8. September (Freitag)
Auf dem Weg zum Flughafen höre ich im Autoradio, wie ein neues Buch von John le Carré angekündigt wird: A Legacy of Spice. Gemeint ist natürlich A Legacy of Spies. Nicht auszumerzen. John le Carré erzählt bei der Buchpräsentation, wie sein Held, George Smiley, der zugleich ein Antiheld ist – dicklich, unattraktiv, tollpatschig – seinen Namen an demselben Tag erhielt wie der Autor sein Pseudonym.
Der Flug nach Madrid dauert zweieinhalb Stunden. Neben mir sitzt eine junge Spanierin, die die DHS-Prüfung macht. Sie hat einen Bachelor in Spanien und will, wenn sie die Prüfung besteht, ihren Master in Deutschland machen. Sie spricht fließend und hat eine gute Aussprache.
Neben ihr sitzt eine Frau, die einen Roman von Murakami liest: Von Männern, die keine Frauen haben. Ein suggestiver Titel. Aber die Frau schläft bei der Lektüre immer wieder ein.
Vor uns drei Franzosen, die sich köstlich amüsieren. Sie „reiten“ auf ihren Sitzen, dass es nur so wackelt, schaukeln hin und her, fallen sich gegenseitig in die Arme und reden, ununterbrochen. Vor allem aber lachen sie – bei jeder Bemerkung, den ganzen Flug über, laut, frenetisch, so als hätte der andere gerade den Witz des Jahrhunderts erzählt. Ob es ihnen wirklich gut geht? Ich kehre den Griesgram raus. Ich finde diese zur Schau gestellte Fröhlichkeit einfach unerträglich.
Der Flughafen von Madrid ist nicht mehr wiederzuerkennen. Jedenfalls im Vergleich mit Anno Dazumal. Er hat jetzt auch einen neuen Namen: Aus Barajas ist Adolfo Suárez geworden. Wie groß die Verdienste von Adolfo Suárez sind, ist schwer zu sagen. Er war wohl der richtige Mann am richtigen Ort zur richtigen Zeit. Aber war er wirklich der Agent der „Wende“? Oder war er Instrument? Wäre die Demokratie auch ohne ihn gekommen? Er hat wohl die Zeichen der Zeit erkannt. Dass er auch ein Mitglied des alten Regimes war, wird ihm offensichtlich nicht mehr angelastet. Und dass die Demokratie nicht nur Segen gebracht hat, auch nicht. Wie dem auch sei, zurück zu den alten Zeiten will wohl niemand. Spanien ist, in einem schmerzhaften Prozess, ein modernes Land geworden.
Der Weg zu den Bussen ist schlecht ausgeschildert, aber ich bekomme freundliche Auskunft an der Informationsstelle. Es sind nur ein paar Minuten. Die Busse warten am Rande des allgemeinen Parkplatzes. Es gibt keine Bänke und keinen Schatten. Es gilt, in der Nachmittagshitze zu warten. In Spanien ist Sommer. Bei uns gab es schon deutliche Vorzeichen des Herbsts.
Der Bus ist modern und fährt so ruhig, mit gleichmäßiger Geschwindigkeit, dass man die Bewegung kaum wahrnimmt. Ehe man sich’s versieht, ist man aus Madrid heraus. Typisch kastilische Landschaft: Büsche, Sträucher, Grass, grün, aber blasses Grün, unendliche Weite, gewellt. Erinnerungen an früher. Aber im Gegensatz zu früher geht es jetzt nicht mehr über die Nationalstraße, sondern über die Autobahn, die autovía, die kleine Schwester der autopista. Da fällt keine Maut an.
Salamanca liegt gut 200 km von Madrid entfernt, etwas nördlich, vor allem aber westlich. Nach Portugal ist es nicht mehr weit. Es ist weit genug von Madrid entfernt, um ein eigenes Regionalzentrum zu bilden.
Dann, nach drei Stunden, kommt die Silhouette der Altstadt von Salamanca mit ihren mächtigen Türmen in Sicht, in der Ferne. Man blickt durch die Container eines Industriegebiets auf sich. Dann ändert sich die Perspektive. Wir fahren am Tormes entlang, und man sieht am gegenüberliegenden Ufer nur die Kathedrale. Das ist die Stelle, von der aus damals, zu Studentenzeiten, ein Freund das Photo gemacht haben muss, das damals Kultstatus erhielt: Die Kathedrale mit ihren charakteristischen Türmen im Hintergrund, der Tormes im Vordergrund und ein Zweig, der sich von der Seite ins Bild schiebt.
Der Bus macht einen großen Bogen. Er scheint sich von der Stadt zu entfernen. Und die Altstadt entschwindet den Blicken. Später sehe ich auf einem Stadtplan, dass er die Stadt im Süden umfährt und dann im Westen Halt macht. Meine Unterkunft ist auf der anderen Seite der Altstadt, im Osten.
Am Busbahnhof stehe ich orientierungslos herum. Ich nehme einfach ein Taxi zu der Unterkunft. Der Taxifahrer ist aus Salamanca: „De toda la vida.“ Er erzählt von dem Wandel, den das Land durchgemacht hat und davon, dass es langsam wieder aufwärts gehe. Das Taxigeschäft läuft gut. Und er macht mich darauf aufmerksam, dass ich gerade zur Zeit der Fiestas komme. Genauso wie damals. Damals war es auch September. Ich erwähne den Namen der alten Sprachschule, an der ich war, Colegio de España Alfonso VI., in der Hoffnung, das könne ihm was sagen, aber das ist nicht der Fall. Er äußert aber Zweifel: Alfonso VI? Kann nicht sein, muss Alfonso IX gewesen sein. Wie dem auch sei, unter Alfonso VI. ist das heutige Salamanca entstanden, das christliche Salamanca der Zeit nach der Reconquista. Von den vorherigen Besiedlungen gibt es keine Spuren, weder von den Mauren, noch von den Westgoten und, mit Ausnahme der Brücke, auch nicht von den Römern, die die Stadt doch gegründet haben. Merkwürdig.
Die Unterkunft ist in einer Privatwohnung. Alles typisch spanisch. Das fängt schon bei den namenlosen Klingeln an. Und geht weiter bei der Anordnung der Zimmer: Alle direkt vom schmalen Flur ausgehend, ohne Verbindung miteinander. Kleine Zimmer, aber viele. Gefliester Fußboden, dunkle Holztüren. Und der Fernseher in voller Lautstärke. Spanien.
Die Vermieterin ist eine kleine, schmächtige Frau. Sie zeigt mir, wo alles ist und gibt mir mithilfe eines Stadtplans, den sie unendlich lange sucht, eine erste Orientierung. Auch sie weist mich auf die Fiestas hin. Heute ist der eigentliche Festtag. Er ist der Virgen de la Vega gewidmet, der Patronin der Stadt. Die Vermieterin selbst scheint dem keine große Bedeutung beizumessen.
Als sie vergeblich ihre Straße auf dem Stadtplan sucht, sagt sie ¡Jolines!, eine abgemilderte Form des Schimpfworts, an die ich mich kaum noch erinnern konnte. Später, bei einer Stadtführung, höre ich dessen Zwilling ¡Jobar!
Am Ende zeigt sie mir noch die Küche. Und wie ich mir das Frühstück selbst machen kann, falls ich früh aufstehe.
9. September (Samstag)
Am frühen Morgen laute Stimmen auf der Straße. Das sind keine Frühaufsteher, sondern Nachtschwärmer. Ich bin in Spanien.
Das Frühstück mache ich mir tatsächlich selbst. Die Vermieterin hatte angekündigt, sie stehe „früh“ auf, aber um halb neun ist von ihr noch nichts zu sehen.
Es ist kühl. 13°. Und bewölkt. Und es ist windig. Vom Sommer keine Spur mehr. Die Temperaturen seien innerhalb eines Tages um zehn Grad gesunken, erfahre ich später.
Es geht eine breite, schnurgerade verlaufende Straße hinunter Richtung Altstadt. Bürgersteige mit Teerflecken, die Gitter vor den Geschäften (aber nicht mehr ganz so viele wie früher), mit Zetteln vollgeklebte Fassaden, Wohnkästen, Graffiti, Frauen (und Männer!), die mit Eimer und Aufnehmer die Fläche vor ihrem Ladenlokal sauber machen, Stühle aus Aluminium vor Bars, Cafés, Tavernen – ich fühle mich sofort heimisch. Das geht in keinem Land so schnell wie in Spanien.
Am Ende der langen Straße geht es in die Fußgängerzone. Genau an dieser Ecke ein Laden, der Croquetas y Presumidas heißt – ein Wortspiel, das mit der Verwirrung vieler Spanier mit dem /r/ spielt.
Es ist noch nichts los auf der Straße. Selbst die meisten Cafés sind noch geschlossen. In Spanien fängt der Tag um 9.30 an, am Samstag um 10.00.
Und dann stehe ich plötzlich auf der Plaza Mayor. Ich bin überwältigt und verwirrt gleichzeitig. Sie ist anders als ich sie in Erinnerung hatte, vor allem größer, und die leuchtend gelben Plastikbanner, die die Ausgänge markieren (und benennen) passen genauso wenig wie die riesige Konzertbühne, die man vor dem Rathaus aufgebaut hat. Aber die Arkaden, die Balkone, die Balustraden, die Medaillons, alles das passt und bildet ein wunderbares Ensemble, und das alles in dem weichen Ton des ockerfarbenen Sandsteins. Es ist die Plaza Mayor Spaniens.
Die Touristeninformation hat auch noch geschlossen. Ich kaufe ein paar Ansichtskarten und mache dann einen kleinen Spaziergang die Rúa Mayor hinunter. Auch hier also rua, wie in Ascoli. Die Namen der Straßen sind in schönen blauen Kacheln in die Gebäude eingelassen. Ich lasse mir die Namen der Geschäfte auf der Zunge zergehen: Patio Chico, La Despensa, Mesón Las Conchas, La Tahona de la Abuela, Hostal Tormes, Café Cuatro Gatos.
Ich setze mich in ein Café ganz nah bei der Plaza Mayor und trinke einen Milchkaffee: 1,30 €!
Dann hat die Touristeninformation geöffnet. Es gibt ganz allgemein gehaltene Informationen und das typische Material. Erst auf Nachfrage erfahre ich, dass es Stadtrundgänge gibt. Und dass der nächste in einer halben Stunde beginnt. Ich bin dabei.
Wir sind eine relativ große Gruppe und haben einen wortgewandten Führer, einer von zwei männlichen von insgesamt achtzehn Stadtführern in Salamanca. Ich bin der einzige Ausländer. Und tatsächlich verstehe ich nicht alles. Man merkt, dass die Praxis fehlt. Vor allem, wenn Fragen gestellt und wenn witzige Bemerkungen gemacht werden, verliere ich den Anschluss. Und es gibt auch ein neues Wort: charra. Offensichtlich ein typisches Wort aus Salamanca für eine campesina, eine Bäuerin oder bäuerlich wirkende Frau. Später sehe ich auch einen Laden, der das Wort im Namen führt.
