf dem Platz vor dem Hotel Blumen von allerlei Farben, vor allem Bougainvillea. Die waren eines Tages über Nacht komplett verschwunden. Was war passiert? Ein Tierhüter hatte vergessen, die Tür zum Stall der Lamas zu schließen.

Als wir wieder auf den Platz kommen, verschwindet die Sonne hinter den Bergen. Wir kommen zu dem letzten Punkt unseres Ausflugs, der Puente de Boyacá. Hier fand die allerletzte Schlacht im Unabhängigkeitskrieg statt, und von hier aus zog Bolívar siegreich nach Bogotá ein. Die Schlacht dauerte nur zwei Stunden, und es waren lediglich 250 Königliche, die 300 Aufständischen gegenüberstanden. Trotzdem ist sie Teil des kollektiven Gedächtnisses der Kolumbianer und Teil ihrer „glorreichen“ Geschichte.

Die steinerne Brücke führt über einen rauschenden Bach. Die Brücke läuft zur Mitte hin spitz zu.

Um die Brücke herum allerhand Symbole, die das Ereignis pathetisch feiern: Fahnen, Flammen, Figuren und natürlich die unvermeidliche Statue von Bolívar, in Deutschland gefertigt.

Merkwürdig, dass Bolivien und nicht sein Heimatland Venezuela nach Bolívar benannt ist, und Kolumbien und nicht Amerika nach Kolumbus. Dabei setzte Kolumbus nie seinen Fuß auf kolumbianischen Boden.

Es geht zurück nach Bogotá. Obwohl es gerade mal 7 Uhr ist, ist es schon stockdunkel. Und obwohl Wolken zu sehen sind, ist der Himmel sternenklar.

Über die schlecht beleuchtete Autobahn geht es zurück nach Bogotá. Vor der Einfahrt in das Stadtgebiet eine unendliche Autoschlange, an der wir aber vorbeifahren. Das sind Autos, die die „falsche“ Nummer haben und darauf warten, dass es 8 Uhr wird. Ab dann sind sie wieder dran.

Was dann noch an Strecke übrigbleibt, gibt einem einen Eindruck davon, wie groß Bogotá ist. Am Ende bin ich von Müdigkeit überwältigt und voller Respekt für unsere unermüdliche Fahrerin. Und voller Dank für einen Tag, der das Prädikat erlebnisreich wirklich verdient.

19. September (Samstag)

Kaffee mit Milch heißt perico, schwarzer Kaffee heißt, wie ich schon vom Frühstück am ersten Tag weiß, tinto. Abbiegen ist voltear, nicht girar, ein Parkhaus ist ein aparcadero, wenn etwas Wind aufkommt, sagt man ventea. Statt la computadora ist el computador, und die Zahlen 1, 4 und 7 sehen anders aus: 1 hat einen Unterstrich, 4 ist so wie die auf dem PC, 7 hat einen Haken oben links.

Zum Abschluss gibt es noch einmal ein prächtiges Frühstück im Hotel: Papaya und Melonen, dazu Saft aus Guaven (guayaba), dann gefüllte Schinkenröllchen, frittierte Yucca und envueltos, eine frittierte Masse aus gemahlenem Mais und Mehl und Eiern.

Am Ende des Aufenthalts füllt man im Hotel einen Fragebogen aus. Ich kann überall immer
nur excelente ankreuzen. Erst als es zu spät ist, fällt mir doch noch ein kritischer
Punkt ein: die unsägliche, seichte Hintergrundmusik, darunter die immer wieder gespielte
Melodie eines Weihnachtsliedes.

Am hypermodernen Flughafen von Bogotá geht alles, trotz vieler Kontrollen, schnell und glatt. Im Wartesaal gibt es eine ganze Reihe von Steckern, an denen man kostenlos sein Handy, MP3 oder Laptop aufladen kann.

Der Flug dauert nur eine halbe Stunde, kommt aber mit fast anderthalb Stunden Verspätung in Medellín an. Die rolos, die Bewohner von Bogotá und der umgebenden Condinamarca, haben mir schon eine Vorstellung von den paisas gegeben, den Bewohnern von Medellín und seines Departements, Antioquia. Die paisas sind fleißig und geschickt und können dir alles aufschwatzen, was sie wollen. Man sieht sie mit einer Mischung aus Bewunderung und Skepsis. Zu sehen gibt es in Medellín, sagt man mir, natürlich längst nicht so viel wie in Bogotá. Da kommt der Stolz des kulturbeflissenen Hauptstadtbewohners zum Tragen.

Die Begrüßung am Flughafen fällt herzlich aus. Sofort geht es mit dem Taxi in die Stadt, genauer gesagt hinunter in die Stadt, denn die liegt in einem Kessel, auf allen Seiten von Bergen umschlossen. Es ist warm und wird immer wärmer, je weiter runter wir kommen.

Dann kommt die Stadt selbst in Sicht, viel größer, als ich erwartet habe, mit drei Millionen
Einwohnern.

Ich kann auch hier das Spanische ganz gut verstehen, aber vielleicht mit etwas mehr Schwierigkeiten als in Bogotá. Auffallend ist von Anfang an die kuriose Intonation der paisas: ein gedehnter Vokal in der betonten Silbe, was das Ganze etwas überemphatisch erscheinen lasst, wie aus einem Kinderbuch vorgelesen.

Das Hotel befindet sich in der touristisch so benannten Zona rosa, die Einwohner von Medellín sagen eher El Poblado. Das Hotel ist neu und modern, von ganz anderem Charakter als das von Bogotá.

Sofort geht es in der wunderbaren Frühlingsluft – für uns eher Sommer, es dürften so um
die 25ª sein – in einem Spaziergang durch die Zone, durch sehr gepflegte Parks und über
sehr gepflegte Platze, wo kein Schnipsel Papier auf dem Boden liegt. Nicht gerade die 
klassische Vorstellung, die man von Kolumbien hat. In dieser Zone befinden sich Hotels,
Anwaltspraxen, Versicherungen. Am Rand überall weiß und blau blühende Sträucher.

Sofort geht es auf einen Spaziergang durch El Pobaldo. Erst durch den Parque Lineal. Dort gibt es Beete mit Pflanzen, die ein merkwürdiges Blau haben, wie Rotkohl. Dann kommt der Parque Lleras. Das ist der traditionelle Abendtreff dieses Viertels. Man sitzt draußen auf den Bänken und Mauern. Hier explodierte die letzte Bombe in Medellín, vor mehr als zehn Jahren.

Gleich werde ich belehrt, dass Medellín eigentlich die Hauptstadt Kolumbiens sein müsste. Es sei viel weiter entwickelt, más avanzado. Modernität zählt. Mit Stolz wird die neue Metro präsentiert, die einzige Kolumbiens, und die tatsächlich jeder europäischen Metropole
gut zu Gesicht stehen wurde. Es gibt allerdings streng genommen nur eine Linie mit ein paar Abzweigungen. Die Fahrt kostet etwa 50 Cent.

Von der Metro geht es direkt weiter auf die Metro Cable, der ganze Stolz Medellíns. Sie ist gerade mal seit zwei Jahren in Betrieb und hat bunt bemalte rundliche Gondeln, in denen ungefähr sechs Personen Platz haben. Wo zahlt man denn hier? Nirgendwo. Das ist im Metro-Ticket inbegriffen. Die Bahn fährt in „Dauerschleife“, sie braucht oben und unten
nicht zu stoppen, da man bei langsamer Fahrt ein- und aussteigen kann, nicht viel anders als bei einer Rolltreppe.

Die Fahrt geht über verschiedene Lagen den Berg hoch und zieht sich ziemlich lange hin. Endlich sehe ich auch das erste Fußballstadion auf der Reise, eine hypermoderne Konstruktion, mit ineinander verwobenen, hellgrauen Stahlstangen. Das ist aber nur der erste Blick. Diese moderne Konstruktion ist nur der Vorbau oder der Neubau des eher
herkömmlichen Stadions, das dahinter liegt. Der neue Bau ist für die panamerikanischen Spiele im nächsten Jahr, so heißt es.

Kurz vor der Ankunft oben kommen drei große, unregelmäßige, schwarze Blöcke in Sicht, mit feinen weißen, länglich verlaufenden Schlitzen, wie Felsbrocken, die ein Riese
achtlos weggeworfen hat. Das ist die Biblioteca España. Was es genau auf sich hat mit ihr
ist nicht herauszufinden.

An den verschiedenen Abhängen des Berges sieht man dann Reihen und Reihen von chabolas, behelfsmäßig zusammengebauten Hütten aus Holz und Wellblech. Dies ist das arme Medellín, an die Abhänge des Berges und aus der Stadt verbannt. Ein größerer Kontrast als der mit der modernen Kabelbahn ist nicht denkbar.

Oben angekommen sieht es wieder anders aus. Hier entstehen neue Siedlungen, man ist überrascht, wo noch überall etwas hinpasst. Es sind Hochhäuser mit vielleicht acht Etagen, mit Wohnungen mit drei Schlafzimmern, einem kombinierten Wohn- und Essraum und zwei Bädern, alles das auf nicht einmal 50 m2. Man kommt in den Genuss der Wohnung durch eine recompensación genannte Einrichtung, ein Begriff, den ich schon mehrmals gehört, aber nicht richtig verstanden habe. Es handelt sich um eine staatliche Einrichtung, die einem den Zuschlag und auch einen ordentlichen Zuschuss gewährt. Den Rest muss man selbst auftreiben und eine Teilzahlung leisten, um den Kredit zu bekommen

Dann geht es ins Zentrum, das mit El Poblado, der Zone des Hotels, nichts zu tun hat. Und auch ein ganzes Stück entfernt liegt. Im Zentrum, das sieht man schon von einer Passage in der U-Bahn, ist der Teufel los. Mengen von Menschen und Autos drängen sich durch die engen Straßen und an den unzähligen Verkaufsständen vorbei. Ein dritter Teil
Medellíns, wieder ganz anders.

An den Verkaufsständen sich hoch auftürmende Stapel mit Waren. Hier bieten Indios selbst gewebte Kleidung, Kappen, Röcke, Umhänge an. Nur: Wer trägt denn hier so etwas, bei den Temperaturen? In der „Stadt des ewigen Frühlings“. Alles ist aus reiner Wolle, und man kann sich kaum vorstellen, dass es irgendwann mal nicht zu warm für solche Kleidung ist. Und auf der Straße sieht man auch niemanden mit dieser Kleidung. Für meine Verwunderung finde ich kein Verständnis.

Auf einem Platz steht ein bemerkenswerter, großer neo-romanischer Palast mit farblich abwechselnden Steinen, in grau und weiß. Es ist jetzt ein Kulturzentrum.

