29. August (Dienstag)
Früher Aufbruch, noch im Morgengrauen. Es ist kalt, kälter als in den letzten Jahren. Da hatte ich es mal mit Hitze, mal mit Wind, mal mit Regen zu tun, aber nie mit Kälte.
Nach zwei Kilometern steige ich zum ersten Mal ab: Licht an! Man sieht zwar gut, wird aber vielleicht nicht so gut gesehen.
Ich fahre nicht direkt zur Mosel runter, sondern auf vertrauten Wegen nach Schweich. Das spart ein paar Kilometer, und Mosel gibt es während der Tour ja noch genug. Es geht durch Wohnviertel, durch ein Gewerbegebiet, durch Ruwer. Die letzten Kilometer vor Schweich geht es direkt an der Autobahn entlang. Aber ich werde durch den schönen Blick auf die Berge vor mir entschädigt, deren Kuppen im aufsteigenden Dunst liegen.
In Schweich geht es dann an die Mosel. Deren Oberfläche glänzt, sie scheint sich kaum zu bewegen.
Es ist einsam. Eine einzige Radfahrerin überholt mich, fährt an mir vorbei und verschwindet hinter der nächsten Kurve.
Ein Reiher hebt mit lautem Flügelschlag ab, ein paar Vögel zwitschern vereinzelt, irgendwo raschelt es im Gebüsch. Ansonsten ist es still.
Auf der anderen Moselseite Weinberge. Einer reiht sich an den anderen. In einen haben sie mit Kalk oder mit Steinen von oben nach unten den Namen Mehring eingeschrieben.
Es geht an Longuich vorbei, dessen schönen Ortskern ich vor ein paar Tagen erst entdeckt habe. Dann kommt der Campingplatz mit dem ungarischen Lokal, das ich schon immer mal ausprobieren wollte. Auf den Zeltplätzen bilden die Campingwagen mit den fest verbundenen, hohen Zelten eine Einheit. Es ist wie ein Haus. Worin der Reiz einer solchen Urlaubsgestaltung liegen soll, erschließt sich mir nicht.
Dann kommt der Alte Moselbahnhof, der inzwischen in einen Biergarten umgewandelt worden ist.
Dann kommen auch auf meiner Seite Weinberge. Die Trauben sind klein, aber hängen in dicken Trauben vom Rebstock hinab. Ein Winzer hat am Fuß seines Weinbergs Werbeprospekte ausgelegt.
Es geht durch Detzem. Der Ort verdankt seinen Namen den Römern. Er ist verwandt mit Dezimeter und benennt die Entfernung nach Trier: 10 römische Meilen.
Nach 25 Kilometern und gut anderthalb Stunden lege ich die erste Trinkpause ein.
Der Weg führt von der Mosel weg, es geht ein Stück steil bergauf. Hier stehen Weinfelder, ganz flach. Sie stehen zu beiden Seiten Spalier, auf der einen Seite gerade, auf der anderen schräg, als es wieder zurück zur Mosel nach Köwerich geht.
Dort geht es an der Bundesstraße entlang, aber auf einem abgetrennten Radweg. Hier gibt es ein paar Obstfelder, mit Apfelbäumen und einem Strauch mit dicken, knallgelben Zitronen.
Trittenheim mit seiner Kirche mit dem spitzen Turm liegt auf der anderen Seite. Zu beiden Seiten der Mosel steht ein Fährturm. Zwischen diesen beiden Fährtürmen verkehrte früher eine Fähre, eine antriebslose Drahtseilfähre. Vor 100 Jahren gab es an der deutschen Mosel nur 14 Brücken, aber 50 solcher Fähren.
Um 9 Uhr habe ich die ersten 40 Kilometer hinter mir, kurz vor Neumagen. Hier steht mitten in einem Weinfeld eine kleine Kapelle, weiß, niedrig, fast quadratisch, mit einem spitzen Turm.
