10. November (Montag)
Popayán – eine unbekannte Stadt in einem bekannten Land. Soweit südlich bin ich in Kolumbien bisher noch nicht gekommen.
Ankunft mit einem Tag Verspätung, nach einer Reise mit Hindernissen. Wenn die Planung schiefgeht, stellt sich alles – andere Uhrzeit, anderer Stecker, andere Währung, neue Umgebung – komplizierter dar als sonst.
Am Ende komme ich an, müde, schmutzig, aber zufrieden. Der Vermieter nimmt mich, anders als angenommen, persönlich in Empfang und erspart mir das komplizierte Procedere, das nötig ist, um alleine hineinzufinden.
Das kleine Apartment hat alles, was man braucht, sogar eine Waschmaschine. Die wird sofort in Gang gesetzt. Dann geht es, geduscht und rasiert, gleich ins Zentrum, die Carrera 11 entlang, bis zur Calle 5, die direkt ins Zentrum führt. Die Stadt ist schachbrettartig angelegt. Die carreras verlaufen von Nord nach Süd, die calles durchschneiden sie und verlaufen von Ost nach West.
Popayán ist größer als ich dachte – 250.000 Einwohner – und eine sehr geschäftige Stadt, wie ich schon im Taxi auf dem Weg zur Unterkunft feststellen konnte. Aufpassen muss man vor allem wegen der kleinen, wendigen Motorräder. Die sind unberechenbar und stoßen in jede Lücke, die sich ihnen bietet.
Noch auf der Carrera 11 komme ich an einem kleinen Café vorbei, ganz einfach, eine indigene Frau hinter der Theke, kein Gast da. Ich bestelle einen Kaffee und ein Teilchen, und als die Frau mir den Namen sagt, fällt es mir wieder ein: chicharrón. Ein gefülltes Plunderteilchen. Seinen Namen – Speckschwarte – verdankt es nur seinem Aussehen. Daneben rundliche Teilchen, die peras heißen, obwohl man höchstens auf den zweiten Blick mit viel Mühe erkennen kann, dass sie wie Birnen aussehen. Die gibt es mit Kokos und mit Erdnuss.
Etwas weiter die Straße runter sehe ich, wie ein junger Mann in einem Frisörsalon den Boden fegt, und da gerade kein anderer Kunde da ist, nutze ich die Gelegenheit und lasse mir die Haare schneiden. Vorher muss ich nach dem Preis fragen, denn ich habe nur einen Notvorrat an Pesos. Haut aber hin.
Der junge Mann stammt aus Pasto, 8 Stunden von hier entfernt, mit dem Bus vermutlich. Da müsse ich unbedingt mal hin. Erinnert mich an ein Gespräch im Flugzeug, mit meinem Sitznachbarn, Nelson. Der kommt aus La Guajira, im Norden des Landes. Da müsse ich unbedingt hin.
Der Frisör macht seine Sache gut, fast so gut wie damals sein Kollege in Medellín. Zum Schluss kommt auch noch die in der Mitte geteilte Rasierklinge zum Einsatz, mit der die letzten feinen Härchen entfernt werden. Den Wunsch, das Haar nicht ganz so kurz zu schneiden, ignoriert er aber völlig, wie alle Frisöre.
Er fragt, was ein Haarschnitt in Deutschland koste. Ich sage ihm einen ungefähren, nach unten korrigierten Preis. Dann würden die Frisöre in Deutschland ja gut verdienen meint er. Da muss ich schnell noch hinzufügen, dass nicht nur die Löhne, sondern auch die Preise höher sind. Daran hat er noch nicht gedacht.
Er ist mit seinen Eltern hierhergekommen, sein Vater hat hier eine Arbeitsstelle bekommen. Seine Verlobte ist aus Popayán. Sie hätten vorher eine Fernbeziehung gehabt, erklärt er. Die ganze Erzählung kommt mir etwas unstimmig vor. Er hat auch gesagt, Pasto liege im Norden des Landes, dabei liegt es im Süden, noch südlich von Popayán, und scheint auch nicht so weit entfernt zu sein, wie er sagt. Vielleicht weiß er das einfach nicht.
Als ich bezahlen will, stellt sich heraus, dass er nicht wechseln kann. Macht nichts, er werde eben in das Geschäft gegenüber gehen und wechseln. Das ist hier ganz und gäbe, kommt bei uns kaum mal vor. Ich finde dann aber noch genug kleine Scheine, um zu bezahlen.
Sobald man in die Calle 5 abbiegt, verändert sich die Szenerie. Auf beiden Seiten niedrige Häuser aus der Kolonialzeit, alle weiß, und so viel Betrieb auf den Bürgersteigen, dass man immer wieder mal auf die Straße ausweichen muss.
An einem etwas größeren Gebäude, einem Teil der Stadtverwaltung, treffe ich zum ersten Mal auf ein Schild, das auf das Erdbeben von 1983 hinweist. Das hat die ganze Stadt betroffen, vor allem das historische Zentrum. Alles ist so gut wiederaufgebaut worden, dass man als normaler Besucher keine Spuren des Erdbebens mehr sieht.
Wie auch auf der Carrera 11, drängt sich hier ein Geschäft ans andere: Kleidungsgeschäfte, Kopierläden, Handygeschäfte, vor allem aber Lokale, alle klein und einfach. Vor mehreren Gebäuden Schlangen von Menschen, die hier irgendwelche Geldgeschäfte tätigen.
Dann kommt der Parque de Caldas, der zentrale Platz Popayán, die Plaza Mayor sozusagen. Es vergeht kein Gespräch über Popayán, ohne dass der Name Parque de Caldas fällt.
Der Park im Zentrum ist auf allen Seiten umgeben von hohen, repräsentativen Kolonialhäusern. Die sind alle weiß. Ihnen verdankt die Stadt ihren Beinamen Ciudad Blanca.
Ich streife ein bisschen auf dem Platz herum und lasse die Atmosphäre auf mich wirken. Der angekündigte Regen ist ausgeblieben, und es ist schwül-warm. Meine Kleidung ist für kühles Regenwetter geeignet.
Ich gehe auf eine Gruppe von Polizisten zu und frage einen von ihnen nach der Oficina de Turismo. Großes Erstaunen. Er weiß damit wohl nichts anzufangen. Nein, so was gebe es hier nicht, meint er. Aber ich solle warten. Wir würden den Chef fragen. Der, anders uniformiert, ist gerade mit zwei Jugendlichen beschäftigt. Als er fertig ist, leitet der andere meine Frage an ihn weiter. Nein, so etwas gebe es nicht. Was ich denn da wolle, will er wissen. Meine Antwort befriedigt ihn nicht. Was ich wissen wolle, könne er mir auch sagen. Dies sei die Ciudad Blanca, und die Museen seien ab 8 Uhr geöffnet. Ich will mich resigniert abwenden, als er sagt, da hinten, in der Cámara de Comercio, da könne man mal nachfragen. Der ganze Tross setzt sich in Bewegung. Der Chef geht rein, kommt raus. Ergebnis: Ja, das sei die Oficina de Turismo. Man sieht ihm seine Überraschung an.
Drinnen eine sehr freundliche Frau, die mir alle sagt, was ich wissen will und auch einen Stadtplan für mich hat. Montags seien die Museen geschlossen, die anderen Öffnungszeiten stünden hier. Die meisten haben eine Mittagspause.
Popayán, erklärt sie, sei gleich zweimal auf der Liste der UNESCO der immateriellen Kulturgüter vertreten, mit seiner Gastronomiemesse im Herbst und mit der Osterprozession, der Prozession in der Semana Santa.
Für einen Ausflug empfiehlt sie Silvia, einen Ort in der Sierra, wo es dienstags einen indigenen Markt gebe. Den hatten schon der Vermieter und der Frisör erwähnt. Einfach zu Busbahnhof gehen und dort in einen der regelmäßig fahrenden Busse einsteigen. Der Markt kommt für morgen auf die Agenda.
Der Markt in Silvia, erklärt sie mir, sei chevere, und verwendet dabei das kolumbianische Wort überhaupt. Auch verwendet sie acaso für quizás, ein Wort, das man in Spanien nicht hört.
Ja, natürlich gebe es Wechselstuben, sagt sie. Der Vermieter und die Polizisten wussten von denen nicht. Etwas weiter die Straße runter, in einer kleinen Ladenstraße, da gebe es eine Casa de Cambio. Ich entdecke später sogar eine direkt neben der Kathedrale.
Ich frage mich nach der von dem Mädchen aus der Touristeninformation genannten Wechselstube durch. Finde sie ohne Probleme, in einem etwas dunklen Gang, hinter einer Ecke verborgen.
