10. November (Montag)
Popayán – eine unbekannte Stadt in einem bekannten Land. Soweit südlich bin ich in Kolumbien bisher noch nicht gekommen.
Ankunft mit einem Tag Verspätung, nach einer Reise mit Hindernissen. Wenn die Planung schiefgeht, stellt sich alles – andere Uhrzeit, anderer Stecker, andere Währung, neue Umgebung – komplizierter dar als sonst.
Am Ende komme ich an, müde, schmutzig, aber zufrieden. Der Vermieter nimmt mich, anders als angenommen, persönlich in Empfang und erspart mir das komplizierte Procedere, das nötig ist, um alleine hineinzufinden.
Das kleine Apartment hat alles, was man braucht, sogar eine Waschmaschine. Die wird sofort in Gang gesetzt. Dann geht es, geduscht und rasiert, gleich ins Zentrum, die Carrera 11 entlang, bis zur Calle 5, die direkt ins Zentrum führt. Die Stadt ist schachbrettartig angelegt. Die carreras verlaufen von Nord nach Süd, die calles durchschneiden sie und verlaufen von Ost nach West.
Popayán ist größer als ich dachte – 250.000 Einwohner – und eine sehr geschäftige Stadt, wie ich schon im Taxi auf dem Weg zur Unterkunft feststellen konnte. Aufpassen muss man vor allem wegen der kleinen, wendigen Motorräder. Die sind unberechenbar und stoßen in jede Lücke, die sich ihnen bietet.
Noch auf der Carrera 11 komme ich an einem kleinen Café vorbei, ganz einfach, eine indigene Frau hinter der Theke, kein Gast da. Ich bestelle einen Kaffee und ein Teilchen, und als die Frau mir den Namen sagt, fällt es mir wieder ein: chicharrón. Ein gefülltes Plunderteilchen. Seinen Namen – Speckschwarte – verdankt es nur seinem Aussehen. Daneben rundliche Teilchen, die peras heißen, obwohl man höchstens auf den zweiten Blick mit viel Mühe erkennen kann, dass sie wie Birnen aussehen. Die gibt es mit Kokos und mit Erdnuss.
Etwas weiter die Straße runter sehe ich, wie ein junger Mann in einem Frisörsalon den Boden fegt, und da gerade kein anderer Kunde da ist, nutze ich die Gelegenheit und lasse mir die Haare schneiden. Vorher muss ich nach dem Preis fragen, denn ich habe nur einen Notvorrat an Pesos. Haut aber hin.
Der junge Mann stammt aus Pasto, 8 Stunden von hier entfernt, mit dem Bus vermutlich. Da müsse ich unbedingt mal hin. Erinnert mich an ein Gespräch im Flugzeug, mit meinem Sitznachbarn, Nelson. Der kommt aus La Guajira, im Norden des Landes. Da müsse ich unbedingt hin.
Der Frisör macht seine Sache gut, fast so gut wie damals sein Kollege in Medellín. Zum Schluss kommt auch noch die in der Mitte geteilte Rasierklinge zum Einsatz, mit der die letzten feinen Härchen entfernt werden. Den Wunsch, das Haar nicht ganz so kurz zu schneiden, ignoriert er aber völlig, wie alle Frisöre.
Er fragt, was ein Haarschnitt in Deutschland koste. Ich sage ihm einen ungefähren, nach unten korrigierten Preis. Dann würden die Frisöre in Deutschland ja gut verdienen meint er. Da muss ich schnell noch hinzufügen, dass nicht nur die Löhne, sondern auch die Preise höher sind. Daran hat er noch nicht gedacht.
Er ist mit seinen Eltern hierhergekommen, sein Vater hat hier eine Arbeitsstelle bekommen. Seine Verlobte ist aus Popayán. Sie hätten vorher eine Fernbeziehung gehabt, erklärt er. Die ganze Erzählung kommt mir etwas unstimmig vor. Er hat auch gesagt, Pasto liege im Norden des Landes, dabei liegt es im Süden, noch südlich von Popayán, und scheint auch nicht so weit entfernt zu sein, wie er sagt. Vielleicht weiß er das einfach nicht.
Als ich bezahlen will, stellt sich heraus, dass er nicht wechseln kann. Macht nichts, er werde eben in das Geschäft gegenüber gehen und wechseln. Das ist hier gang und gäbe, kommt bei uns kaum mal vor. Ich finde dann aber noch genug kleine Scheine, um zu bezahlen.
Sobald man in die Calle 5 abbiegt, verändert sich die Szenerie. Auf beiden Seiten niedrige Häuser aus der Kolonialzeit, alle weiß, und so viel Betrieb auf den Bürgersteigen, dass man immer wieder mal auf die Straße ausweichen muss.
An einem etwas größeren Gebäude, einem Teil der Stadtverwaltung, treffe ich zum ersten Mal auf ein Schild, das auf das Erdbeben von 1983 hinweist. Das hat die ganze Stadt betroffen, vor allem das historische Zentrum. Alles ist so gut wiederaufgebaut worden, dass man als normaler Besucher keine Spuren des Erdbebens mehr sieht.
Wie auch auf der Carrera 11, drängt sich hier ein Geschäft ans andere: Kleidungsgeschäfte, Kopierläden, Handygeschäfte, vor allem aber Lokale, alle klein und einfach. Vor mehreren Gebäuden Schlangen von Menschen, die hier irgendwelche Geldgeschäfte tätigen.
Dann kommt der Parque de Caldas, der zentrale Platz Popayáns, die Plaza Mayor sozusagen. Es vergeht kein Gespräch über Popayán, ohne dass der Name Parque de Caldas fällt.
Der Park im Zentrum ist auf allen Seiten umgeben von hohen, repräsentativen Kolonialhäusern. Die sind alle weiß. Ihnen verdankt die Stadt ihren Beinamen Ciudad Blanca.
Ich streife ein bisschen auf dem Platz herum und lasse die Atmosphäre auf mich wirken. Der angekündigte Regen ist ausgeblieben, und es ist schwül-warm. Meine Kleidung ist für kühles Regenwetter geeignet.
Ich gehe auf eine Gruppe von Polizisten zu und frage einen von ihnen nach der Oficina de Turismo. Großes Erstaunen. Er weiß damit wohl nichts anzufangen. Nein, so was gebe es hier nicht, meint er. Aber ich solle warten. Wir würden den Chef fragen. Der, anders uniformiert, ist gerade mit zwei Jugendlichen beschäftigt. Als er fertig ist, leitet der andere meine Frage an ihn weiter. Nein, so etwas gebe es nicht. Was ich denn da wolle, will er wissen. Meine Antwort befriedigt ihn nicht. Was ich wissen wolle, könne er mir auch sagen. Dies sei die Ciudad Blanca, und die Museen seien ab 8 Uhr geöffnet. Ich will mich resigniert abwenden, als er sagt, da hinten, in der Cámara de Comercio, da könne man mal nachfragen. Der ganze Tross setzt sich in Bewegung. Der Chef geht rein, kommt raus. Ergebnis: Ja, das sei die Oficina de Turismo. Man sieht ihm seine Überraschung an.
Drinnen eine sehr freundliche Frau, die mir alle sagt, was ich wissen will und auch einen Stadtplan für mich hat. Montags seien die Museen geschlossen, die anderen Öffnungszeiten stünden hier. Die meisten haben eine Mittagspause.
Popayán, erklärt sie, sei gleich zweimal auf der Liste der UNESCO der immateriellen Kulturgüter vertreten, mit seiner Gastronomiemesse im Herbst und mit der Osterprozession, der Prozession in der Semana Santa.
Für einen Ausflug empfiehlt sie Silvia, einen Ort in der Sierra, wo es dienstags einen indigenen Markt gebe. Den hatten schon der Vermieter und der Frisör erwähnt. Einfach zu Busbahnhof gehen und dort in einen der regelmäßig fahrenden Busse einsteigen. Der Markt kommt für morgen auf die Agenda.
Der Markt in Silvia, erklärt sie mir, sei chevere, und verwendet dabei das kolumbianische Wort überhaupt. Auch verwendet sie acaso für quizás, ein Wort, das man in Spanien nicht hört.
Ja, natürlich gebe es Wechselstuben, sagt sie. Der Vermieter und die Polizisten wussten von denen nicht. Etwas weiter die Straße runter, in einer kleinen Ladenstraße, da gebe es eine Casa de Cambio. Ich entdecke später sogar eine direkt neben der Kathedrale.
Ich frage mich nach der von dem Mädchen aus der Touristeninformation genannten Wechselstube durch. Finde sie ohne Probleme, in einem etwas dunklen Gang, hinter einer Ecke verborgen.
Der Mann hinter dem Schalter mit der Panzerglasscheibe informiert mich, untersucht eingehend meine beiden Hundertdollarscheine, fragt nach meinem Pass und füllt ein kompliziertes Formular aus. Der Raum hinter ihm ist nüchtern, etwas düster, mit zwei, drei kleinen grauen Geldschränken. Die einzige Verzierung ist ein großes Poster von New York.
Dann bekomme ich die Abrechnung und das Geld: 756.000 Pesos für 200 Dollar. Der Kurs ist 3,780. Schwer zu rechnen, ich werde der Einfachheit auf 4 aufrunden. Und weniger als beim letzten Mal, der Peso muss wohl gestiegen sein.
Trotzdem halten sich die Kosten in Grenzen. Beim Frisör habe ich 20.000 bezahlt, beim Taxi 8.000, jeweils Trinkgeld inbegriffen.
Ich gehe auf den Platz zurück und sehe mich etwas um. Straßenverkäufer zuhauf, sowohl im Park als auch am Rande des Platzes. Es gibt viel Kitsch zu kaufen, auch Süßes und Telefongespräche. Dort wird einem gegen die entsprechende Bezahlung das Telefon des anderen überlassen.
Ein Mädchen verkauft Obst, zwei Sorten, beide proportioniert, in Plastikbechern. Ich muss fragen, was das ist. Die erste Sorte, das seien ciruelas, sagt sie. Sehen nicht wie Pflaumen aus. Ob die gewaschen seien, frage ich. Nein, aber sie könne sie für mich waschen. Sie füllt den Inhalt des Bechers in eine Plastiktüte, schüttet Wasser aus einer Wasserflasche rein, rüttelt das Ganze ordentlich durch und schüttet das Wasser aus. Die Pflaumen wandern dann wieder in den Plastikbecher.
Das andere, erfahre ich, seien madroños. Die Früchte habe ich noch nie gesehen, die Bäume mal im Süden Portugals. Am besten kenne ich den aus Madrid, als Baum, an den sich der Madrider Bär lehnt, auf der Puerta de Sol.
Die Pflaumen schmecken nicht nach Pflaumen und bestehen hauptsächlich aus Kern. Einige sind süß, die meisten etwas zu bitter. Kein Leckerbissen, aber die Freude, sie probiert zu haben, überwiegt.
Ich gehe kurz in die Kathedrale. Nichts Besonderes auf den ersten Blick, außer dem monumentalen Altarbild. Da sieht man Maria, nicht Jesus, auferstehen. In einem sich wallenden weißen Gewand fährt sie gen Himmel, nur der äußerste Zipfel des Gewandes berührt noch den Globus unter ihr.
Ich trete den Heimweg an. Auf der Carrera 11 reiht sich ein Lokal ans andere, alle einfach und klein.
Gleich gegenüber der Unterkunft gibt es einen kleinen Laden, auf den der Vermieter mich aufmerksam gemacht hat. Es ist aber kein Laden, wie ich ihn mir vorgestellt habe, sondern eine Art Kiosk, mit schweren schwarzen Gittern verschlossen. Man gibt seine Bestellung durch das Gitter auf. Ich bestelle Wasser, Bier, Erdnüsse und Kekse. Es gibt ein paar sprachliche Hindernisse, aber das macht nichts. Die salchichón, die ich bekomme, ist keine Salami oder ähnliches, sondern eine Art Mortadella, in einer Pelle serviert, so wie bei uns die Leberwurst. Und das bocadillo, das ich bestelle, erweist sich als ein kleines, trockenes Stück Brot, das nach nichts schmeckt. Als ich die Erdnüsse bestelle, liegt mir schon cacahuetes auf der Zunge, erinnere mich dann aber, dass die hier maní heißen.
Die Frau ist sehr freundlich, fragt, wo ich wohne und sagt mir, ich solle auf mich aufpassen. Wie sie das meine? Ja, ich solle auf meine Wertsachen aufpassen, mich nicht beklauen lassen. Immer wieder eine schöne Erfahrung, wie in Ländern, die als gefährlich gelten, die meisten äußerst freundlich und geradezu besorgt sind.
11. November (Dienstag)
Am Morgen gehen mir einige Szenen der letzten Tage durch den Kopf. Dieser Tage im Flugzeug habe ich begonnen, Pygmalion zu lesen, den ersten Akt. Gleich in den ersten Szenen haben die verschiedenen Akzente ihren Auftritt, die man in London hört. Dabei versucht der Autor, den Akzent des Blumenmädchens, aus der Londoner Unterklasse, schriftlich wiederzugeben, keine leichte Sache, auch für den Leser nicht. Nach ein paar Einsätzen des Blumenmädchens gibt er es auf, sie spricht von hier an weitgehend „normal“. Auf der Bühne geht das allerdings nicht. Da muss man eine Schauspielerin haben, die den Cockney-Akzent auch weiterhin zum Besten gibt. Bei Übersetzungen stellt sich die Frage, wo man das Stück spielen lässt, welchen Akzent man Eliza, dem Blumenmädchen, verpasst. Zum Beispiel im Deutschland: Berlinerisch? Hessisch? Sächsisch? Und wie ist es in der Schweiz oder in Österreich? Heute könnte man natürlich auch eine Einwanderin nehmen, deren ausländischer Akzent in Standarddeutsch verwandelt und dadurch hoffähig wird.
Nelson, mein Sitznachbar auf dem Flug nach Popayán, hat mich gefragt, was man denn in Europa von Gustavo Petro halte, dem neuen kolumbianischen Präsidenten. Kleinlaut muss ich zugeben, dass man von dem gar nichts weiß. Scheint ein ganz bemerkenswerter Mann zu sein. Er will einiges verändern, will die Privatisierungen der letzten Jahrzehnte rückgängig machen und bietet den USA die Stirn. Er weigert sich, die Kokapflanzen mit Pestiziden auszumerzen, das würde nicht nur die Kokapflanzen, sondern auch alles andere, den ganzen kolumbianischen Urwald, treffen. Und er bezichtigt die USA der Doppelmoral: den Handel mit Kokain unterbinden und immer neue Schürfrechte auf Kohle und Erdölvorhaben in Kolumbien fordern.
Bei der Fahrt zum Flughafen ist mir aufgefallen, dass alle Autos, die irgendeine öffentliche Funktion haben, darunter auch die Taxis, an den Seitentüren große, von Weitem erkennbare Aufdrucke ihrer Kennzeichen haben, so wie ich das damals in Medellín bei den Lederjacken der Motorradfahrer gesehen habe. Unter dem Kennzeichen steht dann in kleineren Lettern der Zulassungsort. Darunter befindet sich auch Madrid, eine Gemeinde in Cundinamarca, in der Metropolregion Bogotá.
Am Flughafen selbst habe ich einen Imbissstand mit dem Namen Pa‘ llevar und einen mit dem Namen oma gesehen. Und auf den Bänden bei der Sicherheitskontrolle das Konterfei von Shakira.
In einer Buchhandlung am Flughafen stehen im Schaufenster Hitler und Dante Seite an Seite, Mi Lucha neben La Comedia Divina.
Am meisten in Erinnerung geblieben ist mir aber die Begegnung mit drei reizenden jungen Kolumbianern, Víctor, Norelis und Amanda bei dem Abendessen an dem unfreiwilligen zusätzlichen Tag in Bogotá. Sie sind alle Elektrotechniker, haben offensichtlich anspruchsvolle Berufe. Ja, das Leben in Kolumbien sei sehr angenehm, meinen sie, die Leute seien freundlich und es gehe wohl gelassener zu als in Europa. Aber das gelte nur für die Freizeit und vielleicht für das Privatleben. Bei der Arbeit herrsche Stress vor.
Ich dachte erst, dass Víctor und Norelis ein Paar wären, aber sie sind nur Arbeitskollegen. Víctor ist verheiratet, Norelis ist alleinerziehende Mutter. Das ist auch in Kolumbien kein Zuckerschlecken. Víctor verrät uns – ein ungewöhnlicher Vertrauensbeweis – dass er im Mai sei erstes Kind erwartet. Die Nachricht muss noch ganz frisch sein.
Norelis nennt sich Angie, weil ihr Name ihr nicht gefällt. Mir gefällt er, aber meine Versuche, rauszubekommen, woher er kommt, bleiben erfolglos. Es scheint wirklich ein Name zu sein, den irgendwer irgendwann erfunden hat. Das kommt selten vor. Shakespeares Jessica ist ein weiteres, seltenes Beispiel.
Irgendwann in Europa zu arbeiten, oder auch nur dorthin zu reisen, das wäre ein Traum für sie. Völlig verblüfft sind sie, als sie hören, dass man bei uns über die Grenze zu einem anderen Land fahren kann, ohne dass es eine Grenzkontrolle gibt. Das ist ja wirklich alles andere als selbstverständlich.
Als ich vom Sommer in Europa spreche, wissen sie nicht, wann das ist. So etwas haben sie hier nicht, nur Trocken-und Regenzeit.
Am Ende verabreden wir uns für Freitag. Da wollen wir in Popayán gemeinsam einen Spaziergang machen, den Morro de Tolcán hinauf.
Heute geht es nach Silvia. Popayán liegt auf 1.760 Metern Höhe. Hierher flüchteten sich die frühen Siedler aus der Schwüle des Cauca-Tals. Silvia liegt auf 2.520 Metern Höhe, wird also noch mehr Frische bieten.
Als ich die Wohnungstür abschieße, drehe ich den Schlüssel intuitiv nach rechts. Falsch. Hier wird nach links abgeschlossen.
Auf dem Weg zum Busbahnhof mache ich wieder Halt bei dem kleinen Café von gestern. Diesmal probiere ich eine von den Kugeln, die pera heißen. Zu süß und zu mächtig, aber der Hunger ist gestillt.
An einem improvisierten Grill am Straßenrand stehen auch jetzt am Morgen die Leute schon Schlange, genauso wie gestern später am Tag. Hier gibt es wohl so etwas wie gefüllte Fleischtaschen. Muss man mal probieren.
In einem kleinen, etwas erhöht liegenden Park am Rande der Straße lenkt eine Gymnastikgruppe meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie bewegen sich zu Musik, einige schnell, andere langsam. Der Vorturner ist ein Mann, unter den anderen entdecke ich erst ganz am Schluss einen Mann. Alle anderen sind Frauen.
Das Wetter ist wider Erwarten gut, wieder regnet es nicht, und die Sonne scheint und es ist warm.
Mir kommen unzählige Motorräder entgegen. Meistens tragen die Fahrer einen Helm, die Beifahrer nicht. Gelegentlich ist es auch umgekehrt. Zwischen beiden sitzt manchmal noch ein Kind. An einer Kreuzung, an der ich an der Ampel warte, zähle ich 24 Motorräder bei 3 Autos. Später sehe ich auch noch motorisierte Tuk-Tuks. Einer ist so schwer beladen, dass er sich die Straße nur ganz mühsam hinaufquälen kann.
Immer wieder sieht man Männer und Frauen, mit Mundschutz und einer Uniform wie die von Wildhütern, die die Wege fegen. Die Bäume verlieren Blätter, und das macht sich auf dem Boden auch bemerkbar, aber sie werfen nie das ganze Laub ab. Was verloren geht, wächst auch wieder nach.
Dann komme ich an einem Haus vorbei, in dem sich das Centro Homeopático de Cuba befindet. Das Schild hat die kubanischen Farben Blau-Weiß-Rot.
Dann kommt eine Stiftung, Fundación Forensis, deren Zweck mir nicht ganz klar wird. Jedenfalls geht es um den Einsatz für eine bessere Zukunft. An der Fassade ein Herz, das aus vielen verschiedenen Handabdrücken gemacht ist, in allen möglichen Farben.
Es geht über einen Fluss, der richtig schön sein könnte, wenn er nicht als Müllhalde benutzt würde.