Wir beziehen Stellung mitten auf der Plaza Mayor. Zuerst gibt es Informationen zu Salamanca. Die Stadt leidet unter einem Bevölkerungsschwund: Statt 150.000, wie es noch in den Reiseführern steht, sind es jetzt nur noch 135.000. Es gibt keine Industrie. Arbeit gibt es nur im Dienstleistungssektor. Allein die Stadt hat 25.000 Angestellte. Was treiben die nur alle? Die beiden anderen großen Arbeitgeber sind die Kirche und die Universität. Salamanca hat 30.000 Studenten. Dazu kommen, auf das ganze Jahr verteilt, 4.000 ausländische Sprachstudenten.
Der Tourismus ist eine wichtige Einnahmequelle. Seit 1995 gehört Salamanca zum Weltkulturerbe; es war Kulturhauptstadt Europas, und die Plaza Mayor hat den Titel Plaza de Europa bekommen. Für genug Werbung ist also gesorgt.
Die Plaza Mayor, erklärt uns der Stadtführer zu unserer Verblüffung, sei nicht quadratisch, jedenfalls nicht genau. Sie wirkt aber so, vermutlich aufgrund all der gemeinsamen Architekturelemente auf allen vier Seiten. Ich merke auch jetzt erst, dass die Eingänge ganz ungleich verteilt sind, auf zwei Seiten gibt es drei, auf einer einen und auf einer keinen. Das nimmt man kaum wahr.
Was man schon eher sieht, ist, dass das Rathaus auf der einen Seite etwas aus dem Rahmen fällt. Es ist ein bisschen höher als der Rest, obwohl es nur zwei Stockwerke über den Arkaden hat statt drei. Das erste Stockwerk des Rathauses schließt aber genau da ab, wo das zweite der übrigen Häuser abschließt, ein Element, das die Einheitlichkeit betont.
Die Plaza Mayor entstand im 18. Jahrhundert. Ihr Zweck war es, ein zentraler Platz für Märkte, Feste und Jahrmärkte zu sein. Und man spürt heute noch, dass sie Teil des Alltagslebens ist, lebendiges Zentrum der Stadt, nicht eine irgendwo am Rande liegende Sehenswürdigkeit.
Der Bau der Plaza wurde Alberto Churriguera übertragen, einem Baumeister aus dem Clan, der der spanischen Architektur einen eigenen Terminus gegeben hat: churriguerismo. Er baute die ersten beiden Seiten, vollendete die Plaza aber nicht, aus einer Reihe von Gründen. Die Bauarbeiten blieben dann zwanzig Jahre lang liegen. Warum? Es gab Probleme mit den Enteignungen. Die von Churriguera gebauten Teile waren auf ständischem Grund gelegen, und da brauchte man nur hölzerne Verkaufsstände abzureißen. Und die Pfarrei von San Martín konzedierte der Stadt ein Teil ihres Grundstücks mit der Auflage, dass die Kirche stehenbleibe. Deshalb grenzt sie so direkt an die Plaza.
Ein anderer Baumeister, Quiñones, vollendente die Plaza dann und schloss sie 1755 mit dem Rathaus ab. Damit ist die Plaza Mayor das jüngste der bedeutenden Monumente Salamancas.
Der Stein, der die Besonderheit der Plaza und von Salamanca überhaupt ausmacht, ist aus Villamayor, einem nur fünf Kilometer entfernten Ort. Sein Nachteil: Er ist porös (für die Akustik andererseits ein Vorteil) und er ist nicht sehr stabil. Wenn man sich die Pfeiler der Arkaden genauer ansieht, erkennt man, dass der untere Teil aus Granit ist. Den hat man wohl nachträglich „einziehen“ müssen, eine kleine Meisterleistung der Ingenieure.
Ob wir Fragen zu der Plaza hätten, will unser Führer wissen. Ja, natürlich, es ist immer dieselbe Frage die gestellt wird: Wohnt hier jemand? Die Antwort ist ja. Nicht gerade minderbemittelte Leute. Er erwähnt ein paar Namen, die hier jeder kennt und zu denen auch die Erben des Corte Inglés gehören. Nach modernen Kriterien ist es aber fraglich, ob es sich hier gut wohnt: keine Garage, in der Regel kein Aufzug, viel Lärm von der Plaza.
Wir verlassen die Plaza und kommen zu der Rúa Compañía. Der Bedeutung des Namens war mir nicht klar geworden. Es ist die Compañía de Jesús. Die Jesuiten sind gemeint. Die sind die Betreiber der Universidad Pontíficia. Hier kann man Theologie, kanonisches Recht, aber auch für das Lehramt studieren.
Wir stehen vor der Clerecía, der Kirche des Jesuitenkollegs. Von hier aus sieht man längs des Gebäudes entlang eine lange Gasse hinunter, die eine Besonderheit für Salamanca aufweist: Es gibt keine Straßencafés, keine terrazas, Sitzgelegenheiten draußen. Das ist ausdrücklich von der Stadt so geregelt.
Die Clerecía ist ein viel zu mächtiger Bau, um an dieser schmalen Gasse zu stehen. Man kann die Fassade von hier aus nicht komplett sehen, und auch die beiden mächtigen Türme nicht. Später gehen wir ein paar Schritte weiter, auf einen kleinen Platz, und von dort erfasst man mit einem „schrägen Blick“ die gesamte Fassade einschließlich der Türme. Eine solche Fassade bräuchte eigentlich einen offen Platz, um zur Wirkung zu kommen. Und tatsächlich wollten die Jesuiten die gegenüberliegende Casa de las Conchas abreißen lassen. Aber da gab es Widerstand. Der Bau der Clerecía war ohnehin nicht auf viel Beifall bei den anderen Kirchen gestoßen. Sie war einfach eine Nummer zu groß. Auch heute, sagt unser Führer, halten viele Besucher sie für die Kathedrale.
Die Casa de las Conchas ist eins der emblematischsten Gebäude Salamancas. Die Fassade ist auf zwei Seiten über und über mit dem Dekorationselement übersäht, das ihr ihren Namen gegeben hat: die Muschel. Es sind über dreihundert. Warum eine Muschel? Das haben wir uns damals schon gefragt, aber nie eine befriedigende Erklärung bekommen. Die naheliegende Erklärung ist natürlich eine Verbindung mit Santiago und dem Pilgerweg. Die mag es auch geben, aber die ist zweitrangig. In erster Linie ist die Muschel eine Reverenz des Erbauers, Maldonado, an seine Gattin oder deren Familie. Auf deren Wappen erscheinen nämlich die Muscheln. Wir sehen das Wappen später in der Alten Kathedrale.
Außer den Muscheln hat die Fassade noch schöne, sehr ungewöhnliche, runde Gitter aufzuweisen. Der Eingang ist nicht mittig. Ob das mit der Baugeschichte zusammenhängt oder so beabsichtigt war, wird nicht klar. Aber hinter dem Eingang kommt ein richtiges Highlight zum Vorschein: der Innenhof. Ein kleiner, zweistöckiger Innenhof mit einer schönen Balustrade, unten anders als oben. Das Zierelement oben ähnelt einer Schlange, das Zierelement unten ähnelt einer Bienenwabe. Die Bienenwaben sind schräg angebracht und zeigen mit der Spitze nach rechts oben. Außer im ersten Teil, nahe dem Ausgang. Da zeigen sie nach links oben. Das erklärt man im Allgemeinen mit der arabischen Bautradition: Man fügt irgendwo absichtlich einen Fehler ein, damit der Bau nicht perfekt ist. Denn perfekt ist nur Gott. Ob das stimmt, kann bezweifelt werden. Aber auf jeden Fall wäre eine solche Haltung, die als Demut daherkommt, tatsächlich die reinste Hybris.
Ich kann mich nicht erinnern, damals den Innenhof überhaupt gesehen zu haben. Vielleicht war er damals nicht zugänglich. Heute beherbergt die Casa de las Conchas die öffentliche Bücherei, und jeder kann rein. Ein besonders schönes Photomotiv bietet der Innenhof auch: Wenn man sich ganz ans Ende stellt, erscheinen über dem offenen Dach die oberen Enden der Türme der Clerecía.
Es geht weiter zur Kathedrale. Genauer gesagt den Kathedralen. Salamanca weist die Besonderheit auf, zwei Kathedralen zu besitzen, eine alte und eine neue. Wobei neu relativ ist. Sie stammt aus dem 16. Jahrhundert. Zu der Zeit galt die Alte Kathedrale als „klein, niedrig und düster“. Dieses Urteil wurde Isabel la Católica in den Mund gelegt. Also musste eine neue Kathedrale her. Und wie baute man? Gotisch! Zu einem Zeitpunkt, wo die Gotik (außer in Luxemburg) längst ins Hintertreffen geraten war. Allerdings hat man nur bedingt den Eindruck, vor einer gotischen Kathedrale zu stehen. Die Renaissance lässt grüßen, und in der Kuppel ist der Barock bereits präsent.
Die heutige Kuppel ist zwar späteren Datums, aber der Bau enthielt von vornherein eine Kuppel. Die musste dann erneuert werden. Und was war der Grund dafür? Das Erdbeben von Lissabon! So nahe ist Portugal. Oder, anders gesagt: So stark war das Erdbeben. Immer wieder stoße ich in den nächsten Tagen auf Bauten oder Bauteile, die von dem Erdbeben zerstört oder wenigstens in Mitleidenschaft gezogen wurden.
Ein Charakteristikum der Kathedrale ist der Turm. Der hat eine Form, die man in dieser Gegend, dem Norden Kastiliens, immer wieder findet. Der technische Terminus dafür ist aus unerfindlichen Gründen cimborrio. Das ist ein runder Abschluss des Turms, so als wenn man eine Kugel in den quadratischen Turm gesetzt hätte.
Die Kathedrale steht mit ihrer Längsseite zum Platz hin. Von hier aus betritt man den Innenraum, nicht durch das Hauptportal. An dem Seitenportal, dem Nordportal, befindet sich eins der beiden beliebtesten Photomotive Salamancas: der Astronaut. Der Steinmetz, der mit der Ausbesserung der Skulpturen entlang des Seitenportals beauftragt war, nahm sich die Regel zu Herzen, nach der jede Zeit der Kathedrale ihre eigenen Schöpfungen zufügen solle. Er bildete deshalb unter anderem Tiere ab, die in Kastilien vom Aussterben bedroht sind, ein Fabelwesen, das ein Hörnchen mit drei Eiskugeln in der Hand hält und eben den Astronauten.