Um den ganzen Platz herum stehen Skulpturen von Botero, dem bekanntesten Sohne Medellíns, der jetzt allerdings in Miami lebt. Alle sind nach dem bekannten Muster gefertigt, auf den ersten Blick als Botero erkennbar: rundliche, dicke Figuren aus einem grau-schwarzem Material – Granit? – die Menschen und Tiere darstellen, Typen statt Individuen: Ein Hund mit herausgestreckter Zunge, ein Mann, der über einen anderen, am Boden liegenden hinwegtritt, ohne ihn auch nur zu bemerken, Adam und Eva. Eine etwas abseits des Platzes stehende Figur – La Gorda – ist der bekannteste Treffpunkt Medellíns.

Die Einkaufsstraßen sind verstopft, weil heute Samstag ist und außerdem El Día del Amor y la Amistad, das kolumbianische Gegenstück zu unserem Valentinstag. In den Geschäften wird allerhand Kitsch zu dieser Gelegenheit angeboten und ein besonderer Einpackservice.

In den anderen Geschäften gibt es viel Ramsch, und in Schaufenstern und an den Wänden wird jeder Quadratmeter ausgenutzt, um Ware auszustellen. Besonders fällt mir ein
Schuhgeschäft auf, das an allen drei Wänden säuberlich in geraden Reihen auf Holzleisten Hunderte von Schuhen ausgestellt hat, in regelmäßigen Abständen neben- und untereinander.

Dann gibt es Essen in einer besseren Imbissbude, das erste nicht sonderlich gut schmeckende Essen in Kolumbien, mit großen, geschmacklosen Pommes Frites und ein Jägerschnitzel, das nicht so heißt.

Als es im Zentrum Abend wird, habe ich das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt, finde es aber zuerst nicht heraus. Dann fällt der Groschen: Es ist dunkel und warm. Das passt irgendwie nicht. Wenn es bei uns so warm ist, ist es noch hell, und wenn es bei uns dunkel ist, ist es kälter.

20. September (Sonntag)

Im Hotel in Medellín gibt es Frühstück in einem offenen Innenhof mit Pflanzen und
Springbrunnen. Auch hier gibt es etwas Neues zu entdecken: granadina, eine Frucht, die
nur aus Kernen und einer geleeartigen Masse zu bestehen scheint, aber erstaunlich gut
schmeckt.

Die paisas stellen die Mehrheit der einflussreichen Leute in Politik und Wirtschaft.
Dazu zählt auch der gegenwärtige Präsident Uribe – ein Name, auf den man hier ständig
stößt – ein höchst umstrittener Rechtskonservativer, der mit harten Maßnahmen den
Drogenhandel bekämpft und dabei, zumindest was die Sicherheit in den Städten angeht,
erstaunliche Erfolge gelandet hat.

Der Morgenspaziergang führt mich wieder nach El Poblado, dem Vorzeigeviertel Medellíns, Ausgehmeile für Kolumbianer und Treffpunkt für Touristen. Hat aber trotzdem seinen Charme.

Es gibt Popcorn- und Zuckerwatteverkäufer, Palmen aller Art, Bambusstauden mit grünen und solche mit gelben Stämmen, Farne, so groß wie Bäume. Aus einer Kirche kommt der schleppende Gesang der Gemeinde, einem modernen Bau mit weit herabhängendem Ziegeldach. Die Kirche ist so voll, dass einige vor der Tür stehen müssen.

Ich komme an einem konventionellen Spielplatz mit bunten Wippen und Schaukeln vorbei. Der ist leer. Und dann an einem Abenteuerspielplatz mit Hüpfburgen und Klettergerüsten. Der ist voll.

Ein Schuhgeschäft ist geschlossen, ein anderes geöffnet. Geöffnet ist auch Éxito, eine Art Edeka im Baumarktformat. Hier gibt es mehr und bessere Waren als in dem in Bogotá. Auch Blumen gibt es hier. Und das Einpacken an der Kasse wird von jungen Angestellten besorgt.

Dann komme ich an einem deutschen Sonnenstudio vorbei – es gibt nichts, was es nicht gibt in Medellín.

Ein Geschäft mit Reizwäsche öffnet erst um 12 mittags, schließt aber erst um 12 Uhr nachts. Ein Geschäft für Miederwaren hat ein Wortspiel im Namen: Fájate.

In einem Lokal bestelle ich das klassische Gericht der Gegend, in ganz Kolumbien bekannt: Bandeja Paisa. Bohnen, Speckschwarte, Chorizo, Blutwurst, Avocado, Kochbanane, Reis, Spiegelei – ein Fest der Sinne. Und sattmachend.

Auf einer Anhöhe in El Poblado ist vor ein paar Jahren ein Unglück passiert: Häuser sind
eingestürzt und den Hang hinuntergerutscht. Das Besondere daran: Sie wurden als Casas inteligentes gebaut und verkauft.

Die U-Bahn führt an einem Fluss entlang. Fluss? Ich wusste gar nicht, dass Medellín einen  
Fluss hat. Wie heißt der denn? Medellín!

21. September (Montag)

Am Ende der steil abfallenden Straße vom Hotel gibt es eine ganze Reihe von Geschäften
mit schönen Rattanmöbeln, kleiner als die in Deutschland angebotenen, gerade richtig für
meine Wohnung. Könnte ich glatt mitnehmen.

In der Sommersonne geht es zur Metro. Unterwegs komme ich an den Lokalen mit den Namen Indio Comido, La Ruana Juana, Desayunadero La 10 und Q`RRIKO POLLO vorbei.

In der Metro hören sich die Durchsagen „spanisch“ an.

Ich komme auf einem zentralen Platz zur Iglesia Veracruz. Hier kommt man sich wie in Mexiko vor, bei der weiß getünchten Kirche und dem durchbrochenen Glockenturm.

Noch vor dem Eintreten fallen mir die Messen auf: Samstags und sonntags gibt es 5, werktags 6 Messen!

Drinnen herrscht Kitsch vor. Eine Jungfrau jagt die andere. Aber es gibt einen beeindruckenden Christus, nach der Kreuzabnahme, mit Blut an Füßen, Händen und Knien und einem gebrochenen Arm.

Dann geht es zum Museo de Antioquia. Als ich im Museum etwas hilflos um mich sehe, fragt mich ein Mädchen von der Garderobe her: ¿Colaboro? Ich zögere einen Moment und weiß nicht, ob ich und, wenn ja, was gemeint ist. Dann fällt der Groschen: Kann ich Ihnen helfen? Alles in ein Wort gepackt.

In diesem Museum gibt es alles von der Prähistorie bis zur Moderne. Dazu gehört ein wirres Bild voller gebrauchter Malerpinsel, alle durcheinander. Erst auf den zweiten Blick erkennt man alle möglichen Teile von Musikinstrumenten, die sich halb versteckt hinter oder zwischen den Pinseln befinden. Das Werk stammt von Armand Fernández und heißt Expansión Sinfónica.

In der Nähe Frank Stellas Doble Desmodulador Gris, ein Beispiel nichtgegenständlicher Kunst. Zwei Gemälde Seite an Seite, beide bestehen nur aus Quadraten, die von außen nach innen immer kleiner werden, mit unterschiedlichen Farben in beiden Bildern, einmal von Warm nach Kalt, einmal von Kalt nach Warm. Erstaunlicherweise scheinen sie dreidimensional zu sein, wobei eins wie eine Pyramide, das andere wie Grube aussieht.  

Dann kommt der Lokalmatador, Fernando Botero, hier nicht mit einer Skulptur, sondern mit einem Gemälde vertreten. Die Figuren sind aber genauso wie die seiner Skulpturen, gedrungen und, plump, aber farbig. Die beiden Figuren, beide etwas dümmlich aussehend, sollen Ludwig den XVI. und Marie Antoinette darstellen. Der Anlass für das Gemälde war der Wunsch von Boteros Mutter, nach Versailles zu reisen. Bevor sie die Reise antreten konnte, verstarb sie aber. Daher beschloss Botero, das Königspaar nach Medellín zu „holen“. In dem Gemälde lugt die Mutter neugierig hinter der Tür hervor.

Eine verstörende Plastik stellt einen am Boden liegenden Christus dar, aus Wachs, mit Dornenkrone und Tunika. Er stützt sich auf und hat den Körper leicht erhöht. Über ihm eine weitere Christusfigur, sich auch aufstützend, etwas weiter erhöht, die sich aber die Beine mit der ersten Christusfigur teilt.

Ganz wunderbar in seiner Einfachheit ein Bild mit rotem Untergrund und dem Schriftzug Colombia in Weiß. Nichts Besonderes, nur: Der Schriftzug ist der von Coca-Cola.

Dann gibt es ein Werk, das Escopetarra heißt, eine Kombination aus Gewehr und Gitarre, escopeta und guitarra. Der Griff und der Abdrücker sind von dem Gewehr, der Lauf ist der der Gitarre. Es ist als ob man mit dem Auslöser Töne statt Schüsse abfeuern würde.

Von Leopoldo Carrasquilla stammt eins der ältesten Frauenportraits Kolumbiens. Diese Frau gilt als Heldin und Märtyrerin des kolumbianischen Unabhängigkeitskriegs. Sie schloss sich den Aufständischen an, und wurde zur Anführerin einer Guerillatruppe. Die machte es sich zur Aufgabe, Schreiben der Königlichen abzufangen. Die Frau wurde später verraten und exekutiert. Auf dem Porträt sieht sie ganz harmlos aus, könnte auch das Porträt einer Frau aus der gehobenen Mittelschicht sein. Nur ihr Blick ist ziemlich durchdringend.

Die Heiligenbilder, wie das der Heiligen Barbara (XIX), gelten der Bekämpfung des Protestantismus. Die Bilder stammen von anonymen Künstlern, sind Ausdruck des Glaubens und wollen durch Emotionen den Gläubigen die Heiligen nahebringen.

Dann kommt ein Bild, das den Arbeitstag des Künstlers darstellt. Um eine Uhr herum gruppiert sich die Darstellung der immergleichen Szene. Am Morgen ist das Blatt noch leer, dann füllt es sich allmählich. Dabei lasse ich es bewenden.

Auf dem Weg zum Parque San Antonio sehe ich eine Verkäuferin mit einer Schubkarre, die hoch mit Bananen beladen ist, und einen Avocadoverkäufer mit einem Einkaufswagen. Es geht an der Bäckerei Al pan pan vorbei, einem Namen mit einer Anspielung auf das Sprichwort Al pan pan y al vino vino.

Hier sieht man die chivas, die bunt bemalten alten Busse mit der großen Schnauze. Sie waren – und sind es in ländlichen Gebieten auch noch – kostengünstige Transportmittel, um Menschen, Tiere und Waren über bergige Wege zu befördern. Heute werden sie auch als Partybusse und für Stadtrundfahrten genutzt. Sie haben hinten eine Leiter, über die man zu dem Dachgepäckträger kommt.   