Dann sehe ich ein Hinweisschild auf ein historisches Gebäude, wie ich sie am Parque Caldas gesehen habe. Nur gibt es kein Gebäude. Was ist los? Die Erklärung: Das Gebäude ist beim Erdbeben von 1983 völlig zerstört worden. Es war damals eine Polizeistation, war aber bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Casa de la Moneda gewesen, seit 1729, ein Zeichen der Bedeutung und des Reichtums von Popayán. Hier wurden die Metalle aus den Minen von Cauca, vor allem das Gold, gewogen und geschmolzen und zu Münzen verarbeitet, die dann nach Spanien verschickt wurden.
An einer Tankstelle, an der eine Säule gesperrt ist, lerne ich ein neues Wort. Auf dem Schild steht Isla Fuera de Servicio.
Hier überquere ich die vielbefahrene Straße auf Anraten einer freundlichen Frau über die Fußgängerbrücke. Und komme zum Busbahnhof. Später sehe ich auf einer Karte, dass der Flughafen gleich nebenan ist.
Am Busbahnhof ist ordentlich Betrieb, Verkaufsstände auf der einen, Fahrkartenschalter auf der anderen Seite, einer neben dem anderen. Die Angestellten hinter den Schaltern preisen ihre Fahrziele laut und emphatisch an und versuchen, sich gegenseitig zu übertreffen: Cali-Cali-Cali-Caaaali.
Ich suche den Schalter für die Fahrkarte nach Silvia. Bitte um eine Karte, bezahle und bekomme das Wechselgeld. Dann sagt die Frau: „Und Ihr Ausweis?“ Ausweis? Was für ein Ausweis? Ein Ausweis um eine blöde Busfahrkarte zu kaufen. Ja, so seien die Regeln.
Kopfschüttelnd wende ich mich ab, schnappe mir ein Taxi, bitte den Fahrer, zu warten, hole meinen Ausweis, und zurück geht’s zum Busbahnhof.
Ich versuche, von dem Fahrer eine Erklärung für etwas zu bekommen, was mir schon in Bogotà aufgefallen ist. Einige Autos haben Aufkleber, auf denen steht: ¿Cómo conduzco? Und darunter eine Telefonnummer, die man anrufen und bei der man den Fahrstil des Fahrers kommentieren kann. Er kann mit der Frage nichts anfangen, meint ausweichend, so was hätten nur große Autos. Ich habe das aber auch auf Taxis gesehen. Vielleicht steht es sogar auf seinem. Dann kommen wir wieder am Busbahnhof an.
Die Frau hinter dem Schalter sieht sich meinen Ausweis gründlich an, notiert Namen, Nummer, Ausstelldatum und macht ein Photo des Ausweises, von beiden Seiten. So, kann ich jetzt meine Fahrkarte bekommen? Nein, ich muss ihr auch noch die Adresse der Wohnung nennen, wo ich untergekommen bin.
Dann bekomme ich endlich meine Fahrkarte. Um auf den Bussteig zu kommen, muss man noch durch eine Kontrolle.
Dort steht eine Unmenge von Bussen und Transportern, alle weiß, aber es tut sich nichts. Man sieht keinen Bus abfahren oder auch nur, dass irgendwo Bewegung in die Sache kommt. Auf den Bänken warten die Passagiere geduldig. Ein kleines Mädchen, noch auf unsicheren Beinen, kommt auf mich zu gewackelt und nimmt mir Notizblock und Kuli aus der Hand. Sie betrachtet beide mit intensiver Aufmerksamkeit, so wie sie nur Kindern gegeben ist.
Es tut sich noch nichts, und eher aus Langeweile als aus Hunger kaufe ich an einem Stand einen Dedo de queso. Er hat seinen Namen verdient. Hat die Form eines Fingers und ist mit Käse gefüllt.
Dann geht es endlich los. Der Bus scheint bis auf den letzten Platz gefüllt, aber zwischendurch hält der Fahrer noch zweimal mitten auf dem Weg und nimmt zwei weitere Passagiere auf. Die kommen auf die Klappsitze.
Die Fahrt durch die Außenbezirke von Popayán ist schleppend, es ist viel Verkehr und wir stehen ständig vor roten Ampeln. Aber dann kommen wir auf eine gut ausgebaute Straße, und es geht zügig voran. Bis die Straße wieder einspurig wird. Jetzt hängen wir hinter Lastwagen, die sich nur im Schneckentempo die Straße hinaufbewegen. Dann kommen wir an eine Baustelle. Dann an noch eine. Dann an noch eine. Immer wieder kommen wir ganz zum Stillstand. Immer wieder muss der Fahrer den Motor ausschalten. Von den Baustellen steigen Staub und Ruß. Ich bin müde und gelangweilt und beneide die Fahrgäste, die tief und fest schlafen.
Irgendwann geht es wieder weiter. Die Szenerie verändert sich, es wird grün, einsam und gebirgig. In engen Kurven geht es ständig bergauf. Der Fahrer drückt auf die Tube, ignoriert die Geschwindigkeitsbegrenzungen und schreibt Nachrichten in sein Handy. Die Seitenstreifen sind nicht befestigt, und manchmal knarrt es beträchtlich.
Dann kommen wir in einen Ort, und einige steigen aus, aber es ist immer noch nicht Silvia.
Dort sind wir endlich da. Für die 59 Kilometer haben wir 2 Stunden gebraucht. Und ich hatte in meinem Wahnsinn vor, einen „Tagesausflug“ nach San Agustín zu machen. Das ist 136 Kilometer entfernt. Und die Straße soll noch schlechter sein.
Sofort ist man mitten in dem lauten, farbenfrohen turbulenten Treiben auf dem zentralen Platz der Stadt. Die Atmosphäre ist aber, trotz der vielen Indios in ihren traditionellen Kleidern, eher städtisch als ländlich. An dem Platz gibt es Gyros und Handys, und in der Mitte des Platzes findet eine Lotterie statt, bei der man ein Motorrad gewinnen kann.
Ein echter Blickfang ist die Kirche an dem erhöhten Ende des Platzes, San Antonio de Padua. Sie ist ganz in Weiß gehalten, aber die Friese, eine Balustrade, die Fenstereinfassungen und einige Flächen sind in Rot davon abgesetzt. Die beiden doppelstöckigen Türme haben bunte Fenster, und zwischen ihnen, ganz oben, über dem Eingang, breitet ein Christus, ganz in Weiß, seine Arme aus.
Auch innen ist die Kirche ganz besonders, nicht wegen der kitschigen Ausstattung, sondern wegen der Konstruktion des Innenraums. Das Mittelschiff verkürzt sich zum Altar hin, und die beiden Seitenschiffe laufen diagonal auf den Altar zu. Daher ergeben sich aus verschiedenen Blickwinkeln immer neue Perspektiven, so etwas wie die Mezquita de Córdoba im Kleinformat.
Ich würde gerne eine Kerze anzünden, aber das geht nicht. Man kann keine Kerzen kaufen, man muss sie mitbringen.
Vor der Kirche gelingt mir ein Schnappschuss von einem kleinen Jungen, der auf dem Boden vor der Kirche sitzt und, voller Konzentration, einen Becher auslöffelt.
Um den ganzen Platz herum sieht man alte, bunt bemalte Busse mit großer Schnauze für den Motor und Gittern statt Fenstern und einem Dachgepäckträger. Mit diesen Bussen werden Waren und Besucher gleichzeitig nach Silvia zum Markt transportiert.
Überall werden Dinge geschleppt, in Tüten, in Säcken, in Taschen, in der Hand, unterm Arm, auf der Schulter. Für größere Gewichte stehen Jungs mit Lastkarren bereit.
Es gibt nicht nur das, was von den Bauern der Gegend produziert wurde, sondern alles, was das Herz begehrt, an unzähligen Ständen innerhalb und außerhalb des Marktes, von Sägen bis zum Klopapier, von Babyschuhen bis zu Steckdosen.
Überall, wo ich nachfrage, bekomme ich freundlich Antwort. Eine junge Frau an einem Stand hält mir die Flasche mit Speiseöl in die Kamera, nach der ich gefragt habe. Auf dem Etikett steht El Fritón. Nie gehört. Aber später kommen mir Zweifel. Das scheint die Marke zu sein, ich wollte wissen, was für ein Öl das ist.
Auch sehr auskunftsfreudig sind die Verkäufer – meist Männer – die ihre Ware in offenen Säcken anbieten. Den Mais gibt es gleich in drei Versionen: ungeschält, geschält, gemahlen. Daneben Reis. Die Verkäufer nehmen eine Handvoll aus dem Sack und lassen alles langsam wieder in den Sack rieseln.
Für uns besonders interessant sind die Kartoffeln. Nur wenige von ihnen sehen aus wie unsere Kartoffeln, und die haben eine dunklere Farbe. Daneben alle möglichen anderen Arten: rötlich, klein, rund, und andere Knollenfrüchte. Da merkt man, dass man in Amerika ist, der Heimat der Kartoffel.
Auch die anderen bäuerlichen Produkte, vor allem Obst und Gemüse, lenken die Aufmerksamkeit auf sich, teils schon durch ihre Größe, wie bei den Möhren und den Strauchtomaten.
Alles ergibt ein farbenfrohes Bild, vor allem beim Obst. Es gibt Mango und Papaya, Kiwi und Drachenfrucht (pitahaya), Aubergine und Passionsfrucht (maracuyá), Brombeeren und Erdbeeren, Avocado und Kochbananen und eine orangenfarbige Frucht, von der ich erfahre, dass sie lulo heißt, und wieder andere, deren Namen ich schon wieder vergessen habe, als ich sie gerade gehört habe.
Ich nehme Erdbeeren mit. Die haben einen intensiven Geschmack und vor allem eine ganz feste Konsistenz.
Dann mache ich mich noch auf die Suche nach Käse, im Reiseführer empfohlen. Aber als ich ihn sehe, will ich fast wieder den Rückwärtsgang einlegen. Es ist kein Hartkäse, sondern der überall in Kolumbien anzutreffende, geschmacklose Weichkäse. Ich kaufe ihn aber der Indio-Frau zuliebe.
Tatsächlich fragen muss ich nach dem Wort für die bräunlichen, quaderförmigen Klumpen, die hier überall aufeinandergestapelt angeboten werden. Das ist – natürlich – panela, der Zucker aus Zuckerrohr, unraffiniert, der überall in Südamerika zum Süßen verwendet wird. Wie oft habe ich den schon probiert!
Am Ende sehe ich mich noch bei den Handarbeiten der Indio-Frauen um. Ich habe mehr Gehäkeltes erwartet, aber meist handelt es sich um Halsketten und Armbänder aus kleinen Perlen. Auch die gibt es in allen Formen und Farben.
Heimlich beobachte ich während der ganzen Zeit die traditionelle Kleidung der Indios, und verstohlen und unbemerkt mache ich aus der Distanz auch das eine oder andere Photo. Die klassische Kombination ist Schwarz und Violett, Schwarz beim Rock (den Männer und Frauen tragen), Violett beim Poncho. Das Violett wiederholt sich dann in feinen Streifen im Rock.
Alle tragen Hüte, Männer wie Frauen, genau die europäisch aussehenden, schwarzen Hüte, wie man sie aus Bolivien kennt. Nur die jungen Frauen, vermutlich die unverheirateten Frauen, tragen andere Hüte, kleinere, flachere, und sie tragen sie nicht auf dem Kopf, sondern auf der Schulter.
Alle tragen auch eine gehäkelte Umhängetasche. Bei denen, die etwas verkaufen, ist die gleichzeitig das Portemonnaie. Die Geldscheine sind lose darin.
Ich will mich noch etwas in der Gegend umsehen und mache mich auf den Weg zum Lago Chimán. Es geht aus dem Ort hinaus über eine Treppe, deren Stufen so hoch sind, dass man praktisch klettern muss. Erst auf dem Rückweg sehe ich, dass die Treppenstufen alle bunt bemalt sind, mit Blumenmotiven.
Man überquert einen wunderbaren, rauschenden, unregelmäßig verlaufenden Bach voller dicker Steine. Am Wegesrand lauter Bäume, die etikettiert sind. Es handelt sich um Kiefern und Eukalyptusbäume und um eine Duftakazie, die guarango heißt. Am meisten vertreten ist ein Baum, der galvís heißt. Alle haben, was die Stämme betrifft, eine gewissen Ähnlichkeit miteinander.
Der See ist ganz klein, viel kleiner als erwartet, eher ein Weiher. Als ich näher komme, habe ich ein Déjà-vu: Auf den beiden Bäumen einer kleinen Insel in dem See sitzen Hunderte von weißen Vögeln, vielleicht Reiher. Wo hab ich das schon mal gesehen?
Ganz oben, auf der Kuppe eines gegenüberliegenden Hügels, sieht man eine Kapelle, Belén, die kleine Schwester der Kirche im Zentrum.
Es geht zurück in den Ort. Dort finde ich an der Ecke des Platzes eine Bar, in der es Caucano gibt, den bekannten Schnaps des Ortes, einen Zuckerrohrschnaps mit Anisgeschmack. Jedenfalls soll es den geben, so steht es auf dem Plakat an der Tür zur Bar. Die Frau hinter dem Tresen fragt mich, was das sei. Das kenne sie nicht. Kopfschüttelnd verlasse ich das Lokal.
An der Abfahrtsstelle des Busses sagt man mir, erst in einer halben Stunde werde man die Fahrkarten verkaufen. Solange gehe ich in die Bar gegenüber und trinke einen Kaffee. Der Mann, der mich bedient, ist an Eifer kaum zu bremsen.
Als ich vor mich hin sinniere, sehe ich an der gegenüberliegenden Wand ein Schild, auf dem darum gebeten wird, kein Kaugummi unter die Tische zu kleben: No pegar chicles debajo de la mesa.
Bevor ich zahle, nutze ich noch schnell die Gelegenheit, das WC aufzusuchen. An der Tür steht: Sólo para orinar. Tatsächlich gibt es kein Klopapier. Dafür aber eine Dusche.
Dann gehe ich zurück zur Verkaufsstelle für die Fahrkarten nach Popayán. Ich zahle, bekomme mein Wechselgeld, bekomme die Fahrkarte und setze mich in den Bus. Kein Dokument, kein Formular, keine Photos, keine Adresse. Ich glaub, es hackt.
12. November (Mittwoch)
Wenn ich gestern geglaubt habe, der Rückweg werde glatter verlaufen, dann war das eine Illusion. Im Gegenteil, es wurde noch schlimmer. Diesmal muss wohl unterwegs irgendwo ein Unfall passiert sein. Wir stehen noch länger im Stau und erreichen Popayán erst nach 3 Stunden. Schnitt von 20 km/h.
Ich versuche mir, einzureden, dass es Schlimmeres gibt, aber die Langeweile, die kribbelnden Füße, die schwüle Luft und die Dudelei aus dem Lautsprecher sind doch ziemlich nervig.
Das ist aber noch nicht alles: Jetzt fängt es auch noch an, zu schütten. Auf einmal merke ich, dass mein Rucksack feucht geworden ist. Hat es reingeregnet? Nein, er ist nur unten feucht. Und meine Oberschenkel sind es auch. Es ist nicht der Regen, sondern der Käse. Der ist, trotz einer weiteren Plastiktüte um die Plastiktüte der Verkäuferin herum, ausgelaufen und hat alles in Mitleidenschaft gezogen, Reiseführer, Notizblock, Kugelschreiber, Buch, Broschüren. Ich hoffe, die Hose ist noch zu retten, der Rucksack dürfte hinüber sein.
Am Ende komme ich völlig durchnässt und todmüde zu Hause an. Derweil gibt es in der Heimat mitten im November das schönste Oktoberwetter.
Das einzig Gute an der langen Busfahrt: Ich habe Pygmalion zu Ende gelesen. Fazit: wenig überzeugend, nicht so gut, wie ich es in Erinnerung hatte von der letzten Lektüre, aus den Zeiten des Studiums. Die Charaktere sind nicht sehr glaubwürdig: Higgins ist unglaubwürdig in seiner Borniertheit, seine Mutter in ihrem grenzenlosen Verständnis für Eliza, deren Vater in seiner Widersprüchlichkeit zwischen Müllmann und Mann von Welt, Eliza in ihrer Verwandlung vom Blumenmädchen zur Lady, Freddy in seiner Hingabe für Eliza. Elizas Vater sagt am Ende immer noch Enry Iggins und them two, spricht aber von middle-class consciousness und von condescension. Passt nicht. Schlimmer ist aber, dass der Erziehungsprozess von Eliza weitgehend hinter der Bühne stattfindet. Nur die erste Lektion findet vor den Zuschauern statt, und die ist wie eine pädagogische Bankrotterklärung. Man verändert seine Aussprache nicht, indem man das Alphabet aufsagt. Man sieht, dass Shaw dezidierte Anschauungen über Sprache hatte, aber keine Ahnung vom Sprachenlernen, vermutlich nicht einmal von Sprache.
Was für ihn spricht ist der Schluss des Dramas. Er macht Higgins und Eliza nicht, wie das blöde Musical, zum Paar. Das entspricht romantischen Vorstellungen von Beziehungen, aber nicht der Wirklichkeit. Bei Shaw wird deutlich, trotz einer kurzen, aus dem Rahmen fallenden, beinahe zärtlichen Annäherung zwischen den beiden, dass sie nicht zusammenpassen, und dass Eliza für Higgins nichts als ein Experimentierfeld war.
Als das Stück uraufgeführt wurde – in verschiedenen Ländern eher als in England – verursachte es aber einen Skandal, der völlig von der Bedeutung des Stückes ablenkte. Es wurde vorher schon gemunkelt – ohne dass das Wort erwähnt geworden wäre – dass ein ungeheuerliches, sozial völlig inakzeptables Wort aus der schmutzigsten Sprachschicht auf der Bühne zu hören sein würde. Und so war es dann auch. Dieses Wort war bloody. Das erregt heute kein Schaudern mehr, keine Reaktion, auch in den „besten Kreisen“ nicht. In Fernsehen und Medien ist es mit größter Selbstverständlichkeit vertreten.
Heute gibt es angesichts der gestrigen Strapazen ein gemütliches Programm mit einem kleinen Spaziergang durch die Innenstadt. Ich nehme diesmal die Calle 4, und die bringt mich direkt zur Franziskanerkirche. Leider geschlossen. Mich hat vor allem die Nachricht von zwei mumifizierten Leichen von Franziskanermönchen angelockt, die im danebenliegenden ehemaligen Kloster im 16. Jahrhundert lebten. Die sind heute in der Kirche ausgestellt.
Der ursprüngliche Bau ist bei einem älteren Erdbeben völlig zerstört worden, und danach ist, im 18. Jahrhundert, dieser Bau entstanden. Er hat wenig von franziskanischer Bescheidenheit, hat eine stark dekorierte Fassade und einen noch später entstandenen, mächtigen Glockenturm. In den Nischen zwei Franziskanermönche, in Mönchskutte, mit Kordel und Rosenkranz, die, die gekreuzten Händen vor der Brust, etwas zu fromm gen Himmel gucken.
Die Calle 4 führt direkt auf den Parque Caldas. Im Zentrum die Figur des namensgebenden Mannes, der hier, in bester lateinamerikanischer Weise, zum „Märtyrer der Unabhängigkeit“ stilisiert wird. Er hat einen offenen Gehrock und Stiefel an. Zu seinen Füßen ein Globus und ein Gewehr, und in der Hand vermutlich Schreibutensilien. Er scheint zu den Intellektuellen unter den lateinamerikanischen Revolutionären zu gehören.
Neben der Kathedrale, in einem weiteren weißen Bau, der Uhrenturm. Die Uhr hat römische Ziffern und nur einen Zeiger. Gut für die, die es nicht ganz so genau mit der Zeit nehmen.
Die Gebäude um den Platz herum sind alle irgendwie anders, formen aber dennoch ein perfektes Ensemble. Sie beherbergen das Rathaus und die Handelskammer, ansonsten meistens Banken und auch einige Geschäfte, ein Bekleidungsgeschäft, ein Juweliergeschäft, an einer Ecke des Platzes auch ein paar erstaunlich normale Lokale. Es gibt keine Leuchtreklame, und die Beschriftungen an den Gebäuden sind aufs Notwendigste begrenzt und allesamt in vergoldeten Lettern angebracht.