Das eigentliche Thema dieses Portals, der Einzug in Jerusalem, wird aufgrund dieser Details leicht übersehen. Das Tor heißt nach diesem Motiv Puerta de Ramos.
Innen erwartet einen der typisch spanische Chor, ein eigenes, abgeschlossenes „Gebäude“, das einen großen Teil des Mittelschiffs einnimmt. Die normalen Gläubigen durften nur bis zu dessen Westende vor. Der Rest der Kathedrale war Priestern, Kanonikern und hochgestellten Persönlichkeiten vorbehalten. Wir stehen genau an der Stelle, wo die normalen Gläubigen waren. Unser Führer verweist auf den Abschluss des Chors und fragt, welcher Stein das wohl sei. Eine Fangfrage. Es ist der Sandstein aus Villamayor, genauso wie der der Plaza Mayor. Aber hier, wohin keine Sonne dringt, ist er nicht ockerfarben oder beige oder golden, sondern grau!
Im Chor ein Ambo mit einem Pelikan, dem Symbol des sich selbst aufopfernden Christus. Aber der Pelikan sieht nicht wie ein Pelikan aus. Woran liegt das? Das lateinische Wort, hatte einen größeren Bedeutungsumfang und umfasste nicht nur den Pelikan. Offensichtlich glaubte man auch von den anderen Vögeln, dass sie ihr eigenes Blut opferten, um ihre Jungen zu ernähren.
Wir machen eine Runde durch die Kathedrale und sehen, dass sie im Osten gerade abschließt. Da würde man bei einer gotischen Kirche eine Apsis erwarten. Wir passieren einen Durchgang und befinden uns plötzlich in der Alten Kathedrale. Die beiden sind innen miteinander verbunden. Die Alte Kathedrale ist romanisch. Aber hier lässt die Gotik bereits grüßen. Der Hingucker schlechthin ist das Retabel. In mehr als fünfzig einzelnen, in goldenen Rahmen eingefassten Szenen mit farbenfrohen Figuren wird die Heilsgeschichte abgebildet.
Darüber ein prachtvolles Gemälde des Jüngsten Gerichts, mit einem Christus, der energisch mit erhobener Hand auf die unter ihm abgebildeten Menschen absteigt. Man glaubt beinahe, Anklänge an Michelangelo zu erkennen. Zu seiner Rechten die Rechtschaffenen, die Hände zu ihm erhoben, in Anbetung, in langen, weißen Gewändern. Zu seiner Linken die Sünder, nackt, auf der Suche nach ihrer weltlichen Kleidung, auch die Hände zu Christus erhoben, aber flehentlich. Unter denen, die nach ihrer Kleidung suchen, sind auch welche, die nach einem Talar, einer Mönchskutte oder einer Mitra suchen. Das muss eine ermutigende Botschaft für die Gläubigen der Zeit gewesen sein: Keiner ist gefeit gegen die Höllenstrafen, in der anderen Welt zählt die Klasse nicht mehr.
Im Süden schließt an die Alte Kathedrale der Kreuzgang an, und um ihn herum gruppieren sich mehrere Kapellen. Wir besuchen eine von ihnen, die Barbarakapelle. Die hat Bedeutung für die Universität. Hier fanden, der Tradition zufolge, die Abschlussprüfungen statt. Der Kandidat saß auf einem Stuhl über dem Grabmonument des Stifters der Kapelle. Nicht unbedingt ein gutes Omen. Der Kandidat wurde 24 Stunden lang in der Kapelle eingeschlossen. Am Abend vor der Prüfung holte der Prüfer aufs Geratewohl drei Bücher aus dem Bücherschrank an der Seite des Grabmonuments. Der Kandidat legte, ebenso aufs Geratewohl, seinen Daumen in eine der Seiten der drei Bücher. Diese Stelle wurde am nächsten Tag geprüft, und zwar genau zwei von drei Stellen, genauso wie es noch heute bei den spanischen Staatsprüfungen, den oposiciones der Fall ist.
Es gibt eine weitere Parallele zur modernen Universität: Es gab drei Abschlüsse, die, teils sogar in der Terminologie, den heutigen Abschlüssen entsprachen: Bachelor, Master (damals Grande), Doktor. Die hier in der Kapelle stattfindende Prüfung war die des zweiten akademischen Grads, des Grande.
In diesem Zusammenhang gibt es eine interessante Erklärung zu Universität und dem, was darunter zu verstehen ist. Salamanca gilt als eine der ältesten Universitäten Europas, war aber nicht die älteste Spaniens. Das war Plasencia. Aber diese Universität wurde später geschlossen. Aber was „zählt“ als Universität? Salamanca hatte zunächst Estudios Mayores. Das war der Vorläufer der Universität. Ein Abschluss hier erlaubte aber nur die Lehrtätigkeit hier in Salamanca. Erst als die Aufwertung zur Universität kam, galt die Lehrbefugnis überall, war in diesem Sinne „universal“. Die moderne Tourismusindustrie schlägt Kapital daraus. Nächstes Jahr wird das Jubiläum der Gründung der Estudios Mayores gefeiert, 1218 von Alfonso IX. von León gegründet (dem Vater Fernandos, der dann León und Kastilien vereinigte). 1254 schuf Alfonso el Sabio weitere Lehrstühle, und der Papst erhob die Lehrstätte zur Universität, der vierten Europas.
Wir verlassen die Kathedrale, und zwar durch den Ausgang, den die Studenten nahmen, wenn sie das Examen bestanden hatten, und kommen auf einen etwas abseits gelegenen Platz, von dem aus man eine der schönsten Ansichten Salamancas hat: Man blickt auf die Außenmauern der Kathedrale mit dem Turm der Neuen Kathedrale und dem Turm der Alten Kathedrale, der Torre de Gallo. Der läuft konisch zu und hat eine schuppenartige Bedeckung.
Wir stehen dann vor dem Hauptportal der Neuen Kathedrale, der Westfassade. Die Üppigkeit der Dekoration raubt einem den Atem. Und verwirrt. Wir stehen vor dem letzten Werk der spanischen Gotik. Die Verzierungslust hatte Hochkonjunktur. Die gesamte Fläche wird von Reliefs eingenommen, bekrönt von einem flamboyanten Spitzbogen. Man weiß nicht, wo man zuerst hinsehen soll, vor lauter Figuren und Medaillons und Wappen und Konsolen und den typischen alfices, den rechteckigen Einrahmungen der Bögen, wie man sie in der Mudejar-Architektur findet.
In den Bogenfeldern kann man drei Szenen unterscheiden: die Kreuzigung (oben) und die Geburt und die Anbetung unten. Aber auf das Dargestellte kommt es hier vielleicht gar nicht an, sondern auf den Gesamteindruck.
Die Neue Kathedrale sollte eigentlich noch größer werden, aber das scheiterte an dem Widerstand der Universität. Was ihre Macht belegt. Die ursprünglich geplante Länge markiert der Turm. Der tritt aus der Fassade nach vorne hervor.
Rechts vom Turm sieht man die Stelle, wo die Alte Kathedrale auf die Neue Kathedrale stößt. Und man erkennt, dass die Alte Kathedrale dabei ein bisschen beschnitten wurde.
Dann geht es zu den Escuela Menores. Wir kommen vorbei an einer Wand, in der eine Inschrift an Nebrija erinnert, den Verfasser der ersten Grammatik des Spanischen. Der Weg führt dann an der Casa de Unamuno vorbei, dem Museum, das dem berühmten Rektor der Universität gewidmet ist. Das Museum ist in dem alten Rektoratsgebäude untergebracht.
Die Escuelas Menores haben einen prächtigen Innenhof, mit modernen Skulpturen im Zentrum und einem Saal, in dem ein außergewöhnliches Gemälde aufbewahrt ist. Das trägt den Namen Cielo de Salamanca.
Für uns geht es aber auf den kleinen Platz vor die Escuelas Mayores, die „eigentliche“ Universität. Das ist der Touristenmagnet überhaupt. Ganze Heerscharen von Touristen versammeln sich hier, um die Kröte zu suchen, la rana. Wer die Kröte findet, besteht das Examen, heißt es, eine merkwürdige Umkehrung der ursprünglichen Bedeutung der Kröte. Sie inmitten dieses dichten Steinteppichs zu finden, ist nicht so einfach, selbst mit Hilfe. Ich habe sie schon damals nicht gefunden. Und mich getröstet mit Unamunos klugem Ausspruch: „Lo malo no es no ver la rana, lo malo es ver sólo la rana”. Wie wahr!
Das Motto befolgt auch unser Führer. Und weist uns zuerst auf die Statue von Fray Luis de León hin. Der steht auf der Mitte des Platzes und blickt genau auf die Fassade der Universität. Der Universität, an der ihm die Lehrerlaubnis entzogen wurde, weil er einen Teil des Alten Testaments ins Spanische übersetzt hatte! Als er dann wieder eingesetzt wurde, begann er seine mit Spannung erwartete erste Vorlesung mit den berühmt gewordenen Worten: „Decíamos ayer …“, so, als wäre nichts vorgefallen.
Zurück zur rana und zu dem wunderbaren, dicht gewobenen Steinteppich, der zu dem Stil gehört, der in Spanien als plateresco bekannt ist, so als wäre es alles die Arbeit eines Silberschmieds. Der Begriff bezieht sich in erster Linie auf Fassadendekoration. Ganze Wandflächen werden von einem dichten Geflecht arabesker und figürlicher Muster überzogen, steinerne Teppiche.
Ein zentrales Motiv der Fassade sind die beiden Medaillons in der Mitte mit den Katholischen Königen und der griechischen Inschrift, die besagt: Die Könige für die Universität, die Universität für die Könige. Andererseits hat die Fassade auch Verweise auf die päpstliche Autorität. Vielleicht spielt sie insgesamt auf das Zusammenwirken von Universität, Kirche und Königtum an. Sicher in der Regel keine konfliktfreie Zusammenarbeit.
Oben erscheinen vier historische Figuren, denen die Embleme der vier weltlichen Tugenden zugeordnet sind: Tapferkeit, Mäßigung, Gerechtigkeit, Stärke. Solche Zuordnungen sind natürlich alles andere als einleuchtend. Warum sollte man ausgerechnet Cäsar mit Mäßigung in Verbindung bringen? Aber darum ging es wohl nicht. Er war einfach ein Held der Frühen Neuzeit, und solange er diese Tugend in der Vorstellung der Menschen glaubwürdig vertrat, war alles in Ordnung.