Der Mann hinter dem Schalter mit der Panzerglasscheibe informiert mich, untersucht eingehend meine beiden Hundertdollarscheine, fragt nach meinem Pass und füllt ein kompliziertes Formular aus. Der Raum hinter ihm ist nüchtern, etwas düster, mit zwei, drei kleinen grauen Geldschränken. Die einzige Verzierung ist ein großes Poster von New York.
Dann bekomme ich die Abrechnung und das Geld: 756.000 Pesos für 200 Dollar. Der Kurs ist 3,780. Schwer zu rechnen, ich werde der Einfachheit auf 4 aufrunden. Und weniger als beim letzten Mal, der Peso muss wohl gestiegen sein.
Trotzdem halten sich die Kosten in Grenzen. Beim Frisör habe ich 20.000 bezahlt, beim Taxi 8.000, jeweils Trinkgeld inbegriffen.
Ich gehe auf den Platz zurück und sehe mich etwas um. Straßenverkäufer zuhauf, sowohl im Park als auch am Rande des Platzes. Es gibt viel Kitsch zu kaufen, auch Süßes und Telefongespräche. Dort wird einem gegen die entsprechende Bezahlung das Telefon des anderen überlassen.
Ein Mädchen verkauft Obst, zwei Sorten, beide proportioniert, in Plastikbechern. Ich muss fragen, was das ist. Die erste Sorte, das seien ciruelas, sagt sie. Sehen nicht wie Pflaumen aus. Ob die gewaschen seien, frage ich. Nein, aber sie könne sie für mich waschen. Sie füllt den Inhalt des Bechers in eine Plastiktüte, schüttet Wasser aus einer Wasserflasche rein, rüttelt das Ganze ordentlich durch und schüttet das Wasser aus. Die Pflaumen wandern dann wieder in den Plastikbecher.
Das andere, erfahre ich, seien madroños. Die Früchte habe ich noch nie gesehen, die Bäume mal im Süden Portugals. Am besten kenne ich den aus Madrid, als Baum, an den sich der Madrider Bär lehnt, auf der Puerta de Sol.
Die Pflaumen schmecken nicht nach Pflaumen und bestehen hauptsächlich aus Kern. Einige sind süß, die meisten etwas zu bitter. Kein Leckerbissen, aber die Freude, sie probiert zu haben, überwiegt.
Ich gehe kurz in die Kathedrale. Nichts Besonderes auf den ersten Blick, außer dem monumentalen Altarbild. Da sieht man Maria, nicht Jesus, auferstehen. In einem sich wallenden weißen Gewand fährt sie gen Himmel, nur der äußerste Zipfel des Gewandes berührt noch den Globus unter ihr.
Ich trete den Heimweg an. Auf der Carrera 11 reiht sich ein Lokal ans andere, alle einfach und klein.
Gleich gegenüber der Unterkunft gibt es einen kleinen Laden, auf den der Vermieter mich aufmerksam gemacht hat. Es ist aber kein Laden, wie ich ihn mir vorgestellt habe, sondern eine Art Kiosk, mit schweren schwarzen Gittern verschlossen. Man gibt seine Bestellung durch das Gitter auf. Ich bestelle Wasser, Bier, Erdnüsse und Kekse. Es gibt ein paar sprachliche Hindernisse, aber das macht nichts. Die salchichón, die ich bekomme, ist keine Salami oder ähnliches, sondern eine Art Mortadella, in einer Pelle serviert, so wie bei uns die Leberwurst. Und das bocadillo, das ich bestelle, erweist sich als ein kleines, trockenes Stück Brot, das nach nichts schmeckt. Als ich die Erdnüsse bestelle, liegt mir schon cacahuetes auf der Zunge, erinnere mich dann aber, dass die hier maní heißen.
Die Frau ist sehr freundlich, fragt, wo ich wohne und sagt mir, ich solle auf mich aufpassen. Wie sie das meine? Ja, ich solle auf meine Wertsachen aufpassen, mich nicht beklauen lassen. Immer wieder eine schöne Erfahrung, wie in Ländern, die als gefährlich gelten, die meisten äußerst freundlich und geradezu besorgt sind.
11. November (Dienstag)
Am Morgen gehen mir einige Szenen der letzten Tage durch den Kopf. Dieser Tage im Flugzeug habe ich begonnen, Pygmalion zu lesen, den ersten Akt. Gleich in den ersten Szenen haben die verschiedenen Akzente ihren Auftritt, die man in London hört. Dabei versucht der Autor, den Akzent des Blumenmädchens, aus der Londoner Unterklasse, schriftlich wiederzugeben, keine leichte Sache, auch für den Leser nicht. Nach ein paar Einsätzen des Blumenmädchens gibt er es auf, sie spricht von hier an weitgehend „normal“. Auf der Bühne geht das allerdings nicht. Da muss man eine Schauspielerin haben, die den Cockney-Akzent auch weiterhin zum Besten gibt. Bei Übersetzungen stellt sich die Frage, wo man das Stück spielen lässt, welchen Akzent man Eliza, dem Blumenmädchen, verpasst. Zum Beispiel im Deutschland: Berlinerisch? Hessisch? Sächsisch? Und wie ist es in der Schweiz oder in Österreich? Heute könnte man natürlich auch eine Einwanderin nehmen, deren ausländischer Akzent in Standarddeutsch verwandelt und dadurch hoffähig wird.
Nelson, mein Sitznachbar auf dem Flug nach Popayán, hat mich gefragt, was man denn in Europa von Gustavo Petro halte, dem neuen kolumbianischen Präsidenten. Kleinlaut muss ich zugeben, dass man von dem gar nichts weiß. Scheint ein ganz bemerkenswerter Mann zu sein. Er will einiges verändern, will die Privatisierungen der letzten Jahrzehnte rückgängig machen und bietet den USA die Stirn. Er weigert sich, die Kokapflanzen mit Pestiziden auszumerzen, das würde nicht nur die Kokapflanzen, sondern auch alles andere, den ganzen kolumbianischen Urwald, treffen. Und er bezichtigt die USA der Doppelmoral: den Handel mit Kokain unterbinden und immer neue Schürfrechte auf Kohle und Erdölvorhaben in Kolumbien fordern.
Bei der Fahrt zum Flughafen ist mir aufgefallen, dass alle Autos, die irgendeine öffentliche Funktion haben, darunter auch die Taxis, an den Seitentüren große, von Weitem erkennbare Aufdrucke ihrer Kennzeichen haben, so wie ich das damals in Medellín bei den Lederjacken der Motorradfahrer gesehen habe. Unter dem Kennzeichen steht dann in kleineren Lettern der Zulassungsort. Darunter befindet sich auch Madrid, eine Gemeinde in Cundinamarca, in der Metropolregion Bogotá.
Am Flughafen selbst habe ich einen Imbissstand mit dem Namen Pa‘ llevar und einen mit dem Namen oma gesehen. Und auf den bei der Sicherheitskontrolle das Konterfei von Shakira.
In einer Buchhandlung am Flughafen stehen im Schaufenster Hitler und Dante Seite an Seite, Mi Lucha neben La Comedia Divina.
Am meisten in Erinnerung geblieben ist mir aber die Begegnung mit drei reizenden jungen Kolumbianern, Víctor, Norelis und Amanda bei dem Abendessen an dem unfreiwilligen zusätzlichen Tag in Bogotá. Sie sind alle Elektrotechniker, haben offensichtlich anspruchsvolle Berufe. Ja, das Leben in Kolumbien sei sehr angenehm, meinen sie, die Leute seien freundlich und es gehe wohl gelassener zu als in Europa. Aber das gelte nur für die Freizeit und vielleicht für das Privatleben. Bei der Arbeit herrsche Stress vor.
Ich dachte erst, dass Víctor und Norelis ein Paar wären, aber sie sind nur Arbeitskollegen. Víctor ist verheiratet, Norelis ist alleinerziehende Mutter. Das ist auch in Kolumbien keine Zuckerschlecken. Víctor verrät uns – ein ungewöhnlicher Vertrauensbeweis – dass er im Mai sei erstes Kind erwartet. Die Nachricht muss noch ganz frisch sein.
Norelis nennt sich Angie, weil ihr Name ihr nicht gefällt. Mir gefällt er, aber meine Versuche, rauszubekommen, woher er kommt, bleiben erfolglos. Es scheint wirklich ein Name zu sein, den irgendwer irgendwann erfunden hat. Das kommt selten vor. Shakespeares Jessica ist ein weiteres, seltenes Beispiel.
Irgendwann in Europa zu arbeiten, oder auch nur dorthin zu reisen, das wäre ein Traum für sie. Völlig verblüfft sind sie, als sie hören, dass man bei uns über die Grenze zu einem anderen Land fahren kann, ohne dass es eine Grenzkontrolle gibt. Das ist ja wirklich alles andere als selbstverständlich.