Neben den Bäumen mit den glatten Stämmen des Parks auch einer mit einem ganz rauen, wie abgeblättert aussehender Stamm. Ein Hingucker. Wie immer in den Tropen sieht man wenige Blüten. Erst bei genauerem Hinsehen entdecke ich einen Baum mit rosa, einen mit gelben, einen mit weiß-violetten Blüten.
Auf dem autofreien Platz ist es geschäftig und dennoch ruhig. Man sitzt auf den Bänken im Park und außerhalb des Parks: Studenten, Mütter mit Kindern, Rentner, Krankenschwestern und zwei Touristen (mit mir drei). Vor allem aber Tauben, Tauben auf den Dächern, auf den Bäumen, auf dem Boden.
Um den Platz herum Eisverkäufer, Schuhputzer und eine Frau mit Gitarre, die allerdings predigt, statt zu singen.
Ich gehe die Calle 3 runter, an der mir, knapp abseits des Platzes gelegen, der Templo de Encarnación auffällt. Auch dieses Gebäude wurde Opfer des Erdbebens und ist nach dem Wiederaufbau zum Sitz des Colegio Técnico der Universität geworden.
An einer Straßenecke kaufe ich einen Becher Mango und esse ihn unterwegs. In der Calle 3, wie eine Fortsetzung der Plaza Caldas mit niedrigeren Gebäuden, scheint jedes zweite Haus historische Bedeutung zu haben.
Dann frage ich mich zum Puente del Humilladero durch, schon des Namens wegen. Dessen Ursprung ist nicht ganz geklärt, aber man vermutet, dass die Steigung, über die man vor dem Bau der Brücke in die Stadt gelangte, so steil war, dass man den Hang auf Knien raufrutschen musste, so dass man „gedemütigt“, „beschämt“ wurde.
Die Brücke überquert keinen Fluss, sondern einen Park. Abseits des Parks sieht man Häuser, die hier, nur ein paar Meter vom Vorzeigezentrum entfernt, erstaunlich einfach und ärmlich aussehen.
Die Brücke steht auf steinernen Pfeilern, hat eine steinerne Brüstung und Pflastersteine auf dem Gehweg, der ziemlich steil bergab führt.
Genau in der Mitte der Brücke sitzt eine Bettlerin. Ich biete ihr den Rest meines Mango-Bechers an, und sie nimmt gerne an.
Auf dem Rückweg frage ich eine Frau, auf welcher Carrera wir gerade sind. Die Orientierung, eigentlich leicht, wird erschwert, weil an vielen Straßenecken die Straßenschilder fehlen. Sie sagt mir Bescheid und empfiehlt mit Nachdruck, über den Parque Caldas zurückzugehen und nicht den Weg zu nehmen, den ich im Sinn hatte. Scheint ein unsicheres Viertel zu sein.
Nach einer Pause zu Hause gehe ich in das kleine Lokal ganz in der Nähe der Wohnung, das mir der Vermieter empfohlen hatte, El Caserito. Es liegt an einer Straßenecke, man hört den Verkehr, aber er stört nicht sonderlich. Der Raum hat keine Wände, sondern Gitter, man befindet sich also halb im Freien.
Es gibt etwa ein Dutzend kleine quadratische Tische, fast alle sind besetzt. Ich bekomme aber noch einen Platz.
Der Wirt sieht mich entsetzt an, als ich ein Bier bestelle. Nein, so etwas gebe es hier nicht. Stattdessen gibt es Brombeersaft, juguito de moro, wie an allen anderen Tischen auch.
Es gibt eine Brühe und dann ein Tellergericht mit Rippchen, Reis, kalter Pasta und einen Salat aus ganz klein gehackten Gürkchen und Möhrchen und Zwiebelchen.
Man zahlt an der Theke. Dort kassiert die Mutter der Familie ab, die anderen kochen und bedienen. Die Rechnung ist ein kleiner Zettel, auf der handschriftlich, unter der Tischnummer, der Betrag vermerkt ist: 13.000 Pesos.
Um den Alkoholpegel nicht allzu tief sinken zu lassen, kaufe ich dann noch in dem Lädchen von neulich zwei Dosen Bier. Dazu Kekse und ein Stück Kuchen. Kostenpunkt: 12.200 Pesos.
13. November (Donnerstag)
Der Tag fängt schlecht an, mit Regen und Wolken, klart aber bald auf. Schon an der Drogerie, ein Stückchen die Carrera 11 runter. Noch bevor sie mich fragt, was ich will, sagt die junge Frau hinter der Ladentheke: „¡Qué ojos más bonitos!“ Lohnt sich doch, so weit zu reisen.
Ich komme an der Kirche San José vorbei. Auch die ist ein Neubau nach dem Erdbeben von 1793. Der Neubau entstand dank einer frommen Frau aus der Gemeinde. Die finanzierte den Bau, indem sie ein ganzes Jahrzehnt lang ihre Empanadas de pipián, typische Teigtaschen aus der Region, verkaufte.
In einer Nische sieht man San José mit dem Jesuskind auf dem Arm, einem Motiv, dem man hier viel öfter begegnet als bei uns. Voller Zärtlichkeit berühren sich die Wangen von Vater und Sohn.
Heute fallen mir zum ersten Mal die schwarzen, gusseiseren Laternen auf, die an den Fassaden der weißen Häuser hängen. Ein schöner Kontrast.
Als ich zum Parque Caldas komme, höre ich Musik aus der Kathedrale kommen. Ich gehe hinein und werde Zeuge eines echten Spektakels. Die Kathedrale ist proppenvoll, in allen drei Schiffen sind die Bänke gut, wenn auch nicht bis auf den letzten Platz, besetzt.
Die Musik geht zu Ende, der Priester nimmt die Monstranz und bewegt sie, von Glöckchenklang begleitet, in alle Richtungen. Die Gläubigen heben beide Arme nach oben. Als der Priester fertig ist, gibt es tosenden Applaus.
Dann strömen alle nach vorne. In dichten Reihen steht man vor dem Altar, hebt Kerzen, Wasser und Rosenkränze in die Höhe. Das wird alles von dem Priester gesegnet.
Dann verlassen alle die Kirche. Fast jeder hat für die Bettler vor und hinter dem Ausgang eine Münze übrig.
Am Parque Caldas bemerke ich zum ersten Mal, dass das schöne neoklassische Gebäude das Edificio de la Gobernación de Cauca ist. Popayán gehört zum Departamento de Cauca, einer von mehr als 30 kolumbianischen Provinzen, und hier befindet sich so etwas wie die Bezirksregierung. Cauca liegt im Südwesten Kolumbiens, nur durch Nariño von Ecuador getrennt, mit Zugang zum Meer, zum Pazifik. Es sind nur gut 150 Kilometer von hier bis zur Küste, aber es gibt keine Straße, die von hier aus direkt dorthin führt.
Ich komme an eine Straßenecke, an der ein Schild mit einem „richtigen“ Straßennamen ist: Calle Santo Domingo. Die Kirche an dieser Ecke, die sofort die Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist also die Dominikanerkirche.
Innen sehr schön die dicken, verglasten Backsteine, aus denen die Pfeiler bestehen, und die schön, ebenfalls aus Backsteinen gefertigten Friese und Verzierungen in den Zwickeln.
Außen ebenso schön der der eigentlichen Fassade vorgeblendete Vorsatz, mit Hunderten von verzierten Steinen, über, neben und in dem Torbogen. Alle sind farblich ein bisschen anders, keiner hat eine figürliche Darstellung, lauter Formen, geometrische, florale, die eigentlich nichts Erkennbares darstellen. Bei den Farben herrschen Grau und Beige vor, und die kommen meist im Wechsel zum Einsatz. Einfach schön. Absolut passend dazu der Brunnen auf dem Vorplatz, aus den gleichen Materialien gefertigt.
Gegenüber befindet sich ein Café, das einen einlädt, hineinzukommen und ganz in Ruhe einen Kaffee zu genießen, langsam, so langsam, wie sich ein Behördengang im Rathaus hinzieht: Quiero tomarme un café contigo, tan lento que parezca trámite de la alcaldía. Da sage ich nicht nein.
Drinnen lauter Studenten, an ihren Laptops sitzend. Die Leute hinter der Theke sind blutjung, die Preise etwas erhöht.
Als ich am Ende nach dem Museo Mosquera frage, begleitet mich einer von ihnen nach draußen und zeigt mir den Weg.
Das Museo Mosquera, in einem Haus aus dem 18. Jahrhundert untergebracht, ist benannt nach Tomás Cipriano de Mosquera, einem Politiker, General und Historiker, der einen Rekord hält: Er war viermal Präsident Kolumbiens, so oft wie niemand sonst.
Wenn man genauer hinguckt, merkt man allerdings, dass er streng genommen Präsident von vier verschiedenen Einheiten war, von vier verschiedenen Staaten, wenn man so will, mit vier nicht zusammenhängenden Amtszeiten zwischen 1845 und 1867. Man braucht die Einzelheiten nicht zu verstehen, um einzusehen, wie viel damals in Bewegung war, zwischen der Zeit als Teil des spanischen Kolonialreichs und der Zeit der heutigen Republik Kolumbien.
Das Haus ist ein einstöckig, die Gebäudeteile gruppieren sich um einen schönen Innenhof herum. Im ersten Raum ist gleich hinter dem Eingang eine Urne in die Wand eingelassen. Darin ruht das Herz Mosqueras.
Sein Leben ist wirklich eine Achterbahnfahrt: Niederschlagung eines Handwerkeraufstands, Verbot der Jesuiten (die waren ihm politisch nicht geheuer), Verkauf von Kirchengütern zur Unterstützung der Armen, Exil in Peru, Putschversuch, Förderung der Tabakindustrie, Einführung der Dampfschifffahrt auf dem Río Magdalena, Konzession von Transitrechten über die Landenge von Panama an die USA (Panama gehörte noch zu Kolumbien).
In etwas verstaubten Vitrinen sind persönliche Gegenstände ausgestellt: ein Gürtel mit Schnalle für das Schwert, sehr weiblich aussehende bestickte Pantoffeln, ein Schnapsbecherchen mit Emblem, ein Stempel mit seinem Wappen, Medaillen und ein Stein der Weisen, eine piedra filosofal. Davon hatte ich bisher immer nur im übertragenden Sinne gehört, hier ist es ein echter, kleiner Stein, den man vermutlich mit sich trug.
Daneben Instrumente zur Himmelsbeobachtung: ein Fernglas, ein Teleskop, ein Astrolabium, alle groß und schwer, aus Eisen.
Dann Schreibwerkzeug und ein Kalender, an dem man mittels eines Drehknopfs Jahr, Monat und Tag einstellen konnte.
Im Salon sieht man, dass es sich um keinen Armen handelte: eine Obstschale aus Porzellan, eine Uhr mit einem trommelnden und einem trompetenden Engel obendrauf, ein sehr schöner, eleganter Sekretär mit Fächern und Schubladen, ein versilberter Spiegel und ein Schmuckkästchen mit Einlegearbeiten in Perlmutt (nácar) und Bronze.
Schwere Möbel überall und Gemälde aller Art, darunter ein Porträt von Bolívar, der zweimal hier zu Besuch war und Mosquera beim Unabhängigkeitskampf an seiner Seite sah.
Im Innenhof ist Bewegung, denn hier befindet sich auch eine Dependance der Universität, eine Verwaltungseinheit, wie es scheint. Ich bin der einzige Besucher des Museums.
Bevor ich rausgehe, fällt mir eine Photoausstellung im Innenhof ins Auge, Schwarz-Weiß-Photos, kleines Format, Alltagsszenen. Alle spielen sich auf der Straße ab, in gleißendem Sonnenlicht, mit Licht und Schatten, fast immer bildet eine Häuserwand den Hintergrund: Eine Nonne schreitet in eine Richtung, ihr entgegen kommt ein nicht mehr ganz junges Ehepaar in viel zu enger Kleidung, ein Obdachloser liegt schlafend auf einer Treppe, und über ihm an der Wand steht Todos merecemos un techo, ein Fußgänger mit Schirm und Spazierstock scheint nur ein Schatten zu sein, ein Passant schreitet im Gleichschritt mit Caldas auf dem Sockel über ihm. Sehr gut gemacht.
Gleich gegenüber befindet sich das Museo Ayerbe. Ich gehe rein, ohne zu wissen, worum es sich handelt. Hier werde ich von einer jungen Frau geführt.
Die Frau macht ihre Sache gut, aber es ist viel zu viel, was es in den sechs Räumen zu sehen gibt: Möbel, Waffen, Porzellan, Ikonen, Bronzen, Gemälde und Skulpturen und Figuren, die bei der Prozession der Semana Santa getragen werden. Darunter eine komplettes Abendmahl, mit lebensgroßen Figuren der elf Apostel (Judas Iskariot ist nicht vertreten), mit ihren Marterwerkzeugen oder Symbolen. Sie werden begleitet von einem Hund und einer Katze, Symbole für Gut und Böse, die zu Füßen des Tisches liegen und fast lebendig aussehen. Sie sind ausgestopft.
In Erinnerung geblieben ist mir ein Möbelstück, das Semanario heißt, eine Kommode mit sieben Schubladen, eine über der anderen. In jeder von ihnen bewahrte man die Kleidung für einen Tag der Woche auf, daher der Name Semanario.
Von den Skulpturen besonders beeindruckend eine, die das Gesicht eines Mannes mit schmerzverzerrtem Ausdruck und geöffnetem Mund darstellt. Der Kopf ist hinten hohl, die Schädeldecke bricht einfach ab. Diese Skulptur repräsentiert den Schrei.
Bei einer Uhr mit römischen Ziffern macht mich die Führerin auf die Vier aufmerksam: IIII. Das war die eigentliche, in Rom gebräuchliche Form. Die IV ist eine Erfindung der Renaissance.
Gar nicht erwartet man in diesem Kontext ein schönes, kleines Gemälde mit einer Szene aus einer holländischen Stadt, ein Szenerie, die man durch das schmale Haus im Hintergrund sofort als holländisch identifiziert.
Ein kleines schönes Salontischchen, an dem bestenfalls zwei Personen sitzen und Tee trinken können, erweist sich als umklappbar. Auf der anderen Seite ist die Oberfläche aus grünem Samt. Ein Spieltischchen.
Aus der indigenen Kunst eine ganz merkwürdige Darstellung von Josef und Maria in der Krippe. Die Figuren tragen beide eine königlich aussehende silberne Krone und haben bewegliche Gelenke, wie Puppen. Das Jesuskind ist, in indigener Art, so eingepackt wie eine ägyptische Mumie. Die Frau benutzt das Wort enchumbado, um diese Art des Wickelns zu bezeichnen.
Bei dem Silberservice in einer Vitrine fällt die Figur eines Löwen auf, eine Anspielung auf England. Es handelt sich nämlich nicht um Zierrat, sondern um eine Teekanne. Der Löwe hat an der Seite einen „Stöpsel“, den man entfernen kann, um den Tee einzuschenken.
Dann kommt eine Krone von besonderer Bedeutung für Popayán, die Corona de los Andes. Aus Angst vor der Pest, die sich in Kolumbien ausbreitete, wandten sich die Bewohner Popayáns an ihre Patronin, die Virgen de la Asunción (die ich auch in der Kathedrale gesehen habe). Sie blieben verschont und sammelten Geld, um diese Krone zu stiften. Die Krone verschwand dann irgendwann und tauchte später in einem Museum in Washington wieder auf. Dort ist sie immer noch, was wir sehen, ist eine Kopie.
Dann kommt ein Kästchen mit Indianerschmuck, ein Pektoral und ein Kopfschmuck aus Federn. Dessen Bedeutung verstehe ich erst gar nicht. Es sei ein Geschenk der Indios an die kolumbianische Armee gewesen. Wie das? Es sieht so aus, dass Kreolen und Indios sich zusammentaten, als die Gefahr von außen kam, und zwar von Peru. Das streckte seine Finger nach diesem Teil Kolumbiens aus, und zwar noch im 20. Jahrhundert! Davon wusste ich gar nichts. Die Peruaner wurden zurückgeschlagen. Dabei kamen auch Pfeile zum Einsatz. Einer von denen wird in diesem Kästchen aufbewahrt. Die Indios tränkten die Pfeilspitze in die Körperflüssigkeit einer Kröte, und die ist so giftig, dass man damit auch einen Elefanten zur Strecke bringen kann!
Als wir mit der Führung durch sind, fragt mich der Direktor des Museums, woher ich käme. Ich lasse ihn raten. Frankreich? – Nein, Nachbarland davon. – Portugal? – Nein, Deutschland. Dann stellt sich heraus, dass er Frankfurt, Bamberg und Rothenburg kennt. Und diese Universitätsstadt, wie heißt die noch. Heidelberg? – Ja, Heidelberg.
Beim Abschied frage ich die junge Frau nach dem Cerro de las Tres Cruces, aber sie rät mir davon ab, dort alleine hinzugehen. Mir bleibt ja für morgen der Morro de Tolcán, mit den jungen Kolumbianern.
Auf dem Rückweg komme ich am Theater vorbei, dem Guillermo Valencia. Habe ich bisher noch gar nicht gesehen. Es stammt vom Beginn des 20. Jahrhunderts und folgt dem Vorbild eines Pariser Theaters. Eingeweiht wurde es mit Il Trovatore. Leider kommt die Fassade wegen der schmalen Straße nicht richtig zur Geltung. Von Besichtigungen ist nirgendwo die Rede.
Ich bleibe an einem kleinen Laden stehen, vor dem auf einem Tischchen Gebäck angeboten wird. Ein Passant spricht mich an und erklärt, das seien rosquillas, die müsse ich unbedingt probieren. Er verwickelt mich in ein Gespräch, will wissen, welche Länder ich in Asien und in Afrika bereist hätte. Und ob ich von diesen Reisen noch Münzen übrig hätte. Er ist selbst Lehrer an einer Grundschule, unterrichtet unter anderem Geographie, und hat schon eine beträchtliche Sammlung von Münzen aus aller Herren Länder. Ich sage ihm, ich würde die Münzen ohne weiteres abgeben, aber nicht verschicken. Das sei zu aufwendig. Er hat aber eine deutsche Freundin, eine Ärztin namens Heike, die an der Schweizer Grenze wohnt. Ja, der könne ich die Münzen schicken, sage ich ihm. Und gebe ihm meine Mailadresse.
Dann fragt er noch nach meiner weiteren Reiseroute. In Ecuador solle ich vorsichtig sein, da seien viele Peruaner, und die hätten es auf die Handys der Touristen abgesehen. Und auf deren Geld. Ich verspreche ihm, vorsichtig zu sein, und kaufe ein paar rosquillas.
An der nächsten Ecke kaufe ich wieder einen Becher mit Obst. Diesmal nehme ich Ananas. Dann gehe ich noch in eine Bäckerei. Da nehme ich almojabanas mit. Das sind kleine Teigkugeln, mit Käse gefüllt. Sie sind noch warm.
14. November (Freitag)
Auf dem Weg in die Innenstadt komme ich an einer weiteren Straße mit einem „richtigen“ Namen vorbei: Calle de la Cárcel. Heute wird sich das Gefängnis sicher weiter außerhalb befinden.
Wenn man in die Innenstadt kommt, hat man ab und zu einen Blick in die schönen Innenhöfe, denn die Portale der Häuser stehen meistens offen. Auch die Türen der Geschäfte stehen offen.
Ohne es geplant zu haben, gehe ich in das Museo Negret, einfach, weil es gerade am Wegesrand liegt. Sieht geschlossen aus, aber hinter dem Gitter ist eine Klingel.
Der Eintritt ist gratis, aber wie überall muss man in eine Liste mit ganz schmalen Zeilen Name, Alter, Zweck des Besuchs, Email-Adresse und Datum eintragen. Keine Ahnung, was man mit diesen Daten anfängt.
Das Gebäude, in dem das Museum untergebracht ist, ist ein Zwilling derer von gestern, wieder eingeschossig, wieder um einen Innenhof herum. Der hier ist aber bei weitem nicht so schön wie die von gestern.
Das Haus stammt von 1781 und wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von einem Mann namens Negret erworben, einem Staatsmann und General. Dessen Sohn wurde zu einem international bekannten Künstler, mit allen möglichen Auszeichnungen.