Der Name Neumagen erklärt sich, wie Dormagen und Remagen, aus dem alten keltischen Wort magos. Das bedeutete ‚Feld‘. Als die Kenntnis der keltischen Sprachen verloren gegangen war, konnten die Leute damit nichts mehr anfangen und formten den Namen im Laufe der Zeit um. Ein typischer Fall von Volksetymologie.
Der Radweg führt direkt durch Neumagen hindurch. An Straußenwirtschaften und Cafés mangelt es hier nicht. Haben aber noch alle geschlossen. Das verlockend aussehende Dorfcafé hätte schon auf, wenn heute nicht Dienstag wäre: Ruhetag.
Hinter Neumagen mache ich an einem rauschenden Bach noch mal eine Trinkpause. Es ist nicht mehr ganz so kalt, aber immer noch dunstig. Allmählich kommen die Leute aus ihren Löchern. Zahlreiche Radfahrer kommen vorbei, meist Paare, lauter Rentner.
Nach 50 km kommt Piesport. Die neue Brücke spiegelt sich mit ihrem Gewölbe im Wasser. Ich bin nicht der einzige, der für ein Photo anhält. Auf der anderen Seite steht in den Weinbergen der Name der bekannten Lage: Piesporter Goldtröpfchen.
Danach geht es ein Stück steil rauf, und dann ein Stück an der Bundesstraße entlang, dann über Feldwege. Gedankenverloren fahre ich weiter. Irgendwo lese ich an einem großen Gebäude kletterhalle. Es ist aber kelterhalle.
In Wintrich finde ich endlich ein geöffnetes Café. Man kann auf der Terrasse vor dem Haus sitzen. Es ist noch kein anderer Gast da. Die Kellnerin versteht meine Frage erst nicht richtig. Polin? Ukrainerin. Ich bestelle Kaffee und Apfelkuchen und sie lässt sich auf ein kurzes Gespräch auf Russisch ein. Sie ist seit drei Jahren hier, lernte Deutsch in einem Sprachkurs. Das Aufnehmen der Bestellung geht gut auf Deutsch, und die Zahlen kann sie perfekt: 6,50 €. Aber ansonsten geht es auf Russisch besser. Sie hat keine Kinder, auch keinen Mann. Geschieden. Sie zeigt auf eine Narbe an ihrem Hals und sagt etwas von Operation. Aber ich verstehe nur die Hälfte. Ich verstehe aber, dass sie in die Ukraine zurück will. Warum? Zuhause sei eben Zuhause, sagt sie lapidar. Den Krieg erwähnt sie nicht. Ich auch nicht.
Um 10.30 geht es weiter. Der Routenplaner weist mir den Weg. Das System kann in der Sprachansage nicht zwischen Weg und weg unterscheiden: Folgen Sie dem weg 200 Meter.
Der Weg führt von der Mosel weg. Es geht über Feldwege weiter. An einem Weinstand, der auch jetzt schon von einigen frequentiert wird, steht: Zutritt nur mit tagesaktuellem Durst. Auf dem Feld nebenan steht ein Strohballen mit der Figur eines Radfahrers, der in den Strohballen gefahren ist. Sein Kopf guckt am anderen Ende heraus.
Eine schöne Durchfahrt gibt es durch Brauneberg, die Mosel links, Schieferhäuser rechts. Die Straßenschilder sind blau, mit Frakturschrift: Engels Gaass, Schnaaps Gaas. An einem Haus lese ich Schiefer Traum, es ist aber Schiefertraum.
In Brauneberg gibt es eine wiederhergestellte römische Kelteranlage. Die Römer bauten hier blaue und weiße Trauben an, heute werden nur noch weiße angebaut. Hier werde seit 1.800 Jahren Wein angebaut, heißt es. Ob das stimmt? Hat man immer, auch nach dem Abzug der Römer, auch im Mittelalter, durchgehend Wein angebaut?
Nach 66 Kilometern kommt Bernkastel. Die Uferpromenade, wie immer, voller Autos, man kann von hier aus kaum erahnen, was für ein schöner Ort das ist. Die Ruine des Kastells, von dem der Ort seinen Namen hat, thront ganz oben auf dem Fels. Der Namensteil Bern ist irreführend, hat nichts mit Bern oder Bernstein zu tun, sondern mit Prim. Gemeint ist also das ‚Erste Kastell‘, das bedeutendste.