Im Parque San Antonio steht die Figur El Pájaro von Botero. Sie wurde in einem verheerenden Attentat zerstört, gerade als hier ein Volksfest stattfand. Es gab Tote und Verletzte. Und allgemeines Entsetzen über die barbarische Tat. Botero entschied, die zerstörte Statue als Denkmal menschlicher Dummheit stehenzulassen und eine zweite, identische, aber intakte Statue daneben aufzustellen.

Auf dem Rückweg komme ich an der Iglesia San José vorbei. Dort steht auf einem Plakat: Sie brauchen ihr Handy nicht, um mit Gott zu sprechen. Schalten Sie es aus.

Dann komme ich an der Iglesia La Candelaria vorbei. Draußen Dutzende von Bettlern und Obdachlosen, die es sich an der Kirchenmauer „bequem“ gemacht haben.

Da ich nicht weiß, wie spät es ist, komme ich auf die Idee, auf die Quittung vom Supermarkt zu gucken. Da steht die Uhrzeit.

Irgendwo komme ich mit einem Mann ins Gespräch, der in Europa gewesen ist. Er hat neun Länder bereist.

Eine Losverkäuferin spricht 1500 irgendwie merkwürdig aus. Das muss der Acento Paisa sein.

22. September (Dienstag)

Heute lasse ich mich von Taxis durch die Gegend fahren. Die Wege sind zu weit. Als erstes
geht es in das Museo el Castillo, dem gotisierten Herrenhaus eines reichen
Landbesitzers, das trotz seines Aussehens vom Anfang des 20. Jahrhunderts stammt. Man
wird in einer nicht sehr stimulierenden Tour durch das Haus geführt. In allen Räumen:
Gemälde, Gobelins, Lüster, Porzellan, Figuren, Kerzen, Vitrinen zu Hauf. Alles sehr
europäisch, und wohl auch meistens aus Europa eingeführt. Aus der Kolonialzeit stammen
nur ein paar Lederstühle und Degen aus der Zeit der Eroberung.

Der Schlafraum des Hausherrn ist diskret von dem der Herrin des Hauses getrennt, aber durch eine Tür verbunden, die sich aber verschämt hinter einem Vorhang verbirgt. In einer Vitrine eine bemerkenswerte Sammlung von Schühchen aus Porzellan, von Ballettschuhen über Bauernstiefel und Holzschuhen bis zu Stöckelschuhen. In einer anderen Vitrine die Kopie des angeblich kleinsten Buchs der Welt, gerade mal einen Fingernagel groß. Es enthält das Vaterunser in sieben Sprachen. Das Original befindet sich – in  Mainz, im Gutenbergmuseum!

Oben gibt es einen Holzboden mit einer technischen Besonderheit, die ich aber trotz Nachfrage nicht ganz verstehe. Die Technik heißt machinbrá und erlaubt es, die „männlichen“ und „weiblichen“, spitz zulaufenden Streben ohne weitere Hilfsmittel zu verlegen.

Im Garten sind Arbeiter beschäftigt, die alle, wie hier überall, freundlich grüßen, wenn
man vorbeigeht. Mit Schubkarren und Baggern werden Erdmassen bewegt. Vermutlich werden Terrassen angelegt. Der Garten, obwohl „europäisch“ angelegt, ist voller „exotischer“
Bäume und Pflanzen.

Dann gehe ich die lange Zufahrt zum dem Herrensitz Richtung Stadt hinunter und erwische
irgendwo ein Taxi. Der schwergewichtige Fahrer, der erste richtig dicke Kolumbianer,
den ich sehe, ist Anhänger von Atlético Nacional, einem von drei Clubs von Medellín. Es
läuft in dieser Saison so mittelprächtig. Sie liegen im oberen Mittelfeld der Tabelle, der
große Lokalrivale ist Tabellenerster. Die Konkurrenz kommt hauptsächlich aus Cali. Im Lokaljargon wird der Verein El Nacho genannt, so wie die Nationale Universität La Nacho ist.

Er erklärt mir auch, was es mit den Banderolen auf sich hat, die an Straßenkreuzungen,
sobald die Ampel rot wird, ausgerollt werden: Es ist Wahlpropaganda für die
bevorstehenden Vorwahlen zum Präsidentenamt. Es werden die Kandidaten der einzelnen
Parteien gewählt. Wenn ich das richtig verstanden habe, können sich alle daran beteiligen.

Er ist ausgesprochen freundlich und benutzt etwas altmodisch klingende Höflichkeitsformeln wie A su mando, sehr charakteristisch für das Spanisch Kolumbiens.

Als wir am Ziel, dem Cementerio de San Pedro ankommen, kann er meine 50.000 Pesos nicht wechseln. Was tun? Er ist sehr höflich und entschuldigt sich sofort, dass er mich nicht darauf hingewiesen hat – statt mir die Schuld zu geben. Ich sage, ich hätte ehrlich
geglaubt, er würde wechseln können, worauf er mir erzählt, das sei ein richtig großer
Betrag. Die Gesamteinnahmen des Tages liegen gerade mal bei 40.000. Ich frage, ob man
hier nicht irgendwo wechseln könne, aber das geht nicht. Am Ende will er sich mit dem
Kleingeld das ich habe, 6.000 Pesos, zufriedengeben, obwohl ich 11.000 bezahlen muss. Das ist mir aber nicht recht und ich biete ihm Dollars an. Ich gebe ihm 5 Dollars, woraufhin
er mir das kolumbianische Kleingeld wieder zurückgeben will. Ich wollte aber die Dollars
zusätzlich zu den Pesos dazu geben, was ihm wiederum nicht recht ist. Am Ende einigen wir uns irgendwo in der Mitte. Ich steige aus, beeindruckt von der Ehrlichkeit und Korrektheit, auf die man hier überall trifft.

Der Friedhof ist im spanischen Stil gehalten. Es wird nicht in der Erde bestattet,
sondern in Wänden, sogenannten Galerien, in die der Sarg längs hineingeschoben wird. Das
Grab wird mit einer Steinplatte abgeschlossen. Einige sind ganz schlicht gehalten, mit dem
Namen und dem Todesdatum (in der Regel ohne das Geburtsdatum) des Toten. In einem Fall steht lediglich R. 13/91 auf der Platte. Wofür wohl die 13 steht? Die Namen sind oft in
Kursivschrift angebracht und oft auch in der Handschrift des Toten, der sozusagen sein
eigenes Grab signiert.

Auch hier ist Uribe der häufigste Name, gefolgt von Escobar. Ein Carlos Uribe Escobar
vereint beide Namen. Zwischen all denen ein Hugo Knobloch und ein Walther Gerstenkorn.

Andere Grabplatten haben Briefe, Banderolen, Gedichte, Heiligenbildchen, welke und
frische und künstliche Blumen, Photos, Tierchen, Nippesfiguren, Schleifen, sogar
Aufkleber von Fußballvereinen. Auch vor dem Friedhof macht die Rivalität nicht Halt: Der
Name des Clubs ist an einem Grab ausgeritzt worden.

Trotz des überwältigenden Kitsches ist man unwillkürlich gerührt, wenn man die naiven
Mitteilungen liest. Aus der Ferne beobachte ich eine Mutter mit Sohn. Sie lässt ihre Hand
mehrmals über die Grabplatte gleiten, er steigt auf einen Hocker und klopft dreimal an
die Grabplatte. Das kann einen nicht kalt lassen.

In dem „besseren“ Teil des Friedhofs befinden sich die Mausoleen der Reichen, einige mit
schönen Grabfiguren. Die Zypressen, die Stille, die Vögel erzeugen trotz des Ortes ein
Gefühl von innerer Ruhe.

Ich gehe vom Friedhof aus Richtung Botanischer Garten. Der liegt gleich in der Nähe.
Statt mir Bäume anzusehen, steuere ich sofort die Cafeteria an. Hier bekomme ich ein
buñuleo, ein wie ein großer Berliner aussehendes, fluffiges Gebäck, das warm serviert
wird. Lecker, obwohl ich den Geschmack des Käses, der eigentlich drin sein soll, nicht
merke.

Der Botanische Garten hat einen Orchideenhain, eine „medizinische“ Sektion und einen
wunderbaren Urwald im Miniaturformat. Und einen Teich, an dem ein Mädchen, wie eine
Prinzessin in einem langen, rosafarbenen Kleid, für Photos posiert, für Los Quince, den
15. Geburtstag, der in ganz Südamerika ein ganz besonderer Tag für Mädchen und dessen Feier wie ein Initiationsritus ins Erwachsenenalter ist.

Dann wende ich aber doch noch den Bäumen zu. Es gibt Gewächse mit exotischen Namen wie badea, iraca und manito de Dios, von denen ich einige auf den Fahrten gesehen habe. Auch hier kann man sie kaum identifizieren, da wenige in Blüte stehen. Die badea ist ein Baum mit sich über den Boden ausbreitenden Wurzeln, die sich bis zu 20 Meter von dem Stamm entfernen können. In diesem Fall hat sie sich um das Schild gewickelt, auf dem sie
beschrieben wird! Eine apfelartige Frucht, auf die ich stoße, heißt totumo. So heißt auch ein Vulkan hier in der Nähe, der eine Touristenattraktion ist. Die iraca ist ein Baum, aus dessen Blättern ein Hut gemacht wird, der hier den schönen Namen jipijapa hat – der Panamahut.

Als mir gerade die Batterien der Kamera ausgehen, findet sich natürlich noch ein schönes
Motiv: eine runde, grüne Frucht, wie ein riesiger Apfel, die nicht etwa am Zweig, sondern
gleich am Stamm wächst – so als wenn jemand einen Ball in den Baum geschossen hätte.

Am Abend geht es in die Video Bar. Dort werden Schnulzen aus den 60er Jahren gespielt,
mit Videoeinspielungen an zwei großen Leinwänden. Jetzt, mitten in der Woche, ist es
nicht sehr voll, aber am Wochenende muss es hier brechend voll sein. Erstaunlicherweise
sind fast ausschließlich junge Leute hier, Menschen, die man eher bei Punk oder Hip Hop
vermutet, und wenn schon beim Schlager, dann nicht bei so altem Zeug. Alle singen
begeistert mit. Ich kenne kein einziges Lied, kenne aber zwei der Interpreten: die
Pantoja und Miguel Bose. Die Kleidung wirkt im Nachhinein wie eine Ermahnung, nicht jeden Modetrend mitzumachen.

23. September (Mittwoch)

Heute geht es weiter nach Cartagena. Erst jetzt, beim Wegfahren, merke ich, wie schön Medellín liegt, mit den grünen Bergen auf allen Seiten.

Vom Fahrer höre ich, dass ich die beste Stadt Kolumbiens besucht hätte, Medellín. Dass er aus Medellín stammt und hier lebt, spielt vermutlich keine Rolle. Dies sei das Paradies, hier gebe es kalte und warme Brisen, in Cartagena nur warme. Ich solle mich schon mal auf 40° einstellen.

Er spricht mich auf Fußball an und will wissen, für welchen Verein ich bin. Er tippt, als er Deutschland hört, auf Manchester City. Knapp daneben.