Und was hat es jetzt mit der Kröte auf sich? Die Kröte steht traditionellerweise, wie die Schlange und anderes Kriechtier, für die Unterwelt, für die niederen Instinkte. Und das tut sie auch hier. Nicht umsonst sitzt sie auf einem Totenschädel. Die Botschaft ist hier: Überbordende Sexualität birgt Gefahr, bringt den Tod, eine Warnung, die nicht nur einen Moralkodex vertrat, sondern in Zeiten der Syphilis eine ganz konkrete praktische Bedeutung hatte.
Damit endet die Stadtführung. Eine gute Einführung für den ersten Tag. Ich gehe zur Plaza Mayor zurück und von da aus über die Calle Toro Richtung Heimat. Hier heißen die Geschäfte Backside, Parfois und I am. Und es gibt auch H&M und Zara. Noch ganz in der Nähe der Plaza Mayor gibt es McDonalds. Da sitzen wirklich Spanier und essen Burger. Es ist jetzt warm genug, um draußen zu sitzen.
Ich komme an einem Studentenwohnheim mit dem Namen Amor de Dios vorbei. Wäre bei uns undenkbar.
Dann stoße ich wieder auf die breite Straße, die Comuneros. Die ist benannt nach den Aufständischen gegen Karl V., den Teilnehmern an einem städtisch-bürgerlichen Aufstand, in dem es gegen die zentrale Monarchie geht. Auf dem Höhepunkt des Aufstandes bildeten die Comuneros eine provisorische Regierung und erklärten Johann, die „Wahnsinnige“, die Mutter Karls V. zur rechtmäßigen Monarchin. Was sie wohl auch war. Der Aufstand wurde natürlich niedergeschlagen.
Ich mache unterwegs zweimal Halt, in den typischen, wenig einladend eingerichteten Bars. In beiden bestelle ich eine caña und esse eine tapa. In beiden sehen mich die Wirte etwas verstohlen an. Sieht so deutsch aus und hört sich so spanisch an, da stimmt doch was nicht. Komischer Kerl.
10. September (Sonntag)
Was die Nation bewegt, ist das angekündigte Referendum über die Unabhängigkeit Kataloniens. Wird es stattfinden? Ist es legal? Die Katalanen, d.h. der Teil des katalanischen Parlaments, der die Unabhängigkeit anstrebt, ist gewillt, das Referendum durchzuziehen, obwohl ein ähnlicher Versuch vor ein paar Jahren vom Obersten Gericht blockiert wurde. Diesmal soll es trotzdem stattfinden. Die Zentralregierung hält dagegen. Sie ist in der ganzen Debatte kompromisslos gewesen. Es gibt Stimmen, die sagen, dass gerade die steinharte Haltung des Ministerpräsidenten die Bewegung erst stark gemacht habe. Die meisten Katalanen, oder besser die meisten Bewohner Kataloniens, halten die Abstimmung für illegal. Aber sie sind leiser als die Befürworter. Die sind organisiert, haben eine klare Vorstellung, artikulieren sich, treten aktiv für ihre Sache ein. Die Gegner sind nicht organisiert, sind leiser, haben keine eindeutige Vorstellung von der Zukunft Kataloniens und fürchten sich, angesichts der öffentlichen Stimmung ihre Meinung zu sagen.
Als ich am Morgen aufbreche, ist es immer noch ein ganz klein bisschen kühl, obwohl es später ist als gestern. Aber in der Sonne ist es gut auszuhalten. An einer Apotheke in der Toro werden 21° angezeigt.
Ich gehe als erstes zur Touristeninformation. Eine freundliche Frau, dieselbe wie gestern, erklärt mir zwei Skulpturen, die mir Rätsel aufgeben: An der Plaza de España steht eine Reiterstatue. Es ist nicht, wie ich erst dachte, Sancho Panza. Der Esel erwies sich beim Herumgehen heute Morgen als Pferd. Es ist Julián Sánchez, „El Charro“, einer der nationalen Helden des Unabhängigkeitskampfs gegen Frankreich.
Interessanter ist eine moderne Bronzeskulptur, die ich gleich am ersten Morgen in der Nähe der Rúa Mayor entdeckt habe, nicht so glatt wie die des Corregidors und ebenerdig stehend. An einem Schreibpult sitzt ein Mann mit einem Zirkel, hinter ihm steht ein anderer Mann, der auf seine Zeichnung sieht und den Arm freundschaftlich auf die Schulter des Zeichners legt. Der Zeichner ist Churriguera, Alberto Churriguera, der Architekt der Plaza Mayor, der Mann hinter ihm ein gewisser Rodrigo Caballero, der unter anderem das Amt des Corregidors innehatte und den Impuls für den Bau der Plaza Mayor gab. Beide tragen Schnallenschuhe und eine breite Halsbinde, einen Vorläufer der Krawatte. Und der Corregidor trägt einen Dreispitz. Beide sehen konzentriert aus.
Wo ich gerade in der Nähe bin, sehe ich mir San Martín an, die Kirche, die direkt an die Plaza angrenzt. Sie steht schräg zur Plaza. Streng genommen ist es umgekehrt: Die Plaza steht schräg zu San Martín. Die Kirche stand schon Jahrhunderte, als die Plaza geplant wurde.
San Martín war die wichtigste Pfarrkirche Salamancas. Ihre Bedeutung wuchs von dem Moment an, wo sich infolge des Bevölkerungswachstums das Zentrum der Stadt hierher, nach Norden verschob. Auf dem riesigen Platz vor der Kirche wurde Markt abgehalten, und der Glockenschlag von San Martín bestimmte den Rhythmus des Lebens in der Altstadt.
Die Kirche selbst betritt man von Süden her. Sie ist auf den ersten Blick etwas enttäuschend. Verschiedene Umbauten, vor allem der Einzug eines neuen Gewölbes statt des romanischen Rundgewölbes, verursachten Probleme mit der Statik und brachten die Kirche fast zum Einstürzen. Auch jetzt sieht man, wie das Gewölbe Wasserflecken hat und wie sich die Pfeiler zur Seite biegen. Wenn man näher hinsieht, entdeckt man ein paar schöne Grabdenkmäler und eine schöne Treppe.
Eigentlich lohnenswert ist aber der Eingang direkt bei der Plaza Mayor. Das Portal zeigt die berühmte Mantelszene von Sankt Martin, dem Namenspatron des Auftraggebers der Kirche, dem Grafen Martín Fernández. Dann kommt man in zwei Kapellen, und sieht zwischen denen ein romanisches Bogenportal, das wohl erst im 20. Jahrhundert wiederentdeckt wurde. Viele der Originalteile waren hinter den barocken Umbauten verschwunden. Das Portal zeigt in den verschiedenen Voluten Fabeltiere, Blüten, Blumen und ein paar Szenen aus dem Alltag der Menschen. Mit etwas Anstrengung kann man erkennen, wie sich Menschen an einem Feuer wärmen. Die Farbfassung der Skulpturen ist teils noch erhalten.
Nach der Besichtigung gehe ich die Rúa Mayor runter. Dort ist heute der Teufel los. Überall Musik, Gedränge, Imbissstände, Bänke. Das Patronatsfest scheint jeden Tag ein anderes Viertel zum Zentrum zu haben. Die Atmosphäre ist gegenüber gestern Morgen, als ich hier nur dem einen oder anderen Touristen begegnet bin, so anders, dass ich einen Moment glaube, ich wäre auf der falschen Straße.
Ich gehe zur Clerecía, dem Jesuitenkolleg. Die Straße ist mit einem Band von der Polizei abgesperrt, aber bis zu dem Eingang kann man kommen. Als ich reingehe, sagt man mir sofort, bevor ich den Mund aufgemacht habe, die Türme könnten nicht besichtigt werden. Ich will aber gar nicht auf die Türme, ich will das Gebäude besichtigen. Das geht nur mit Führung, und die gibt es nur auf Spanisch, wie eine kleine Gruppe aus Singapur erfahren muss, die das Gebäude besichtigen will. Warum die Türme gesperrt sind, bekomme ich beim Warten auf die Führung mit: Da hat sich gerade einer heruntergestürzt.
Eine schick gekleidete, nicht unansehnliche Frau mittleren Alters führt uns, mit spanischer Strenge: kein Lächeln, keine Begrüßung, und dann wird der Text heruntergerasselt. Dabei merkt man später, als die eine oder andere Frage gestellt wird, dass sie durchaus anders kann.
Wir kommen zuerst in die Aula Magna. Barock? Ja, denkste! 20. Jahrhundert. Aber so angelegt, dass es barock aussieht und sich dem Gebäude anpasst.
Es gibt ein Deckengemälde und jeweils ein Gemälde an den Stirnseiten. Vorne das Konzil von Trient, mit Karl V. unter den Teilnehmern. Hinten, in einem Halo, die Jungfrau Maria, nur virtuell vertreten bei den Beratungen. Ihr Pendant auf der anderen Seite ist die Weisheit, als weibliche Allegorie dargestellt. Sie wacht über eine Versammlung von Wissenschaftlern. Lauter Jesuiten.
Die Jesuitenuniversität ist heute keine mehr. Die Professoren können Dominikaner, Franziskaner oder Jesuiten sein oder auch Laien. Studieren kann man hier so gut wie alles, einschl. Marketing. Insgesamt sind 5.000 Studenten hier eingeschrieben.
Am Anfang der Universität stand allerdings die Konkurrenz, ja sogar der Zwist zwischen den Orden. Die Universität sollte schon lange vorher gegründet werden, aber das wurde von den Dominikanern verhindert. Der Beichtvater von Isabel la Católica war Dominikaner. Salamanca war für die Jesuiten besonders wichtig, weil Ignatius von Loyola hier gelehrt hatte, von der Inquisition bespitzelt und schließlich verhaftet worden war.
Zur Gründung kam es dann unter Felipe III., vor allem aufgrund der Vermittlung seiner Gattin, de Austria. Deren Beichtvater war Jesuit! Den Wappen der beiden begegnet man überall, hier in der Aula Magna, an der Treppe, in der Kirche, im Innenhof, an der Fassade. Durch die königliche Unterstützung mangelte es nie an Geld.
Als die Jesuitenuniversität dann endlich stand, dauerte es nur noch sieben Jahren, bis die Jesuiten des Landes verwiesen wurden. Sie waren dem Königshaus zu mächtig geworden.
In dem schönen Treppenhaus erscheinen an der Wand mit roten Buchstaben die Namen berühmter ehemaliger Absolventen der Universität. Rot deshalb, weil traditionell die Absolventen Stierblut benutzten, wenn sie sich in den Räumen ihrer Escuela verewigten.
Ein interessantes Emblem, auch in Rot, tritt neben den Namen auf. Auch gestern bei dem Rundgang waren wir in der Stadt schon darauf gestoßen. Es sind ineinander verschlungene Buchstaben, die das Wort Vitor ergeben. Aber dann gibt es da noch ein C. Vielleicht eine Andeutung auf die alte Form, Victoria. Nein, heißt es, das C sei kein C, sondern ein Halbmond und verweise auf Pedro Luna, den spanischen Papst, einen der Förderer der Universität.