Die Bezeichnung Casa Museo Nefret trifft es genau: In jedem Raum sind Einrichtungsgegenstände aus dem Haus des Vaters zu sehen und Kunstwerke des Sohns. Unter den Einrichtungsgegenständen ein schwerer Schreibtisch: ein Globus, eine Spielzeugkanone, ein Riechglas, zwei Figuren, ein Torso und ein Mann, der entschieden voranschreitet. Davor dicke Folianten: Mosquera, Bolívar, Bauhaus. Und eine Nähmaschine der Marke Singer. Die er vermutlich nicht selbst bediente. Man sieht, dass der General ein wohlhabender und gebildeter Mann war.
Der Sohn hat, nach einer konventionellen Phase, das Aluminium für sich entdeckt. Alles, was hier ausgestellt ist, ist hoch abstrakt und aus Aluminium gefertigt, ziemlich große Skulpturen, deren Titel oft verblüffen: Vigilante blanco. Da kann ich beim besten Willen in den zusammengeschweißten Aluminiumplatten keinen Aufpasser entdecken. Genauso wenig scheint Machu Picchu was mit dem Inka-Heiligtum zu tun zu haben. Bei anderen ist es anders. Der Titel lässt einen die Skulpturen anders „lesen“: Sol rojo und Árbol blanco lassen sich identifizieren, und je länger man hinsieht, umso klarer wird es. Vor allem, die Skulpturen von verschiedenen Seiten anzusehen, lohnt sich. Man bekommt immer einen neuen Eindruck von der Sonne und von dem Mond. Noch besser funktioniert das bei „Los Andes“, unten schwarz, oben weiß. Die Berge „schließen“ sich zur einen Seite, man sieht nur eine einzige Gebirgswand, und sie „öffnen“ sich zur anderen Seite, dann sieht man jeden einzelnen Gipfel.
Dass Negret auch ganz anders konnte, sieht man an einigen Plakaten, die er für bestimmte Veranstaltungen entworfen hat, darunter eins für das Festival de Música Religiosa Semana Santa 1978. Die Kuppel einer Kirche und ein erhöhtes Kreuz treten schemenhaft aus dem Halbdunkel des Hintergrunds hervor.
In dem anderen Teil des Museums ist moderne lateinamerikanische Kunst ausgestellt, nicht ausschließlich, aber meistens abstrakt. Auch, wenn man sich als Laie da vielleicht schwer mit tut, man erkennt, wie die Künstler unsere Wirklichkeit auf die allerelementarsten Formen zurückgeführt haben, wie bei einem Pferd, das man sogar in Bewegung sieht, da Hals und Kopf, nur aus drei, vier Dreiecken bestehend, hintereinander versetzt zweimal erscheinen. Rumpf und Schwanz sind nur durch jeweils einen breiten, gebogenen Streifen dargestellt.
Am besten gefällt mir ein Gemälde, das gar nicht darstellt, aber mit optischen Perspektiven spielt. Es besteht aus ganz vielen, schmalen länglichen Streifen, immer drei Streifen mit denselben drei Farben. Jeder dieser Dreierstreifen ist von den beiden benachbarten abgetrennt durch einen Papierstreifen, der senkrecht zum Bild verläuft. Wenn man direkt vor dem Bild steht, sieht man nur die drei Farben, wenn man nach links geht, wird das Bild immer einfarbiger Rot, aber oben intensiver als unten, und wenn man nach rechts geht, wird das Bild in gleicher Weise schwarz. Geradezu magisch!
Vom Museum ist es nur ein kurzer Weg zum Parque Caldas. Dort ist viel Betrieb, es dürften sich mehrere Hundert Personen über den Platz verteilen, aber es ist ganz still. Viele sitzen alleine auf den Parkbänken, viele sehen auf ihr Handy.
Ich kaufe wieder einen Becher Obst, diesmal die in schmale Streifen geschnittene Mango. Sieht aus wie von einer Maschine gefertigt, ist aber das Resultat der Fertigkeit der Frau an dem Stand, die die Mango mit einem großen Messer in Angriff nimmt.
Rund um den Park herum gibt es auch eine ganze Reihe von Fahrradständern. Radfahren ist hier in der Stadt sicher eher ein Abenteuer. Man sieht auch fast nur junge Männer auf den Rädern. E-Bikes habe ich bisher noch überhaupt nicht gesehen.
Auffällig im Zentrum sind auch die vielen gelben Taxis, meist Kleinwagen, meist japanische Fabrikate.
An zwei Gebäuden am Parque Caldas weht die kolumbianische Flagge. Die Farben – Blau, Gelb, Rot – sind dieselben wie auf den Flaggen von Venezuela und Ecuador, eine Erinnerung an die gemeinsame Zeit in einem Land, La Gran Colombia.
Auf dem Rückweg komme ich am Hotel Dann Monasterio vorbei, einem Hotel, das, wie der Name verrät, in einem ehemaligen Kloster untergebracht ist. Das muss ein großes und edles Kloster gewesen sein, der Größe des Vorhofs und der Schönheit der Anlage nach zu urteilen.
Ich mache eine kleine Pause in einem Café. Hier gibt es den Kaffee in einer richtigen Tasse, den Kuchen allerdings wie gewohnt auf einem Plastikteller.
In einem Regal liegt Schokolade der Marke Alpina. Das ist die südamerikanische Variante von Milka, mit denselben Farben und denselben Darstellungen einer alpinen Landschaft.
Kurz, nachdem ich zu Hause bin, setzt der Regen ein, und er hört gar nicht mehr auf. Als ich mich am frühen Abend mit den jungen Leuten am Parque Caldas treffe, bin ich bereits völlig durchnässt, trotz Regenjacke und Regenschirm. Das Wasser auf den engen Straßen fließt nicht ab, und die Autos spritzen in alle Richtungen. Und immer wieder tritt man in eine Pfütze, weil man die Augen woanders hat. Die Straßenverkäufer im Zentrum machen das Beste daraus und verkaufen Regenschirme.
Víctor kommt alleine, Norelis kommt mit Mutter und Tochter. Unsere kleine Wanderung fällt aus, zu gefährlich, bei dem Wetter den Hügel zu ersteigen.
Wir drängen uns, so gut es geht, durch die vielen entgegenkommenden Passanten auf den schmalen Bürgersteigen und kommen zu einem kleinen Lokal, im Obergeschoss, ganz hübsch eingerichtet. An der Wand eine Weltkarte, in die man eine Nadel einstecken kann, um seinen Heimatort zu markieren. Bei Europa ist kein Platz, es besteht nur aus Stecknadelköpfen.
Es gibt einen Becher mit Eis und gefrorenem Brombeersaft und Empanadas de pipián. Das sind die, mit denen die Frau aus San José damals den Neubau der Kirche finanziert hat. Ich erfahre, dass pipián keine bestimmte Frucht oder Ähnliches ist, sondern eine Soße, auf der Basis von Kürbiskernen. Die Empanadas sind ganz klein und werden in eine Erdnusssoße getunkt.
Ich erfahre, dass beide nicht aus Popayán stammen, sondern aus dem Norden Kolumbiens, aus der Nähe von Santander, nahe der venezolanischen Grenze. Víctors Freundin lebt noch da und kommt morgen zum ersten Mal nach Popayán. Er hat inzwischen eine Wohnung für beide gefunden. Norelis lebt mit Mutter und Tochter in einem Dreimädelhaus. Bis vor kurzem war auch noch die Oma dabei.
Das Mädchen hat schöne, lange Zöpfe und trägt schon allen möglichen femininen Schmuck. Sie ist sechs Jahre alt. Es dauert etwas, bis sie ihre Schüchternheit überwindet, aber dann taut sie auf und stellt mir Fragen. Es gibt ein Missverständnis, als ich sie frage, ob sie schon zur Schule gehe. Ich sage escuela, das versteht sie nicht, hier sagt man colegio, auch zur Grundschule.
Ob ihre Arbeit eher technischer oder eher kommerzieller Art sei, will ich wissen. Beides! Sie beraten Kunden, die bei ihnen den Strom beziehen, meistens für Solaranlagen.
Freitags wird nur halbtags gearbeitet, und am Montag ist ein nationaler Feiertag. Die Unabhängigkeit Cartagenas wird gefeiert. Es steht also ein langes Wochenende bevor.
Ich gebe ihnen meine Visitenkarte, und das löst großes Erstaunen aus. Ob das normal sei in Europa, ob man dort so etwas habe, wollen sie wissen.
Nach dem Abschied muss ich dann noch mal durch den Regen nach Hause. Die Aussichten für die nächsten Tage sind auch nicht gerade rosig.
15.November (Samstag)
Als ich mich am Abend auf den Weg zum Busbahnhof mache, bin ich schon durchnässt, bevor ich das Grundstück verlassen habe. Ich muss mit dem Schlüssel raus, um das Tor zu öffnen und dann wieder rein, um den Schlüssel in der Wohnung zu deponieren. Alles steht knöcheltief im Wasser.
Am Telefon war bei den Taxis kein Durchkommen, aber ich verlasse mich darauf, dass ich eins der unzähligen gelben Autos unterwegs anhalten kann. Aber es tut sich nichts. Mühsam gehe ich, mit Gepäck beladen, in der Dunkelheit durch den strömenden Regen und versuche, in keine Pfützen zu treten und auf die Unebenheiten im Bürgersteig zu achten.
Irgendwann kommt auf der anderen Fahrbahn ein Taxi entgegen, aber der Fahrer sieht mich in der Dunkelheit nicht. Ich gehe tapfer weiter, bis ich an eine Kreuzung komme. Dort steht ein Taxi, mit grünem Licht auf dem Dach. Ich gehe hin und öffne die Tür, aber da sitzt ein Passagier drin. Das Taxi ist besetzt.
Ich komme weiter auf die Innenstadt zu, aber kein Taxi weit und breit. Nur ein Auto, das neben mir hupt.
Ich gehe bis zur nächsten Kreuzung. Wieder hupt ein Auto, aber es ist kein Taxi. Ein Frau sieht mich durch die Scheibe an und knickt mir aufmunternd zu. Ich gehe hin, sie kurbelt die Scheibe runter und fragt mich, ob ich zum Busbahnhof wolle. Ich solle einsteigen, sie werde mich dorthin fahren.
Ich deponiere mein Gepäck hinten, setze mich neben sie, und los geht die Fahrt.
Sie ist pensionierte Juristin, genießt die freie Zeit, hat keine Sehnsucht nach der Arbeit. Ihre Schwester wohnt in Holland, sie ist auch schon mal da gewesen. Wo denn da? Sie kann sich an den Ort nicht erinnern. Bulgarien? – Nee, Bulgarien nicht, vielleicht Belgien? – Ja, Belgien, da seien sie durchgefahren. Ihre Schwester habe einen Holländer geheiratet. Der lebe aber schon nicht mehr. Starker Raucher, starker Trinker. Er habe die Euthanisie in Anspruch genommen, um zu sterben. Ihre Schwester sei aber weiterhin in Holland. Sie habe zwei kolumbianisch-holländische Kinder.
Sie nimmt extra einen Umweg, um mich direkt vor die Tür zu fahren. Als ich eine Handbewegung zum Portemonnaie hin mache, wehrt sie entschieden ab: Kommt nicht in Frage, ich habe das gerne getan. Meine Augen werden feucht. Ich drücke ihr fest die Hand und sage leise Gracias.
Am Schalter geht alles wie am Schnürchen diesmal. Ich brauche nur meine Reservierung vorzuzeigen und – Zack! – ist die Fahrkarte gedruckt. Kein Ausweis, kein Formular, keine Adresse, keine Photos.
Es geht durch die Kontrolle. In dem Moment fährt der Bus ein, ein moderner Reisebus.
Wir stehen Schlange, um unser Gepäck aufzugeben, bekommen eine Nummer und steigen ein. Es gibt Internet und es gibt eine Toilette.
Erst geht es ganz langsam, dann kommen wir auf eine mautpflichtige Schnellstraße, und es geht zügig weiter. Es regnet ohne Unterlass, heftig. Die Landschaft ist, soweit man das in der Dunkelheit sehen kann, flach und unansehnlich.
16. November (Sonntag)
Der Gang zur Toilette erweist sich als schwierig, schon hinzukommen ist ein Balanceakt.
Mein Nachbar ist einer von denen, den man lieber nicht neben sich hat. Er sitzt breitbeinig da, stößt mich ständig an die Schulter, wenn er sich bewegt, und schläft ein, ohne sein Handy ausgeschaltet zu haben. Das steht irgendwie auf Google Maps und sagt uns immer wieder, wir sollten bei der Carrera 39 recht abbiegen. Immer und immer wieder. Irgendwann wird es mir zu bunt, ich wecke ihn und bitte ihn, das Handy auszustellen. Wortlos erfüllt er meinen Wunsch.
Damit ist aber noch keine Ruhe. Aus dem Lautsprecher tönt seit der Abfahrt laute karibische Musik. Zweimal ist zwischendurch Pause, und ich atme auf, aber es wird wohl nur eine neue CD eingelegt. Das Gedudel begleitet uns bis zur Ankunft.
Es geht zügig weiter, immer weiter durch den Regen, der gegen die Fenster prasselt.
Ich hoffe, dass wir irgendwann mal eine Pause einlegen, damit man sich die Beine vertreten, einen Kaffee trinken und die Musik abschalten kann, aber daraus wird nichts. An einer Raststätte halten wir an, aber nur, um zwei Fahrgäste aussteigen zu lassen.
Dann verlassen wir die Mautstraße. Jetzt geht es langsamer weiter, die Straße geht immer weiter die Berge rauf. Es wird langsam Tag, und man sieht eine ganze Decke von Dunst über den Bergen liegen.
Für die letzten 60 Kilometer brauchen wir noch mal 2 Stunden.
Dann kommen wir nach Medellín rein, passieren Sabatena (wo ich beim letzten Mal gewohnt habe) und Envigado (das ich durch Park und Shopping Mall kenne) und kommen durch moderne Geschäftsviertel und heruntergekommene Industrieviertel.
Dann kommt der riesige Busbahnhof in Sicht. Der Fahrer muss sich bei einer Kontrollstelle melden, um einfahren zu können.
Wir kommen, obwohl wir eine halbe Stunde später abgefahren sind, auf die Minute pünktlich an: 7.00 Uhr. Es hat keinen Fahrerwechsel gegeben. Der Mann hat elf Stunden lang am Steuer gesessen, am Steuer eines Busses. Genauso lang ist die Musik gelaufen.
Dann kommt die langwierige Gepäckausgabe. Der Mann muss sich ordentlich quälen. In gebückter Haltung muss er die Säcke, mit denen die Kolumbianer reisen, nach vorne ziehen, das Etikett entfernen und das Gegenstück entgegennehmen.
Derweil kann ich auf die in einer dicken Decke von Dunst liegenden Berge gegenüber sehen. Die „Stadt des ewigen Frühlings“ bereitet uns einen warmen Empfang: 20°. Und es hat sogar aufgehört, zu regnen.
Mein Koffer kommt ganz zum Schluss. Ich sehe mich um, alles ist ausgeschildert, nur das WC nicht. Eine Etage tiefer.
Beim WC wird inzwischen hier auch kassiert. Allerdings moderat.
Dann gehe ich erst mal einen Kaffee trinken. Dazu ein Gebäck, das mit Guaven (guayaba) gefüllt ist.
Dann geht es zum Taxistand. Bevor ich einsteige, lasse ich mir vom Taxifahrer den ungefähren Preis nennen. Einverstanden.
Bevor es los geht, muss er noch schnell einen Anruf entgegennehmen, von seiner Frau. Als Name steht auf dem Bildschirm Amor.
Dann schlägt er vor, dass wir uns auf einen Festpreis einigen: 35.000. Einverstanden.
Er lenkt mit einer Hand, mit der anderen hält er seinen Kaffeebecher.
Auf einer zweispurigen Straße drosselt er auf einmal drastisch das Tempo und macht eine Geste nach oben: Radarkontrolle.
An einer Ampel werden auch für die Autofahrer die Sekunden heruntergezählt, bis es grün wird: 81 – 80 – 79.
Wir kommen in die Innenstadt. Wir passieren einen Markt. Auf dem ist jetzt schon ordentlich Betrieb. Am Sonntagmorgen! Dies ist schon die Carrera 39. Das ist „meine“.
Als wir eine Kirche passieren, bekreuzigt sich der Fahrer. Das Kreuzzeichen macht er auf der Brust, die Stirn wird nicht berührt.
Dann lässt er mich vor dem Haus raus: 58-14. Stimmt. Ich hatte mir ein größeres Haus vorgestellt. Die Unterkunft ist in der 4. Etage. Kein Aufzug, darauf wurde ausdrücklich aufmerksam gemacht.
Ich klingele, wie mir geheißen, im 2. Stockwerk, aber es tut sich nichts. Das Gitter vor der Tür lässt sich öffnen, aber die Tür nicht. Ich klingele noch mal und überlege schon mal, was ich machen kann. Dann sieht man eine Frau die Treppe runterkommen. Begrüßt mich freundlich.
Tatsächlich geht das Treppenhaus nur bis zum 2. Stockwerk, da andere muss eine Art Anbau sein. Durch eine Gittertür und über eine Eisentreppe geht es weiter nach oben.
Das Apartment ist, wie das ganze Haus, alt und etwas schmuddelig, aber seeeehr geräumig. Hier kann eine ganze Familie wohnen. Und vor mir war wohl auch eine Familie hier, mit Baby.
Inzwischen ist auch Luisa eingetroffen, die Tochter. Die fungiert offiziell als Vermieterin, aber ihre Mutter, Claudia, kümmert sich wohl in erster Linie um die Gäste.
Die Mutter zeigt mir die Wohnung, die Tochter zeigt mir vom Balkon aus die Umgebung – wo geht es in die Innenstadt, wo ist ein Supermarkt, wo ist ein Lokal? – die Mutter zeigt mir die Wohnung. Mit dem Herd gebe es im Moment ein Problem, aber da komme gleich ein Handwerker. Was? Am Sonntag? Um halb neun am Morgen? – Ja.
Bis er kommt, habe ich die Gelegenheit, auszuräumen. Alles ist feucht, wirklich alles: Wäsche, Portemonnaie, Laptop, Taschentücher, Rucksack. Mein Reiseführer ist so durchnässt, dass ich ihn wegwerfen muss. Zum Trost kommt jetzt die Sonne raus.
Um 8.30 steht der Handwerker auf der Matte, ein freundlicher, älterer Mann mit großen Zahnlücken und Stoppelbart. Ich sage, dass muss ich in die Heimat melden, dass ein Handwerker am Sonntagmorgen kommt, um Reparaturarbeiten vorzunehmen.
Nach einer halben Stunde ist er mit der Arbeit fertig. Der Herd funktioniert wieder. Gemeinsam zeigen er und Claudia mir die Funktionsweise.
Wo Sie schon einmal da sind: Der Abzug der Toilette funktioniert nicht. Der Mann scheint eher erfreut, eine weitere Aufgabe zu bekommen, und nach zehn Minuten ist auch das Problem behoben!
Sie verabschieden sich mit einer Herzlichkeit, so als wenn wir alte Freund wären.
Aus der Wohnung hört man den volltönenden Gesang einer Gemeinde aus einer nahegelegenen Kirche. Da wird mit Inbrunst gesungen, aus vielen Kehlen.
Ich entschließe mich, einen kleinen Spaziergang Richtung Innenstadt zu machen und folge den etwas vagen Anweisungen von Luisa. Bald muss ich schon fragen. Ein großer Mann mit einem kleinen Hund gibt mir Auskunft: Da, in diese Richtung. Aber aufgepasst! Dort läuft allerhand gefährliches Gesindel rum. Er empfiehlt mir, den Weg por la playa zu nehmen. Habe ich richtig verstanden? Medellín hat einen Strand? Er könne mich begleiten. In Ordnung. Erweist sich als etwas unangenehm, denn er ist nicht mehr der Jüngste und geht sehr langsam. Und ich verstehe ihn nicht, und er kann nichts mit dem anfangen, was ich sage. Aber dann kommen wir tatsächlich auf den Paseo por la Playa, und es gibt auch eine Metrostation La Playa. Er entlässt mich. Einfacher weiter geradeaus.