In seiner Familie sind alle Anhänger von Nacional (Grün-Weiß), Cousins eingeschlossen. Bis auf einen, einen Onkel, der ist für Independiente (Blau-Rot). Nacional hat zweimal den Amerika-Pokal gewonnen. Der Verein mit dem merkwürdigen Namen Millonarios ist aus Bogotá. Er wurde vor ein paar Jahren von einem Bruderpaar aufgekauft. Millionären.

Am Flughafen bekomme ich an einem Stand, an dem es Croasans gibt, eine warme Kugel aus Fleisch und Kartoffeln. Lecker, und wie eine vollständige Mahlzeit. Die nette Verkäuferin lässt mich ein Photo machen, will aber selbst nicht auf das Bild: „No me gustan las fotos“. Die erste Kolumbianerin, die nicht gerne posiert.

Das Hotel in Cartagena, das Tres Banderas, ist gegenüber den anderen nichts als eine bessere Jugendherberge. Der Putz blättert von den Wänden, ein schmutziger Läufer führt eine Eisentreppe hinauf, es gibt kein Telefon, die Klimaanlage lässt sich nicht ausschalten, das Zimmer schließt man mit einem altertümlichen, riesigen Eisenschlüssel ab.

Das Wasser wird nicht richtig warm, das Waschbecken ist im Zimmer, und das Frühstück ist mager. Es gibt hauptsächlich Marmelade, und die ist nirgendwo gut hier. Auch die Säfte sind nicht so gut, wässrig. Und ich probiere auch den ersten Saft, der mir nicht schmeckt: Maracuya. Ist mir zu bitter.

Das Hotel hat aber einen schönen Innenhof, und das niedrige Gebäude im Kolonialstil hat seinen Reiz. An der Rezeption drei blutjunge Angestellte, zwei Mädchen und ein Junge, die einen mit einer warmherzigen Freundlichkeit bedienen. Und mir erlauben, ein Photo von ihnen zu machen.

Wie immer bei Städten, die so gelobt werden, ist der erste Eindruck enttäuschend. Es gibt
überall Gewimmel und Gewusel, man verliert sich in dem symmetrischen Straßensystem, man wird als Bleichgesicht nicht in Ruhe gelassen, und es gibt neben den schönen alten
Straßenzügen hässliche Hochhäuser und vielbefahrene Straßen. Außerdem sind die Preise
höher. Für eine Flasche Wasser zahlt man hier doppelt so viel wie in Medellín.

Ich komme durch eine Gasse mit Blumenständen, einer nach dem anderen. Die Blumen sind so reich und bunt und vielfältig, dass ich erst glaube, sie wären künstlich. Sind sie aber nicht.

Am Abend zeigt sich die Stadt von ihrer besseren Seite. Die erleuchteten Gebäude und
Plätze schaffen in der warmen Luft eine Bilderbuchatmosphäre. Auf den Plätzen tanzen
morenos schnelle Rhythmen zu Trommelbegleitung, einmal mit langen Kleidern, einmal mit glitzernden, eng anliegenden Kostümen. Die nackten Beine stampfen abwechselnd mit großer Geschwindigkeit auf dem Boden auf, die Mädchen bewegen dazu ihre Hüften, wie aufgedreht, nach hinten und nach vorne, und die Jungen machen Akrobatik auf dem Boden, schlangenartige Figuren, die den Körper so verformen, dass man gar nicht hinsehen mag.

Überall Touristen, meist Paare, mit Photoapparaten. Einige in voller Touristenmontur.
Ich habe noch eine lange Hose an, aber das wird sich morgen ändern.

24. September (Donnerstag)

Selbst Cartagena, die kleinste meiner Städte, hat 1,7 Millionen Einwohner!

Am Morgen geht es als erstes in den Inquisitionspalast. Die Ausstellung ist wie ein Spiegelbild der menschlichen Gesellschaft:

  • Der Inquisitionspalast ist eines der prächtigsten Gebäude Cartagenas, und wurde
    überkuppelt, um ihm einen sakralen Charakter zu verleihen. Sowohl die Pracht des Baus als auch die Kuppel sprechen Bände.
  • Der Mann, der seine Dienste als Führer anbietet, weist gleich zu Anfang darauf hin,
    dass hier die Inquisition „nur“ ca. 250 Jahre am Werk gewesen sei. Wenn man etwas
    Schlimmes eingestehen muss, mildert man es ab, indem man es mit etwas noch
    Schlimmerem vergleicht.
  • Als die Inquisition abgeschafft wurde, wurden praktisch alle Folterinstrumente
    verbrannt. Das passt aber den modernen Touristen nicht. Die beschwerten sich, sie wollten Folterinstrumente sehen, ohne sich klar zu machen, dass sie sich so zu Mitläufern der Inquisition machen, und so wurden Kopien angefertigt.
  • Neben den Folterinstrumenten steht in dem ersten Raum ein breiter Schreibtisch. Hier wurde alles, was getan und gesagt wurde, akribisch festgehalten. Parallelen zu anderen Überwachungssystemen, gerade in Deutschland, sind nicht zu übersehen.
  • An der Fassade befindet sich zwischen zwei großen Fenstern mit Holzgittern ein
    drittes, niedriger angebrachtes. Durch dieses Fenster konnten Bürger ihre „Beobachtungen“ schriftlich an die Autoritäten weiterleiten, ein gut organisiertes Spitzelsystem.
  • Die Formen und die Vielfalt der Folterinstrumente belegen, dass menschliche
    Vorstellungskraft auch im Grausamen ihren Spielplatz sucht. Es gibt Geißeln, Würgeeisen, einen Eisenring mit Stacheln, welche lebensfrohen Frauen in die Brust gebohrt wurden, und einen Eisenring, der um den Hals befestigt wurde und eine nach oben zeigende Spitze hatte, die sich in die Kehle bohrte, sobald man den Kopf senken ließ. Man musste also Haltung bewahren.
  • Indios wurde nicht vor die Inquisition geführt.

Zur Anklage gebracht wurde unter anderem die Hexerei. Auf einem Tisch sind Accessoires
der Hexenkunst ausgestellt: Kröten und Vögel, Kräuter, ein Totenkopf.

Von hier aus geht es zur Kathedrale. Das ist eine lichte, dreischiffige Kirche mit hohen halbrunden Bögen und Säulen zwischen den Schiffen. Licht kommt von ganz oben aus den Dachfenstern. Die mächtigen Wände schützen vor Hitze. Die Decke ist im Mudéjar-Stil, von der Decke hängen große spinnenartige Eisenleuchter, die Wände sind weiß gehalten, im Chor beige.

Bei seinem Angriff schoss Drake in die noch im Bau befindliche Kirche ein. Drei Säulen brachen zusammen, das Dach stürzte ein. Die Kirche wurde später neu aufgebaut und im 19. Jahrhundert nochmals verändert.

Die Kirche scheint groß für die Zeit, aber Cartagena wuchs schnell, hatte eine kosmopolitische Bevölkerung, Eingeborene, Kreolen, Spanier, Holländer, Mailänder, Neapolitaner, Portugiesen – alle Untertanen des spanischen Königs.

Der Hochaltar ist in Gold gefasst, mit symbolträchtigen Figuren: Sebastian, der Patron von Cartagena, Luis de Beltrán, der Patron von Nueva Granada, Katharina, die Patronin der Kathedrale, Toribio, der Patron von Lima, der Hauptstadt des Königsreichs, zu dem Cartagena gehörte, Santa Rosa de Lima, der Patronin der Neuen Welt.

Das Schwert, das Katharina trägt, soll das Schwert von Blas de Lezo gewesen sein. Er soll die Stadt mit 2.500 schlecht ausgebildeten Soldaten gegen die englische Armee von 25.000 verteidigt haben.

Dann geht es zur Festung, zum Castillo de San Felipe de Barajas, der größten Festung, die jemals von den Spaniern in der Neuen Welt errichtet wurde. Sie wurde auch nie eingenommen, obwohl es an Versuchen nicht mangelte. In der Festung konnten 20.000 Personen Zuflucht finden. Davon wurde etwa bei einem Ausbruch von Gelbfieber im 18. Jahrhundert Gebrauch gemacht.

Von der Festung aus hat man einen guten Blick auf die Stadt und aufs Meer. Unter der Festung verläuft ein komplexes Tunnelsystem, das die Verteilung von Vorräten und schnelle Evakuierung ermöglichte. Das akustische System ist so gut, dass man an jeder Stelle auch den geringsten Laut von überall her vernehmen kann.

In der Ausstellung sieht man eine Karte, auf der deutlich wird, dass man sich hier in der Karibik befindet und dass Kuba und Haiti nicht weit sind.

Bei einem Modell der Stadt hat man beinahe den Eindruck, dass Cartagena eine Insel ist. Scheint von allen Seiten vom Wasser umgeben.

Ausgestellt ist eine schwarze Glocke aus Palenque, die von dort hierhergebracht wurde. Daneben zwei Schwerter, zum Vergleich: ein kurzes spanisches, ein langes englisches. Das spanische hat einen schön verzierten Knauf.

Dann gibt es Dokumente, Handschriften, Karten, Erlasse des Vizekönigs und des Stadtrats, Skizzen zur Besiedlung. Der karibische Name der Gegend war Calamarí, und das bezeichnete ein Gehege mit einer steinernen Umfassung.

Gegründet wurde die Stadt von Pedro de Heredia. Er benannte sich nach seiner spanischen Heimatstadt. Zur Vermeidung von Verwechslungen mit anderen Städten gleichen Namens wurde dann daraus Cartagena de Indias.

Heredia wurde später wegen Korruption, Nepotismus, Veruntreuung und Missbrauchs der einheimischen Bevölkerung vor Gericht gestellt und verurteilt. Er wollte nach Spanien zurückkehren, um gegen das Urteil Widerspruch einzulegen, aber erlitt Schiffbruch. Er versuchte, an die Küste zu schwimmen, aber schaffte es nicht. Seine Leiche wurde nie gefunden.   

Die Stadt erlebte 1697 den größten Piratenangriff der Geschichte in der Karibik, zur Zeit Ludwigs XIV., durch eine kombinierte Aktion der regulären französischen Flotte unter dem Marineoffizier de Pointis und einer Flotte von Freibeutern. Die einen attackierten Cartagena auf dem Landweg, die anderen auf dem Seeweg. Die Festung wurde bei der Gelegenheit wohl doch eingenommen. Die Spanier hatten sich allzu sehr auf die Befestigungsanlagen verlassen, und ihre Kanonen waren durch Oxydation rostig geworden, weil sie so lange nicht zum Einsatz gekommen waren. De Pointis erbeutete unglaubliche Reichtümer, Silber, Edelsteine, sakrale Geräte. Die landeten alle in Versailles. Was noch schlimmer war: Die Freibeuter – die, im Gegensatz zu gewöhnlichen Piraten, im Auftrag und quasi „gesetzlich“ handelten – fühlten sich bei der Verteilung der Beute ungerecht behandelt und attackierten die Stadt erneut. Sie sperrten Frauen und Kinder in der Kathedrale ein und brandschatzten und verwüsteten alles, was ihnen in die Finger kam. Am Ende brach eine Epidemie aus, bei der Tausende von Soldaten ums Leben kamen. Von all dem hatte ich noch nie was gehört.