Als ich vom Sommer in Europa spreche, wissen sie nicht, wann das ist. So etwas haben sie hier nicht, nur Trocken-und Regenzeit.
Am Ende verabreden wir uns für Freitag. Da wollen wir in Popayán gemeinsam einen Spaziergang machen, den Morro de Tolcán hinauf.
Heute geht es nach Silvia. Popayán liegt auf 1.760 Metern Höhe. Hierher flüchteten sich die frühen Siedler aus der Schwüle des Cauca-Tals. Silvia liegt auf 2.520 Metern Höhe, wird also noch mehr Frische bieten.
Als ich die Wohnungstür abschieße, drehe ich den Schlüssel intuitiv nach rechts. Falsch. Hier wird nach links abgeschlossen.
Auf dem Weg zum Busbahnhof mache ich wieder Halt bei dem kleinen Café von gestern. Diesmal probiere ich eine von den Kugeln, die pera heißen. Zu süß und zu mächtig, aber der Hunger ist gestillt.
An einem improvisierten Grill am Straßenrand stehen auch jetzt am Morgen die Leute schon Schlange, genauso wie gestern später am Tag. Hier gibt es wohl so etwas wie gefüllte Fleischtaschen. Muss man mal probieren.
In einem kleinen, etwas erhöht liegenden Park am Rande der Straße lenkt eine Gymnastikgruppe die Aufmerksamkeit auf mich. Sie bewegen sich zu Musik, einige schnell, andere langsam. Der Vorturner ist ein Mann, unter den anderen entdecke ich erst ganz am Schluss einen Mann. Alle anderen sind Frauen.
Das Wetter ist wider Erwarten gut, wieder regnet es nicht, und die Sonne scheint und es ist warm.
Mir kommen unzählige Motorräder entgegen. Meistens tragen die Fahrer einen Helm, die Beifahrer nicht. Gelegentlich ist es auch umgekehrt. Zwischen beiden sitzt manchmal noch ein Kind. An einer Kreuzung, an der ich an der Ampel warte, zähle ich 24 Motorräder bei 3 Autos. Später sehe ich auch noch motorisierte Tuk-Tuks. Einer ist so schwer beladen, dass er sich die Straße nur ganz mühsam hinaufquälen kann.
Immer wieder sieht man Männer und Frauen, mit Mundschutz und einer Uniform wie die von Wildhütern, die die Wege fegen. Die Bäume verlieren Blätter, und das macht sich auf dem Boden auch bemerkbar, aber sie werfen nie das ganze Laub ab. Was verloren geht, wächst auch wieder nach.
Dann komme ich an einem Haus vorbei, in dem sich das Centro Homeopático de Cuba befindet. Das Schild hat die kubanischen Farben Blau-Weiß-Rot.
Dann kommt eine Stiftung, Fundación Forensis, deren Zweck mir nicht ganz klar wird. Jedenfalls geht es um den Einsatz für eine bessere Zukunft. An der Fassade ein Herz, das aus vielen verschiedenen Handabdrücken gemacht ist, in allen möglichen Farben.
Es geht über einen Fluss, der richtig schön sein könnte, wenn er nicht als Müllhalde benutzt würde.
Dann sehe ich ein Hinweisschild auf ein historisches Gebäude, wie ich sie am Parque Caldas gesehen habe. Nur gibt es kein Gebäude. Was ist los? Die Erklärung: Das Gebäude ist beim Erdbeben von 1983 völlig zerstört worden. Es war damals eine Polizeistation, war aber bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Casa de la Moneda gewesen, seit 1729, ein Zeichen der Bedeutung und des Reichtums von Popayán. Hier wurden die Metalle aus den Minen von Cauca, vor allem das Gold, gewogen und geschmolzen und zu Münzen verarbeitet, die dann nach Spanien verschickt wurden.
An einer Tankstelle, an der eine Säule gesperrt ist, lerne ich ein neues Wort. Auf dem Schild steht Isla Fuera de Servicio.
Hier überquere ich die vielbefahrene Straße auf Anraten einer freundlichen Frau über die Fußgängerbrücke. Und komme zum Busbahnhof. Später sehe ich auf einer Karte, dass der Flughafen gleich nebenan ist.
Am Busbahnhof ist ordentlich Betrieb, Verkaufsstände auf der einen, Fahrkartenschalter auf der anderen Seite, einer neben dem anderen. Die Angestellten hinter den Schaltern preisen ihre Fahrziele laut und emphatisch an und versuchen, sich gegenseitig zu übertreffen: Cali-Cali-Cali-Caaaali.
Ich suche den Schalter für die Fahrkarte nach Silvia. Bitte um eine Karte, bezahle und bekomme das Wechselgeld. Dann sagt die Frau: „Und Ihr Ausweis?“ Ausweis? Was für ein Ausweis? Ein Ausweis um eine blöde Busfahrkarte zu kaufen. Ja, so seien die Regeln.
Kopfschüttelnd wende ich mich ab, schnappe mir ein Taxi, bitte den Fahrer, zu warten, hole meinen Ausweis, und zurück geht’s zum Busbahnhof.
Ich versuche, von dem Fahrer eine Erklärung für etwas zu bekommen, was mir schon in Bogotà aufgefallen ist. Einige Autos haben Aufkleber, auf denen steht: ¿Cómo conduzco? Und darunter eine Telefonnummer, die man anrufen und bei der man den Fahrstil des Fahrers kommentieren kann. Er kann mit der Frage nichts anfangen, meint ausweichend, so was hätten nur große Autos. Ich habe das aber auch auf Taxis gesehen. Vielleicht steht es sogar auf seinem. Dann kommen wir wieder am Busbahnhof an.
Die Frau hinter dem Schalter sieht sich meinen Ausweis gründlich an, notiert Namen, Nummer, Ausstelldatum und macht ein Photo des Ausweises, von beiden Seiten. So, kann ich jetzt meine Fahrkarte bekommen? Nein, ich muss ihr auch noch die Adresse der Wohnung nennen, wo ich untergekommen bin.
Dann bekomme ich endlich meine Fahrkarte. Um auf den Bussteig zu kommen, muss man noch durch eine Kontrolle.
Dort steht eine Unmenge von Bussen und Transportern, alle weiß, aber es tut sich nichts. Man sieht keinen Bus abfahren oder auch nur, dass irgendwo Bewegung in die Sache kommt. Auf den Bänken warten die Passagiere geduldig. Ein kleines Mädchen, noch auf unsicheren Beinen, kommt auf mich zu gewackelt und nimmt mir Notizblock und Kuli aus der Hand. Sie betrachtet beide mit intensiver Aufmerksamkeit, so wie sie nur Kindern gegeben ist.
Es tut sich noch nichts, und eher aus Langeweile als aus Hunger kaufe ich an einem Stand einen Dedo de queso. Er hat seinen Namen verdient. Hat die Form eines Fingers und ist mit Käse gefüllt.
Dann geht es endlich los. Der Bus scheint bis auf den letzten Platz gefüllt, aber zwischendurch hält der Fahrer noch zweimal mitten auf dem Weg und nimmt zwei weitere Passagiere auf. Die kommen auf die Klappsitze.
Die Fahrt durch die Außenbezirke von Popayán ist schleppend, es ist viel Verkehr und wir stehen ständig vor roten Ampeln. Aber dann kommen wir auf eine gut ausgebaute Straße, und es geht zügig voran. Bis die Straße wieder einspurig wird. Jetzt hängen wir hinter Lastwagen, die sich nur im Schneckentempo die Straße hinaufbewegen. Dann kommen wir an eine Baustelle. Dann an noch eine. Dann an noch eine. Immer wieder kommen wir ganz zum Stillstand. Immer wieder muss der Fahrer den Motor ausschalten. Von den Baustellen steigen Staub und Ruß. Ich bin müde und gelangweilt und beneide die Fahrgäste, die tief und fest schlafen.
Irgendwann geht es wieder weiter. Die Szenerie verändert sich, es wird grün, einsam und gebirgig. In engen Kurven geht es ständig bergauf. Der Fahrer drückt auf die Tube, ignoriert die Geschwindigkeitsbegrenzungen und schreibt Nachrichten in sein Handy. Die Seitenstreifen sind nicht befestigt, und manchmal knarrt es beträchtlich.
Dann kommen wir in einen Ort, und einige steigen aus, aber es ist immer noch nicht Silvia.
Dort sind wir endlich da. Für die 59 Kilometer haben wir 2 Stunden gebraucht. Und ich hatte in meinem Wahnsinn vor, einen „Tagesausflug“ nach San Agustín zu machen. Das ist 136 Kilometer entfernt. Und die Straße soll noch schlechter sein.