Das tue ich, die Gegend wird etwas vertrauenswürdiger. Entlang des Weges sind verschiedene Büsten von Menschen aufgestellt, die sich der Benachteiligten angenommen haben und hier geehrt werden, darunter eine Deutsche: Benedikta zur Nieden de Echavarría.
Neben dem breiten Fußgängerstreifen gibt es eine Art Radweg für Taxis. Das ist gut überlegt. Die Taxis können hier Fahrgäste aufnehmen und absetzen, ohne den Verkehrsfluss auf der Straße zu behindern.
Auf dem Bürgersteig machen sich die Verkäufer von Ledergürteln gegenseitig Konkurrenz.
Ich komme an eine Straßenkreuzung, an der sich ein modernes Gemälde an einer Häuserfassade und eine Weihnachtsdekoration gegenüberstehen, die an Kitsch nicht zu überbieten ist, eine Art Burg, wie sie in einem Disney-Film vorkommen könnte. Man fragt sich, was das mit Weihnachten zu tun haben soll.
An dieser Kreuzung beobachte ich, wie die Leute die Straße überqueren. Das ist hier einfacher als in Popayán, weil es überall Ampeln gibt, aber Vorsicht ist dennoch geboten. Ich „verstecke“ mich meist hinter Einheimischen. Und wundere mich, mit welcher Seelenruhe die bei Rot die Straße überqueren, obwohl hinten der Verkehr herbeirauscht.
Wie man bei starkem Verkehr eine Straße ohne Ampel überquert, dafür gibt es ein paar Regeln: 1) langsam gehen, 2) den heranfahrenden Autos und Motorrädern durch Blicke und Gesten signalisieren, dass man vorhat, zu kreuzen und 3) niemals rückwärts gehen. Da kann man als nicht Eingeweihter einiges falsch machen.
Rechts geht es in die Fußgängerzone. Ich biege spontan ab, und nach ein paar Metern dämmert es mir: die „Straße der Ausländer“, wie Gloria sie in ihrer eigenwilligen Diktion mal genannt hat. Die schmale, mit einem Spalier von hohen Palmen bestandene Straße ist von Bedeutung für Medellín und hat sogar ein Verb hervorgebracht: juniniar, nach einem gesellschaftlichen Treffpunkt, einer Art Klub benannt, der sich hier befand. Das Verb fasste dann alles zusammen, was man hier machte, sich treffen, bummeln, Schaufenster gucken, einen trinken gehen.
Auf der linken Seite das Lokal Cuernavaca, benannt nach dem ungewöhnlichen Namen der mexikanischen Stadt, aus der die Ehefrau eines ehemaligen Kollegen stammte. Ich hatte später einmal die Gelegenheit, die Stadt zu besuchen.
Die Straße mündet in den Parque Bolívar, mit der Reiterstatue des „Befreiers“ im Zentrum. An der Stirnseite des Platzes eine Kirche, die die Blicke auf sich lenkt, groß, neoromanisch, ganz aus Backsteinen erbaut. Der Brunnen davor komplettiert das Bild.
Drinnen auch schöne Bögen aus Backstein, eine Decke mit Holzbalken und vor den Bögen schöne Lampen, in mattem Gelb schimmernd.
Am Rande des Platzes ein modernes Hochhaus, vor dem ein altes, niedriges Haus steht. Das Hochhaus ist nichtssagend-nüchtern, das kleine Haus sieht aus wie aus einem Märchen.
Am Rande des Platzes das Lokal Qbano, und nebenan gibt es keiks & coffee.
Ich gehe in ein Café und bestelle Kaffee und Kuchen, einen, den ich vor Jahren einmal als banoffee cake in Dublin kennengelernt habe. Dazu einen schwarzen Kaffee. Als die Kellnerin die Bestellung aufgibt, sagt sie das magische Wort, „Ah, un tinto.“
Auf dem Platz ist jede „Machart“ von Menschen vertreten, auch eine geführte Gruppe von Touristen, aber dominiert wird er von Clochards, darunter auch Alkoholiker und Drogenabhängige.
Mir gelingt aus der Ferne ein heimlicher Schnappschuss von einem nach vorne gebeugten Mann auf einer Parkbank, flankiert von zwei „in den Seilen hängenden“ Männern beim Mittagsschlaf.
Immer wieder sieht man Männer mit den grün-weißen Trikots eines Fußballvereins. Einer von ihnen trägt dazu eine passende grün-weiße Narrenkappe und betätigt sich als Schuhputzer.
Auf dem Rückweg, noch am Rande des Platzes, gelingt mir ein weiterer Schnappschuss: zwei junge Männer, rauchend, Ellbogen auf den Knien, vor dem breiten Wurzelgeflecht einer mächtigen Würgefeige.
Auf der Einkaufsstraße bleibe ich bei einem Obstverkäufer stehen und kaufe Mandarinen, groß, saftig, lecker. 6 große oder 9 kleine für 5.000 Pesos.
Dann kaufe ich noch buñuelos, das Gebäck, etwa in der Art von Berliner, aber innen hohl, das ich beim letzten Mal in Medellín zur Weihnachtszeit immer wieder probiert habe.
Ein einbeiniger Bettler rutscht auf dem Boden herum und bewegt sich mühsam von einem Platz zum anderen. Wie wird man mit so einem Schicksal fertig?
An einem Garagentor in sauberen Lettern ein Zitat aus Jesaias, das mir ganz unbekannt vorkommt. Es geht um diejenigen, die Lüge als Wahrheit und Wahrheit als Lüge verbreiten. Und auch sonst Tugend und Laster verwechseln.
Den Rückweg finde ich überraschend gut. Ich komme sogar bis zu der Kirche, aus der ich heute Morgen den Gesang gehört habe.
Draußen, seitlich der Kirche, sind Sachen für einen Flohmarkt aufgebaut, aber man sieht noch keine Besucher.
Drinnen ist die Kirche rappelvoll. Es wird gerade Kollekte gehalten, mit den langstieligen Samtbeuteln, wie man sie früher benutzte.
Ich bin quasi am Ziel, kann aber das Ziel nicht finden. Immer wieder geht es hin und her, immer wieder bekomme ich freundliche Antworten, aber ich finde das Haus einfach nicht. Die Beine werden schwerer, und die Plastiktüte mit den Mandarinen ist inzwischen gerissen.
Schließlich frage ich eine Frau mit Hund. Die will wissen, was für eine Adresse das denn sei, was ich denn da wolle. Sie sagt entschieden, das finden wir jetzt, macht kehrt und geht voran, immer wieder Passanten oder Geschäftsleute grüßend, immer wieder nach dem Weg fragend. Am Ende sagt ein Mann in einem Laden: „Ah bei Claudia?“ – „Ja, bei Claudia!“. Jetzt sind es nur noch wenige Meter.
17. November (Montag)
Am frühen Morgen wache ich völlig desorientiert auf, nicht wegen der ungewohnten Umgebung, sondern wegen des Traums. Es ist Krieg, ich renne orientierungslos durch die Straßen, ganz alleine, mal in diese, mal in die andere Richtung, gucke ständig nach oben, weiß nicht, woher die Angriffe kommen können.
Heute ist Feiertag in Kolumbien, ein typisch lateinamerikanischer Feiertag, patriotisch, mit Bezug auf den Befreiungskampf. Heute wird die Unabhängigkeit Cartagenas gefeiert. Schon am Morgen um 4 hört man Böllerschüsse.
Hinten aus der Wohnung raus gibt es einen schönen nächtlichen Blick auf die Lichter, die sich, wie zur Dekoration, den ganzen Berg hinaufziehen.
Ich widme mich den „Arbeiten“ des Reisenden: Stadtführung buchen, Taxi für den Flughafen am Sonntag bestellen, Photos runterladen, Bewertung für Unterkunft in Popayán schreiben, Bewertung für Busreise schreiben, Reisenotizen ergänzen.
Schon früh bin ich bei D1, dem Supermarkt um die Ecke. Da ist noch nichts los, aber der hat schön geöffnet: Käse, Kekse, Kaffee, Wasser. Schnell erledigt.
Dann lande ich „aus Versehen“ in genau dem Lokal, das Luisa mir empfohlen hatte, Romarios, gleich an der Kreuzung. Hier gibt es Frühstück. Auch nach Erklärungen kann ich die verschiedenen Varianten nicht verstehen, ich bestelle auf Vorschlag des Kellners Huevo Ranchero. Das ist, wie sich herausstellt, Rührei mit Wurststückchen, dazu gibt es die unvermeidliche, trockene arepa und ein Stück Weichkäse.
Als Alternative zu den Eiervariationen gibt es auch caldo, eine Gemüsesuppe, die in einem großen Blechnapf serviert wird. Davon wird durchaus Gebrauch gemacht.
An der Wand steht, dass man, wie hier allgemein üblich, an der Kasse bezahlen soll: Cancelar en la caja.
Ich wundere mich, wie günstig das Frühstück ist. Auf dem kleinen Zettel, den man mir gegeben hat, steht 4.000. Aber der Mann an der Kasse ist nicht zufrieden mit dem, was ich ihm gebe. Es sind 14.000. Ich habe die 1, die hier ungefähr wie ein I aussieht, nicht als Zahl erkannt.
Heute geht es nach Sabaneta, einem Ort außerhalb Medellíns, zu Gloria. Die reist am Donnerstag in die Schweiz, um den Winter bei Tochter und Enkelkindern zu verbringen. Und braucht heute wegen des Feiertags nicht zu arbeiten.
Ich gehe auf dem Weg in die Innenstadt, auf dem ich gestern zurückgekommen bin, an der Kirche entlang. Dort sitzt auf dem Boden, an die Kirchenwand gelehnt, ein Mann, der sich ganz konzentriert einer Arbeit widmet: Er repariert einen Stuhl, eine Art Korbstuhl, genauer gesagt dessen Sitzfläche. Warum macht er das wohl hier? Ob es etwas mit der Kirche zu tun hat?
Ich passiere verschiedene moderne Wohnblöcke mit volltönenden Namen wie Torre de Lima, komme andererseits an einer kleinen Villa, bei der man in den wunderschönen Innenhof sehen kann, mit wild wuchernder Vegetation und einem Brunnen.
An einem Strommast klebt ein Zettel mit einer Telefonnummer und Divorcios. Hier kann man sich beraten lassen, wenn man sich scheiden lassen will.
An einer Häuserwand ein Plakat, auf dem in regelwidrigem Spanisch erklärt wird, dass hier Wohnungen zu vermieten seien: Se alquilan habitaciones amobladas.
Dann sehe ich drei junge Männer auf dem Boden sitzen. Was machen die da? Sie sitzen inmitten von mehreren Müllsäcken. Es sind keine Obdachlosen, wie ich erst denke, sondern bringen Dinge wieder in Ordnung, die im Müll gelandet und noch zu gebrauchen sind. Einer macht sich gerade an einem Ventilator zu schaffen.
Es ist ein schöner Tag, mit vielen Wolken, aber ohne Regen. Und es ist warm und wird immer wärmer.
Bald merke ich, dass ich falsch bin, hier bin ich gestern nicht entlang gekommen. Aber in der Ferne sehe ich schon eine große Straße und stoße dort auf den kitschigen Weihnachtsaufbau von gestern. Heute, aus einer anderen Perspektive, sehe ich, dass er direkt vor einem Wolkenkratzer steht.
Die bestimmen die ganze Gegend, sind modern, originell, schön anzusehen. In Medellín kann man sich vorkommen wie in Manhattan. Aber auch wie in Kalkutta.
Vor den Banken ist auch heute, am Feiertag, Wachpersonal postiert.
Ein junger Mann mit falsch rum aufgesetzter Schirmmütze kommt mir entgegen. Er erklärt mir, wie ich zur nächsten Metro-Station komme. Zum Abschied schüttelt er mir die Hand.
Dann sehe ich schon die Haltestelle. San José. Ich gehe noch einen Kaffee trinken und kaufe als Mitbringsel eine Torte. Der junge Mann packt sie geschickt ein. Aber ich muss sie jetzt mit mir herumbalancieren.
Als ich zu der vermeintlichen Metrostation komme, erweist die sich als Straßenbahnhaltestelle. Ich soll noch zwei Häuserblöcke weiter gehen und dann rechts abbiegen, sagt mir der Mann, der hier Wache schiebt.
Als ich an der Ampel stehe, spricht mich ein ambulanter Verkäufer an. Er hat das Gespräch mitgehört. Nach Sabaneta könne ich doch mit dem Bus fahren. Er zeige mir, wo das ist.
An einer Kreuzung, an der mehrere Busse warten, entlässt er mich. Ich frage einen Busfahrer, aber der sagt mir, nein, hier nicht. Weiter oben.
Inzwischen droht meine Torte zu schmelzen. Und ich auch.
Weiter oben, in einer engen Straße, stehen tatsächlich reihenweise Busse, darunter der nach Sabaneta. In den kolumbianischen Nationalfarben angemalt.
Andere Busse fahren nach Buenos Aires und nach Aranjuez. Das sollte auch ein Ziel für mich sein, aber später lese ich, da solle man lieber nicht alleine hinfahren.
Der Bus nach Sabaneta ist wunderbar, ein altes Gefährt mit Drehkreuz beim Einstieg, einem laut brummenden Motor und einem Steuerknüppel, der so dick wie ein Leitungsrohr ist. Hinter dem Fahrer ein heroischer Erzengel Michael, der um Schutz gebeten wird.
Die Fahrt kostet nur 3.400 Pesos. Das ist gerade mal 1 Euro. Bei dem krummen Preis muss der Fahrer jedem Fahrgast Wechselgeld geben.
Es steigen immer wieder Fahrgäste aus und ein, ohne, dass man eine Haltestelle erkennen könnte. Ein Indio-Frau mit kurzem, bunten Röcken, steigt ein, die ihr Baby in einer Schlinge auf dem Rücken trägt. Bald darauf ein Mann mit kurzer Hose.
Wir kommen durch El Poblado, dem Vorzeigeviertel von Medellín, Comuna 14. Ich wohne in La Candelaria, dem Zentrumsviertel, Comuna 10. Bekannt ist auch San Javier, vor allem unter seinem Namen Comuna 13. Das ehemalige Problemviertel hat sich durch die Graffitikunst an den Häuserwänden saniert und ist zu einem regelrechten Touristenmagneten geworden. Da war ich vor drei Jahren.
An einer Straßenkreuzung versucht ein Mann, der Querflöte spielt, ein bisschen Geld zu erbetteln. Die gängigeren Jongleure habe ich gestern schon gesehen. Was wohl einträglicher ist?
Die Fahrt zieht sich hin, wir kommen noch durch ein Viertel, das beinahe Villenviertel genannt werden kann, und fahren dann durch ein Spalier von Bambusbäumen. Dann geht es durch Envigado, an einer riesigen Shopping Mall vorbei, die bezeichnenderweise Jumbo heißt.
Dann kommt Sabaneta. Der Fahrer sagt mir, wo ich aussteigen soll, um zum Parque zu kommen. Ich trage meine Torte dorthin und sehe mich um. Ich hatte schon vergessen, wie schön der Parque ist. Anders als das, was wir in Deutschland unter Park verstehen würden, eher eine Plaza mit viel Vegetation. Und jetzt auch schon mit Weihnachtsschmuck.
Ich suche den Parque ab, die Torte in der Hand. Langsam werde ich ungeduldig. Wo ist Gloria? Dann sehen wir uns auf einmal von weitem. Wir begrüßen uns mit einer herzlichen Umarmung.
Als erstes führt sie mich ins Einkaufszentrum, wo heute, wegen des Feiertags, alles geschlossen ist. Sie führt mich zu ihrem Stand, ihrer burbuja. Hier ist sie jeden Tag acht Stunden lang und verkauft ihren selbstgemachten Schmuck. Reicht notdürftig für ein Einkommen. Während ihrer Abwesenheit übernimmt eine Freundin den Stand. Die hat zwar eine Arbeitsstelle, ist aber zeitweilig abkömmlich und hat wiederum jemanden, der für sie einspringt. So weiß man sich zu helfen.
Wir gehen zurück zum Parque, ich möchte an diesem schönen Tag lieber draußen sitzen. Wir trinken einen Kaffee und sie erzählt von der bevorstehenden Reise in die Schweiz, nach Basel. Komplizierte Angelegenheit: Medellín – Bogotá – Frankfurt – Basel. Gut, dass sie zwei Monate lang bleibt. Ihr Schwiegersohn spricht auch ein bisschen Spanisch, und mit den Enkeln – es sind inzwischen drei – spricht sie natürlich auch Spanisch. Ist aber dabei, Deutsch zu lernen. Sie bittet mich um ein paar Tipps und versucht immer wieder, Gegenstände zu benennen, die wir vor uns haben: Teller, Messer, Gabel. Sie kennt sie alle, wirft sie aber durcheinander. Als sie ihr Alter nennen will und wir ankommen bei Ich bin 58, ist sie nicht zufrieden. Muss es nicht heißen Ich bin 58 Jahre alt? Sie weiß, dass es die Sonne und der Mond ist, hat sich aber noch nie klar gemacht, dass die Verteilung der grammatischen Geschlechter im Spanischen genau umgekehrt wie im Deutschen ist.
Ihr Traum ist es, in die Schweiz auszuwandern. Immer wieder bittet sie um Ratschläge, aber viel kann ich ihr auch nicht helfen. Ich will ihr auch nicht die Illusion nehmen, aber mache ihr doch klar, dass es nicht ganz so einfach ist, wie sie es sich vorstellt. Sie versteht nicht so richtig, dass es auch eine juristische Ebene gibt. Dass es nicht damit getan ist, zu sagen, ich passe auf eine Seniorin auf oder kümmere mich um Kinder oder bediene in einem Lokal.
Glorias Schicksal ist ein typisch lateinamerikanisches: eine Tochter in Kolumbien, ein Sohn in den USA, eine Tochter in der Schweiz. Lebt selbst mit ihrem Bruder zusammen mit ihren Eltern im Elternhaus.
Wir machen einen Rundgang und kommen dabei an der Drogería Alemana vorbei. Sie meint, es gebe auch eine Pizzería Alemana. Was? Sie versteht gar nicht, was ich daran komisch finde, warum ich sage, dass die Italiener sich sicher darüber lustig machen würden. Warum denn? Gibt es in Deutschland denn keine Pizzerien? Auf jeden Fall führt sie mich hin, damit ich ein Photo machen kann. Die Pizzeria heißt El Bigote. Das Schild mit der Pizzería Alemana und die Rohre im Innenraum sind in Schwarz-Rot-Gold.
Wir fahren mit dem Bus nach Envigado, zu ihren Eltern. Nach dem Aussteigen sehen wir von oben in ein Freibad hinunter, in dem sich die Leute tummeln.
Im Nachbarhaus ist eine Tierarztpraxis untergebracht, keine normale, sondern eine für exotische Tiere. Sie sehen jeden Tag, wie die Leute ihre „Haustiere“ dorthin bringen, Chamäleons, Schweine, Schlangen.
Die Eltern, beide beschwerlich mit dem Stock gehend, kommen gerade aus der Kirche. Sie setzen sich sofort in einen Schaukelstuhl. Gloria serviert ihnen ein Stück Torte. Scheint ihnen zu schmecken.
Dann trete ich voll ins Fettnäpfchen, indem ich Glorias bevorstehende Reise anspreche. Pssst! Die wissen noch gar nichts davon.
An der Wand hängt ein Bild, das ich hier nicht erwartet habe, eine Variation von Velázquez‘ Gemälde der Arachne. Die ist eine Gestalt aus der griechischen Mythologie. Sie konnte gut weben, dass sie glaubte, die Beste überhaupt zu sein und eines Tages sogar die Göttin Athene zu einem Wettkampf herausforderte. Die Göttin webte ein schönes Bild der Menschheit, Arachne webte ein hässliches Bild der Götter. Das erzürnte die Göttin, und sie verwandelte Arachne zur Strafe in eine Spinne. Und verdammte sie dazu, ihr ganzes Leben lang zu weben. Das spanische Wort für Spinne, araña, verdankt sich diesem Mythos.
Gloria zeigt mir das Haus und versucht sich in der Küche an der Aussprache von Kuchen und Küche.