An der Tür des Museums hat man estoperoles angebracht. Das sind kurze Nägel mit großen, runden Köpfen, wie sie im Schiffsbau Verwendung finden.

An den Schießscharten ist eine Kanone mit dem Emblem des englischen Marineoffiziers Edward Vernon ausgestellt. Er verlor die entscheidende Schlacht gegen Blas de Lezo, was die Vorherrschaft Spaniens in der Karibik zementierte. Er war allerdings von seinem Sieg so überzeugt, dass er bereits vor der Schlacht Münzen prägen ließ, auf denen Blas de Lezo vor ihm niederkniet und um Gnade bittet.

In den Gärten der Festung komme ich an der Statue von Blas de Lezo vorbei. Er ist als General cojo, tuerto y manco in die Geschichte eingegangen. Er verlor im Spanischen Erbfolgekrieg sein linkes Bein, im selben Krieg drang ein Bombensplitter in sein rechtes Auge ein, dessen Sehkraft für immer verloren ging, und schließlich bekam er im Krieg in Katalonien einen Schuss aus einer Muskete in den rechten Arm, den er seitdem nicht mehr bewegen konnte.

Ebenfalls hier befindet sich eine Ikone Cartagenas, die Skulptur der Zapatos viejos, alte Schuhe, einer liegend, einer stehend, vergoldet. Die Skulptur ist eine Anspielung auf einen Dichter Cartagenas, der am Ende eines Gedichts Cartagena mit alten Schuhen vergleicht, die man liebgewonnen hat.

25. September (Freitag)

Jeder Taxifahrer Cartagenas scheint anzunehmen, dass ein Fremder ständig auf der Suche
nach einem Taxi ist. Jedes Mal wird beim Vorbeifahren gehupt, so als wenn man keine
Augen im Kopf hätte und keins der unzähligen kleinen gelben Bomber sieht.

Die Kolonialhäuser sind alle unterschiedlich und doch alle gleich.  Das macht wohl ihren
Reiz aus. Die meisten sind zweistöckig, auf den großen Plätzen stehen daneben auch
schon mal dreistöckige. Auf einem der beiden dreieckigen Plätze im Zentrum, der Plaza
de la Aduana
, mit der Kolumbusstatue im Zentrum, steht mitten zwischen ihnen ein
sechsstöckiges, nichtssagendes modernes Bürohaus, das in seiner vertikalen Ausrichtung
die Harmonie sprengt. Der angrenzende dreieckige Platz ist die Plaza de los Coches, mit
der Statue von Heredia im Zentrum und dem Uhrenturm an der Längsseite. Der Platz verdient auch heute seinen Namen noch, denn hier sammeln sich die Pferdekutschen, die die Touristen abends durch die erleuchteten Straßen fahren.

Mein Spaziergang durch die Stadt beginnt am Inquisitionsplatz. Gleich gegenüber liegt die Plaza Mayor, die ihrem Namen keine Ehre macht. Sie ist klein und eher ein Park als ein Platz, sehr schön, mit den typischen Versatzstücken: Springbrunnen, Pflanzen, Bänke. Statue. Hier wurde die Unabhängigkeit proklamiert.

Es geht über verschiedene kleine Straßen, mit Geschäften im Erdgeschoss und Wohnungen oben. An mehreren Wänden sind Gedichte des Lokalhelden der Dichtung, eines gewissen
Luis Carlos López, angebracht. Das ist der mit den Schuhen. Die dazugehörige Skulptur gibt es auch auf Postkarten.

Dann geht es unter dem Uhrenturm her aus der Innenstadt hinaus. Da treffe ich,  
bezeichnenderweise außerhalb des Zentrums, auf das erste Theater Cartagenas. Rechts davon ein moderner Bau, ein Kongresszentrum, das die alte Markthalle ersetzt. Die ist in die Luft geflogen. Das kam so: In der Markthalle wurde unter anderem Pulver aufbewahrt, und zwar in großen Mengen, nämlich für den Karneval, an dem mächtig geknallt wird. Durch einen Kurzschluss ging alles in die Luft. In dem Zusammenhang versuche ich, rauszufinden, wann denn hier Karneval ist. Die Antwort: 11. November!

Gegenüber steht eine Bronzestatue von Cervantes, sitzend beim Schreiben dargestellt, ein
Bein über das andere geschlagen. Als die Statue errichtet wurde, fehlte nach wenigen
Tagen schon die Feder. Der Dieb wurde gefasst und die Feder ersetzt. Cervantes hat sogar
zwei Federn, eine in der Hand und eine im Tintenfass. Ob das der tatsächlichen
Schreibroutine entsprach, weiß ich nicht. Jedenfalls ist Cervantes ganz dargestellt, noch
mit dem Arm, den er in der Schlacht von Lepanto verlor.

Ich gehe durch eine Lücke in der Stadtmauer und dann ein Stück außen entlang. Unter dem Druck der Bevölkerung, die sich über die Enge und die stickige Luft beschwerte, wurde dieser Teil irgendwann abgebrochen, aber der Rest ist erhalten. Die Mauer läuft kilometerlang um die Stadt herum, nicht unbedingt schön, aber beeindruckend. Die Mauer war kein Resultat systematischer Planung, sondern wurde Stück für Stück gebaut. Und als sie beendet war, kam kurz danach schon die Unabhängigkeit.

Wieder im Zentrum, komme ich an der Kirche Santo Domingo vorbei. Die hat einen krummen Turm, von der die Legende, wie bei allen krummen Türmen, sagt, er sei das Werk des Teufels. An der Seitenwand ist die glatte Wand aufgelöst und durch mächtige Streben
verstärkt. Das wurde nötig, als man kurz nach der Vollendung des Baus merkte, dass er
einzustürzen drohte.

An einer Straßenecke treffen ein Kolonialbau und ein Haus des sogenannten Republikstils
aufeinander. Man sieht deutlich den Unterschied. Der Republikstil ist aufwendiger in
Materialien und gleichzeitig einfacher, strenger, mit einer fast glatten, weißen Fassade,
ohne die typischen, weit überhängenden Balkone der Kolonialbauten.

An einem Platz steht ein großer, rötlich verputzter Bau. Es war zuerst das Kloster Santa
Teresa
, dann Hauptquartier der Polizei, dann Hotel. Irgendwie haben die ja auch alle was
miteinander gemeinsam.

Dann geht es an der Kirche San Pedro de Claver vorbei. Davor steht die eindrucksvolle
Statue des Heiligen mit einem Negersklaven. San Pedro de Claver setzte sich für die Sklaven ein und erhielt den Beinamen Sklave der Sklaven. Er war der erste Mensch, der in der Neuen Welt heiliggesprochen wurde. Der Gesichtsausdruck des Sklaven in der Statue ist beeindruckend festgehalten. Wie ein unverständiges Tier, das nicht weiß, warum ihm Leid geschieht, mit der flehenden Bitte um Unterstützung, aber auch schon unter dem Eindruck der Menschlichkeit des Mönchs.

Der Altar der Kirche ist aus Marmor aus Carrara. Man muss sich mal den Aufwand
vorstellen, das Zeug hierher zu bekommen!

Unter den Plätzen der Innenstadt stechen zwei große, beieinander liegende Plätze hervor,
beide groß, beide dreieckig, beide schön. Einer davon war der Umschlagplatz für Sklaven.
Cartagena hatte dafür eine Art Handelsmonopol.

Dann geht es ein Stück an der Stadtmauer an der anderen Seite der Stadt, Richtung Meer, entlang. Hier kann man ein Stück auf der breiten Mauer entlang gehen.

Der weitere Weg führt über die Calle del Porvenir, die Straße der Zukunft. Die heißt tatsächlich so, weil hier die erste staatliche Universität stand – und immer noch steht.

In der Kirche Santo Toribio lassen sich die Schönen und Reichen trauen, darunter auch
Montoya. Zur Feier der Hochzeit wurden die Straßen der Innenstadt gesperrt, und es wurde
ein Autorennen durchgeführt!

Da ich nicht mehr Sonne vertragen kann, flüchte ich mich anschließend in das Museum San Pedro Claver. Auch hier wird man geführt, von einem jungen Mann, der alles sehr emphatisch, mit in die Länge gezogenem r hersagt, so als deklamiere er ein Heldenepos. Immerhin erfährt man ein paar interessante Details: San Pedro wurde in Katalonien geboren. Er kam als 30-Jähriger nach Amerika und wurde schließlich Jesuitenpater.

In der nicht sonderlich schönen Kuppelkirche liegt er hinter Glas unter dem Hauptaltar begraben. Man sieht den Kopf des Skeletts. Er starb an einer Krankheit, die damals Veitstanz genannt wurde – Parkinson. Das ist bemerkenswert, denn er scheute sich nie, Körperkontakt mit den erkrankten Negersklaven aufzunehmen, wie auf einer Reihe von naiven Bildern im Obergeschoss dargestellt wird. Sein Todestag ist der 8. September, wurde aber von einem kolumbianischen Präsidenten auf den 9. September verlegt, dem Tag der Menschlichkeit der UNESCO.

Ansteckungsmöglichkeiten gab es damals zuhauf: Pocken, Ziegenpeter, Lepra. In der Kuppel ist der Ehrentitel des Heiligen festgehalten, auf Latein: Petrus Claverus, Aethiopum Sempre Servus. Die Neger hießen einfach Äthiopier. Dass er trotz aller Auflehnung gegen die Behandlung der Neger ein Diener seines Herrn war und unerbittlich seine Ideologie verteidigte, zeigt sich in der Zahl der Neger, die er taufte: 300.000.

Am Abend mache ich einen weiteren Spaziergang und komme dabei wieder auf den dreieckigen Platz, dessen offizieller Name Plaza Rafael Nuñez ist. Hier ist der Bär los. Es gibt ein Konzert aus Anlass irgendeines Gedenktages im Zusammenhang mit Cartagena. Nach einer unendlichen Reihe von Vorreden kommt – noch eine Vorrede! Pathetisch wird der Fortschritt beschworen und die Stadt gelobt. Dann endlich kommt der, von den jungen, vor allem weiblichen Fans erwartete Julio, der Star der lokalen Musikszene. Als er angekündigt
wird, ist von sangre cartagenese die Rede. Von einer jungen Moderatorin. Ohne rot zu werden und ohne Zögern.