Weiter geht es, an der Sonnenuhr im Weinberg vorbei. Die Oberschenkel machen sich langsam bemerkbar, aber Kraft zum Weiterfahren habe ich noch. Nur das Sitzen wird immer ungemütlicher. Dann stellt sich heraus, dass die Strecke heute länger ist als erwartet, und zu allem Übel fängt es auch noch an zu regnen. Weiterfahren? Unterstellen? Einkehren? Ich bin unschlüssig, fahre erst mal weiter, kehre dann aber in die Kaffeemühle bei Zeltingen ein. Hier sitzt man geschützt unter großen Sonnenschirmen. Große Kuchenauswahl, darunter Rotkäppchen und Sekttorte, aber ich belasse es bei Kaffee und Wasser. Hier hat man eine gute Lösung gefunden für „Nichtgäste“ (komisches Wort), die die Toilette benutzen. Sie zahlen 50 Cent, und die gehen an die Villa Kunterbunt in Trier.
Die freundliche Wirtin macht mir Mut, das mit dem Regen werde schon nicht so schlimm werden, aber ihre Prophezeiung bewahrheitet sich erst mal nicht. Im Gegenteil. Der Regen wird stärker. Während sich die anderen Radfahrer dick eingemummt haben, ziehe ich meinen Pullover aus. So wird der wenigstens schon mal nicht nass.
Ein tapferer Jogger kommt mir entgegen. Auf seinem T-Shirt steht be what you are. Warum schreiben die Leute so was auf ihr T-Shirt? Was bedeutet das? Wer ist der Adressat dieser Botschaft? Wie soll ich mein Verhalten, mein Leben verändern, um dem gerecht zu werden? Und kann ich überhaupt was anderes sein als ich selbst?
Kurz darauf kommt ein Wohnwagen mit der Aufforderung Lebe deinen Traum. Leuchtet mir genauso wenig ein.
Über eine große Brücke geht es über die Mosel, Richtung Traben-Trarbach. Hier ist nur noch Trarbach ausgeschildert. Liegen die beiden Ortsteile auf verschiedenen Seiten der Mosel, wie Bernkastel und Kues?
Ich fahre an stattlichen Häusern aus der Gründerzeit vorbei, heute fast ausschließlich mit gastronomischen Betrieben bestückt, vermutlich gehobene Gastronomie.
Inzwischen ist der Regen in Nieselregen übergegangen, und bald hört er ganz auf. Die Wirtin hat Recht behalten.
Hier fängt mein Routenplaner an, verrückt zu spielen. Wo auch immer ich hinfahre, ist es falsch. Ich steige ab und verfolge die Instruktionen ganz genau. Dann bin ich nur noch sieben Meter von der Route entfernt. Die führt direkt auf einen Ausflugsdampfer.
Erinnert mich an eine Szene in Holland, wo ich im Rheindelta direkt ins Wasser geführt wurde. Da hat sich aber herausgestellt, dass ich eine Fähre nehmen musste. Aber der Ausflugsdampfer kann ja wohl nicht ernsthaft gemeint sein.
Ich fahre auf gut Glück weiter, Richtung Ortsausgang. Eine ortskundige ältere Dame gibt mir freundlich Auskunft. Ihre Auskunft erweist sich als richtig, aber zuerst als etwas irreführend. Sie hat mir als Anhaltspunkt ein Dachdeckerunternehmen genannt. Aber dort geht es nur zur Jugendherberge. Ich soll aber zur Fähre.