Es geht in den Innenhof, einen barocken Innenhof, ganz anders als die meisten anderen Innenhöfe Salamancas. Von hier aus sieht man auch auf die Kuppel der Kirche und die beiden Türme.
Am Ende geht es dann noch in die Kirche. Hier herrscht weltlich anmutende Pracht vor. Alles vergoldet, alles groß und großartig, alles voller mehr oder weniger versteckter Symbolik, so wie die Weinblätter am Altar, die für das Blut Christi stehen.
Die Kirche wird heute nur noch für Festakte oder Hochzeiten genutzt. Ansonsten mangele es an Nachfrage, erklärt unsere Führerin. Und an Priestern. Die meisten Priester kommen heute aus Afrika oder Lateinamerika. Der spanische Priester sei eine aussterbende Spezies. Ein Detail, das den Wandel der spanischen Gesellschaft bestens anzeigt.
Früher, erklärt die Führerin, habe man die kleinen Kirchen geschlossen, die großen offen gehalten. Heute mache man es umgekehrt. Einmal aus psychologischen Gründen. Die wenigen Gläubigen sollen sich in den großen Bauten nicht so verloren vorkommen. Aber auch aus wirtschaftlichen Gründen: Heizung, Strom, Säuberung, Instandhaltung.
Die Führung endet hier. Auf dem Weg zurück lande ich per Zufall, nur deshalb, weil ich nebenan lange umsonst auf die Bedienung warte, in einer Eckkneipe, im wahrsten Sinne des Wortes. Ein paar Spanier an vereinzelten Tischen, Papier auf dem Boden, leere Gläser auf den Tischen. Aber es lohnt sich: Ich frage die freundliche Frau hinter der Theke, worum es sich bei einer der dargebotenen Speisen handele: Zunge. Gut, da nehme ich eine Portion. Hervorragend! Das Fleisch, in kleine Stücke geschnitten, schwimmt in einer sehr schmackhaften Soße, mit Zwiebeln und Möhren. Und das Bier, das es dazu gibt, ist so gut, dass ich gleich noch ein zweites bestelle. Ich lasse der Köchin ein Kompliment ausrichten und verspreche, wiederzukommen.
Am Nachmittag gehe ich zu Fuß zum Busbahnhof. Da komme ich an bisher unbekannten Ecken vorbei, sobald ich die Plaza Mayor hinter mir gelassen habe.
Der Weg führt an einer Rundkirche vorbei, die ich noch ganz vage von damals in Erinnerung zu haben glaube.
Unterwegs kommt mir ein junger Mann entgegen, Teenager. Er ist tief über sein Handy gebeugt, liest eine Nachricht und läuft mich fast über den Haufen. In dem Moment sehe ich die Aufschrift auf seinem T-Shirt: Don’t look down.
Am Busbahnhof trinke ich einen Kaffee. Der gesprächige junge Mann hinter der Theke erkundigt sich nach meinem Aufenthalt und zeigt mir ein Bild seiner Freundin. Mit der sei er gestern auf der Feria gewesen. Welche Feria? Die Feria de ganado. Er zeigt auf Bilder an den Wänden, die mir ganz entgangen waren: Kühe, Rinder aller möglichen exotisch aussehenden Rassen. Da solle ich auch mal hingehen, rät er mir.
Auf die Minute pünktlich kommt der Bus aus Madrid an. Und bringt La Cajera. Sie hat sich hier für einen Sprachkurs eingeschrieben. Der beginnt morgen. Wir nehmen ein Taxi zu ihrer Unterkunft, gar nicht weit von meiner, und verabreden uns für den Abend auf ein Bier.
Am Abend schlage ich eine Terrasse vor nahe an einem Park, an dem ich auf dem Weg zu ihr vorbeigekommen bin. Erst als wir uns setzen, merke ich, dass es die Bar ist, in der ich am Mittag nicht bedient worden bin.
11. September (Montag)
Heute wird es richtig sommerlich, auch wenn es im Schatten am Morgen immer noch etwas kühl ist.
Auf dem Weg in die Altstadt stoße ich zufällig auf eine moderne Skulptur: Brot und Verstand. Deren Abbildung im Reiseführer hatte mir Rätsel aufgegeben. Jetzt erklärt sich die Sache ein bisschen. Zumindest kann man erkennen, welche der beiden Teile Brot und welche der beiden Teile Verstand ist. Das Brot wird von einer Hand umklammert, aber diese Hand ist abgetrennt, sie hat keinen Arm, keine Verbindung zum Verstand. Die Vernunft ist ein sehr stilisierter menschlicher Kopf – wenn es denn ein menschlicher Kopf ist – umgeben von bekritzelten Schiefertafeln und Buchrücken.
Heute wird auf der Rúa Mayor abgebaut, aufgeräumt, weggeschafft. Sie bietet am dritten Tag zum dritten Mal ein anderes Aussehen.
Die Casa Miguel de Unamuno steht auf dem Programm. Sie ist passenderweise in der Calle de los Libreros.
Wir sind nur zu dritt, ein Kanadier, der etwas Deutsch und Spanisch spricht, in Begleitung einer Asturianerin, die gelegentlich für ihn übersetzt. Wir kommen zwischendurch immer wieder ins Gespräch, mal auf Englisch, mal auf Spanisch.
Wir haben gleich zwei Führerinnen. Die wechseln sich ab und gehen gerne auf uns und unsere Nachfragen ein.
Unten befindet sich das Rektorat. Hier finden Festakte und Sitzungen statt. Eine Holztür an der hinteren Wand verbindet das Gebäude direkt mit der Universität.
Die beiden oberen Etagen wurden als Wohnung für den Rektor eingerichtet. Davon machte von allen Rektoren aber nur Unamuno Gebrauch. Dadurch konnte man die Wohnung jetzt als Museum herrichten, jedenfalls die untere Etage. Die obere Etage enthält ein Archiv.
Drei Räume sind original erhalten: die Bibliothek, das Arbeitszimmer, das Schlafzimmer. In der Diele hängt eine lange Holzleiste mit den Lebensdaten Unamunos. Er kam als Professor für Griechisch nach Salamanca und wurde dann bald, als er noch keine vierzig war, Rektor der Universität. Das war im Jahre 1900. Zu dem Zeitpunkt war er noch unbekannt. 1914 wurde er dann als Rektor abgesetzt, aus politischen Gründen. Er hatte sich sehr für die Alliierten im Ersten Weltkrieg eingesetzt und offen deutschfeindliche Texte veröffentlicht. Später, in der Zweiten Republik, wurde er dann noch einmal für eine kurze Zeit Rektor der Universität. Zwischenzeitlich war er in Frankreich im Exil. Er war auch ein Kandidat für den Literaturnobelpreis, hat ihn aber nicht bekommen. Der Asturianerin fällt etwas auf, was nur Spanier sehen: Seine Frau hat irgendwann einen Anteil am gordo gewonnen, in der Weihnachtslotterie.
In einer Phase der Biographie ist auch von einer spirituellen Krise die Rede. Während dieser Zeit zog er sich ein paar Tage in ein Kloster und später von öffentlichen Arbeiten zurück. Ob diese Krise mit privaten Schicksalsschlägen zusammenhängt – er verlor seine Frau und zwei Kinder – wird nicht ganz klar. Aber es hat eher den Anschein, als hätte es dafür keines äußeren Anlasses bedurft.
Seine eigene Bibliothek vermachte er der Universität, und einige der Bücher sind hier, in einem schönen Bücherschrank, ausgestellt. Er konnte Französisch und Englisch, brachte sich dann aber zumindest auch Lesekompetenz in Deutsch bei, um die deutschen Philosophen im Original lesen zu können. Und Dänisch, um Kierkegaard lesen zu können.
Neben dem Fenster steht sein Schaukelstuhl. Dort saß er, um zu lesen. Die Ranke, die sich von dem Fenster nach unten windet, stammt aus seiner Zeit. An der Wand hängt ein Gedicht, das er ihr widmete.
Über dem Durchgang hängt ein Portrait von ihm als Jugendlicher, siebzehn Jahre alt. Praktisch nicht zu erkennen. Er sieht da wie Kafka aus. Die Spanierinnen sind sich einig, dass er auch sehr „baskisch“ aussehe. Die Basken hätten eine ganz eigene Physiognomie.
Im Arbeitszimmer kann man ein bisschen seine Arbeitsweise nachvollziehen. Er schrieb immer von Hand. Die Schreibmaschine, die in dem Regal steht, kam kaum einmal zum Einsatz. Er schrieb auf postkartengroßen Zetteln. Die wurden dann in eine verzierte Schmuckschatulle mit einem Bändchen gelegt – und fertig war das Werk!
Im Schlafzimmer steht neben dem Bett eine Sonderanfertigung für ihn, ein Holzgestell mit Füßen, das über ein schräges Brett und ein darüber angebrachtes, kleineres Brett mit Leiste verfügte. Auf das kleinere Brett legte man das Buch, auf das größere das Manuskript. Man klappte das Gestell dann zur Seite und konnte so auf dem Bett liegend arbeiten. Meine Bitte, das Gestell mitnehmen zu dürfen, wird abgeschlagen.
Neben dem Bett hängt der Christus von Velázquez, eine Reproduktion, die ein befreundeter Maler für ihn machte. War Unamuno gläubig? Ja und nein. Nicht auf eine herkömmliche Art und Weise. Die Führerin zitiert einen etwas enigmatischen Satz, der diese Einstellung zusammenfasst: „Busco la verdad en la fe y la fe en la verdad“.
Unamuno hatte ursprünglich auf Franco gesetzt. Er glaubte, Franco würde die Republik retten! So kann man sich täuschen. Aber er sah seinen Fehler bald ein, spätestens als es einigen seiner Kollegen an den Kragen ging, einigen ganz wörtlich.
Unamuno starb hier, in dieser Wohnung, unter bemerkenswerten Umständen. Man glaubte, er wäre an dem kleinen runden Tisch der Bibliothek eingeschlafen. Er war aber tot. Das merkte man erst, als seine Pantoffeln Feuer fingen. Unter den Tisch, verborgen hinter einer schweren Tischdecke, stand eine Heizöfchen für die Füße.
Er war 72, als er starb. Er litt an einer schweren Erkältung und an einer Lungenentzündung. Und die Wochen davor waren aufreibend gewesen. Ein General Francos hatte im Paraninfo der Universität eine Rede gehalten und Unamuno hatte ihm öffentlich widersprochen: „Venceréis pero no convenceréis“. Das war wenige Wochen vor seinen Tod gewesen.