Von einem wieder unglaublich netten Verkäufer kaufe ich eine arepa de queso. Er hält
meine Dinge für mich fest, so dass ich das Portemonnaie herausnehmen kann. Später, als er mich mit der benutzten Serviette vorbeikommen sieht, nimmt er mir sie sofort ab und
entsorgt sie. Umwerfend. Vorbildlich.

26. September (Samstag)

Kein Tag ohne Überraschung. Heute kommt sie gleich, als ich an der Rezeption frage, wie
ich meine Ansichtskarten verschicken kann. Ich hatte mich schon mal hier und da nach
einem Briefkasten umgesehen. Die Antwort: Es gibt in ganz Cartagena nur einen Ort, von
dem aus man Karten verschicken kann, und das ist der Flughafen!

Erst muss ich Geld abheben. Die Automaten befinden sich innerhalb des Éxito, des
Supermarkts, der passenderweise gerade um acht Uhr öffnet. Die Operation ist gar nicht so
einfach: Man führt die Karte nicht ein, sondern zieht sie durch, und dann kommen
verschiedenen Optionen, bei denen man manchmal raten muss. Unter anderem wird man
offensichtlich gefragt, in welchen Werten man das Geld haben will. Verwirrend ist auch
die Werbung für eine karitative Organisation, die mit jedem Schritt wechselt. Ich bin
geradezu erleichtert, als am Ende Geld rauskommt.

An der Kasse im Éxito ist vor mir ist eine Frau an Reihe, die Kleidung gekauft hat – im Éxito scheint es alles zu geben. Erst wird mit karibischer Ruhe ein Objekt nach dem anderen über den Sensor gezogen, dann werden noch langsamer die Sicherheitsetiketten entfernt, dann die Bügel. Erst dann geht es an die komplizierte Abrechnung mit Bonuspunkten und Kundenkarte und Unterschrift.

Mit dem Taxi geht es zum Convento de la Popa, dem höchsten Punkt Cartagenas, 145 Meter
über dem Meeresspiegel auf einem scharf geschnittenen, horizontalen Felsen gelegen. Das Convento de la Popa heißt so, weil seine Form an das Heck einer Galeere erinnert!

Unterwegs kauft der Taxifahrer Zigaretten. Er hält abrupt an und ruft einen
Straßenhändler zu sich: “¡Chino!”. Dann kauft er Zigaretten, aber nicht etwa ein Paket,
sondern drei einzelne. Der Verkäufer zieht sie aus einer vollen Packung und gibt sie ihm.

Das Wort chino bezeichnet eine junge Person. In anderen Regionen ist es pelao. Ein Freund ist ein parcelo, vor allem in Medellín.

Den Weg hinauf hätte man ganz gut zu Fuß machen können, aber aus Sicherheitsgründen wird davon abgeraten. Es geht Serpentinen hoch, mit ärmlichen Häusern zu beiden Seiten. Vor den Häusern Geröll und Grashalme. Alle Häuser sind einstöckig und immerhin aus Stein, und viele haben ganz schöne Gitter. In den Höfen und auf den Gittern flattert
Wäsche, und in den Eingängen sitzen die Leute, in aller Ruhe. Das sieht fast idyllisch
aus, aber wohnen möchte man hier wohl doch nicht. Ob es Ventilatoren gibt?

Oben am Kloster gibt es die typischen Souvenirverkäufer, die man abwimmeln muss, und
hinter dem Eingang steht ein uralter Mann, der sich als Führer anbietet. Eher aus Mitleid
sage ich ja. Er ist uralt, mit einzelnen, langen Haaren, die aus Backe und Hals
herauswachsen, Speichel, der aus dem Mund quillt, unregelmäßigen Zähne und, wie ich erst später feststelle, Mundgeruch. Statt vom Kloster erzählt er mehr von sich selbst, und ich bin froh, als er mich wieder entlässt und ich mir das Kloster alleine ansehen kann.

Von hier aus hat man einen guten Blick auf Cartagena, aber man verliert leicht den Überblick angesichts der vielen Meeresbuchten und des Sumpfgebiets, der ciénaga.

Unten liegt das Stadtviertel Manga, das so heißen kann, weil dort Mangobäume wuchsen, weil eine Familie namens Manga eine der ersten am Platze war oder weil die Bucht die Form eines Ärmels hat.

Das Kloster ist ein Augustinerkloster, das 1821 aufgelöst und 1966 nach einer gründlichen
Restaurierung wieder als Kloster eröffnet wurde. Der schöne Innenhof hat an allen Seiten
ganz erstaunlich modern klingende Zitate des Hl. Augustinus, darunter eins über Touristen!

Der wichtigste Anziehungspunkt des Klosters ist natürlich eine Gottesmutter, die Virgen
de la Candelaria
. Die kitschige Figur im Hauptaltar, vermummt wie eine Muslima, lenkt ab von der schönen, dunklen Holzdecke und den Leuchtern an den Seiten und an
der Decke.

Dieser Ort, da hoch und im Osten gelegen, war schon den Calamarís heilig, Indios, die die
Sonne verehrten. Sie hielten hier ihre Riten ab. Das wird heute, wie zu der Zeit
der Christianisierung schon, als schlimmster Teufelskult dargestellt: schrille Gesänge
und Schreie, Anbetung eines Ziegenbocks, schaurige Tänze, vulgäre Gesten, nackte
Körper, Küsse auf das Hinterteil usw. Bis ein heroischer spanischer Mönch kam, furchtlos
dazwischentrat und den Ziegenbock die Schlucht hinunterwarf, die bis heute nach ihm
benannt ist – nach dem Ziegenbock, nicht nach dem Mönch.

Dann geht es in die Stadt zurück und in die Kirche in der Nähe des Hotels, die bisher
immer verschlossen war, Santo Toribio. Deren Hauptattraktion ist eine Kugel. Sie
schlug während eines Gottesdienstes bei dem Sturmangriff auf die Stadt durch Vernon in die Kirche ein und schlug auf dem Boden auf, wunderbarerweise, ohne jemanden zu verletzen. Sie ist jetzt hinter Glas in einem der Pfeiler eingelassen.

Auch hier sitzen auf den ganzen Kirchenraum verteilt einzelne Gläubige, Luft kommt von Ventilatoren an den Pfeilern. Auch hier vorne Kitsch, oben Kunst: eine wunderbar gearbeitete, bemalte Holzdecke.

Gestern bin ich an der Universität Rafael Núñez vorbeigekommen, an der Plaza Rafael Núñez und an einer Statue, die Rafael Núñez darstellt. Auch der Flughafen ist nach Rafael Nuñez benannt.

Grund genug, sein Geburtshaus aufzusuchen. Es liegt außerhalb der Stadtmauern, und der Weg führt ein ganzes Stück durch die brennende Sonne. Núñez ist besonders bekannt als Autor des Textes der kolumbianischen Nationalhymne.

Die Nationalhymne war eigentlich ein Gedicht, das er auf seine Heimatstadt, Cartagena, 
geschrieben hatte und das dann, adaptiert, zur Nationalhymne wurde. In der vierten Strophe ist allerdings noch von den heroischen Männern von Cartagena die Rede. Der Text ist so pathetisch, wie es nur dem 19. Jahrhundert erträglich sein konnte.

Sein Haus, eine kleine Villa, liegt am Rande eines sehr gepflegten Parks. Es ist die Villa, in die er sich in die letzten Jahre zurückgezogen hatte, zusammen mit seiner Frau. Das Wort Villa ist allerdings irreführend. Es handelt sich um einen zweistöckigen, offenen, lichten und luftigen Bau, unten Stein, oben Holz, mit Balkonen, Galerien, Treppen zu allen Seiten, alle tragenden Teile in Weiß, das andere in Grün abgesetzt: Bänke, Fensterläden, Gitter, Geländer, sogar die Klappe des weißen Ofens ist grün, und die Blumen sind grün-weiß! Der Innenhof ist bepflanzt. Hier kann man es aushalten.

Núñez war zuerst Journalist und dann Parlamentarier. Er war Abgeordneter für Panamá, das damals noch zu Kolumbien gehörte. Er verbrachte mehrere Jahre in Europa und wurde unter anderem von Spencer beeinflusst. Hier zitiert wird dessen Satz, dass ein Individuum in industrialisierten Gesellschaften nicht dem Staat ausgeliefert sein dürfe, sondern von
ihm beschützt werden müsse. Nach seiner Rückkehr nach Kolumbien wurde Núñez zum Mitverfasser und Verfechter der Verfassung von 1886, einer Verfassung, die wegweisend war, eher zentralistisch als föderalistisch, eher protektionistisch als liberal (Das Motto lautete allerdings: politische Zentralisierung, administrative Dezentralisierung). Die Verfassung propagierte entschieden die Versöhnung mit der katholischen Kirche. Núñez wurde bewundert, aber auch angefeindet, als Reaktionär, als Tyrann, als Verräter. Aber die Verfassung wurde erst 1991 durch die Magna Carta abgelöst.

Dann gehe ich in ein kleines Lokal in der Nähe des Hotels. Ein etwas einfältiger,
rundlicher Junge, der normalerweise am Eingang steht und, stets lächelnd, ohne
Aufdringlichkeit und mit vollendeter Höflichkeit einlädt, so als gehe es um eine
Privateinladung, ist gerade heute nicht da. Ich hatte ihn schon mehrmals vertröstet und
wollte heute mein Versprechen einlösen. Später erscheint er dann doch und ist hoch
erfreut, mich zu sehen. Als ich zum ersten Mal an dem Lokal vorbeikam, kannte er mich
schon. Bis heute weiß ich nicht, woher. Wahrscheinlich hatte ich ihn irgendwo nach dem Weg gefragt.

Ich bestelle ein weiteres typisches Landesgericht, das ich bisher noch nicht probiert
habe, ajiaco. Bei der Bestellung werde ich gleich gewarnt: Es handele sich um eine Variante dieses Gerichts, es sei costera, die besondere Ausrichtung des Nationalgerichts in der Küstenregion. Das macht nichts. Mir geht es ums Probieren. Und ich bereue es nicht. Es ist ein wunderbarer Eintopf aus Rindfleisch und klein gehacktem Gemüse, so klein, dass es nicht zu erkennen ist. Möhren und kleine Zwiebeln gehören wohl dazu, aber der ganz besondere Geschmack kommt von den Bananen! Ein Leckerbissen. Dazu bestelle ich ein Bier, und als ich es bekomme, glaube ich, es wäre ein Missverständnis: Es ist gelblich, hat keinen Schaum, und wird mit Eis und Strohhalm serviert. Es sieht nicht nach Bier aus, und es schmeckt auch nicht nach Bier. Ich frage noch einmal nach und es wird mir bestätigt: Ja, es ist Bier, Marke Águila. Mexikanisch.

Heute habe ich bei verschiedenen Gelegenheiten unfreundliche Kolumbianer getroffen,
besonders in Geschäften: wortkarg, ohne Lächeln. Die Verkäuferin im Supermarkt ergänzt das noch mit einer geradezu provozierenden Langsamkeit. Aber sie sind hier die Ausnahme.