Sofort ist man mitten in dem lauten, farbenfrohen turbulenten Treiben auf dem zentralen Platz der Stadt. Die Atmosphäre ist aber, trotz der vielen Indios in ihren traditionellen Kleidern, eher städtisch als ländlich. An dem Platz gibt es Gyros und Handys, und in der Mitte des Platzes findet eine Lotterie statt, bei der man ein Motorrad gewinnen kann.
Ein echter Blickfang ist die Kirche an dem erhöhten Ende des Platzes, San Antonio de Padua. Sie ist ganz in Weiß gehalten, aber die Friese, eine Balustrade, die Fenstereinfassungen und einige Flächen sind in Rot davon abgesetzt. Die beiden doppelstöckigen Türme haben bunte Fenster, und zwischen ihnen, ganz oben, über dem Eingang, breitet ein Christus, ganz in Weiß, seine Arme aus.
Auch innen ist die Kirche ganz besonders, nicht wegen der kitschigen Ausstattung, sondern wegen der Konstruktion des Innenraums. Das Mittelschiff verkürzt sich zum Altar hin, und die beiden Seitenschiffe laufen diagonal auf den Altar zu. Daher ergeben sich aus verschiedenen Blickwinkeln immer neue Perspektiven, so etwas wie die Mezquita de Córdoba im Kleinformat.
Ich würde gerne eine Kerze anzünden, aber das geht nicht. Man kann keine Kerzen kaufen, man muss sie mitbringen.
Vor der Kirche gelingt mir ein Schnappschuss von einem kleinen Jungen, der auf dem Boden vor der Kirche sitzt und, voller Konzentration, einen Becher auslöffelt.
Um den ganzen Platz herum sieht man alte, bunt bemalte Busse mit großer Schnauze für den Motor und Gittern statt Fenstern und einem Dachgepäckträger. Mit diesen Bussen werden Waren und Besucher gleichzeitig nach Silvia zum Markt transportiert.
Überall werden Dinge geschleppt, in Tüten, in Säcken, in Taschen, in der Hand, unterm Arm, auf der Schulter. Für größere Gewichte stehen Jungs mit Lastkarren bereit.
Es gibt nicht nur das, was von den Bauern der Gegend produziert wurde, sondern alles, was das Herz begehrt, an unzähligen Ständen innerhalb und außerhalb des Marktes, von Sägen bis zum Klopapier, von Babyschuhen bis zu Steckdosen.
Überall, wo ich nachfrage, bekomme ich freundlich Antwort. Eine junge Frau an einem Stand hält mir die Flasche mit Speiseöl in die Kamera, nach der ich gefragt habe. Auf dem Etikett steht El Fritón. Nie gehört. Aber später kommen mir Zweifel. Das scheint die Marke zu sein, ich wollte wissen, was für ein Öl das ist.
Auch sehr auskunftsfreudig sind die Verkäufer – meist Männer – die ihre Ware in offenen Säcken anbieten. Den Mais gibt es gleich in drei Versionen: ungeschält, geschält, gemahlen. Daneben Reis. Die Verkäufer nehmen eine Handvoll aus dem Sack und lassen alles langsam wieder in den Sack rieseln.
Für uns besonders interessant sind die Kartoffeln. Nur wenige von ihnen sehen aus wie unsere Kartoffeln, und die haben eine dunklere Farbe. Daneben alle möglichen anderen Arten: rötlich, klein, rund, und andere Knollenfrüchte. Da merkt man, dass man in Amerika ist, der Heimat der Kartoffel.
Auch die anderen bäuerlichen Produkte, vor allem Obst und Gemüse, lenken die Aufmerksamkeit auf sich, teils schon durch ihre Größe, wie bei den Möhren und den Strauchtomaten.
Alles ergibt ein farbenfrohes Bild, vor allem beim Obst. Es gibt Mango und Papaya, Kiwi und Drachenfrucht (pitahaya), Aubergine und Passionsfrucht (maracuyá), Brombeeren und Erdbeeren, Avocado und Kochbananen und eine orangenfarbige Frucht, von der ich erfahre, dass sie lulo heißt, und wieder andere, deren Namen ich schon wieder vergessen habe, als ich sie gerade gehört habe.
Ich nehme Erdbeeren mit. Die haben einen intensiven Geschmack und vor allem eine ganz feste Konsistenz.
Dann mache ich mich noch auf die Suche nach Käse, im Reiseführer empfohlen. Aber als ich ihn sehe, will ich fast wieder den Rückwärtsgang einlegen. Es ist kein Hartkäse, sondern der überall in Kolumbien anzutreffende, geschmacklose Weichkäse. Ich kaufe ihn aber der Indio-Frau zuliebe.
Tatsächlich fragen muss ich nach dem Wort für die bräunlichen, quaderförmigen Klumpen, die hier überall aufeinandergestapelt angeboten werden. Das ist – natürlich – panela, der Zucker aus Zuckerrohr, unraffiniert, der überall in Südamerika zum Süßen verwendet wird. Wie oft habe ich den schon probiert!
Am Ende sehe ich mich noch bei den Handarbeiten der Indio-Frauen um. Ich habe mehr Gehäkeltes erwartet, aber meist handelt es sich um Halsketten und Armbänder aus kleinen Perlen. Auch die gibt es in allen Formen und Farben.
Heimlich beobachte ich während der ganzen Zeit die traditionelle Kleidung der Indios, und verstohlen und unbemerkt mache ich aus der Distanz auch das eine oder andere Photo. Die klassische Kombination ist Schwarz und Violett, Schwarz beim Rock (den Männer und Frauen tragen), Violett beim Poncho. Das Violett wiederholt sich dann in feinen Streifen im Rock.
Alle tragen Hüte, Männer wie Frauen, genau die europäisch aussehenden, schwarzen Hüte, wie man sie aus Bolivien kennt. Nur die jungen Frauen, vermutlich die unverheirateten Frauen, tragen andere Hüte, kleinere, flachere, und sie tragen sie nicht auf dem Kopf, sondern auf der Schulter.
Alle tragen auch eine gehäkelte Umhängetasche. Bei denen, die etwas verkaufen, ist die gleichzeitig das Portemonnaie. Die Geldscheine sind lose darin.
Ich will mich noch etwas in der Gegend umsehen und mache mich auf den Weg zum Lago Chimán. Es geht aus dem Ort hinaus über eine Treppe, deren Stufen so hoch sind, dass man praktisch klettern muss. Erst auf dem Rückweg sehe ich, dass die Treppenstufen alle bunt bemalt sind, mit Blumenmotiven.
Man überquert einen wunderbaren, rauschenden, unregelmäßig verlaufenden Bach voller dicker Steine. Am Wegesrand lauter Bäume, die etikettiert sind. Es handelt sich um Kiefern und Eukalyptusbäume und um eine Duftakazie, die guarango heißt. Am meisten vertreten ist ein Baum, der galvís heißt. Alle haben, was die Stämme betrifft, eine gewissen Ähnlichkeit miteinander.
Der See ist ganz klein, viel kleiner als erwartet, eher ein Weiher. Als ich näher komme, habe ich ein Déjà-vu: Auf den beiden Bäumen einer kleinen Insel in dem See sitzen Hunderte von weißen Vögeln, vielleicht Reiher. Wo hab ich das schon mal gesehen?
Ganz oben, auf der Kuppe eines gegenüberliegenden Hügels, sieht man eine Kapelle, Belén, die kleine Schwester der Kirche im Zentrum.
Es geht zurück in den Ort. Dort finde ich an der Ecke des Platzes eine Bar, in der es Caucano gibt, den bekannten Schnaps des Ortes, einen Zuckerrohrschnaps mit Anisgeschmack. Jedenfalls soll es den geben, so steht es auf dem Plakat an der Tür zur Bar. Die Frau hinter dem Tresen fragt mich, was das sei. Das kenne sie nicht. Kopfschüttelnd verlasse ich das Lokal.
An der Abfahrtsstelle des Busses sagt man mir, erst in einer halben Stunde werde man die Fahrkarten verkaufen. Solange gehe ich in die Bar gegenüber und trinke einen Kaffee. Der Mann, der mich bedient, ist an Eifer kaum zu bremsen.
Als ich vor mich hin sinniere, sehe ich an der gegenüberliegenden Wand ein Schild, auf dem darum gebeten wird, kein Kaugummi unter die Tische zu kleben: No pegar chicles debajo de la mesa.
Bevor ich zahle, nutze ich noch schnell die Gelegenheit, das WC aufzusuchen. An der Tür steht: Sólo para orinar. Tatsächlich gibt es kein Klopapier. Dafür aber eine Dusche.
Dann gehe ich zurück zur Verkaufsstelle für die Fahrkarten nach Popayán. Ich zahle, bekomme mein Wechselgeld, bekomme die Fahrkarte und setze mich in den Bus. Kein Dokument, kein Formular, keine Photos, keine Adresse. Ich glaub, es hackt.