Nach der Besichtigung gehe ich zur Römerbrücke hinunter. Bei der etwas vollmundigen Ankündigung beim Stadtrundgang hat es dieser Tage geheißen, Salamanca hätte aus allen Epochen etwas zu bieten, aber das meiste, was wir dann sahen, war aus der frühen Neuzeit, bis auf die Alte Kathedrale. Aber aus der römischen, der vorrömischen, der vorgeschichtlichen Epoche und auch aus der Moderne – nichts. Jetzt will ich mir wenigstens die Römerbrücke nicht entgehen lassen.
Von der Casa Miguel de Unamuno sind es keine zehn Minuten, bis man den Altstadtring verlässt und der Tormes in Sicht kommt. Am Ufer steht ein Denkmal des Lazarillo. Er führt den Blinden, der ziellos in die Ferne blickt. An der Römerbrücke spielt eine der Episoden des Lazarillo.
In einem kleinen Park hinter dem Denkmal eine byzantinisch aussehende Kirche. Man glaubt, in Saloniki zu sein: quadratisch, Backsteine, zentrale niedrige Kuppel. Und wie in Saloniki ist die Kirche geschlossen.
Am Brückenkopf steht eine Statue aus Stein, der verraco, eine (mittlerweile) kopflose, gedrungene Statue eines Tiers, vermutlich eines Stiers (oder, was mir wahrscheinlicher erscheint, eines Keilers) Die ist vorrömisch und steht (inzwischen wieder) da, wo sie ursprünglich stand. Auch sie spielt im Lazarillo eine Rolle.
Die Römerbrücke ist etwas jünger als die Trierer Römerbrücke, aber viel länger. Auch bei ihr sind nicht alle Teile original. Man erkennt einen Unterschied zwischen den stadtnahen, originalen Pfeilern und den anderen. Wann und warum sie gebaut wurden, scheint unbekannt zu sein. Wie in Trier immer noch passierten auch hier bis vor nicht allzu langer Zeit Autos über die Römerbrücke, aber sie wurde dann zu einer reinen Fußgängerbrücke gemacht, was auch gut zu der parkähnlichen Anlage passt.
Ich gehe auf die andere Seite und versuche, von hier aus das legendäre Photo von damals nachzumachen, aber es will nicht so richtig gelingen. Am gegenüberliegenden Ufer sieht man Kuppel und Turm der Neuen Kathedrale, links davon, weiter im Hintergrund, Kuppel und Türme der Clerecía und dazwischen einen weiteren Turm, einen offenen Glockenturm, wie er in Mexiko stehen könnte. Der gehört zur Universität.
Es geht wieder zurück und in den Innenhof der Escuelas Menores. Dort bin ich um diese Zeit fast allein. Ich lasse die ganze Schönheit des Innenhofs auf mich wirken und die verschiedenen Blicke auf die Altstadt.
Den Arkaden, die man hier sieht, begegnet man immer wieder in Salamanca. Sie haben mixtilineare Bögen, muslimischen Ursprungs. Sie bestehen aus fünf gegenläufigen Kreissegmenten. Man nennt sie auch, mit einem viel anschaulicheren Wort, Vorhangbögen.
Dann sehe ich mir den Cielo de Salamanca an. Es heißt, man solle mindestens fünf Minuten einräumen, damit sich das Auge an die Dunkelheit gewöhnen könne. Und tatsächlich werden langsam die Konturen schärfer, die Farben klarer unterschieden.
Es handelt sich um eine halbe Kuppel, auf der auf blassblauem Hintergrund ein Sternenhimmel angebracht ist. An dem Sternenhimmel erscheint ein keulenschwingender Herkules, Apollon mit dem von Pferden gezogenen Sonnenwagen, eine weitere Figur mit einem von einem sonderbaren Vogel gezogenen Wagen, dann ein Altar mit einem entzündeten Feuer, eine Schlange, ein Baum und verschiedene Tierkreiszeichen: Löwe, Waage, Jungfrau, Schütze. Und am unteren Saum der Halbkuppel sechs menschenähnliche Köpfe. Es gibt keinerlei Erklärungen zu den Abbildungen, wohl aber zu der Herkunft des Gemäldes. Es ist wohl eine Reproduktion (XVIII) des Originals (XVI), das bei einem Brand der Kapelle der Universität abhandengekommen ist. Die beiden einzigen verbliebenen Originalteile sind hier an den Seiten ausgestellt. Von der anderen Hälfte der Kuppel erfährt man nichts.
Ich gehe zur Plaza Mayor und dabei an San Esteban vorbei. Dort wird aber gerade geschlossen. In diesem Teil der Altstadt war ich bisher noch nicht gelandet.
Erst im dritten Anlauf bekomme ich irgendwo Briefmarken. Sie sind sehr teuer, 1,25 €. Abgebildet ist ein Castillo, das von Ciudad Real.
Auf der Plaza Mayor findet ein Konzert statt. Der Bolero von Ravel geht gerade zu Ende, dann kommen spanische Märsche. Die Cafés sind rappelvoll, und unter den Arkaden drängt sich allerhand Volk, Touristen und Einheimische.
Ich sehe mir trotzdem die Medaillons an. An einer Seite sind die spanischen Könige vertreten, von den Habsburgern bis heute. Auch der ungekrönte König, für den Franco zu kämpfen vorgab, Don Alfonso de Borbón, ist vertreten. Franco selbst allerdings nicht mehr. Wie ich auf Anfrage in der Touristeninformation erfahre. An einer anderen Seite sind spanische Helden angebracht, vom Cid bis zu Ponce de León. Irgendwo entdecke ich am Ende aber auch noch ein paar Geistesgrößen, darunter Unamuno.
Am Nachmittag gehe ich mit auf einen Stadtrundgang mit der Sprachschule. Wir sind insgesamt nur vier. Der Lehrer lässt es langsam gehen und beschränkt sich auf ganz allgemein gehaltene Erklärungen, lässt sich aber gerne anzapfen als Informationsquelle über Salamanca. Er hat selbst Publizistik studiert und ist erst auf Umwegen an die Stelle als Fremdsprachenlehrer gekommen. Der Höhepunkt des Jahres sei nicht der Sommer, sondern der Winter. Da kämen viele amerikanische Studenten.
Wir kommen auch an ein paar Stellen, an denen ich noch nicht gewesen bin, vor allem zu einem kleinen Park auf den Stadtmauern, von wo aus man einen Blick auf den „Schiefen Turm“ von Salamanca hat. Man sieht, dass die Kuppel der Neuen Kathedrale nicht ganz gerade steht. Auch eine Folge des Erdbebens.
Von hier aus hat man auch einen guten Blick auf San Esteban. Dort, erfahren wir, war Kolumbus längere Zeit untergebracht, als er bei den Katholischen Königen um Unterstützung für seine geplante Expedition vorsprach.
Wir stehen vor einem Baum mit dicken, gelblichen Früchten. Ich habe keine Ahnung, was das sein könnte, erfahre es aber: Quitten. Auf Spanisch membrillos.
Der Park erinnert mich an eine Aussage eines Kommilitonen von damals: „Salamanca? Wie kannst Du nur da hinfahren? Da gibt es doch keinen Strauch, keinen Baum in der ganzen Stadt“. Etwas übertrieben, aber da ist was dran. Trotz dieses Parks. Eine grüne Stadt ist Salamanca nicht unbedingt.
Ich erfahre auch endlich, wo der Patio Chico ist, nämlich auf der anderen Seite der Kathedrale, der dem Publikumsverkehr abgekehrten Seite. Auch die hat ein riesiges Portal, aber das ist leer. Das Bogenfeld ist leer, und leer sind auch all die langgezogenen dekorativen Sockel, auf die Statuen zu stehen kommen sollten. Aber das passierte nicht mehr. Die Gotik war endgültig vorbei.
Ich höre, wie eine Frau, gemütlich auf einer Steinmauer sitzend, mit einer anderen spricht, in einem flüssigen, aber merkwürdigen Italienisch. Es ist eine Spanierin, die Italienisch spricht.
Vorher, am Portal der Universität, sind wir von einem der Souvenirverkäufer angesprochen worden, dem aufgefallen ist, dass wir nicht nur nach der rana suchen. Er gibt eine kuriose Erklärung zu dem Medaillon mit den Katholischen Königen: Nicht Isabela hält den Stab, der die Macht verkörpert, sondern Fernando alleine. Das soll ein Hinweis darauf sein, dass Isabela damals schon tot gewesen sei. Auch weist er auf eine von einem Körper getrennte oder abgeschlagene Hand hin. Die soll ein Hinweis auf Johanna sein, die Wahnsinnige, die zu diesem Zeitpunkt bereits abgesetzt und isoliert worden war.
Nach dem ermüdenden Rundgang lädt La Cajera in eine von dem Lehrer empfohlene Bar ein, La Paca, bei allen in Salamanca beliebt. Uniformierte Kellner, Kacheln auf Tischen und Theke. Wir sind anfangs noch fast allein, aber als wir gehen, stehen schon verschiedene Grüppchen ungeduldig an der Theke und warten auf einen Platz.
La Cajera zeigt sich sehr angetan von ihrer Gastfamilie, aber die steht auch für ein spanisches Schicksal. Das Ehepaar ist arbeitslos. Beide haben jahrelang in derselben Firma gearbeitet und sind gleichzeitig arbeitslos geworden, zu spät, um Chancen auf eine neue Anstellung zu haben, zu früh, um endgültig in Rente zu gehen. Deshalb haben sie sich auf die Vermietung der Zimmer an ausländische Studenten verlegt, in einer Wohnung, die sie selbst gemietet haben. Sie haben vier Studenten gleichzeitig. Eine gute Alternative, finde ich. Ja, sagt La Cajera, aber unter komplettem Verlust der Privatsphäre. Man ist nie allein.
12. September (Dienstag)
Gleich vor der Unterkunft ist ein Waschsalon. Selbstbedienung. Man braucht nur Münzen, kein Waschmittel. Sehr praktisch.
Vor der Clerecía eine lange Schlange. Alle wollen auf den Turm. Heute ist der Eintritt in die öffentlichen Sehenswürdigkeiten gratis. Keine Schlange vor der Universität. Ich komme tatsächlich umsonst rein.
Das Gebäude der Universität entstand erst, als die Universität schon zweihundert Jahre bestand. Mit dem Bau begann man 1415 und vollendete ihn 1435. Bis dahin wurden die Vorlesungen in dem Patio der Kathedrale abgehalten oder in anderen Häusern, die der Kirche gehörten.