Auf der Straße treffe ich wieder auf unendlich viele nette Leute, viele von denen,
aber nicht alle, etwas verkaufen wollen, und die, die nichts an den Mann bringen, sind
trotzdem weiterhin freundlich. Fast alle stellen sich mit Namen vor und verabschieden
sich mit Handschlag. Ein Verkäufer will mir Wasser verkaufen und verlangt 3.000 Pesos. Ich finde das teuer und er geht auf 2.500 runter. Ich finde das immer noch teuer, und er sagt, der Preis des Wassers sei gestiegen: „Ha subido el agua“. Ich muss lachen und sage ihm: Aber doch wohl nicht in der halben Stunde, seitdem ich die letzte Flasche gekauft habe. Er geht auf die normalen 2.000 Pesos runter. Von da an sind wir Freunde. Er macht einen Umweg, um mir etwas zu zeigen, und kehrt dann mit seinem Wagen wieder um.

Am Abend trinke ich das vielleicht teuerste Wasser meines Lebens. Wieder geht es um
das Wechselgeld, das nicht vorhandene. Dabei habe ich diesmal vorher angekündigt, dass ich es nicht klein habe. Aber der Verkäufer, den ich schon kenne, kann meine 20.000 doch nicht wechseln. Er versucht es bei verschiedenen Taxifahrern, erfolglos. Am Ende will er mir das Wasser umsonst überlassen. Das will ich nicht. Ich sage ihm, wir machen jetzt die Probe der Ehrlichkeit der Kolumbianer. Er behält die 20.000 und in den nächsten Tagen hole ich mir das Wechselgeld oder den Wert in Waren ab. Er steht immer vor dem Uhrenturm. Im schlimmsten Falle bin ich um eine Erfahrung reicher, habe mein Wasser bekommen und ca. 8 Euro ausgegeben. Das ist mehr Gewinn für ihn als Verlust für mich. Und in Venedig auf dem Markusplatz habe ich vor kurzem ein Café gesehen, in dem ein Cappuccino genauso viel kostet.

27. September (Sonntag)

Im letzten Moment kann ich eine Fahrt zum Vulkan El Totumo reservieren, einem Vulkan, der statt Lava oder Asche Schlamm speit. Als ich für die Anmeldung zur Exkursion meinen Namen buchstabieren muss, kommt es zu Verständigungsproblemen. Das Mädchen versteht nicht, was mit w gemeint ist. Erst als ich es mit Whisky versuche, klappt es. Das w, ohnehin für die Hispanos ein merkwürdiger Buchstabe, heißt hier nicht uve doble, sondern  doble ve.

Alles geht innerhalb von Minuten, und eine halbe Stunde später werde ich auch schon vor der Haustür abgeholt. Es ist eine organisierte Tour in einem Kleinbus, meine einzige Konzession an den „Massentourismus“ während der Reise. Es ist sonst sehr schwer, dort hinzukommen. Und die Fahrt ist nicht teuer.

Mit dem Taxi geht es zum Bus. Wieder ein Taxifahrer, der mir eine Lektion in Linguistik
erteilt. Das beste Spanisch spreche man in Kolumbien, sagt er. Sagen die Kolumbianer, sage
ich. Sagen die Spanier, sagt er. Na, dann muss es ja wohl stimmen.

Im Bus eine gemischte Gruppe aus verschiedenen Nationen, fast alle sprechen Spanisch oder Englisch. Das tun auch die adrett mit grünen Hütchen ausgestatteten Begleiterinnen. Aber ob mit Mikrophon oder ohne, ob Spanisch oder Englisch, man versteht ohnehin nichts. Macht nichts. Das meiste wird sich schon ergeben.

Es geht erst am Strand von Cartagena vorbei, den ich auf diese Art mal zu sehen bekomme,
dann an grünen Bergen, und dann geht es durch eine grüne Ebene mit Sträuchern und Büschen. Diese Berge wurden von den Spaniern als Steinbruch für die Stadtmauer von Cartagena benutzt. Die Steine wurden mit Galeonen über das Meer transportiert.

Nach einer guten Stunde Fahrt über eine Art Schnellstraße geht es ein Stück über einen
Feldweg, und dann sind wir da. Von dem Vulkan ist nichts zu sehen, wohl aber eine Lagune
im Hintergrund.

Ich bin völlig hilflos als man mir empfiehlt, ich solle einen bloqueador benutzen. Wer oder was soll hier blockiert werden? Die Sonnenstrahlen! Ein bloqueador ist ein Sonnenschutzmittel, bronceador in Spanien.

Nur mit Photoapparaten, Schuhen und Badehose bewaffnet machen wir uns auf den Weg. Entgegen den Instruktionen nehme ich auch noch ein T-Shirt mit. Das soll sich bewähren, denn man muss eine ganze Zeit in der Sonne Schlange stehen.

Es geht über eine sehr provisorische Treppe einen kahlen Hügel hinauf, einer nach dem
anderen. Dann kommt der Vulkan in Sicht. Er ist klein, viel kleiner als erwartet, wie ein
privater Swimmingpool. Und er ist rappelvoll mit schlammbedeckten Menschen, stehend und liegend. Im Wasser sind einheimische Helfer, die beim Einsteigen helfen und Massagen
verabreichen und vom Rand aus Photos machen, für jeden speziell mit der eigenen Kamera. 
Die neu Eingestiegenen werden auf den Rücken gelegt und vorerst in die Ecke geschoben.
Das sieht aus, als wenn man einen Toten über eine glatte Fläche schubst.

Wenn man ins Wasser steigt, oder vielmehr in den zähflüssigen, grauen Schlamm, überkommt einen sofort ein wohliges Gefühl. Auf dem Rücken liegend, muss man erst Vertrauen zu dem Schlamm entwickeln, um den Kopf wie auf ein Kopfkissen aufzulegen. Der Schlamm hält einen an der Oberfläche. Wenn man auf die Füße gestellt wird, kippt man leicht nach hinten oder vorn um und kann sich dann nur noch mühsam aufrichten. Ich frage einen der Masseure, ob man auf dem Boden stehen kann. Ganz lakonisch sagt er: Nein, der Vulkan ist 2.300 Meter tief. Gut, dass man nicht untergeht.

Die Massage ist wunderbar, vor allem am Rücken und an den Waden. Dann wird man
rausgezogen und der Schlamm wird abgestreift. Wir nehmen alle ein bisschen Vulkan mit,
aber das scheint dem nichts zu machen, er regeneriert sich wieder. Wenn es regnet, erfahre
ich später, vermischt sich das Regenwasser nicht mit dem Schlamm, sondern bildet eine
eigene Schicht obendrauf.

Dann geht es auf einem heißen, steinigen Weg zu der Lagune. Dort wird man von Frauen
abgewaschen, die mit einfachen Plastikschüsseln immer wieder neue Ladungen von Wasser
über einen gießen und den ganzen Körper gründlich abreiben. Um mich kümmert sich María, eine ältere Frau, die ein paar zotige Bemerkungen macht und, als ich mich dankend
verabschiede, mir sagt, ich solle ihr lieber nachher ein ordentliches Trinkgeld geben.
Das hat sie sich auch verdient, genauso wie der Masseur und der Photograph, die sich ihre
Kunden alle bestens gemerkt haben.

Der Schlamm soll alle möglichen Mineralien enthalten, die gesundheitsfördernd sein sollen. Ob stimmt’s, weiß man nicht.

Nachher fühlt man sich hungrig, wohlig warm und etwas müde, nicht anders als nach dem Schwimmen.

Mit dem Bus geht es dann zu einem Lokal gleich am Strand. Wir sitzen keine fünf Meter vom Ufer entfernt. Das Wasser ist grau, soll aber sehr sauber sein.

An meinem Tisch sitzen eine gemischte argentinisch-chilenische Gruppe und ein gutaussehender, schlecht gelaunter Mann mit seiner bildschönen Freundin. Nach ein paar Kommunikationsversuchen zu beiden Seiten gebe ich auf und widme mich dem Essen. Das ist mittelmäßig.

Verkäufer kommen an unseren Tisch, und die Touristen machen ungefragt Photos von den bunt gekleideten Frauen, die eine Schale mit Süßigkeiten auf dem Kopf tragen. Nach dem Essen kaufe ich einer von ihnen die selbst gemachten Süßigkeiten ab. Es sind verschiedene
getrocknete Früchte, die in einer Art Sirup gekocht werden. Sie sehen sehr präsentabel
aus und schmecken besser als das Essen.

Auf dem Rückweg fängt es an zu regnen. Es ist der erste Regen seit dem Tag der Ankunft in Kolumbien, und das in der Regenzeit!

Ich komme mit einem Belgier ins Gespräch, der in Nicaragua und El Salvador gewesen ist und auch Kuba, vor allem Havanna, sehr gut kennt. Wir finden heraus, was wir beide in Havanna kennen und was wir so toll finden. Nicaragua und El Salvador vergleicht er mit Kuba und der Dominikanischen Republik. Nicaragua arm, das zweitärmste Land Lateinamerikas und sehr politisiert, mit einer völlig intakten Kolonialstadt, León, die deshalb so gut erhalten ist, weil wegen des ständigen Streits zwischen Granada und León das ehemalige Dorf Managua zur Hauptstadt gemacht wurde.

Als ich am Nachmittag von meinem Wasserverkäufer mein Wechselgeld zurückholen will, sorge ich fast für einen Auflauf – ungewollt. Als ich zum Uhrenturm komme, sehe ich zuerst eine Wasserverkäuferin, die mich ruft, gehe zwei Schritte auf die zu und sehe dann an der
anderen Seite einen Mann. Das muss mein Wasserverkäufer sein. Er behauptet aber, ein anderer zu sein. Er heiße Diego, von William wisse er nichts. Kann sein. Also kaufe ich ihm eine Flasche Wasser ab. Dann gehe ich zu der Wasserverkäuferin. Sie würdigt mich keines Blickes. Ich spreche trotzdem mit ihr, und am Ende antwortet sie ganz pikiert, sie habe mich zuerst gerufen und dann sei ich zu dem anderen gegangen. Ich versuche zu erklären, aber sie scheint mir nicht richtig zu glauben. Dann kaufe ich auch ihr als Zeichen des guten Willens eine Flasche Wasser ab. Als ich sie auf habe, taut sie langsam auf und will wissen, wie der Wasserverkäufer denn aussah. Das weiß ich nicht mehr. Dann mischt sich noch eine, zuerst auch ganz brummige Anrufverkäuferin ein, und am Ende kommt noch ein Polizist hinzu. Man erklärt mich für verrückt, so etwas riskiert zu haben. Und verdächtigt den Jungen am anderen Ende des Tors. Der sei neu. Und er habe eine weiße Kiste. Eine weiße Kiste hatte auch der Verkäufer von gestern. Am Ende sagt man, vielleicht sei er heute nicht da, weil Sonntag ist. Ich solle es morgen noch mal versuchen.