Wir wiegen ihren Koffer und entdecken zu ihrer Freude, dass der erst 15 Kilo wiegt. Sie kann noch mehr reinpacken.
Seit ich sie zum letzten Mal besucht habe, vor drei Jahren, sind sie schon zweimal umgezogen. Das damalige, schöne Häuschen in Sabaneta mussten sie verlassen, weil die Eigentümerin es für sich reklamierte. Dann zogen sie in eine Wohnung in einem neu errichteten Hochhaus, das wenig später bei einem Erdrutsch zwei Meter in den Boden sankt. Jetzt haben sie dieses schöne Häuschen in Envigado gefunden, ebenerdig wie das erste.
Wir machen uns auf den Weg und gehen irgendwo noch ein Bier trinken. Auf dem Tisch die verschiedenen Münzen, die sie von ihren Reisen mitgebracht hat. Wir machen drei Stapel, schweizerisch, europäisch, amerikanisch. Übrig bleibt eine schwedische Münze. Es stellt sich heraus, dass ihr nicht ganz klar ist, wo sie mit welcher Währung zahlen kann. Aber das klären wir einigermaßen.
Sie bringt mich zur Bushaltestelle, und als wir unterwegs an einer Spielhalle vorbeikommen, erzählt sie von ihrer Schwester. Das ist die Wohlhabende in der Familie. Sie zahlt die Miete und hat letztes Jahr die Eltern zu einer Kreuzfahrt durch die Karibik mitgenommen.
Ihre Schwester sei durch Casinos reich geworden, sagt sie. Da hat sie aber Glück gehabt. Die meisten verlieren in Casinos Geld. Nein, sie und ihr Mann seien nicht durch Spielen reich geworden. Sie sind Besitzer von Casinos. Sie haben damals in La Dorada, ihrer Heimat, ganz klein angefangen, mit wenigen Spielgeräten. Daraus sind dann Spielhallen und dann Casinos geworden. Man merkt, dass ihr das etwas peinlich ist. Kommt ihr nicht wie eine anständige Art vor, Geld zu verdienen.
Mit der Bitte, dass Gott mich beschützen möge, verabschiedet sie mich. Ich bin dankbar für ihre Freundlichkeit und fahre ab in dem Gefühl, einen Tag erlebt zu haben, der nicht dem eines typischen Touristen entspricht.
Auf dem Rückweg macht mich der Fahrer durch seine aggressive Fahrweise – ständiger Spurenwechsel, ständiges Hupen, nahe Auffahren – etwas nervös, und ich bin froh, als wir ankommen.
Ich nehme ein Taxi, um nach Hause zu fahren. Der Taxifahrer, als er hört, dass ich aus Deutschland komme, sagt ganz langsam „Alemania … Alemania … Alemania“, so, als müsse er das erst einmal einordnen. Dann schießt es aus ihm heraus: Deutschland? Hat das nicht im 2. Weltkrieg so zu leiden gehabt, ist so stark zerstört worden? Eine Frage, die man ohne weiteres mit Ja, aber wohl eher mit Ja, aber beantworten würde. Aber jetzt kommt er voll in Fahrt: Die armen jungen Leute, die habe man einfach ins Schlachtfeld geschickt, die seien doch nicht böse gewesen, die seien doch selbst Opfer gewesen. Das bemerkenswerte Ende eines erlebnisreichen Tags.
18. November (Mittwoch)
Im Museo de la Memoria, das noch relativ neuen Datums ist, widmet sich Kolumbien seiner jüngsten Vergangenheit, den langen Jahren des Drogenhandels, der Gewalt, des Terrorismus. Das Museum ist in Fußentfernung von meiner Unterkunft.
Auf dem Weg zum Museum komme ich durch einen kleinen Park mit der typischen Statue eines Freiheitshelden im Zentrum. An einem Laternenpfahl die Aufforderung, die Tauben nicht zu füttern. Es werden sogar mehrere Gründe genannt: Es beeinträchtigt ihre Gesundheit, es stört das natürliche Gleichgewicht und es löst ihre Überbevölkerung aus.
Eigentlich müsste es einfach sein, das Museum zu finden. Ich brauche nur die Carrera 39 hinunter und dann in die Calle 51 abbiegen. Aber so einfach ist es dann doch nicht: Nach der 52 kommt schon die 50. Wo ist die 51? Ein freundlicher Mann in einem Café gibt mir Auskunft: die Straße heißt in einer Richtung 50, in der anderen 51!
Die gehe ich runter und sehe schon von weitem das Museumsgebäude, erhöht gelegen. Auf dem Platz davor überquert ein alter Mann die Kreuzung, der einen langen, mit allerlei Tüten und Säcken und Paketen hoch beladenen Karren mühsam hinter sich her. Ob er im Auftrag anderer etwas transportiert?
Ich gehe auf das Museum zu und frage zwei Wachmänner, wo der Eingang sei. Da! Aber heute sei das Museum geschlossen. Die Räume würden ausgeräuchert. Auf diese Weise begegne ich mal dem Wort fumigar.
Bevor ich weiteres entscheide, gehe ich jetzt erst einmal in das Café mit dem freundlichen Mann zurück und bekomme einen Kaffee und ein warmes Gebäck.
Als ich an der Kasse zahlen will, dreht sich die Frau vor mir nach mir um und lächelt. Jeder Augenkontakt, zufällig oder absichtlich, wird mit einem Lächeln beantwortet, ganz egal ob von einem Verkäufer oder einem Wachmann, von einem alten Mann oder einer jungen Frau. Auf die Idee, dass ein freundlicher Blick übergriffig oder gar aggressiv ist, kommt hier keiner.
Es gibt noch ein zweites, ebenfalls eher ungewöhnliches Museum, das Museo del Agua. Ich mache mich auf den Weg dorthin, aber irgendwann ist mir das doch zu beschwerlich und ich nehme ein Taxi.
In dem dichten Verkehrsgefühl geht es um jeden Zentimeter. Hier entscheidet nicht, auf welcher Spur man ist oder ob man Vorfahrt hat, sondern ob man die Nase ein paar Zentimeter vorne hat. Die Motorräder fahren unberechenbar mal an der rechts, mal links an den Autos vorbei, mal zwischen ihnen durch. Dabei wird ständig gehupt. Was mit dem Hupen bewirkt werden soll, weiß man nicht, aber alle finden sich offensichtlich im Recht. Mein Fahrer flucht jedenfalls auf alle anderen. Ein merkwürdiger Kontrast zwischen den als Passanten so außerordentlich freundlichen und als Autofahrer so außerordentlich unfreundlichen Menschen hier.
Als wir durch das Nadelöhr durch sind, kommen wir auf eine große Avenue, drei Spuren auf unserer Seite, drei Spuren auf der anderen Seite, vier Spuren in der Mitte. Das bedeutet aber nicht, dass irgendwie ruhiger gefahren würde.
Dabei habe ich Gelegenheit, auf die Automarken zu achten: Nissan, Kia, Hyundai, Ford und, vor allem, Chevrolet.
Am Straßenrand ein paar bemerkenswerte Wolkenkratzer, einige davon mit begrünter Fassade. Ein anderer sieht aus, als bestünde die Fassade aus lauter Streichhölzern, vertikal aufgestellt, halb regelmäßig, halb unregelmäßig, mit Lücken dazwischen für die Fenster.
An dem Platz vor dem Museum setzt der Fahrer mich ab. Der Preis hält sich in Grenzen. Ich zahle etwa das, was man in Deutschland als Startgebühr zahlen würde.
Vor dem Museum zwei freundliche, uniformierte Wachfrauen. Wo denn der Eingang sei, will ich wissen. Da vorne! Aber heute hat das Museum geschlossen. Wegen des gestrigen Feiertags.
Hier in der Nähe, sagen sie mir, gebe es nur die Bibliothek, die ich mir ansehen könnte. Mach ich. Sie schicken mich über die große Kreuzung. Die führt auf die große Avenue, und die hat einen breiten Gehweg, schön bepflanzt. Auf den Parkbänken Clochards, Bettler, Alkoholiker. Stärker könnte der Kontrast mit den hochmodernen Gebäuden und der gepflegten Anlage nicht sein.
Ich komme auf einen großen, geschlossenen Platz mit modernen Skulpturen zwischen den unregelmäßig auf den ganzen Platz verteilten Gebäuden. Bald merke ich aber, dass ich hier falsch bin. Dies sind Verwaltungsgebäude der Stadt, die Leute kommen hierher, um sich umzumelden oder einen Pass zu bestellen.
Die Bibliothek ist auf dem gegenüberliegenden Platz, auf der anderen Seite der Avenue.
Man muss durch zwei Kontrollen, Sicherheit und Identität, und steht dann etwas verloren in dem Raum hier in dem Untergeschoss des Gebäudes.
Rampen führen nach oben, an zwei Hörsälen und an verschiedenen Computer-Arbeitsplätzen vorbei. Die Bibliothek ist genauso modern wie das Gebäude. Durch die große Glasfassade sieht man auf den Platz hinunter. Hier, am „Balkon“, gibt es auch Arbeitsplätze. Auf der anderen Seite gibt es gläserne Zellen für das Selbststudium.
Entlang der Regale gibt es Tische, an denen einzeln oder in Gruppen gearbeitet wird. Eine Arbeitsgruppe ist gerade, vor dem Beginn der Arbeit, in Meditation vertieft.
An den Regalen steht die sehr vernünftige Bitte, die Bücher nicht zurückzustellen, sondern auf den Tischen liegen zu lassen. Die werden später von den Bibliotheksleuten wieder an Ort und Stelle postiert. Das echte Ärgernis in Präsenzbibliotheken sind Bände, die nicht an ihrem Ort abgestellt sind. Fast unmöglich, wiederzufinden.
Die Bücherregale sind nur schulterhoch. Auch sehr vernünftig. Man kommt an alle gut ran.
Die Ausstattung der Bibliothek ist allerdings eher mager, was die Menge, aber auch was die Breite angeht. Es scheint eher eine technische Bibliothek zu sein: Industrie, Landwirtschaft, Energie. In dem allgemeinen Teil fast nur Belletristik vertreten: Umberto Eco, Stephen King, Jack London, Fernando Savater, Woody Allen. Zu Philosophie, Geschichte, Kunst, Linguistik gibt es nichts.
Am Ausgang der Bibliothek hat man in einer Vitrine einen Raumanzug der NASA ausgestellt. Da erfährt man, was der alles leisten muss: er muss für einen ausgeglichenen Druck sorgen, für Sauerstoff zum Atmen, Schutz gegen ultraviolette Bestrahlung und Schutz gegen kleine Meteoriten gewähren, eine Form zum Andocken ans Raumschiff haben und schließlich auch die Notdurft der Astronauten entsorgen. Er wiegt 130 Kilogramm und besteht aus drei verschiedenen Materialien. Noch nie drüber nachgedacht.
Der Vorteil ist, dass ich jetzt in der Nähe der Innenstadt bin. Von dem Platz vor der Bibliothek führt die Straße mit dem herrlichen Namen Carabobo (erinnere mich, wie ich beim letzten Mal inmitten des Gedränges mit Mühe ein Photo von dem Straßenschild gemacht habe) stracks geradeaus ins Zentrum.
Die Carabobo hat es allerdings in sich. Läden zu beiden Seiten, mit Verkäufern vor dem Laden, die ihre Ware anpreisen, davor Verkaufsstände aller Art, in der Enge dazwischen Straßenverkäufer, Bettler, Kunden, Passanten, Lastenträger. In dem Gewühl wird es mir etwas mulmig, wenn ich an meinen Ausweis, mein Portemonnaie und mein Handy denke.
Dann mündet die Carabobo aber auf den weitgestreckten Platz, an dessen Anfang die schöne Iglesia de la Veracruz mir ihrer weißen Fassade und den mexikanisch anmutenden Glockentürmen, die ich immer mit der ebenfalls weißen Iglesia de la Candelaria verwechsele. Der Vorteil der Veracruz ist, dass man sie besser sehen kann, wegen des Vorplatzes. Vor der Candelaria, abseits des Platzes, herrscht immer dichtes Gedränge.
Erst ein Stück weiter kommt der eigentliche Platz mit dem Museo de Antioquia und den unverwechselbaren Skulpturen von Botero, alle gleich voluminös, alle aus Bronze. Ganz egal, ob Mann oder Frau, ob Pferd oder Katze oder Hund, ob weiblicher Torso oder Hand, ob liegend oder stehend, alle sind sie dick. Es stehen wohl über zwei Dutzend Skulpturen über den ganzen Platz verteilt, und alle werden als Hintergrund für Photos genutzt.
Ich gehe bis zur Candelaria und zur Metro-Station Parque Berrio. Nein, mit der Metro komme ich nicht nach La Playa. Da müsse ich den Metrobus nehmen. Ich könne aber auch zu Fuß gehen. Der Mann weist in die Richtung, und tatsächlich sehe ich schon bald den schrecklichen Weihnachtsaufbau vor dem Rathaus. Eine ästhetische Sünde, aber als Orientierungspunkte hat er mir schon gute Dienste geleistet.
Ich gehe in eine Apotheke und bitte um Sonnencreme. Mich trifft der Schlag, als ich den Preis höre. Ich bitte das Mädchen, nach einer billigeren zu suchen und zahle am Ende 94.000 Pesos. Das sind fast 25 Euro!
Jetzt muss ich dringend auch Geld wechseln. Vor einem Hochhaus mit Einkaufszentrum frage ich eine Straßenverkäuferin, wo hier die Wechselstube sei. Die bräuchte ich nicht. Sie könne auch wechseln. Ich will aber erst das Geld sehen, keine faulen Tricks. Sie sagt ja, alles in Ordnung, nimmt ihr Handy, geht weg und telefoniert. Das ist für mich das Signal, das Weite zu suchen.
In der Wechselstube läuft alles glatt ab, wenn auch mit den üblichen Formalien.
Jetzt habe ich wieder Geld und gebe es auch sofort wieder aus, in der Kantine des Theaters, an dem ich auf dem Rückweg vorbeikomme. Es gibt eine sehr leckere Creme mit Zucchini und Lauch, und danach Schweinekotelett mit Reis und ein bisschen Salat. Dazu zwei kleine Bierchen. Macht 42.000 Pesos. Knapp die Hälfte von der Sonnencreme.
Dann habe ich Glück. Gerade, als ich zu Hause ankomme, setzt das Gewitter ein.
19. November (Mittwoch)
Ich habe eine Kurzgeschichte von Horacio Quiroga gelesen, einem uruguayischen Schriftsteller mit argentinischem Vater. Die Kurzgeschichte ist eine bizarre Mischung aus phantastisch und realistisch und endet mit dem rätselhaften Tod der gerade von der Hochzeitsreise zurückgekehrten jungen Ehefrau. Das wird in einer intensiven, schnörkelhaften Sprache erzählt.
Das Werk von Quiroga, heißt es, sei bestimmt vom Makabren und Morbiden, von Grausamkeiten und Unglücksfällen. Kein Wunder, könnte man sagen, wenn man sich seine Lebensgeschichte ansieht. Es beginnt mit dem Unglücksfall des Vaters, der sich beim Reinigen des Gewehrs versehentlich selbst tötet. Es folgen der Selbstmord des Stiefvaters, die schmerzhafte Trennung von seiner Geliebten und der Tod der beiden Schwestern aufgrund einer Typhusepidemie. Schließlich das Unglück, bei dem Quiroga seinen besten Freund beim Reinigen des Gewehrs tötet. Quiroga zieht in den argentinischen Urwald. Seine junge Frau hält es dort in der Einsamkeit nicht aus und begeht Selbstmord. Quiroga erkrankt an Krebs und tötet sich selbst. So viel Unglück in einem einzigen Leben. Das kann man sich kaum ausdenken.
Als ich am Morgen zum Frühstück aufbreche, erschrecke ich mich an der Ampel zu Tode. Ein Motorradfahrer, die „Abkürzung“ über die falsche Straßenseite nehmend, rast so nahe an mir vorbei, dass ich den Fahrtwind spüre.
Dann mache ich mich auf den Weg zum Museum. Dabei komme ich wieder an dem Café von gestern vorbei. Jetzt achte ich auf das Namensschild: Don Jacinto – Pan y Tinto.
Diesmal hat das Museo de la Memoria geöffnet. Auf dem Gelände davor ein Hinweis darauf, dass sich hier jeden Mittwoch die Mütter von Vermissten oder Getöteten treffen um nichts dem Vergessen anheimfallen zu lassen. Seit 23 Jahren!
Vor dem Museum eine Gruppe Touristen, im Museum eine Schulklasse.
Es geht durch einen hohen, schmalen Gang mit schrägen Wänden rauf ins erste Obergeschoss. Dort ist die Ausstellung.
Das Museum ist nicht in erster Linie eine Chronologie der Ereignisse und schon gar nicht eine intellektuelle, sondern eher eine symbolisch Auseinandersetzung mit dem Thema Angst, Gewalt, Verlust. Es gibt einige Vitrinen mit kleineren Objekten, aber das meiste ist virtuell.
Die Kunst hat sich immer wieder mit der Gewalt in Kolumbien auseinandergesetzt. Sehr beeindruckend eine Montage am Strand. Dort liegen aus natürlichen Objekten geformte Konturen von Menschen. Die werden ganz allmählich von den Wellen angegriffen und am Ende vollständig weggespült.
In der Musik hat sich vor allem der Rap mit dem Thema auseinandergesetzt. Man kann einen Titel wählen und hören. Unter den Liedern ist eins mit einem Refrain in perfektem Deutsch!
In einer Vitrine sind blau-weiße Keramikteller ausgestellt. Sie zeigen Szenen aus dem Leben auf dem Lande: ein Mädchen füttert Hühner, ein Pferd mit einem Fohlen, ein Sämann auf dem Felde. Die ersten vier oder fünf Teller sind heil, alle anderen sind zerbrochen.
Wie in keinem anderen Land der Welt waren Gewerkschaftsmitglieder in Kolumbien Opfer der Gewalt. In einer Vitrine sind Dominosteine mit dem Konterfei von Gewerkschaftern ausgestellt. Die ersten stehen noch, alle anderen fallen der Reihe nach, eben wie Dominosteine, um.
Auf Photos sieht man ein von einer Bombe zerstörtes Klassenzimmer, ein Photo von einer Terroristenattacke, bei der 33 Schüler ums Leben kamen. Man sieht aber keine Opfer, keine Täter, keine Waffen. Nur die Zerstörung. Unter den Photographien besonders bedrückend die Abbildung von Vätern, die ihre toten Kinder in den Armen halten. Und die einer Frau, die mit Rosen und dem Konterfei ihres Mannes auf der Bluse vor dessen Grab hockt. Dann der Brief eines Schuljungen, der seinem Vater, einem Arzt von seinem Alltag berichtet und sagt, er sei froh, dass der in den Bergen sei. In Wirklichkeit ist der Vater entführt worden.
In Videos sieht man Bilder von zwei großen Protestmärschen gegen die Gewalt, einmal lauter Radfahrer, ganz nah beisammen in einem Pulk fahrend, einmal ein Fußmarsch, bei dem alle Demonstranten in Weiß gekleidet sind. Die Menschenschlange zieht sich eine ganze Avenue in Medellín entlang und verliert sich ganz hinten im Horizont in einem Park.
Man kann auf verschiedenen Zeitleisten die ganze Geschichte des Terrorismus in Kolumbien verfolgen, aber das ist ziemlich mühsam. Es wird aber deutlich, dass sowohl die Miliz und die Guerilla-Gruppen als auch die die staatlichen Streitkräfte eine Rolle spielten und für die Eskalation der Gewalt verantwortlich waren.
Nach der Besichtigung versuche ich, ins öffentliche Internet zu kommen, eine komplizierte Angelegenheit. Name, Mailadresse, Telefonnummer, Geburtsdatum und dann noch als Sicherheitscheck eine Zahl erkennen. Erst wird mein Name nicht anerkannt. Ich wähle ein spanisches Pseudonym. Dann geht’s. Auch die Mailadresse sei falsch, wird mir gesagt. Ich versuche sie ein zweites und ein drittes Mal, klappt nicht. Dann nehme ich meine andere Mailadresse. Jetzt geht’s. Bei der Telefonnummer versuche ich es ohne die internationale Vorwahl, mit internationaler Vorwahl und 00, mit internationaler Vorwahl und +. Alles falsch. Dann nehme ich irgendeine kolumbianische Telefonnummer. Ich bin aber immer noch nicht im Netz. Erst muss noch eine Umfrage beantwortet werden: Warum benutzen sie das Netz, wie oft benutzen sie das Netz usw. Und schließlich: Wie zufrieden sind sie mit der Handhabung des Netzes? Bitte bewerten sie auf einer Skala von 1-10! Dann komme ich endlich rein ins Netz. Aber nach 10 Minuten bin ich wieder draußen.