12. November (Mittwoch)
Wenn ich gestern geglaubt habe, der Rückweg werde glatter verlaufen, dann war das eine Illusion. Im Gegenteil, es wurde noch schlimmer. Diesmal muss wohl unterwegs irgendwo ein Unfall passiert sein. Wir stehen noch länger im Stau und erreichen Popayán erst nach 3 Stunden. Schnitt von 20 km/h.
Ich versuche mir, einzureden, dass es Schlimmeres gibt, aber die Langeweile, die kribbelnden Füße, die schwüle Luft und die Dudelei aus dem Lautsprecher sind doch ziemlich nervig.
Das ist aber noch nicht alles: Jetzt fängt es auch noch an, zu schütten. Auf einmal merke ich, dass mein Rucksack feucht geworden ist. Hat es reingeregnet? Nein, er ist nur unten feucht. Und meine Oberschenkel sind es auch. Es ist nicht der Regen, sondern der Käse. Der ist, trotz einer weiteren Plastiktüte um die Plastiktüte der Verkäuferin herum, ausgelaufen und hat alles in Mitleidenschaft gezogen, Reiseführer, Notizblock, Kugelschreiber, Buch, Broschüren. Ich hoffe, die Hose ist noch zu retten, der Rucksack dürfte hinüber sein.
Am Ende komme ich völlig durchnässt und todmüde zu Hause an. Derweil gibt es in der Heimat mitten im November das schönste Oktoberwetter.
Das einzig Gute an der langen Busfahrt: Ich habe Pygmalion zu Ende gelesen. Fazit: wenig überzeugend, nicht so gut, wie ich es in Erinnerung hatte von der letzten Lektüre, aus den Zeiten des Studiums. Die Charaktere sind nicht sehr glaubwürdig: Higgins ist unglaubwürdig in seiner Borniertheit, seine Mutter in ihrem grenzenlosen Verständnis für Eliza, deren Vater in seiner Widersprüchlichkeit zwischen Müllmann und Mann von Welt, Eliza in ihrer Verwandlung vom Blumenmädchen zur Lady, Freddy in seiner Hingabe für Eliza. Elizas Vater sagt am Ende immer noch Enry Iggins und them two, spricht aber von middle-class consciousness und von condescension. Passt nicht. Schlimmer ist aber, dass der Erziehungsprozess von Eliza weitgehend hinter der Bühne stattfindet. Nur die erste Lektion findet vor den Zuschauern statt, und die ist wie eine pädagogische Bankrotterklärung. Man verändert seine Aussprache nicht, indem man das Alphabet aufsagt. Man sieht, dass Shaw dezidierte Anschauungen über Sprache hatte, aber keine Ahnung vom Sprachenlernen, vermutlich nicht einmal von Sprache.
Was für ihn spricht ist der Schluss des Dramas. Er macht Higgins und Eliza nicht, wie das blöde Musical, zum Paar. Das entspricht romantischen Vorstellungen von Beziehungen, aber nicht der Wirklichkeit. Bei Shaw wird deutlich, trotz einer kurzen, aus dem Rahmen fallenden, beinahe zärtlichen Annäherung zwischen den beiden, dass sie nicht zusammenpassen, und dass Eliza für Higgins nichts als ein Experimentierfeld war.
Als das Stück uraufgeführt wurde – in verschiedenen Ländern eher als in England – verursachte es aber einen Skandal, der völlig von der Bedeutung des Stückes ablenkte. Es wurde vorher schon gemunkelt – ohne dass das Wort erwähnt geworden wäre – dass ein ungeheuerliches, sozial völlig inakzeptables Wort aus der schmutzigsten Sprachschicht auf der Bühne zu hören sein würde. Und so war es dann auch. Dieses Wort war bloody. Das erregt heute kein Schaudern mehr, keine Reaktion, auch in den „besten Kreisen“ nicht. In Fernsehen und Medien ist es mit größter Selbstverständlichkeit vertreten.
Heute gibt es angesichts der gestrigen Strapazen ein gemütliches Programm mit einem kleinen Spaziergang durch die Innenstadt. Ich nehme diesmal die Calle 4, und die bringt mich direkt zur Franziskanerkirche. Leider geschlossen. Mich hat vor allem die Nachricht von zwei mumifizierten Leichen von Franziskanermönchen angelockt, die im danebenliegenden ehemaligen Kloster im 16. Jahrhundert lebten. Die sind heute in der Kirche ausgestellt.
Der ursprüngliche Bau ist bei einem älteren Erdbeben völlig zerstört worden, und danach ist, im 18. Jahrhundert, dieser Bau entstanden. Er hat wenig von franziskanischer Bescheidenheit, hat eine stark dekorierte Fassade und einen noch später entstandenen, mächtigen Glockenturm. In den Nischen zwei mit Franziskanermönche, in Mönchskutte, mit Kordel und Rosenkranz, die, die gekreuzten Händen vor der Brust, etwas zu fromm gen Himmel gucken.
Die Calle 4 führt direkt auf den Parque Caldas. Im Zentrum die Figur des namensgebenden Mannes, der hier, in bester lateinamerikanischer Weise, zum „Märtyrer der Unabhängigkeit“ stilisiert wird. Er hat einen offenen Gehrock und Stiefel an. Zu seinen Füßen ein Globus und ein Gewehr, und in der Hand vermutlich Schreibutensilien. Er scheint zu den Intellektuellen unter den lateinamerikanischen Revolutionären zu gehören.
Neben der Kathedrale, in einem weiteren weißen Bau, der Uhrenturm. Die Uhr hat römische Ziffern und nur einen Zeiger. Gut für die, die es nicht ganz so genau mit der Zeit nehmen.
Die Gebäude um den Platz herum sind alle irgendwie anders, formen aber dennoch ein perfektes Ensemble. Sie beherbergen das Rathaus und die Handelskammer, ansonsten meistens Banken und auch einige Geschäfte, ein Bekleidungsgeschäft, ein Juweliergeschäft, an einer Ecke des Platzes auch ein paar erstaunlich normale Lokale. Es gibt keine Leuchtreklame, und die Beschriftungen an den Gebäuden sind aufs Notwendigste begrenzt und allesamt in vergoldeten Lettern angebracht.
Neben den Bäumen mit den glatten Stämmen des Parks auch einer mit einem ganz rauen, wie abgeblättert aussehender Stamm. Ein Hingucker. Wie immer in den Tropen sieht man wenige Blüten. Erst bei genauerem Hinsehen entdecke ich einen Baum mit rosa, einen mit gelben, einen mit weiß-violetten Blüten.
Auf dem autofreien Platz ist es geschäftig und dennoch ruhig. Man sitzt auf den Bänken im Park und außerhalb des Parks: Studenten, Mütter mit Kindern, Rentner, Krankennschwestern und zwei Touristen (mit mir drei). Vor allem aber Tauben, Tauben auf den Dächern, auf den Bäumen, auf dem Boden.
Um den Platz herum Eisverkäufer, Schuhputzer und eine Frau mit Gitarre, die allerdings predigt, statt zu singen.
Ich gehe die Calle 3 runter, an der mir, knapp abseits des Platzes gelegen, der Templo de Encarnación auffällt. Auch dieses Gebäude wurde Opfer des Erdbebens und ist nach dem Wiederaufbau zum Sitz des Colegio Técnico der Universität geworden.
An einer Straßenecke kaufe ich einen Becher Mango und esse ihn unterwegs. In der Calle 3, wie eine Fortsetzung der Plaza Caldas mit niedrigeren Gebäuden, scheint jedes zweite Haus historische Bedeutung zu haben.
Dann frage ich mich zum Puente del Humilladero durch, schon des Namens wegen. Dessen Ursprung ist nicht ganz geklärt, aber man vermutet, dass die Steigung, über die man vor dem Bau der Brücke in die Stadt gelangte, so steil war, dass man den Hang auf Knien raufrutschen musste, so dass man „gedemütigt“, „beschämt“ wurde.
Die Brücke überquert keinen Fluss, sondern einen Park. Abseits des Parks sieht man Häuser, die hier, nur ein paar Meter vom Vorzeigezentrum entfernt, erstaunlich einfach und ärmlich aussehen.
Die Brücke steht auf steinernen Pfeilern, hat eine steinerne Brüstung und Pflastersteine auf dem Gehweg, der ziemlich steil bergab führt.
Genau in der Mitte der Brücke sitzt eine Bettlerin. Ich biete ihr den Rest meines Mango-Bechers an, und sie nimmt gerne an.
Auf dem Rückweg frage ich eine Frau, auf welcher Carrera wir gerade sind. Die Orientierung, eigentlich leicht, wird erschwert, weil an vielen Straßenecken die Straßenschilder fehlen. Sie sagt mir Bescheid und empfiehlt mit Nachdruck, über den Parque Caldas zurückzugehen und nicht den Weg zu nehmen, den ich im Sinn hatte. Scheint ein unsicheres Viertel zu sein.