Die Hörsäle gruppieren sich um den Kreuzgang in der unteren Etage. Die Hörsäle heißen Aula Dorada, Aula Unamuno, Paraninfo, Aula Fray Luis de León, Aula Francisco de Vitoria, Aula Francisco de Salinas (er schrieb, obwohl seit dem Alter von 10 Jahren blind, das wichtigste Grundlagenwerk der Renaissancemusik), Aula Luis de Vitoria (er schuf die Grundlagen des Internationalen Rechts und lehrte die Gleichheit aller Rassen).
In der Aula Dorada wurden allgemeine Disziplinen gelehrt, in den anderen Hörsälen die vier Fakultäten: Jura, kanonisches Recht, Theologie, Medizin. An einer Stelle heißt es, Rhetorik, Hebräisch, Griechisch, Musik und eine weitere Disziplin würden nicht so häufig gelehrt, sie würden nicht so stark nachgefragt. Bei der weiteren Disziplin handelt es sich um latinidad. Das wird hier mit Latein übersetzt. Ziemlich sicher eine falsche Übersetzung. Vermutlich ist Spanisch gemeint.
Die Hörsäle sind heftig restauriert und verändert worden und sind nicht sonderlich interessant, bis auf einen: die Aula Fray Luis de León. Der ist weitgehend im Zustand erhalten. Hinten ein Katheder mit konischem Schalldeckel, an den Seiten Sitzbänke für hochrangige Besucher und in der Mitte die Bänke für die Studenten. Ein Luxus. In den anderen Hörsälen saß man auf dem Boden. Allerdings sehen diese Sitzbänke alles andere als bequem aus, mit ihrer unregelmäßigen, abgerundeten, sehr schmalen Sitzfläche. Da war man froh, dass man davor eine Lehne hatte, auf die man sich aufstützen konnte. Denn für Bücher oder Schreibmaterial scheint sie denkbar ungeeignet. Wenn es denn überhaupt Bücher und Schreibmaterial für den einzelnen Studenten gab.
Der Kreuzgang ist doppelstöckig und hat unten Rundbögen und oben die typischen Vorhangbögen. Die Holzbalkendecke hat unten sehr schöne, moriskisch aussehende Verzierungen, kleine, quadratische, grüne, rote und weiße Quadrate mit einem achtzackigen Stern, der von unten wie das Blatt eines Baumes aussieht. Oben hat die Holzdecke Stalaktitentäfelung.
Nach oben geht es über eine Steintreppe, die hochinteressant ist, aber weitgehend unbeachtet bleibt. Sie hat drei Absätze. Die Brüstung ist massiv. Auf beiden Seiten sind Figuren eingemeißelt. Unten sieht man einen Pilger mit Pilgerstab, dann einen Dudelsackspieler, alle möglichen Tänzer und Clowns, und oben Reiter mit Federbüschen. Dazwischen ein Mann, der auf einer Frau steht (oder sitzt) und eine Frau, die auf einem Mann steht (oder sitzt). Sie scheinen auf etwas zu deuten, vielleicht eine Biene oder eine Spinne. All das ist sehr rätselhaft. Es hat auch wohl immer wieder neue Versuche gegeben, die Ikonographie der Treppe zu erklären: der Weg des Pilgers zu Moral und Anstand? Die drei Lebensalter des Menschen? Oder ist es einfach allerlei buntes weltliches Treiben?
Im Obergeschoss befindet sich die Bibliothek, leider nicht zugänglich. Hier hing ursprünglich der Himmel von Salamanca. Es würde der Bibliothek gut zu Gesicht stehen. Durch eine Glaswand sieht man auf alte Globen und eine zweistöckige Bücherwand an drei Seiten des Saals. Die Bibliothek hat über 40.000 alte Bücher, dazu 400 Inkunabeln und Tausende von Manuskripten. Und das berühmte Hinweisschild, heute oft auf Ansichtskarten und Souvenirs zu sehen, das demjenigen, der Bücher entfernt, beschädigt oder verunstaltet, mit Exkommunikation droht.
Nach einem Blick vom oberen Stockwerk des Patio auf die Türme der Umgebung, mache ich mich auf den Weg. Ich will in die Casa Lis, einem Museum, das in einem Jugendstilgebäude untergebracht ist, aber da steht eine lange Schlange davor. Das tue ich mir nicht an.
Stattdessen geht es nach San Esteban. Hier muss auch heute bezahlt werden. Man steht vor einer gotischen Kirche, hat aber nicht den Eindruck, vor einer gotischen Kirche zu stehen.
Die Fassade ist monumental, wie der ganze Bau. Da muss es einen potenten Geldgeber gegeben haben, denn schließlich handelt es sich „nur“ um einen Konvent. Die Kirche ist einschiffig, was schon draußen mit dem einzigen Portal angekündigt wird, und hat, in der Dominikanertradition, nur einen Dachreiter, keinen Glockenturm.
Unter einem Triumphbogen sind die Kreuzigung und darunter das Martyrium des Stephan dargestellt. Mit großer Leidenschaft und Entschlossenheit werfen muskulöse Männer die Steine auf den Heiligen.
An den Rändern sind wichtige Figuren der Kirchengeschichte dargestellt, vor allem Dominikaner, darunter Thomas von Aquin. Der hält eine Kirche in der Hand, die auf einem Buch ruht. Das ist Programm.
Drinnen gelangt man zuerst in den Kreuzgang. Der ist beeindruckend, hat aber einen ganz anderen Charakter als die anderen Kreuzgänge Salamancas. Das liegt vor allem an der Höhe, an den weit geschwungenen Arkaden mit den schlanken, hohen Säulen.
Vom Kreuzgang gehen verschiedene Räume ab. Hier hatte, wie mit Stolz angemerkt wird, die Missionierung Amerikas ihren Ausgang. Dass die Missionierung nicht nur Segen brachte, davon ist hier nicht die Rede. Oben sind an die Wände des Kreuzgangs allerhand sehr modern klingende Zitate angebracht, die wohl in Verbindung mit dieser Missionierung stehen. Es heißt unter anderem, jedes Volk habe das Recht auf Selbstbestimmung. Ob das von Dominikanern der frühen Zeit der Missionierung stammt?
In einigen Vitrinen im Obergeschoss sind auch Objekte ausgestellt, die im Zusammenhang mit der Missionierung stehen, u.a. drei peruanische Engel mit indianischen Gesichtszügen, mit Flügeln ausgestattet und mit amerikanischen Musikinstrumenten.
Eine Treppe führt nach oben, die Escalera de Soto. So wurde auch die Treppe in der Clerecía genannt. Der Name geht zurück auf Fray Domingo de Soto. Das ist nicht etwa der Architekt der Treppe, sondern der Mäzen. Der Architekt war Gil de Hontañón. Wie in der Clerecía ist die Treppe nicht nur schön, sondern auch technisch bemerkenswert: Die untere Bahn stützt die anderen, und die scheinen frei zu schweben. Das war eine Neuerung. Es wird vermutet, dass diese Treppe die erste ihres Typs gewesen sein könnte.
Die Kirche bietet den besten Blick von oben, von der gewagten Empore, die fast die Hälfte des Kirchenschiffs einnimmt. Hier wirkt die barocke Ausstattung, vor allem der ganz und gar vergoldete Altar von Churriguera, mit Weinranken um die salomonischen Säulen, nicht so erdrückend wie unten. Der gesamte Raumeindruck ist ganz anders. Schöner.
An der Rückseite der Empore ist ein großes Fresko von Palomino angebracht (XVIII). Es ist wie ein bildliches Parteiprogramm. Der Wagen der Kirche, gelenkt von einer weiblichen (!) Figur mit Tiara, gezogen von kräftigen, gescheckten Pferden, bahnt sich seinen Weg, angefeuert von Thomas von Aquin. Auf dem Wagen sitzen die personifizierten vier weltlichen und die drei göttlichen Tugenden. Unter seinen Rädern begräbt der Wagen einen Bären (Wut), einen Strauß (Völlerei), einen Pfau (Hochmut), einen Wolf (Geiz), eine Ziege (Wollust), einen Hund (Neid) und eine Schildkröte (Trägheit), also die Tiere, die die sieben Todsünden vertreten, während die Pferde mit ihren Hufen drei Figuren zertrampeln, die für den Irrtum, die Häresie und die Unwissenheit stehen. Das ganze Gemälde strahlt, trotz der fragwürdigen Ideologie, die es vertritt, Gewissheit, Tatendrang und Optimismus aus.
Dann geht es wieder nach draußen. Ich komme noch einmal zu dem Park von gestern, der Huerta de Calixto y Melibea, nach Cervantes benannt, und entdecke ganz am Rande, etwas verdeckt, eine merkwürdige Statue, eine Stele, in deren Ende das Portrait einer alten, hässlichen Frau eingelassen ist. Darunter ein Zitat, das zeigt, um wen es sich handelt: La Celestina, die Kupplerin aus La Celestina: „Soy una mujer cual Dios me hizo, no peor que todas. Si bien o mal, vivo. Dios es mi testigo.“ Sie ist sich ihres eigenen Wertes bewusst. Trotz allem.
Kuriose Straßennamen: Heute Tostado, gestern Pan y Carbón, vorgestern Trilingüe. Kurios auch der Gebrauch eines modischen <z> in Geschäftsnamen: Tentazión.
Dann stoße ich auf eine Statue von Góngora. Der war Student in Salamanca. Sein Kopf wächst aus dem Stein hervor, sein Körper ist praktisch mit dem Stein identisch.
Als ich auf die Plaza Mayor komme, findet wieder ein Konzert statt. Diesmal läuft der Sombrero de Tres Picos.
Abseits der Plaza kaufe ich mir ein Eis auf die Hand und setze mich auf eine steinerne Bank in die Sonne. Vor mir eine weitere Statue, wohl aus Granit. Sie stellt Don Juan dar, halb liegend, mit dem Schwert auf dem Körper ruhend. Die Inschrift nennt ihm Príncipe de Asturias und Señor de Salamanca.
Auf der Suche nach der Statue Unamunos stoße ich auf eine Frau, die mich freundlich anlächelt, als ich ratlos in der Gegend herumstehe. Da geht’s zum Palacio. Nee, ich suche die Unamuno-Statue. Sie bringt mich hin und erzählt unterwegs kräftig. Sie lese ja Unamuno heute nicht mehr so gerne, aber was der Mann alles gekonnt und getan hätte: die Bücher, die Zeichnungen, die Bilder, die Auftritte in der Öffentlichkeit, die Reisen – sie erzählt, wie oft er alleine in Portugal gewesen ist – das sei echt beeindruckend.
Sie bringt mich zu dem Platz, auf dem das Haus steht, in dem er starb. So steht es auch an der Fassade, so hat man es mir auch in der Touristeninformation gesagt. In der Casa Unamuno hatte es geheißen, er wäre da gestorben. Aber das ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil er ja nicht mehr Rektor war. Die Frau weist noch auf einen Balkon im ersten Stock hin. Von dort aus habe er eine wichtige politische Rede gehalten, vermutlich während der Republik.