Ich mache Pause bei Don Jacinto und bestelle einen Kaffee. Die Kellnerin empfiehlt mir ein Gebäck, das viel zu groß ist. Den Rest könne man einpacken, meint sie. Den nimmt dann später ein Bettler gerne entgegen.
Ich gehe Richtung Zentrum und komme wieder an dem Weihnachtsungetüm vorbei. Erst jetzt merke ich, dass es vielleicht gar nichts mit Weihnachten zu tun hat. Die verschiedenen Häuser sollen wohl die verschiedenen Kommunen Medellíns darstellen. Einige haben Balkone, an einigen hängt Wäsche zum Trocknen, und zwischen den Häusern sieht man Straßenlaternen.
Eine Frau mit einem schweren Obstkarren müht sich vergeblich, über die Bürgersteigkante zu kommen. Sofort ist ein Fremder dabei und hilft.
Ich komme zum Parque Botero und sehe mir die Skulpturen an. Ganz am Rande des Platzes eine wenig beachtete Skulptur, die Pensamiento heißt. Bei der steht eine Frau auf einem Kopf.
Überall posieren füllige Frauen vor den fülligen Figuren. Botero hätte es vermutlich gefallen.
Eine Frau, die an einem Brunnen Plastikfiguren mit Wasser füllt, spricht mich mit Gringo an und bekommt sofort meinen Ärger zu spüren.
Es wird immer heißer. Ich kaufe einen Becher Ananas und setze mich einen Moment auf eine Bank.
Dann gehe ich ins Museo de Antioquia. Der Eintritt entspricht europäischem Niveau: 42.000 Pesos.
Über eine monumentale Marmortreppe geht es ins 2. Obergeschoss. Auf dem Treppenabsatz steht eine Figur, die Bolívar, siegesgewiss, statt auf einem Pferd auf einem Nilpferd reiten lässt.
Die Besichtigung beginnt mit Botero, dem Maler. Der kommt chronologisch vor dem Bildhauer. Die frühen Bilder zeigen oft Stierkampfmotive. Sein Vater wollte wohl, dass er Stierkämpfer werden sollte, aber ihn interessierte die Malerei mehr.
Unter den früheren Bildern ein paar schöne Stillleben, eine Küchenszene, ein Obstteller, aber selbst die Mandarinen sind füllig.
Die späteren Bilder sind wie Vorlagen für die Skulpturen. Auch sind alle Figuren rund, voluminös, wirken wie aufgeblasen. Generäle und Mütter, eine Frau, Rosita, mit lackierten Fingernägeln, eine Zigarette mit Zigarettenspitze rauchend, genauso wie Nuestra Señora de la Colombia.
Im Unterschied zu den Skulpturen kommt hier natürlich die Farbe ins Spiel. Meistens sind es Pastellfarben, Hellblau und Rosa geben den Ton an. Wirkt irgendwie naiv.
Dann kommt ein Bild, das ich kenne, aber nicht mehr einordnen kann, ein Doppelporträt von Ludwig XVI. und Marie Antoinette, beide im Königsornat, beide untersetzt, beide mit Doppelkinn. In dem Königsporträt sieht man, wie eine Frau hinter einer Tür heimlich die Szene beobachtet. Dazu gibt es eine Geschichte: Der Anlass für das Gemälde war der Wunsch von Boteros Mutter, nach Versailles zu reisen. Bevor sie die Reise antreten konnte, verstarb sie aber. Daher beschloss Botero, das Königspaar nach Medellín zu „holen“. Es ist die Mutter, die hinter der Tür hervorlugt.
Der zweite Teil des Museums ist völlig anders. Hier herrscht regelrechtes Durcheinander, es ist von allem etwas zu sehen, verschiedene Stile, verschiedene Materialien, verschiedene Größen, alles in der Art der Petersburger Hängung ungeordnet über- und nebeneinander hängend.
Das erste Bild, das meine Aufmerksamkeit auf mich lenkt, einfach deshalb, weil das Licht geradezu aus dem Bild herauszutreten scheint, stellt eine Frau beim Bügeln dar. Man sieht sie von hinten bei der Arbeit, mit blauem Kleid und hohen Schuhen. Wunderbar die Ausarbeitung der Details: die akkurat gefalteten und gestapelten Handtücher auf einem Hocker, das Muster der glänzenden Bodenfliesen, die Falten in der Bügeldecke, das rote Band um die Taille der Frau, die Obstschale am Rand, der Blick durch eine Tür in das Nebenzimmer, von dem man nur einen Ausschnitt sieht, genauso wie von dem Bild, das dort an der Wand hängt.
Sehr schön auch die Calle de Cartagena. Man spürt förmlich die Mittagshitze. Die gepflasterte Straße ist fast leer, bis auf eine Frau mit Kopftuch, die an der Seite der Kirche entlanggeht, ein Pferdefuhrwerk, das auf den Betrachter zufährt. Alles in sehr flüchtiger Malweise. Es kommt weniger auf das Detail als auf den Eindruck an. Wunderbar der große Baum im Vordergrund, mit seinen zu allen Seiten Schatten werfenden Blättern und Ästen.
Ganz anders eine moderne Kreuzigung, mit den drei trauernden Frauen vor dem Kreuz, alle in moderner Kleidung, jede in einer anderen Pose. Hinter ihnen ein kleiner Junge, über dessen Präsenz man sich wundert in dieser Szene. Seine Haltung ist ehrfurchtsvoll. Er hält den Kopf geneigt und seinen Hut vor der Brust. Hier ist alles mit ganz einfachen, fast schematischen Linien dargestellt, der Leib Christi, die Kleider der Frauen, die blanken Bäume hinter dem Kreuz, die blanken Berge im Hintergrund. Farblich überwiegen verschiedene Schattierungen von Braun und Beige.
Ganz experimentell ein großformatiges Gemälde, das nur aus einer weißen Papierfläche besteht. Das Papier ist an vielen Stellen eingestochen, so dass sich „Berge“ ergeben. Aus denen entsteht das Profil von Kolumbien. Welche metaphorische Bedeutung die Einstiche haben, kann man sich natürlich fragen.
Zum Schluss noch ein abstraktes Bild, das nur aus geometrischen Formen besteht, blauen und roten Balken, mal breiter, mal schmaler, die oft quer zueinander stehen oder übereinander stehen. Bestimmte Formen wiederholen sich und werden zur Bildmitte hin immer kleiner. Durch die Formen ergeben sich eine (gedachte) senkrechte Linie und zwei (gedachte) Diagonalen. Man sieht einen „Raum“, aber der ändert sich immer wieder, je nachdem, wie das Auge die Balken wahrnimmt. Sehr eindrucksvoll.
Vom Treppenhaus aus hat man durch die Glasfront einen schönen Blick auf den Platz und den eher sakral aussehenden Palacio de la Cultura mit seiner Kuppel.
Dann gehe ich an dem Nilpferd reitenden Bolívar zum Ausgang. Habe wenig gesehen, aber das Wenige hat sich gelohnt.
Nach dem Museum gehe ich zur Iglesia de la Veracruz. Aber da ist aber Messe.
Ich gehe durch das Gewühl Richtung Candelaria. Die leichten Mädchen stehen jetzt nicht mehr auf dem Platz, sondern ein bisschen abseits.
Ich gehe eine der Ladenpassage runter, um den Laden zu finden, an dem sie damals mein Handy gerettet haben. Aber es gelingt mir nicht. Es gibt zu viele ähnliche Läden. Auch meinen Frisör finde ich nicht mehr.
In der Candelaria spricht mich nichts an. Einzig die Holzbalkendecke, die hölzerne Brüstung und die hölzerne Orgelbühne gefallen mir.
Eine Frau, den Kopf an die Bank gelehnt, ist beim Beten eingeschlafen, ein Mann, in lässiger Haltung schräg in einer Bank sitzend, spricht in normaler Lautstärke in sein Handy.
Vor der Kirche gibt es Verkaufsstände aller Art. Neben Obst gibt es auch Lose für die Weihnachtslotterie – fein säuberlich in kleinen Scheinen auf dem Tischchen präsentiert – Mausefallen und Rattengift.
Ein einbeiniger Mann kommt über die Straße gehumpelt, schafft die Bordsteinkante nicht, bekreuzigt sich, versucht es ein zweites Mal und schafft es. Ich reagiere nicht schnell genug, um ihm eine Hand zu geben.
Auf dem Platz machen vier Männer, von einer kleinen Zuschauergruppe umringt, Musik. Drei Gitarren, einer spielt den Rhythmus, einer die Melodie, einer spielt Solo. Alle Gitarren haben einen anderen Klang. Leider ist die Stimme des Sängers nicht stark und nicht gut genug.
Ich lasse mich treiben und komme nahe der Metrostation in ein ungewöhnliches Café, das Málaga, ein traditionelles Café, ein Café der anderen Art. An den Wänden und den Pfeilern unendliche Reihen von Photos, Musiker und Sänger darstellend. An einer Wand der Hund vor His Master’s Voice, vor dem Grammophon sitzend. Daneben Gitarren. Vor der Wand die eine oder andere Juke-Box, rein dekorativ.
Auf einer Bühne stehen zwei alte Männer in unmodischen kurzärmeligen Hemden und legen Musik auf – Schallplatten! Klingt argentinisch, ist aber kolumbianisch. Ein Lied trägt den Titel „El Carcelero“ und handelt von einer Frau, die sich nach anfänglichem Eheglück, von ihrem Mann eingesperrt fühlt.
Dass der Tango auch in Kolumbien eine Heimat hat, ist wenig bekannt. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass Carlos Gardel – dessen Pappmachefigur hier vor der Wand steht – hier in Medellín bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam.
Ich trinke ein Bier und noch eins und mache mich, leicht beschwipst und stark desorientiert, auf den Weg. Mir ist hier alles fremd.
Ich sehe Männer draußen auf der Straße Karten spielen, komme an dem Photogeschäft Bremen vorbei, sehe vor einem Supermarkt riesige Kürbisse und Wassermelonen und Tomaten, die ich nicht als solche identifiziert hätte und bleibe vor einem Baum mit einem breiten Stamm stehen.
Es gibt Läden über Läden, alle bis zur Decke mit ihren Artikeln vollgestopft: Brillen, Handyhüllen, Koffer, Uhren und, vor allem Schuhe. Wer soll das alles kaufen?
Zufällig gelange ich auf die Carrera 39 und befinde mich plötzlich an der Tramstation Don José, von der aus ich am Montag nach Sabaneta fahren wollte. Gegenüber das Café, an dem ich die Torte gekauft habe. Diesmal achte ich auf das Namensschild: Al Pan Pan. Das ist der erste Teil des Sprichworts Al pan pan y al vino vino.
Jetzt geht es nur noch darum, zu entscheiden, in welcher Richtung die Zählung der Calles heruntergeht, aber diesmal liege ich richtig. Bald kommt Don Jacinto in Sicht und dann die Kirche und dann bin ich zu Hause. Wieder, ohne nass geworden zu sein. Am Abend geht es dann aber so richtig los.
Der Tag ist noch nicht zu Ende. Claudia hatte mir gesagt, ich solle Bescheid sagen, wenn ich Wäsche waschen wolle. Sie kündigt ihr Kommen an, aber es tut sich nichts.
Dann klopft es endlich an der Tür. Sie hat Luisa mitgebracht. Die Waschmaschine ist neu, und sie kennt sich besser aus. Die Wäsche kommt in die Trommel, das Waschmittel lose dazu, und dann geht es los. Oder es soll losgehen. Die Trommel rührt sich ein paar Mal, ohne Überzeugung, aber es kommt kein Wasser rein. Es wird alles Mögliche und eingeschaltet und ausgeschaltet, wobei die beiden sich ständig in den Weg kommen, aber es nutzt nichts. Sie rufen jemanden an, aber der sitzt auf dem Motorrad. Als er zu Hause ist, ruft er zurück. Jetzt gibt es eine Ferndiagnose oder besser gesagt, eine Fernberatung. Ohne Erfolg.
Die beiden lassen sich aber nicht unterkriegen. Unten vor der Treppe steht eine zweite Waschmaschine. Sie schnappen sich die Wäsche und kündigen an, sie zu mir rauf zu bringen, sobald sie fertig ist.
20. November (Donnerstag)
Heute jährt sich der Todestag Francos zum 50. Mal. Als ich zum ersten Mal in Spanien war, lebte er noch. Bei den nächsten Besuchen hatte ich dann die Gelegenheit, wenn auch nur von außen, die spannende Phase der transición mitzuerleben. Falange, Kirche, Armee, das waren Francos wichtigste Stützen. Heute wird auch Francos Erbe entsorgt. Seine sterblichen Überreste sind aus dem Valle de los Caídos (das auch nicht mehr so heißt) in eine Familiengruft überführt worden, und sein Medaillon ist in der Plaza Mayor von Salamanca entfernt worden. Die katholische Kirche hatte damals viel zu sagen. Heiraten durfte man nur kirchlich. Heute ist das anders. Heute beläuft sich die Zahl der Gläubigen, die regelmäßig an kirchlichen Riten teilnehmen, nur noch auf 19%. Das dürfte hier in Kolumbien anders sein.
Da früh schon die Sonne rauskommt, entscheide ich mich unter den drei zur Auswahl stehenden Optionen für den Ausflug nach Santa Fe.
Die Fahrt zum Terminal del Norte ist länger, weiter und teurer als gedacht. Auf dem Armaturenbrett hat der Taxifahrer einen kitschigen Altar mit dem gefallenen Jesus nach der Geißelung aufgestellt.
Wir kommen über eine Schnellstraße, an der um vorsichtiges Fahren gebeten wird. Auf dieser Straße habe es schon 13.810 Verletzte gegeben.
Das Terminal ist hochmodern, mit Rolltreppen, die auf die verschiedenen Ebenen führen, und modernen Geschäften mit viel Glas. In der Mitte steht ein Auto, das zur Verlosung ansteht.
Bei Mordiscos bekomme ich Kaffee und einen Kuchen, der sich Käsekuchen nennt, aber keiner ist. Er wird ohne Gerätschaften serviert, man isst ihn mit der Hand. Gestern sind mir die Spiegeleier beim Frühstück mit einem Löffel serviert worden.
Ich habe Glück: Den Bus, der in zwei Minuten abfährt, erwische ich noch. Er ist bis auf den letzten Platz besetzt.
Wir stehen von Beginn an im Stau. Die höchste Geschwindigkeit, die wir in den ersten 30 Minuten erreichen, ist 17 km/h.
Dann kommen wir auf eine gut ausgebaute Straße und donnern mit 50 km/h dahin. Es geht steil bergauf. Zuerst sieht man Medellín in dem Talkessel liegen, dann kommt dichter Wald zu beiden Seiten, dann eine wunderbare Berglandschaft, von der man später, von Santa Fe aus, leider nichts sieht.
Ich versuche, trotz des Ruckelns eine Kurzgeschichte zu lesen. Diesmal ist Borges dran. Ein neunjähriger Junge, als einziges Kind unter Erwachsenen, erlebt bei einem Grillfest auf einem Landgut, wie es zwischen zwei Erwachsenen beim Pokern zum Streit kommt. Vorwürfe, Angriffe, Beleidigungen. Die Sache eskaliert, und es kommt zum Duell mit Waffen, Degen gegen Messer. Einer der Duellanten kommt zu Tode. Der Junge muss, wie die anderen, hochheilig versprechen, keiner Menschenseele etwas davon zu erzählen, und das tut er auch nicht, nicht nur, weil er das Versprechen gegeben hat, sondern auch, weil es schön ist, so ein Geheimnis für sich zu behalten. Erst Jahre später kommt der Vorfall im Gespräch mit einem befreundeten Kommissar zur Sprache. Der kennt sich in der Geschichte der Duelle sehr gut aus, kennt auch die Waffen, die dabei zum Einsatz kamen, und irgendwie bekommt der Leser – typisch Borges – Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Erzählung. Am Ende heißt es lapidar, die beiden Männer hätten gar nicht gegeneinander gekämpft, sondern die Waffen. Die haben sich die Männer ausgesucht. Dinge haben nämlich ein längeres Leben als Menschen.
Wir überqueren den Río Cauca. Dem bin ich schon in Popayán begegnet. Habe ihn zwar nicht gesehen, aber mitbekommen als Namen der Provinz. Er ist 1.250 Kilometer lang, fast auf den Kilometer so lang wie der Rhein. Und er ist nur der Nebenfluss des Magdalena.
Nach genau anderthalb Stunden erreichen wir Santa Fe. Schöne Sitte: Alle bedanken sich beim Aussteigen bei dem Fahrer.
Erst als ich aus dem klimatisierten Bus aussteige, merke ich, wie warm es ist. Sommer!
Über eine schmale Kopfsteinpflasterstraße mit schönen kolonialen Bauten an beiden Seiten geht es steil rauf zur Plaza Mayor. Die Häuser sind alle niedrig und weiß und haben schöne, hölzerne Balkone und schöne Holzgitter vor den Fenstern, immer anders. An den Häuserwänden der Schatten von den durchhängenden Stromleitungen und der Weihnachtsdekoration.
Die Plaza Mayor ist ein Schmuckstück, mit einem Park im Zentrum und repräsentativen Kolonialbauten um den ganzen Platz herum.
Die Leute sitzen auf den Parkbänken und in den Straßencafés. Ich steuere auch gleich eins an. In einem Beet davor steht ein Bien Me Sabe, ein Baum afrikanischer Provenienz mit hochgiftigen Früchten. Da ist der Name nicht ohne Ironie. Die Frucht wird aber dennoch in der Gastronomie verwendet, in ganz kleinen Dosen. Hier gilt wohl das alte Motto Die Dosis macht das Gift. Ich ziehe es aber vor, nicht zu probieren.
Stattdessen bestelle ich bei dem freundlichen Wirt einen Milchskake, einen batido. Er rasselt die verschiedenen Geschmacksrichtungen runter, und ich halte mich am ersten besten fest: guanábana. Schon mal gehört, aber wieder vergessen. Das Internet nennt als deutsches Äquivalent Stachelannone. Hilft mir auch nicht weiter. Aber das Photo schon. Muss sie schon mal als Frucht gegessen haben.
Jetzt stellt sich ein richtiges sommerliches Feriengefühl ein. Es ist warm, die Sonne scheint, das Getränk ist erfrischend und der Blick auf den Platz einfach schön.
Ich lasse mir Zeit und sehe mir dann die Kirche an, die eine Platzseite einnimmt, weiß, ohne figürlichen Schmuck an der Fassade.
Innen sieht man erst, wie hoch die Kirche ist. Deshalb die dicken Pfeiler, die das Dach stützen. Viel Kitsch, aber es lohnt sich dennoch. Der Blick nach draußen durch die Gitter auf das Grün ist genauso schön wie der Blick diagonal durch den Kirchenraum mit den weißen Pfeilern zu beiden Seiten des Mittelschiffs.
Die Ausstattung meist kitschig, aber es gibt einen dunkelhäutigen Jesus am Kreuz, schokoladenbraun, und ein Relief, das schematisch den ersten Gottesdienst darstellt, der hier gehalten wurde, 1541!
Dann sehe ich mir den Platz an. Auffällig schön im Sonnenlicht der leise plätschernde, zweischalige Brunnen, bekrönt von einem Vogel. Das Schild informiert, dass es sich um eine garza handelt, ein Art Reiher.
In der Mitte das Standbild eines Politikers, eines Diktators. Kommt nicht so häufig vor, dass man einen Diktator ehrt, und erst recht nicht, dass man ihn so nennt. Später, vor dem Palacio Consistorial, ergibt sich eine Erklärung. Der Mann, Juan del Corral, war der erste im Land, der die komplette Befreiung der Sklaven durchgesetzt hatte, und eine wichtige Figur in den verschiedenen Phasen des Wegs zur Unabhängigkeit. Er war wohl Präsident von Antioquia, als das vorübergehend ein selbständiger Staat war. Zum Diktator, heißt es, sei er gewählt worden. Da wüsste man natürlich gerne, wer wahlberechtigt war.