Nach einer Pause zu Hause gehe ich in das kleine Lokal ganz in der Nähe der Wohnung, das mir der Vermieter empfohlen hatte, El Caserito. Es liegt an einer Straßenecke, man hört den Verkehr, aber er stört nicht sonderlich. Der Raum hat keine Wände, sondern Gitter, man befindet sich also halb im Freien.
Es gibt etwa ein Dutzend kleine quadratische Tische, fast alle sind besetzt. Ich bekomme aber noch einen Platz.
Der Wirt sieht mich entsetzt an, als ich ein Bier bestelle. Nein, so etwas gebe es hier nicht. Stattdessen gibt es Brombeersaft, juguito de moro, wie an allen anderen Tischen auch.
Es gibt eine Brühe und dann ein Tellergericht mit Rippchen, Reis, kalter Pasta und einen Salat aus ganz klein gehackten Gürkchen und Möhrchen und Zwiebelchen.
Man zahlt an der Theke. Dort kassiert die Mutter der Familie ab, die anderen kochen und bedienen. Die Rechnung ist ein kleiner Zettel, auf der handschriftlich, unter der Tischnummer, der Betrag vermerkt ist: 13.000 Pesos.
Um den Alkoholpegel nicht allzu tief sinken zu lassen, kaufe ich dann noch in dem Lädchen von neulich zwei Dosen Bier. Dazu Kekse und ein Stück Kuchen. Kostenpunkt: 12.200 Pesos.
13. November (Donnerstag)
Der Tag fängt schlecht an, mit Regen und Wolken, klart aber bald auf. Schon an der Drogerie, ein Stückchen die Carrera 11 runter. Noch bevor sie mich fragt, was ich will, sagt die junge Frau hinter der Ladentheke: „¡Qué ojos más bonitos!“ Lohnt sich doch, so weit zu reisen.
Ich komme an der Kirche San José vorbei. Auch die ist ein Neubau nach dem Erdbeben von 1793. Der Neubau entstand dank einer frommen Frau aus der Gemeinde. Die finanzierte den Bau, indem sie ein ganzes Jahrzehnt lang ihre Empanadas de pipián, typische Teigtaschen aus der Region, verkaufte.
In einer Nische sieht man San José mit dem Jesuskind auf dem Arm, einem Motiv, dem man hier viel öfter begegnet als bei uns. Voller Zärtlichkeit berühren sich die Wangen von Vater und Sohn.
Heute fallen mir zum ersten Mal die schwarzen, gusseiseren Laternen auf, die an den Fassaden der weißen Häuser hängen. Ein schöner Kontrast.
Als ich zum Parque Caldas komme, höre ich Musik aus der Kathedrale kommen. Ich gehe hinein und werde Zeuge eines echten Spektakels. Die Kathedrale ist proppenvoll, in allen drei Schiffen sind die Bänke gut, wenn auch nicht bis auf den letzten Platz, besetzt.
Die Musik geht zu Ende, der Priester nimmt die Monstranz und bewegt sie, von Glöckchenklang begleitet, in alle Richtungen. Die Gläubigen heben beide Arme nach oben. Als der Priester fertig ist, gibt es tosenden Applaus.
Dann strömen alle nach vorne. In dichten Reihen steht man vor dem Altar, hebt Kerzen, Wasser und Rosenkränze in die Höhe. Das wird alles von dem Priester gesegnet.
Dann verlassen alle die Kirche. Fast jeder hat für die Bettler vor und hinter dem Ausgang eine Münze übrig.
Am Parque Caldas bemerke ich zum ersten Mal, dass das schöne neoklassische Gebäude das Edificio de la Gobernación de Cauca ist. Popayán gehört zum Departamento de Cauca, einer von mehr als 30 kolumbianischen Provinzen, und hier befindet sich so etwas wie die Bezirksregierung. Cauca liegt im Südwesten Kolumbiens, nur durch Nariño von Ecuador getrennt, mit Zugang zum Meer, zum Pazifik. Es sind nur gut 150 Kilometer von hier bis zur Küste, aber es gibt keine Straße, die von hier aus direkt dorthin führt.
Ich komme an eine Straßenecke, an der ein Schild mit einem „richtigen“ Straßennamen ist: Calle Santo Domingo. Die Kirche an dieser Ecke, die sofort die Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist also die Dominikanerkirche.
Innen sehr schön die dicken, verglasten Backsteine, aus denen die Pfeiler bestehen, und die schön, ebenfalls aus Backsteinen gefertigten Friese und Verzierungen in den Zwickeln.
Außen ebenso schön der der eigentlichen Fassade vorgeblendete Vorsatz, mit Hunderten von verzierten Steinen, über, neben und in dem Torbogen. Alle sind farblich ein bisschen anders, keiner hat eine figürliche Darstellung, lauter Formen, geometrische, florale, die eigentlich nichts Erkennbares darstellen. Bei den Farben herrschen Grau und Beige vor, und die kommen meist im Wechsel zum Einsatz. Einfach schön. Absolut passend dazu der Brunnen auf dem Vorplatz, aus den gleichen Materialien gefertigt.
Gegenüber befindet sich ein Café, das einen einlädt, hineinzukommen und ganz in Ruhe einen Kaffee zu genießen, langsam, so langsam, wie sich ein Behördengang im Rathaus hinzieht: Quiero tomarme un café contigo, tan lento que parezca trámite de la alcaldía. Da sage ich nicht nein.
Drinnen lauter Studenten, an ihren Laptops sitzend. Die Leute hinter der Theke sind blutjung, die Preise etwas erhöht.
Als ich am Ende nach dem Museo Mosquera frage, begleitet mich einer von ihnen nach draußen und zeigt mir den Weg.
Das Museo Mosquera, in einem Haus aus dem 18. Jahrhundert untergebracht, ist benannt nach Tomás Cipriano de Mosquera, einem Politiker, General und Historiker, der einen Rekord hält: Er war viermal Präsident Kolumbiens, so oft wie niemand sonst.
Wenn man genauer hinguckt, merkt man allerdings, dass er streng genommen Präsident von vier verschiedenen Einheiten war, von vier verschiedenen Staaten, wenn man so will, mit vier nicht zusammenhängenden Amtszeiten zwischen 1845 und 1867. Man braucht die Einzelheiten nicht zu verstehen, um einzusehen, wie viel damals in Bewegung war, zwischen der Zeit als Teil des spanischen Kolonialreichs und der Zeit der heutigen Republik Kolumbien.
Das Haus ist ein einstöckig, die Gebäudeteile gruppieren sich um einen schönen Innenhof herum. Im ersten Raum ist gleich hinter dem Eingang eine Urne in die Wand eingelassen. Darin ruht das Herz Mosqueras.
Sein Leben ist wirklich eine Achterbahnfahrt: Niederschlagung eines Handwerkeraufstands, Verbot der Jesuiten (die waren ihm politisch nicht geheuer), Verkauf von Kirchengütern zur Unterstützung der Armen, Exil in Peru, Putschversuch, Förderung der Tabakindustrie, Einführung der Dampfschifffahrt auf dem Río Magdalena, Konzession von Transitrechten über die Landenge von Panama an die USA (Panama gehörte noch zu Kolumbien).
In etwas verstaubten Vitrinen sind persönliche Gegenstände ausgestellt: ein Gürtel mit Schnalle für das Schwert, sehr weiblich aussehende bestickte Pantoffeln, ein Schnapsbecherchen mit Emblem, ein Stempel mit seinem Wappen, Medaillen und ein Stein der Weisen, eine piedra filosofal. Davon hatte ich bisher immer nur im übertragenden Sinne gehört, hier ist es ein echter, kleiner Stein, den man vermutlich mit sich trug.
Daneben Instrumente zur Himmelsbeobachtung: ein Fernglas, ein Teleskop, ein Astrolabium, alle groß und schwer, aus Eisen.
Dann Schreibwerkzeug und ein Kalender, an dem man mittels eines Drehknopfs Jahr, Monat und Tag einstellen konnte.
Im Salon sieht man, dass es sich um keinen Armen handelte: eine Obstschale aus Porzellan, eine Uhr mit einem trommelnden und einem trompetenden Engel obendrauf, ein sehr schöner, eleganter Sekretär mit Fächern und Schubladen, ein versilberter Spiegel und ein Schmuckkästchen mit Einlegearbeiten in Perlmutt (nácar) und Bronze.
Schwere Möbel überall und Gemälde aller Art, darunter ein Porträt von Bolívar, der zweimal hier zu Besuch war und Mosquera beim Unabhängigkeitskampf an seiner Seite sah.
Im Innenhof ist Bewegung, denn hier befindet sich auch eine Dependance der Universität, eine Verwaltungseinheit, wie es scheint. Ich bin der einzige Besucher des Museums.