Die Statue steht gegenüber, in der Mitte dieses schönen, ganz zentralen und doch ruhigen Platzes. Eine moderne Bronzeplastik, bei der Unamuno praktisch halslos dargestellt wird. Der Kopf erwächst direkt aus dem Rumpf. Der Kopf ist nach vorne gerichtet, der Blick ist streng, entschlossen, kämpferisch. Die ganze Erscheinung ist kantig, so wie er selbst.
Das Haus neben dem Wohnhaus Unamunos ist die Casa de las Muertes. Die Totenköpfe an den Konsolen unter den Fenstern (die ich aber erst später mit fremder Hilfe finde) haben dem Haus wohl seinen Namen gegeben, vielleicht in einer Übertragung des ursprünglichen Straßennamens. Die Fassade ist plateresk, sehr fein, die Gliederung sparsam. Einer der Steinmetze bewohnte selbst dieses Haus.
Am Abend erzählt mir La Cajera von dem Montag nach Ostern. Der heißt in Salamanca Lunes de las Aguas. Es war ein besonderer Tag, ein Feiertag. In der Karwoche, so heißt es, habe man alles Gelichter, darunter die Huren, aus der Innenstadt entfernt und auf das andere Ufer geschafft. Am Montag nach Ostern konnten sie dann zurückkehren, was der Anlass für die Feiern war.
Der Lunes de las Aguas ist auch der Tag, an dem traditionellerweise das typischste Gericht von Salamanca zubereitet wurde, der hornazo. Jetzt gibt es den das ganze Jahr über. In einer Konditorei in der Nähe der Wohnung bestelle ich einen. Es ist eine Art Pastete, flach, die mit Schweinelende und Schinken gefüllt wird.
Am Abend sitzen wir draußen in unserer Gegend auf einer Terrasse. Am Ende, gegen zehn Uhr, wird es ziemlich kühl. Wir sind überrascht, als die Rechnung kommt. Nicht, weil sie so hoch, sondern weil sie so niedrig ist. Keine 11,15 €. Dafür haben wir fünf kleine gezapfte Biere bekommen und vier Schälchen mit unterschiedlichen Speisen, darunter Reis mit Blutwurst und Kutteln, einem traditionellen Gericht von Salamanca.
13. September (Mittwoch)
In meinem Reiseführer finde ich einen alten Werbezettel von der Taberna del Prado in Madrid: Menu 1300 Ptas.
Flanieren steht auf dem Programm. Keine Museen, keine Kirchen. Das Wetter ist einfach zu schön.
Ich gehe in die geschlossene Markthalle neben der Plaza Mayor. Sie ist zweistöckig, quadratisch. Oben sind die „besseren“ Läden. Unten gibt es auch etwas Leerstand. Die Stände sind nach Produkten angeordnet: Obst, Fisch, Fleisch, Käse. An mehreren Ständen hängen ganze Schinken. Für einen ganzen muss man etwa 300 € hinlegen. Es gibt eine Unzahl unterschiedlicher Oliven, groß und klein, grün, schwarz, rötlich, grünlich. Unten sehe ich an einem Gemüsestand riesige, längliche, rötlich-gelbe Früchte, die ich nicht identifizieren kann: Kürbisse? An einem Stand gibt es, in runden Dosen abgepackt, Wachteln und Rebhuhn, in escabeche, einer Marinade, die man sonst für Fisch benutzt.
Außerhalb der Plaza Mayor jede Menge kleiner Familienbetriebe, in altertümlich anmutenden Läden untergebracht: Uhrmacher, Schumacher, Apotheke, Briefmarkenhändler.
Ich komme an einem wehrhaft wirkenden Turm vorbei, der Torre de Anaya. Irgendwo auf mittlerer Höhe ein schön eingerahmtes gotisches Fenster, aber der Turm muss ursprünglich praktisch fensterlos gewesen sein. Das mächtige Holzportal hat schöne Eisenbeschläge und einen eisernen Türklopfer. Daneben ein Schlitz, hinter einem kleinen Gitter mit der Aufschrift Ave Maria.
Dann entdecke ich die Statue von Kolumbus, in einem Park, der gesperrt ist. Man kann die Statue aber durch das Gitter sehen. Kolumbus hat einen Arm weit von sich gestreckt – nach Westen.
Dann geht es zum Tormes runter. Kurz vorher die moderne Statue eines Dichters, Ledesma. Der sitzt auf einem Mäuerchen und sieht eher wie ein Bahnwärter als wie ein Dichter aus. Er hat den Kopf zur Seite gewandt und blickt auf eine Wand. An der steht ein Gedicht von ihm, das sich wiederum genau auf diese Stelle bezieht. Die Mauern und die Oliven werden erwähnt: „Y allí en las murallas junto al río / los olivos contemplan tu mirada“. Das Gedicht hat zwar etwas von einer Beschreibung, beschwört aber eher eine Atmosphäre.
Dann kommen, direkt hinter der Biegung, die mächtigen Stadtmauern in Sicht, die Parallel zum Tormes verlaufen, aber noch in etwas Distanz von ihm. Am Rande eines neu angelegten Radwegs geht es hinunter. Hier steht das Museum des Automobils, mit dem Seat 600 auf dem Plakat, dem emblematischsten aller spanischen Autos. An der äußeren Ecke des Museums ragt ein Fahrgestell über die Umfassungsmauern in die Luft.
Es geht unter einer eisernen Brücke her, die über den Tormes führt. Hier ähnelt der Fluss einem Tümpel, unbeweglich, mit allen möglichen Gräsern an der Oberfläche. Man glaubt, in einer anderen Welt zu sein. Wenn es da nicht die Wohnklötze auf der anderen Uferseite gäbe.
Es geht über die Brücke auf die andere Seite. Der Blick auf die nicht weit entfernte Römerbrücke wird von Bäumen zugestellt, aber man kann gut die unterschiedlichen Bögen erkennen, die auf dieser Uferseite flacher sind.
Wieder im Zentrum komme ich über die Calle Compañía und stehe vor dem Colegio de España. Gestern, bei verschlossenen Türen, war ich mir nicht sicher, obwohl mir die Adresse richtig vorkam, aber heute, bei geöffneter Tür, angesichts des Innenhofs, bin ich mir ganz sicher: Das ist die Schule, an der ich damals den Sprachkurs gemacht habe. Ich hatte eine verwinkelte Straße in Erinnerung.
Ich komme auf einen Platz, wo es eine weitere Dichterstatue gibt: Carmen Martín Gaite. Sie hat männliche Gesichtszüge und eine altmodische Strickmütze auf dem Kopf. Ihre Büste erwächst aus den aufgeblätterten Seiten eines Buchs.
Ich gerate auf die Calle Zamora, eine breite Einkaufsstraße. An deren Ende steht San Marcos, und da ändere ich mein Vorhaben, heute keine Kirche zu besichtigen.
San Marcos ist eine Rundkirche, wehrhaft, romanisch. Die einfache, runde Form mit den glatten, schmucklosen Quadern hat was. Man weiß nicht, wo was ist, obwohl sich nachher erweist, dass der Dachreiter den Osten markiert. Der ist allerdings jünger, im Barock hinzugefügt.
Man betritt die Kirche im Süden, durch ein schönes, ebenfalls einfaches Portal mit schmucklosen Archivolten. Darüber das Wappen der Könige von León und Kastilien. Das belegt die ehemalige Macht der Kirche.
Die kleine Broschüre, die mir von einem freundlichen jungen Mann in der Kirche unaufgefordert in die Hand gedrückt wird, klärt eine andere Bezeichnung auf, über die ich mich die ganzen Tage gewundert habe: den Namen Clerecía (‚Geistlichkeit‘) für die Jesuitenuniversität. Der kommt eigentlich von hier. Die Kirche war der Sitz der Real Clerecía de San Marco. Als die Jesuiten dann ausgewiesen wurden, siedelte man von hier in die Jesuitenuniversität über.
Wenn man in die Kirche hineinkommt, muss man sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Die Kirche ist dreischiffig, mit drei Apsiden, in den zwei original romanische Altärchen stehen, mit kurzen Füßen, die in einfache Kapitelle enden.
Über dem Altar im Mittelschiff hängt ein gotischer Christus, und an verschiedenen Stellen der Kirche stehen drei Madonnen, wohl alle ursprünglich nicht von hier, die unterschiedlicher nicht sein könnten: eine bewegte, farbenfrohe, auf einer Mondsichel stehende, mit „wehendem“ Gewand (XVI), eine naive, ungeschickt dargestellte mit knalligem Farbauftrag, und eine Nachbildung der Virgen de Montserrat, hieratisch, regungslos, wie das Kind ziellos in die Ferne blickend.
Man hat einige der originalen Wandfresken freilegen können, eine Verkündigung, eine Krönung (mit Gottvater, der wie ein Gotenkönig aussieht), einen Christophorus (der außer dem Christus auf der Schulter noch gleich eine ganze Gruppe anderer Wanderer am Gürtel über den Fluss trägt) und einen wunderschönen Blumenteppich. Man glaubt, der verweise auf die tatsächlich zu Festzeiten in der Kirche angebrachten Teppiche! Aber die Details zählen bei dieser Kirche nicht so sehr wie das Ensemble.
Auf dem Platz neben der Kirche mache in Pause in einem Café, bei Bier und Patatas bravas im Schatten sitzend.
Auf dem Rückweg komme ich über einen gesichtslosen Platz, entdecke dort aber zwei moderne Skulpturen, die spielende Kinder darstellen. Bei einer reicht ein Junge einem Mädchen ein Band, bei der anderen gebraucht das Mädchen den Jungen als Bock zum Bockspringen. Aber quer, nicht längs, wie wir das gemacht haben.
An einem Schönheitssalon fällt mir ein Schild auf: Piernas completas: 39,80 €. Ich will heimlich ein Photo machen, aber in dem Moment merkt das eine junge Frau, die die andere junge Frau, die direkt vor dem Schaufenster steht, auf mich anspricht: „Te quiere sacar una foto.“ Ich will gerade um Entschuldigung bitten, da dreht sie sich mit einem strahlenden Blick um und sagt: „¿Ah sí?“
Die Reise geht zu Ende mit einer Führung durch das abendliche Salamanca. Legenden und Anekdoten werden erzählt. Es wird auch etwas über den Ursprung des Wortes Salamanca gesagt, aber nichts Schlüssiges. Jedenfalls hat er nichts mit Salz zu tun.
Wir kommen durch die bekannten Straßen und Gassen, aber auch in ein paar unbekannte Ecken. Die stillen Gassen, die schön erleuchteten Gebäude und die laue Sommerluft machen den Spaziergang zu einem passenden Abschluss.