Auf dem ganzen Platz ist bereits Weihnachtsdekoration angebracht. Man geht durch ein Spalier von geflügelten Wesen, und zwischen den Bäumen hängen Lichterketten. Die treffen sich, von allen vier Seiten kommend, genau in dem Kopf des Diktators!
Ich gehe, auf der Suche nach einer weiteren Kirche, dem Templo de Nuestra Señora de Chiquinquirá, eine steile, unbelebte Straße hinab, die von dem Platz wegführt. Finde sie aber nicht. Man sieht, dass hier die Häuser zwar in Ordnung, aber längst nicht so fein rausgeputzt sind wie auf den anderen Straßen. Von hier aus hat man auch einen Blick auf die Berge. Schön, aber nichts im Vergleich zu dem, was man vom Bus aus gesehen hat.
Auf dem Platz sind noch weitere Bäume beschildert. Darunter Clavellinos, ein Baum aus Mittelamerika. Der Saft seiner Blätter kuriert Fieber, der Saft der Blüten kuriert Schmerzen, und die Samen setzt man gegen Atembeschwerden und Husten ein.
Die Palma Real ist der Nationalbaum von Kuba. Sie wächst sehr schnell und kann 30 Meter hoch werden. Ihr Holz kommt beim Hausbau zum Einsatz, und ihre Blätter beim Abdecken der Häuser.
Der Tamarindo kommt aus Afrika. Ist langlebig und wächst langsam. Seine Frucht ist essbar und kommt in der traditionellen Gastronomie zum Einsatz. Sein Holz wird als Brennholz verwandt, und seine Frucht dient als Abführmittel.
Die Lluvia de Oro – Goldregen – kommt aus Asien und hat wegen ihrer gelben Blüten vor allem dekorative Funktion.
Ich mache mich noch einmal auf die Suche nach der Kirche. Dabei nehme ich eine von zwei Straßen, die in verschiedene Richtungen von der Plaza Mayor abgehen. Sie sind ganz gleich und doch verschieden. Die Anlage der Straßen und die Häuser sind kaum zu unterscheiden, aber auf einer geht es ganz ruhig zu, auf der anderen ganz geschäftig, mit Läden, motorisierten Tuk-Tuks, Motorrädern, Passanten, Lastenträgern.
Diese Straße führt auf einen weiteren Platz. Hier gibt es einen kleinen Markt, meist Andenken oder kleine Geschenkartikel. Ursprünglich wurde in dieser Gegend auch mal Gold gegraben, aber was hier angeboten wird, ist eher Billigware.
Von der Kirche nichts zu sehen, also gehe ich wieder zur Plaza Mayor. Hier kann man in den Palacio Consitorial reinschauen, und dessen Innenhof hat zwei unschätzbare Dinge zu bieten: Schatten und ein WC.
Dann gehe ich die ruhige Straße runter. Die soll zu einer historischen Brücke führen. Unterwegs bleibe ich bei der Casa Negra stehen, dem Geburtshaus des lokalen Dichters, der in diesem Haus allerhand aufregende Geschichten spielen lässt. Der Name des Hauses – heißt offiziell Centro de la Cultura Julio Vives Guerra – wird auf die Tradition zurückgeführt, dass die Fassade bei Trauerfällen schwarz gestrichen wurde.
Ich halte ein Tuk-Tuk an. Der Fahrer sagt mir, bis zur Brücke sei es zu weit. Er könne mich aber zum Templo de Nuestra Señora de Chiquinquirá fahren. Das tut er, und es stellt sich heraus, dass die gleich an dem Platz mit den Marktständen liegt, an dem ich vorher war.
Die Kirche ist aber geschlossen. Ich gebe mich geschlagen und kehre zur Plaza Mayor zurück. Dort sehe ich zwei Touristen, die besser gewappnet sind als ich. Sie tragen Sonnenschirme. Ich schwitze in meiner Regenjacke.
Ich gehe in das Straßencafé von vorhin und bestelle die Bandeja Paisa. Bei jedem Besuch in Medellín ist die einmal fällig. Es gibt vier verschiedene Fleischarten: chorizo, morcilla, chicharrón und Gehacktes. Dazu Bohnen, Reis mit Spiegelei, Salat, Avocado und die unvermeidliche arepa. Auf jeden Fall ein Garant, satt zu werden.
Wieder habe ich Glück, der Bus nach Medellín steht abfahrbereit am Terminal.
Auf dem Rückweg habe ich eine Sitznachbarin, an der Botero seine Freude hätte. Auch ohne Bewegungen nimmt sie anderthalb Plätze in Anspruch. Und sie bewegt sich. Gerne und oft.
Die Fahrt demonstriert auch mal wieder die Unempfindlichkeit der Kolumbianer gegen Lärm. Der brummende Motor bildet die Grundmelodie. Die wird rhythmisch begleitet von einer Frau vor mir, die immer wieder eine halb volle Plastikflasche geräuschvoll zusammendrückt, um dann wieder Luft reinzulassen. Aus dem Lautsprecher dröhnt Musik. In der anderen Sitzreihe brüllt ein Mann seinem Geschäftspartner Zahlen und Daten ins Telefon. Er versucht, einen Mann zu übertönen, der, mit dem Gesicht zu uns, mit Hilfe eines Mikrophons seine Mittelchen für Darmreinigung anpreist und zum Verkauf anbietet.
Unterwegs fängt es heftig an zu regnen, aber als wir in Medellín ankommen, hat der Regen nachgelassen. Und ich komme mit Hilfe eines Taxis trockenen Fußes nach Hause.
Der Fahrer umfährt in großem Bogen einen Stau, nur um dann an einer Karambolage zwischen einem PKW und einem Bus zu Stehen zu kommen. Irgendwie kurvt er aber drum herum. Auf überfüllten Straßen geht es weiter. Ich blinzele heimlich zum Taximeter hoch. Reicht noch, aber ich habe zu wenig Geld umgetauscht. Eine Aufgabe für morgen.
21. November (Freitag)
Als ich aufwache, ist es noch stockdunkel, aber den Verkehr hört man schon unten vorbeirauschen, vor allem die Motorräder und die Busse.
Auf dem Eistee, den ich gestern im D1 gekauft habe, steht Eistee auf dem Etikett.
Wenn man bei Rot an der Kreuzung steht, brausen immer zuerst reihenweise Motorräder an einem vorbei. Die haben sich an der roten Ampel die Pole Position erobert, indem sie sich irgendwie an den Autos vorbeigeschoben haben.
Schlechtes Omen: Am Morgen verlaufe ich mich auf dem Weg in die Stadt. Weil ich mich auf meinen Orientierungssinn verlasse. Sollte man nicht tun.
Am Ende frage ich mich durch und komme doch noch zum Edificio Correjer und der Wechselstube. Ein freundlicher Mann dort erklärt mir, wie ich zum Museo del Agua komme. Ich solle die Metro nehmen und bis zu Universidad fahren.
An der Kasse in der Metro bitte ich um eine Fahrkarte, aber man kann keine einzelne Fahrkarte kaufen, sondern braucht zuerst eine dieser bekloppten elektronischen Karten, die man dann aufladen muss. Wer die erfunden hat, hat eine gute Geschäftsidee gehabt. Sie kosten Geld und sind zu nichts nutz. Ich gehe erst verärgert weg, dann besinne ich mich eines Besseren und kaufe die Karte samt drei Fahrten. Teure Angelegenheit.
Die Metro gab es schon, als ich zum ersten Mal hier war, vor 16 Jahren, aber sie ist noch überhaupt nicht in die Jahre gekommen, ist modern, sauber, schnell, mit langen Zügen mit durchgehenden Wagen. Nur gibt es weder eine Ansage zu den Stationen noch eine Karte in den Zügen, und in den Bahnhöfen höchstens eine Karte an einem versteckten Ort.
Als ich auf dem Bahnsteig stehe, fällt mein Blick auf eine Werbeanzeige mit schöner Sprachmischung: Hasta 50% off.
In der Metro stehe ich so vor mich her sinnend herum, als mich plötzlich eine Frau anspricht. Sie hat einen der Studenten aufgefordert, aufzustehen und Platz zu machen. Nicht für sich, sondern für mich! Lass den alten Mann sich hinsetzen. Ich lehne dankend ab.
Ich fahre bis Universidad und komme in ein hochmodernes Viertel mit lauter hohen Gebäuden und großen Plätzen. Sieht richtig aus, aber bekannt kommt es mir hier nicht vor. Ich laufe über die großen Plätze und entdecke dann in der Ferne eine Schlange vor einer Kasse. Als ich dahinkomme, frage ich den Wachmann, ob das die Schlange für das Museo del Agua sei. Nein, dies hier sei das Aquarium. Das Museo del Agua befinde sich woanders, ich solle die Metro nehmen und nach Alpujarra fahren.
Erst einmal bestelle ich an einem modernen Imbissstand einen Kaffee. Dazu etwas Süßes? Nein, hat er nicht. Nur Herzhaftes. Er zählt mir auf, was er da alles hat, lauter Variationen von Teigtaschen. Welche ich denn nehmen soll, frage ich. Am besten von allen, sagt er. Ich lache und nehme die erste beste.
Dann geht es wieder zur Metrostation und wieder in die andere Richtung. Wie geheißen, steige ich in Alpujarra aus. Die Gegend sieht ganz anders aus, alles sehr geschäftig, viel Verkehr, überall Verkauf, von museumsähnlichen Bauten nichts zu sehen. Ich gehe auf gut Glück in eine Richtung und entdecke in der Ferne das Streichholzhaus. Wunderbar. Da in der Nähe war das Museo del Agua.
Ich muss noch zwei große Plätze und eine breite Straße überqueren und dann bin ich da. Das Häuschen für den Eintrittskartenverkauf sieht nicht sehr einladend aus. Ich frage einen Wachmann. Nein, heute sei das Museum geschlossen. Ich solle mir den Aushang ansehen. Das tue ich, aber es hilft mir auch nicht weiter. Eine Begründung wird ohnehin nicht genannt. Ich sage, dass ich schon am Dienstag vergeblich hier war und man mir gesagt hat, die ganze Woche über sei das Museum geöffnet. Ja, aber aus unvorhergesehenen Gründen geschlossen. Aber morgen, morgen sei auf! Nein danke, mir reicht‘s.
Jetzt schlage ich mich auf anderen Wegen zu der nächsten Metrostation durch. Ich komme in einen modernen Gebäudekomplex. Hier gibt es ein öffentliches WC. Na, wenigstens etwas. Ich komme hin – geschlossen.
Auf dem Weg zur Metro komme ich dann zu einem älteren Gebäude, das nicht so ganz in die Gegend passt. Auf jeden Fall gibt es hier auch ein öffentliches WC, und das hat geöffnet.
Das Gebäude, stellt sich heraus, ist das ehemalige Bahnhofsgebäude von Medellín, und so sieht es auch aus, wie die Bahnhofsgebäude bei uns aus der Gründerzeit, die nicht wie reine Zweckbauten aussehen, sondern etwas hergeben wollen. Dieser Bahnhof hat zwei Türmchen und alle möglichen baulichen Verzierungen, die wie Zitate von kirchlichen Bauten wirken. Der Bahnhof war bis 1962 in Funktion, erfährt man. Drinnen gibt es ein Modell und verschiedene Schwarz-Weiß-Photographien von früher. Und einen Briefkasten wie aus alten Zeiten.
Zur Metrostation ist es noch ein Stückchen, und unterwegs komme ich an einem Laden von Bosch vorbei. Das moderne Emblem vermischt die Farben der beiden Länder und gibt das Motto aus: Compañía Alemana – Corazón Colombiano.
Als ich vor 16 Jahren hier war, habe ich gleich am ersten Tag eine Fahrt mit der Seilbahn gemacht, einen der Hänge des Kessels hinauf, in dem Medellín liegt. Heute am letzten Tag will ich die Aktion wiederholen. Also fahre ich mit der Metro nach Acevedo. Hier heißt die Seilbahn mal Teleférico, mal Metrocable. Habe gebraucht, um herauszufinden, dass das nicht zwei verschiedene Dinge sind.
In der Metro zwei Frauen, die ein Buch lesen, eine im Stehen, die andere im Sitzen. Die sitzende Frau hat ganz kurz geschorenes, rötlich-braun gefärbtes Haar, trägt eine viel zu große Brille mit rosafarbener Fassung, eine pinkfarbene Uhr, rote Herzchen als Ohrringe, eine Kette mit allerlei kleinen Symbolen, die in eine Sonne mündet, und hat auf dem Unterarm alle möglichen bunten Symbole, von denen ich nur einen Schmetterling, einen Heißluftballon und einen Stern identifizieren kann. Als Lesezeichen hat sie eine große, schwarze Katze, deren Schwanz sich bis über ihren Kopf windet.
In Acevedo kann ich direkt in die Seilbahn umsteigen. Die fährt, ohne zu halten, im ständigen Kreislauf. An den Stationen – oben und unten und an zwei Zwischenstationen – verlangsamt sie das Tempo, so dass man aus- und einsteigen kann. Unten und oben ist sogar Personal vertreten, dass die Fahrgäste auf die einzelnen Kabinen verteilt, 6 pro Kabine. Alles geht wie am Schnürchen.
Damals ist es mir merkwürdig aufgestoßen, dass man mit so einer hochmodernen, teuren Einrichtung über die Armenviertel von Medellín hinüberfährt, aber die Seilbahn ist längst keine Touristenattraktion mehr, sondern Verkehrsmittel für die hier Ansässigen. An einer Häuserfront steht entsprechend auch der Dank an den Initiator: Muchas gracias a Juan Pérez por el metrocable.
Als erstes passiert man den Medellín, der hier eher kanalisiert aussieht. Das Wasser ist, wie beim Cauca, eher gelblich-braun.
Dann sieht man auf die Wohnviertel, aber auch auf die Straßen der Stadtviertel hier am Hang. Viele Häuser haben Wellblechdächer, fest angebrachte, bei anderen hat man einfach Ziegelsteine auf das Wellblech als Verstärker draufgelegt.
Auf einem Hausdach macht sich ein Maurer daran, ein zweites Stockwerk hochzuziehen, Stein auf Stein, wie bei uns früher. Die Dächer der Häuser und die Balkone sind oft nicht gesichert.
Zwischendurch sieht man ein Basketballfeld, einen Spielplatz und ein Fitnesszentrum, alles an freier Luft und auf Beton.
Außerhalb eines Schulhofs stehen Schulkinder in blauen Uniformen.
Das meiste sieht eher trostlos aus, aber einige haben ihre Balkone und Terrassen auch schön begrünt. Oder man hat Wäsche zum Trocknen aufgehängt.
Irgendwo steht an einer Wand Dios te ama, und gleich daneben kämpferische Partisanensymbole.
Dann kommt, zwischen den beiden letzten Stationen, die Bibliothek. Sie hieß damals noch Biblioteca de España, heute hat man sie nach San Antonio, dem Stadtviertel, benannt. Eingeweiht wurde sie 2007 in Gegenwart des spanischen Königpaars.
Mir ist der Bau noch genau in Erinnerung, auch wenn er inzwischen ein paar Kratzer abbekommen hat. Ich lese später, dass sie sogar vorübergehend geschlossen ist, wegen Sanierung.
Es ist ein imposantes Trio, futuristisch, experimentell, drei unregelmäßige, schwarze Kuben, jeder etwas anders als der andere. Sehen wie Würfel aus, die jemand dort hat fallen lassen. Die äußere Schicht besteht aus Schieferplatten. Komischerweise sieht man keine Fenster, aber das dürfte täuschen.
Oben macht die Seilbahn kehrt, und dann geht die Fahrt hinunter. An den Stationen füllt sich unsere Gondel. Wir sind jetzt zu acht.
Wir haben schon den Fluss überquert, als die Seilbahn plötzlich stehenbleibt. „¡La Luz!“ tönt es aus den Kehlen der Mitreisenden. Damit ist wohl die Elektrizität gemeint. Stromausfall. Da gehen einem ein paar Gedanken durch den Kopf. Die Tür ist geschlossen. Darüber kommt durch ein paar Ritzen etwas Luft rein. Nicht viel für 8 Personen. Lässt sich die Tür öffnen? Könnte man aus der Gondel springen? Sehr tief scheint es nicht zu sein, und man würde auf Gras fallen. Was, wenn es länger dauert? Platz, Durst, Angst – da kommt schon einiges zusammen. Aber: Muss es nicht eine Notstromversorgung geben, bei so einer modernen Anlage? Alle Aufregung umsonst. Nach zwei Minuten fängt die Gondel an zu schaukeln, und es geht weiter.
Mit der Metro geht es zurück in die Innenstadt. Auf dem Parque Botero versucht ein Mann, gebrauchte Personenwaagen zu verkaufen. Viel Erfolg scheint er nicht zu haben. Es liegen noch dieselben drei Waagen vor ihm auf dem Boden wie gestern.
Zum ersten Mal beachte ich eine eigentlich auffällige, aber in dem Gedränge um den Platz herum nicht zu Geltung kommende Skulptur. Man kann sie auch deshalb übersehen, weil sie keine „Bodenhaftung“ hat. Sie reckt sich von einem Pfahl über unseren Köpfen hinweg 18 Meter gegen Himmel. Alles strebt hier nach oben: Das Pferd mit seinem vor Erregung offenen Maul, das senkrecht in der Luft zu stehen scheint, als auch der Indio, der nur noch lose mit dem Pferd in Verbindung steht und seine Hand ganz nach oben reckt. In der Hand hält er noch eine Fackel oder ähnliches, und die weist noch weiter nach oben, dahin, wohin auch der Blick des Indios geht. Eine ganz rätselhafte Figur, mit einem ebenso rätselhaften Titel: El Desafío de la Raza.
Zum zweiten Mal heute verlaufe ich mich. Dabei müsste ich den Weg längst kennen. Ich mache irgendwo eine Kaffeepause, besinne mich, frage mich durch zurück zum Parque Botero, und dann fällt mir auch wieder ein, wie es nach Hause geht.
An einem Verkaufsstand mit Büchern sehe ich einen Band, den ich dieser Tage schon mal gesehen habe: Tú eres tu prioridad. Der Titel ist so dämlich wie America First! Und was soll so verdienstvoll daran sein, an sich selbst zuerst zu denken?
Der Weg zieht sich hin, die Beine wollen nicht mehr. Dann sehe ich „meine“ Kirche. Neue Kräfte. Ich schaffe es bis ins Romario. Dort gibt es was zu essen und was zu trinken. Die Gemüsesuppe mit Rindfleisch ist das Leckerste, was ich in diesen Tagen gegessen habe.
22. November (Samstag)
Der letzte Tag in Kolumbien. Jetzt geht es noch darum, das Geld, was ich gestern nicht mehr ausgegeben habe, doch noch unter die Leute zu bringen.
Die erste Gelegenheit dazu habe ich bei einem opulenten, einem Mittagessen gleichkommenden Frühstück in der Bäckerei, in der ich dieser Tage schon mal war. Die lockt einen mit ihrem Geruch an.
Die Kellnerinnen, alle pausbäckig und untersetzt, mit hübschen Uniformen einschl. Kopftuch, sind alle gleich freundlich. Ich verstehe jetzt endlich, was gemeint ist, wenn die Eier enteros sind, also ganz. Dann sind es Spiegeleier!
Als Antwort auf Gracias hört man hier Con mucho gusto, und wenn man Trinkgeld gibt, heißt es Dios se lo pague. Auch, wenn man einem Bettler was gibt.
Dann lasse ich noch Geld im D1, für heute und für Reiseproviant.
Organisieren, Schreiben, Packen stehen auf dem Programm. Und im Laufe des Tages findet sich noch Zeit für eine Mail an das Rathaus von Popayán, in der ich die Hilfsbereitschaft der Juristin erwähne, die mich in Popayán in ihr Auto verfrachtet und zum Busbahnhof gebracht hat. Sicher eine der Episoden, die von dieser Reise in Erinnerung bleiben werden.