Bevor ich rausgehe, fällt mir eine Photoausstellung im Innenhof ins Auge, Schwarz-Weiß-Photos, kleines Format, Alltagsszenen. Alle spielen sich auf der Straße ab, in gleißendem Sonnenlicht, mit Licht und Schatten, fast immer bildet eine Häuserwand den Hintergrund: Eine Nonne schreitet in eine Richtung, ihr entgegen kommt ein nicht mehr ganz junges Ehepaar in viel zu enger Kleidung, ein Obdachloser liegt schlafend auf einer Treppe, und über ihm an der Wand steht Todos merecemos un techo, ein Fußgänger mit Schirm und Spazierstock scheint nur ein Schatten zu sein, ein Passant schreitet im Gleichschritt mit Caldas auf dem Sockel über ihm. Sehr gut gemacht.
Gleich gegenüber befindet sich das Museo Ayerbe. Ich gehe rein, ohne zu wissen, worum es sich handelt. Hier werde ich von einer jungen Frau geführt.
Die Frau macht ihre Sache gut, aber es ist viel zu viel, was es in den sechs Räumen zu sehen gibt: Möbel, Waffen, Porzellan, Ikonen, Bronzen, Gemälde und Skulpturen und Figuren, die bei der Prozession der Semana Santa getragen werden. Darunter eine komplettes Abendmahl, mit lebensgroßen Figuren der elf Apostel (Judas Iskariot ist nicht vertreten), mit ihren Marterwerkzeugen oder Symbolen. Sie werden begleitet von einem Hund und einer Katze, Symbole für Gut und Böse, die zu Füßen des Tisches liegen und fast lebendig aussehen. Sie sind ausgestopft.
In Erinnerung geblieben ist mir ein Möbelstück, das Semanario heißt, eine Kommode mit sieben Schubladen, eine über der anderen. In jeder von ihnen bewahrte man die Kleidung für einen Tag der Woche auf, daher der Name Semanario.
Von den Skulpturen besonders beeindruckend eine, die das Gesicht eines Mannes mit schmerzverzerrtem Ausdruck und geöffnetem Mund darstellt. Der Kopf ist hinten hohl, die Schädeldecke bricht einfach ab. Diese Skulptur repräsentiert den Schrei.
Bei einer Uhr mit römischen Ziffern macht mich die Führerin auf die Vier aufmerksam: IIII. Das war die eigentliche, in Rom gebräuchliche Form. Die IV ist eine Erfindung der Renaissance.
Gar nicht erwartet man in diesem Kontext ein schönes, kleines Gemälde mit einer Szene aus einer holländischen Stadt, ein Szenerie, die man durch das schmale Haus im Hintergrund sofort als holländisch identifiziert.
Ein kleines schönes Salontischchen, an dem bestenfalls zwei Personen sitzen und Tee trinken können, erweist sich als umklappbar. Auf der anderen Seite ist die Oberfläche aus grünem Samt. Ein Spieltischchen.
Aus der indigenen Kunst eine ganz merkwürdige Darstellung von Josef und Maria in der Krippe. Die Figuren tragen beide eine königlich aussehende silberne Krone und haben bewegliche Gelenke, wie Puppen. Das Jesuskind ist, in indigener Art, so eingepackt wie eine ägyptische Mumie. Die Frau benutzt das Wort enchumbado, um diese Art des Wickelns zu bezeichnen.
Bei dem Silberservice in einer Vitrine fällt die Figur eines Löwen auf, eine Anspielung auf England. Es handelt sich nämlich nicht um Zierrat, sondern um eine Teekanne. Der Löwe hat an der Seite einen „Stöpsel“, den man entfernen kann, um den Tee einzuschenken.
Dann kommt eine Krone von besonderer Bedeutung für Popayán, die Corona de los Andes. Aus Angst vor der Pest, die sich in Kolumbien ausbreitete, wandten sich die Bewohner Popayáns an ihre Patronin, die Virgen de la Asunción (die ich auch in der Kathedrale gesehen habe). Sie blieben verschont und sammelten Geld, um diese Krone zu stiften. Die Krone verschwand dann irgendwann und tauchte später in einem Museum in Washington wieder auf. Dort ist sie immer noch, was wir sehen, ist eine Kopie.
Dann kommt ein Kästchen mit Indianerschmuck, ein Pektoral und ein Kopfschmuck aus Federn. Dessen Bedeutung verstehe ich erst gar nicht. Es sei ein Geschenk der Indios an die kolumbianische Armee gewesen. Wie das? Es sieht so aus, dass Kreolen und Indios sich zusammentaten, als die Gefahr von außen kam, und zwar von Peru. Das streckte seine Finger nach diesem Teil Kolumbiens aus, und zwar noch im 20. Jahrhundert! Davon wusste ich gar nichts. Die Peruaner wurden zurückgeschlagen. Dabei kamen auch Pfeile zum Einsatz. Einer von denen wird in diesem Kästchen aufbewahrt. Die Indios tränkten die Pfeilspitze in die Körperflüssigkeit einer Kröte, und die ist so giftig, dass man damit auch einen Elefanten zur Strecke bringen kann!
Als wir mit der Führung durch sind, fragt mich der Direktor des Museums, woher ich käme. Ich lasse ihn raten. Frankreich? – Nein, Nachbarland davon. – Portugal? – Nein, Deutschland. Dann stellt sich heraus, dass er Frankfurt, Bamberg und Rothenburg kennt. Und diese Universitätsstadt, wie heißt die noch. Heidelberg? – Ja, Heidelberg.
Beim Abschied frage ich die junge Frau nach dem Cerro de las Tres Cruces, aber sie rät mir davon ab, dort alleine hinzugehen. Mir bleibt ja für morgen der Morro de Tolcán, mit den jungen Kolumbianern.
Auf dem Rückweg komme ich am Theater vorbei, dem Guillermo Valencia. Habe ich bisher noch gar nicht gesehen. Es stammt vom Beginn des 20. Jahrhunderts und folgt dem Vorbild eines Pariser Theaters. Eingeweiht wurde es mit Il Trovatore. Leider kommt die Fassade wegen der schmalen Straße nicht richtig zur Geltung. Von Besichtigungen ist nirgendwo die Rede.
Ich bleibe an einem kleinen Laden stehen, vor dem auf einem Tischchen Gebäck angeboten wird. Ein Passant spricht mich an und erklärt, das seien rosquillas, die müsse ich unbedingt probieren. Er verwickelt mich in ein Gespräch, will wissen, welche Länder ich in Asien und in Afrika bereist hätte. Und ob ich von diesen Reisen noch Münzen übrig hätte. Er ist selbst Lehrer an einer Grundschule, unterrichtet unter anderem Geographie, und hat schon eine beträchtliche Sammlung von Münzen aus aller Herren Länder. Ich sage ihm, ich würde die Münzen ohne weiteres abgeben, aber nicht verschicken. Das sei zu aufwendig. Er hat aber eine deutsche Freundin, eine Ärztin namens Heike, die an der Schweizer Grenze wohnt. Ja, der könne ich die Münzen schicken, sage ich ihm. Und gebe ihm meine Mailadresse.
Dann fragt er noch nach meiner weiteren Reiseroute. In Ecuador solle ich vorsichtig sein, da seien viele Peruaner, und die hätten es auf die Handys der Touristen abgesehen. Und auf deren Geld. Ich verspreche ihm, vorsichtig zu sein, und kaufe ein paar rosquillas.
An der nächsten Ecke kaufe ich wieder einen Becher mit Obst. Diesmal nehme ich Ananas. Dann gehe ich noch in eine Bäckerei. Da nehme ich almojabanas mit. Das sind kleine Teigkugeln, mit Käse gefüllt. Sie sind noch warm.
14. November (Freitag)
Auf dem Weg in die Innenstadt komme ich an einer weiteren Straße mit einem „richtigen“ Namen vorbei: Calle de la Cárcel. Heute wird sich das Gefängnis sicher weiter außerhalb befinden.
Wenn man in die Innenstadt kommt, hat man ab und zu einen Blick in die schönen Innenhöfe, denn die Portale der Häuser stehen meistens offen. Auch die Türen der Geschäfte stehen offen.
Ohne es geplant zu haben, gehe ich in das Museo Negret, einfach, weil es gerade am Wegesrand liegt. Sieht geschlossen aus, aber hinter dem Gitter ist eine Klingel.
Der Eintritt ist gratis, aber wie überall muss man in eine Liste mit ganz schmalen Zeilen Name, Alter, Zweck des Besuchs, Email-Adresse und Datum eintragen. Keine Ahnung, was man mit diesen Daten anfängt.