Am Abend eine weitere kolumbianische Erfahrung. Als ich am Abend in einem Lokal in der
Nähe des Hotels ein Bier trinken will, bekomme ich keins. Ich frage mich, ob ich mich
wohl daneben benommen habe, als mir erklärt wird, heute sei Wahltag, und an Wahltagen
dürfe man draußen kein Bier trinken. Jedenfalls kein richtiges. Nur Leichtbier. Da gehe
ich doch lieber rein. Da erfahre ich dann auch noch, dass Motorradfahrer an Wahltagen
keinen Beifahrer mitnehmen dürfen.

Kurzer Abriss zur Gewalt in Kolumbien: Als sich Núñez, eigentlich ein Liberaler, mit
anderen Liberalen mit den Konservativen zusammentat und ein umfassendes konservatives
Projekt anging – Verstaatlichung der Banken, Gründung einer Zentralbank (bei der
Gelegenheit wurde auch das Papiergeld eingeführt), Wiederaufwertung der Kirche, die
praktisch das gesamte Erziehungssystem übernahm, Stärkung des Militärs – hatten die
Liberalen dem nichts entgegenzusetzen als Gewalt. Inzwischen war aber der Staat
militärisch so stark, dass die Liberalen eine katastrophale Niederlage erlitten – woraufhin
einige von ihnen in den Untergrund gingen. Das war im 19. Jahrhundert. Traditionell
hatten sich die beiden Parteien immer bis aufs Messer bekämpft. Beide hatten ein
starkes Militär verhindert, weil sie sich lieber eigene Kampftruppen aufbauten. Das
führte dazu, dass politische Auseinandersetzungen, obwohl die ideologischen Unterschiede
gar nicht so groß waren, traditionell immer mit Gewalt ausgetragen wurden. Nach
vielen Jahrzehnten blutiger Bürgerkriege sahen dann die beiden ein, dass es nicht so
weiter gehen konnte und formten ein Bündnis, die Nationale Front. Sie teilten sich die
Pfründe und ließen alle anderen außen vor. Andere Parteien wurden sogar verboten, und
selbst das Präsidentenamt teilte man sich durch vorherige Absprachen, indem abwechselnd
für 16 Jahre immer die eine, dann die andere Partei dran war. Das trieb wiederum alle
anderen, die von dem Kuchen nichts mitbekamen, in den Untergrund, da legale Opposition
praktisch unmöglich war. Diese illegalen Untergrundorganisationen wurden dann im Kalten
Krieg ideologisch aufgewertet und fanden bei vielen Intellektuellen und Studenten und im
bürgerlichen Milieu Unterstützung. Außerdem kam dann materielle und logistische
Unterstützung aus Moskau (für mehr proletarisch ausgerichtete Gruppen) bzw. Havanna (für mehr intellektuell ausgerichtete Gruppen) hinzu. Als mit dem Fall der Mauer diese
Unterstützung wegfiel, mischten die Untergrundorganisationen im Drogenhandel mit, um
ihren Kampf zu finanzieren. Gleichzeitig ging die Unterstützung breiter Teile der
Bevölkerung immer weiter zurück, da bei den Aktionen immer mehr Unbeteiligte verletzt und getötet wurden. Ursprünglich war das anders, da die Organisationen konkrete Arbeit in
Armenvierteln und Dörfern leisteten. Dazu kam, dass einige Organisationen, um sich Geld
zu beschaffen, wahllos Überlandbusse überfielen, um Geiseln zu nehmen und Geld zu
erpressen. Diese Überfälle wurden aber auch von Räuberbanden und den Paramilitärs
ausgeführt und dann den Revolutionären in die Schuhe geschoben. Die Paramilitärs waren
die Untergrundorganisation der anderen Seite, der staatskonformen, die mit gleichen
Mitteln vorgingen: Raub, Erpressung, Attentate auf alle und jeden. Und auch sie mischten im ertragreichen Drogengeschäft mit. Diese Paramilitärs wurden und werden oft heimlich vom Staat geduldet oder unterstützt.

So ergibt das fast einen „Sinn“. Man sieht, wie die Dinge ihre eigene Dynamik
entwickelten. Wo der Geburtsfehler lag, oder ob es überhaupt einen gibt, ist schwer zu
sagen. Die Politik hat mit unterschiedlichen Strategien reagiert: Ausgerechnet ein
konservativer Präsident, Betancour, hat versucht, alle an einen Tisch zu bringen, ohne
vorherige Forderungen. Das Niederlegen der Waffen sollte Folge, nicht Vorbedingung sein.
Es sah lange sehr gut aus, und verschiedene Untergrundorganisationen verwandelten sich in politische Parteien oder gründeten politische Parteien und hatte Abgeordnete auf allen
Ebenen. Dann endete doch wieder alles in Gewalt. Der Auslöser war, wenn ich das richtig
verstanden habe, die Besetzung des Obersten Gerichtshofs in Bogotá durch das M-19, die
blutig endete. Bis heute weiß man nicht, welche Rolle Betancourt dabei spielte.

Der jetzige Präsident, Uribe, ein Ultrakonservativer, geht einen anderen Weg. Er
betrachtet alle Untergrundkämpfer als Feinde, nicht als Verhandlungspartner. Damit hat er
zwei Dinge erreicht: 1) Er ist der populärste Politiker Lateinamerikas und hat entgegen
den Bestimmungen der Verfassung, erreicht, eine zweite Amtszeit an die erste anzufügen.
2) Die Kämpfe sind praktisch aus den Städten verschwunden. Die Städte sind sicherer
geworden, sicherer als die meisten lateinamerikanischen Städte. Aber der Kampf geht in
den abgelegenen Zonen, im Kaffeedreieck und im Urwald, weiter, und die Probleme sind
ungelöst. Die Ungerechtigkeiten sind nicht beseitigt.

28. September (Montag)

Den Morgen verbringe ich mit Photographieren im Zentrum: Wasserverkäufer,
Imbissverkäufer, Stände, die mit Haushaltsgegenständen aus Eisen und Messing behängt
sind, und eine ganze Reihe winziger, kleiner Reparaturstände für Uhren, deren Fenster mit
Ersatzteilen so zugehängt sind, dass man die Verkäufer dahinter erst gar nicht sieht.

Auch am letzten Tag gibt es noch kulinarisches Neuland zu entdecken: Am Tresen einer Eckkneipe in der Nähe des Hotels gibt es papa rellena, mit Fleisch und Möhren gefüllte und panierte Kartoffeln. Das passt ins Bild der typischen Gerichte. Aber dazu passt auch die Quibbe, ein arabisches Gericht – Cartagena hat traditionell einen hohen Anteil an arabischen Einwanderern. Das Gericht besteht aus gemahlenem Weizen, in länglicher Form, auch gefüllt.

Der Junge hinter dem Tresen weiß nicht, wie man es buchstabiert, aber sofort springt jemand ein und gibt die entsprechenden landeskundlichen Informationen dazu.

Anschließend auf der Straße von den ambulanten Kaffeeverkäufern, die jederzeit und überall anzutreffen sind, einen schwarzen, süßen, heißen und nicht sonderlich starken Kaffee zu einem Spottpreis bekommen. Schmeckt gar nicht schlecht.

Am Nachmittag mache ich noch einen Spaziergang und treffe meine Freundin, die
Wasserverkäuferin, wieder. Ich frage sie, ob sie mir noch böse sei, und sie sagt, im
Gegenteil, sie wolle sich entschuldigen. Sie habe sehr schroff reagiert. Das finde ich
geradezu rührend. Und kaufe ihr daraufhin noch eine Flasche Wasser ab.

Im Zentrum fordere ich das Risiko heraus, indem ich den Geldwechslern nicht nur das
Geschäft verweigere, sondern ihnen in freundlichem Ton ein paar unfreundliche
Worte sage. Anschließend habe ich einen Moment lang den Eindruck, von einem oder zwei verfolgt zu werden, aber die typischen kleinen Spielchen – stehenbleiben, umdrehen, sich an die Hauswand lehnen, abbiegen – haben bald Erfolg.

Am Abend geht es nach Bocagrande, den Badevorort von Cartagena, den alle empfehlen. Er ist allerdings eher enttäuschend, Bocagrande könnte eigentlich überall sein.

Es ergibt sich aber eine Gelegenheit, Kaffee zu kaufen, und zwar von Juan Valdéz – der Marke, auf die die Kolumbianer schwören – sowie mit Kaffee gefüllte Süßigkeiten. Das andere Mitbringsel ist ein Photo von einem Hotel, einem hochmodernen, in die Höhe strebenden Bau. Das Photo hat wirklich nichts mit dem zu tun, was wir mit Kolumbien assoziieren, und auch nichts mit dem anderen Kolumbien, aber es ist auch ein Teil der Wirklichkeit.

Auch heute taucht mein Wasserverkäufer nicht auf. Es bleibt also bei dem teuersten Wasser
meines Lebens. Er hat sich offensichtlich aus dem Staub gemacht. Na ja, hätte ich
vielleicht auch gemacht. Ob er ein schlechtes Gewissen hat?

29. September (Dienstag)
Über Bogotá geht es zurück nach Hause. Die Flugzeuge von Avianca sind hochmodern, mit bequemen Sitzen, einem Bildschirm für jeden Passagier und einem Aufhänger für Jacken und einem Halter für Becher.

In Bogotá kaufe ich eine Tageszeitung. Über die deutschen Bundestagswahlen steht nichts
drin. Deutschland ist weit entfernt, und die Resultate standen vielleicht gestern drin.
Hier interessieren die Abstimmungen über die Präsidentschaftskandidaten im eigenen Land
und ein paar Dinge über Ecuador. Im Sportteil geht es hauptsächlich um den kubanischen
Niedergang im Baseball und um das kolumbianische Versagen in der Qualifikation für die
Fußball-WM. Kolumbien habe Stürmer, aber keine Torjäger, heißt es. Entschuldigend wird allerdings hinzugefügt, die Qualifikation in der Südamerika-Gruppe sei viel schwerer als die in Europa. Hier gebe es keine San Marinos und Liechtensteins.

Mit einem Gefühl allergrößter Zufriedenheit kehre ich nach Hause zurück. Es war eine tolle Reise, meine erste nach Südamerika. Ich bin froh, dass ich trotz all der Unkenrufe über die Gewalt in Kolumbien an der Reise festgehalten habe. Statt Gewalt habe ich überwältigende Freundlichkeit erlebt. Und drei schöne Städte, eine anders als die andere. In der allgemeinen Einschätzung steht Cartagena oben und Bogotá unten, auch bei den Kolumbianern, aber die Einschätzung teile ich nicht. Auf jeden Fall macht Kolumbien Lust auf mehr. Es soll nicht meine letzte Reise nach Südamerika gewesen sein.