Das Gebäude, in dem das Museum untergebracht ist, ist ein Zwilling derer von gestern, wieder eingeschossig, wieder um einen Innenhof herum. Der hier ist aber bei weitem nicht so schön wie die von gestern.
Das Haus stammt von 1781 und wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von einem Mann namens Negret erworben, einem Staatsmann und General. Dessen Sohn wurde zu einem international bekannten Künstler, mit allen möglichen Auszeichnungen.
Die Bezeichnung Casa Museo Nefret trifft es genau: In jedem Raum sind Einrichtungsgegenstände aus dem Haus des Vaters zu sehen und Kunstwerke des Sohns. Unter den Einrichtungsgegenständen ein schwerer Schreibtisch mit dicken Folianten: Mosquera, Bolívar, Bauhaus. Und eine Nähmaschine der Marke Singer. Man sieht, dass der General ein wohlhabender und gebildeter Mann war.
Der Sohn hat, nach einer konventionellen Phase, das Aluminium für sich entdeckt. Was alles, was hier ausgestellt ist, ist hoch abstrakt und aus Aluminium gefertigt, ziemlich große Skulpturen, deren Titel oft verblüffen: Vigilante blanco. Da kann ich beim besten Willen in den zusammengeschweißten Aluminiumplatten keinen Aufpasser entdecken. Genauso wenig scheint Macchu Pichu was mit dem Inka-Heiligtum zu tun zu haben. Bei anderen ist es anders. Der Titel lässt einen die Skulpturen anders „lesen“: Sol rojo und Árbol blanco lassen sich identifizieren, und je länger man hinsieht, umso klarer wird es. Vor allem, die Skulpturen von verschiedenen Seiten anzusehen, lohnt sich. Man bekommt immer einen neuen Eindruck von der Sonne und von dem Mond. Noch besser funktioniert das bei „Los Andes“, unten schwarz, oben weiß. Die Berge „schließen“ sich zur einen Seite, man sieht nur eine einzige Gebirgswand, und sie „öffnen“ sich zur anderen Seite, dann sieht man jeden einzelnen Gipfel.
Dass Negret auch ganz anders konnte, sieht man an einigen Plakaten, die er für bestimmte Veranstaltungen entworfen hat, darunter eins für das Festival de Música Religiosa Semana Santa 1978. Die Kuppel einer Kirche und ein erhöhtes Kreuz treten schemenhaft aus dem Halbdunkel des Hintergrunds hervor.
In dem anderen Teil des Museums ist moderne lateinamerikanische Kunst ausgestellt, nicht ausschließlich, aber meistens abstrakt. Auch, wenn man sich als Laie da vielleicht schwer mit tut, man erkennt, wie die Künstler unsere Wirklichkeit auf die allerelementarsten Formen zurückgeführt haben, wie bei einem Pferd, das man sogar in Bewegung sieht, da Hals und Kopf, nur aus drei, vier Dreiecken bestehend, hintereinander versetzt zweimal erscheinen. Rumpf und Schwanz sind nur durch jeweils einen breiten, gebogenen Streifen dargestellt.
Am besten gefällt mir ein Gemälde, das gar nicht darstellt, aber mit optischen Perspektiven spielt. Es besteht aus ganz vielen, schmalen länglichen Streifen, immer drei Streifen mit den denselben drei Farben. Jeder dieser Dreierstreifen ist von den beiden benachbarten abgetrennt durch einen Papierstreifen, der senkrecht zum Bild verläuft. Wenn man direkt vor dem Bild steht, sieht man nur die drei Farben, wenn man nach links geht, wird das Bild immer einfarbiger Rot, aber oben intensiver als unten, und wenn man nach rechts geht, wird das Bild in gleicher Weise schwarz. Geradezu magisch!
Vom Museum ist es nur ein kurzer Weg zum Parque Caldas. Dort ist viel Betrieb, es dürften sich mehrere Hundert Personen über den Platz verteilen, aber es ist ganz still. Viele sitzen alleine auf den Parkbänken, viele sehen auf ihr Handy.
Ich kaufe wieder einen Becher Obst, diesmal die in schmale Streifen geschnittene Mango. Sieht aus wie von einer Maschine gefertigt, ist aber das Resultat der Fertigkeit der Frau an dem Stand, die die Mango mit einem großen Messer in Angriff nimmt.
Rund um den Park herum gibt es auch eine ganze Reihe von Fahrradständern. Radfahren ist hier in der Stadt sicher eher ein Abenteuer. Man sieht auch fast nur junge Männer auf den Rädern. E-Bikes habe ich bisher noch überhaupt nicht gesehen.
Auffällig im Zentrum sind auch die vielen gelben Taxis, meist Kleinwagen, meist japanische Fabrikate.
An zwei Gebäuden am Parque Caldas weht die kolumbianische Flagge. Die Farben – Blau, Gelb, Rot – sind dieselben wie auf den Flaggen von Venezuela und Ecuador, eine Erinnerung an die gemeinsame Zeit in einem Land, La Gran Colombia.
Auf dem Rückweg komme ich am Hotel Dann Monasterio vorbei, einem Hotel, das, wie der Name verrät, in einem ehemaligen Kloster untergebracht ist. Das muss ein großes und edles Kloster gewesen sein, der Größe des Vorhofs und der Schönheit der Anlage nach zu urteilen.
Ich mache eine kleine Pause in einem Café. Hier gibt es den Kaffee in einer richtigen Tasse, den Kuchen allerdings wie gewohnt auf einem Plastikteller.
In einem Regal liegt Schokolade der Marke Alpina. Das ist die südamerikanische Variante von Milka, mit denselben Farben und denselben Darstellungen einer alpinen Landschaft.
Kurz, nachdem ich zu Hause bin, setzt der Regen ein, und er hört gar nicht mehr auf. Als ich mich am frühen Abend mit den jungen Leuten am Parque Caldas treffe, bin ich bereits völlig durchnässt, trotz Regenjacke und Regenschirm. Das Wasser auf den engen Straßen fließt nicht ab, und die Autos spritzen in alle Richtungen. Und immer wieder tritt man in eine Pfütze, weil man die Augen woanders hat. Die Straßenverkäufer im Zentrum machen das Beste daraus und verkaufen Regenschirme.
Víctor kommt alleine, Norelis kommt mit Mutter und Tochter. Unsere kleine Wanderung fällt aus, zu gefährlich, bei dem Wetter den Hügel zu ersteigen.
Wir drängen uns, so gut es geht, durch die vielen entgegenkommenden Passanten auf den schmalen Bürgersteigen und kommen zu einem kleinen Lokal, im Obergeschoss, ganz hübsch eingerichtet. An der Wand eine Weltkarte, in die man eine Nadel einstecken kann, um seinen Heimatort zu markieren. Bei Europa ist kein Platz, es besteht nur aus Stecknadelköpfen.
Es gibt einen Becher mit Eis und gefrorenem Brombeersaft und Empanadas de pipián. Das sind die, mit denen die Frau aus San José damals den Neubau der Kirche finanziert hat. Ich erfahre, dass pipián keine bestimmte Frucht oder Ähnliches ist, sondern eine Soße, auf der Basis von Kürbiskernen. Die Empanadas sind ganz klein und werden in eine Erdnusssoße getunkt.
Ich erfahre, dass beide nicht aus Popayán stammen, sondern aus dem Norden Kolumbiens, aus der Nähe von Santander, nahe der venezolanischen Grenze. Víctors Freundin lebt noch da und kommt morgen zum ersten Mal nach Popayán. Er hat inzwischen eine Wohnung für beide gefunden. Norelis lebt mit Mutter und Tochter in einem Dreimädelhaus. Bis vor kurzem war auch noch die Oma dabei.
Das Mädchen hat schöne, lange Zöpfe und trägt schon allen möglichen femininen Schmuck. Sie ist sechs Jahre alt. Es dauert etwas, bis sie ihre Schüchternheit überwindet, aber dann taut sie auf und stellt mir Fragen. Es gibt ein Missverständnis, als ich sie frage, ob sie schon zur Schule gehe. Ich sage escuela, das versteht sie nicht, hier sagt man colegio, auch zur Grundschule.
Ob ihre Arbeit eher technischer oder eher kommerzieller Art sei, will ich wissen. Beides! Sie beraten Kunden, die bei ihnen den Strom beziehen, meistens für Solaranlagen.
Freitags wird nur halbtags gearbeitet, und am Montag ist ein nationaler Feiertag. Die Unabhängigkeit Cartagenas wird gefeiert. Es steht also ein langes Wochenende bevor.
Ich gebe ihnen meine Visitenkarte, und das löst großes Erstaunen aus. Ob das normal sei in Europa, ob man dort so etwas habe, wollen sie wissen.
Nach dem Abschied muss ich dann noch mal durch den Regen nach Hause. Die Aussichten für die nächsten Tage sind auch nicht gerade rosig.