Dann kommt ein Radwegschild, aber das ist so verblichen, dass man den grünen Pfeil nicht mehr erkennen kann. Das wiederholt sich im Laufe der Tour noch zweimal. Ich biege auf gut Glück links ab. Es geht steil bergauf, von der Mosel weg, und dann eine Landstraße entlang, parallel zur weit unten liegenden Mosel. Die Kräfte schwinden. Dann sehe ich zu meiner Erleichterung Enkirch in den Weinbergen eingeschrieben. Enkirch ist mein Ziel. Aber es ist auf der anderen Seite. Und ich bin von der Mosel durch ein breites abgesperrtes Stück Land getrennt. Hier gibt es eine Schleuse, aber keine Brücke. Eine Fähre auch nicht, und wenn es die gibt, kann ich nicht hinkommen.
Es geht weiter, und dann erscheint plötzlich die von der Dame angekündigte Fähre von Kövenig. Der Fährmann wartet auf Passagiere. Ich gehe auf die winzige Fähre und zahle 1,50 für mich und 1,50 fürs Fahrrad. Der Fährmann legt ab, mit unbewegtem Gesicht und mechanischen Handbewegungen setzt er die Fähre in Gang. Aber es geht nicht zielstrebig ans andere Ufer. Wir scheinen uns eher im Kreis zu bewegen. Dann sehe ich, dass er noch einen weiteren Passagier auf dem Landesteg entdeckt hat und noch mal zurückkehrt. Wir laden den anderen ein, und rüber geht’s.
Auf der anderen Seite stehen auf einem Campingplatz lastwagenartige Wohnwagen, wie ich sie noch nie gesehen habe. Aber hier scheinen sie alle zusammenzukommen. Auf einem steht Wechfahrhaus.
Ich schiebe mein Rad den Hügel rauf auf den hübschen, menschenleeren Brunnenplatz, und dann die Dorfstraße rauf, mit Kopfsteinpflaster, einer alten Apotheke, einem Fachwerkhaus mit schiefer Fassade, Straßen mit originellen Namen und dem Backhaus, einem Café.
Für meinen Routenplaner bin ich immer noch außerhalb meiner Route, aber dann hat er mich wieder und sagt: Die Navigation wird fortgesetzt. Du hast dein Ziel erreicht. Ich stehe vor dem Gasthof Zur Sonne. Habe aber die Rechnung ohne meine eigene Reservierung gemacht, auf der ausdrücklich steht: Zimmerbelegung ab 14.30. Die fehlende halbe Stunde verbringe ich im Backhaus gleich gegenüber.
Dann geht alles schnell und unkompliziert in dem Gasthaus. Und ich kann die Füße ausstrecken. Und die Speisekarte studieren. Im gleichen Haus, nur die Treppe runter, befindet sich nämlich das Lokal. Die Unterkunft ist so gut wie perfekt.
Als ich am frühen Abend runter gehe, ist die Wirtsstube schon voll besetzt, und man muss sich wohl oder übel nach draußen setzen, obwohl es etwas kalt ist. Aber auch hier sitzen welche, eine Gruppe von Männern und zwei Paare. Vermutlich lauter Radfahrer. Man sitzt geschützt unter großen Schirmen. Auf denen steht Benediktiner Weissbier. Ich bin überrascht über die Schreibweise, mit ss statt ß, aber das Benediktiner schreibt sich wirklich mit ss, wie Rot Weiss Ahlen und Rot-Weiss Essen, aber anders als Rot-Weiß Oberhausen und Rot-Weiß Erfurt.
Von meinem Platz aus blickt man auf das schöne Eingangsschild des Gasthauses Zur Sonne, mit einer dicken, gelben Sonne, das ich vorher bei der Suche übersehen habe. Der Name des Gasthauses folgt dem der Besitzer, Sonnen.
Auch hier auf der Terrasse wachsen Zitronen, an einem Strauch gleich neben mir.
Die Männer sind fröhlich, sprechen laut, lachen. Und bestellen immer wieder: „Noch sieben Pils!“ Als das Essen kommt, werden sie ruhiger. Danach fängt einer an, von seiner Scheidung zu sprechen. Seine Frau habe vertraglich zugesagt, auf ihre Rentenpunkte zu verzichten, weil er ihr das gemeinsame Haus überschrieben habe. Dann habe sie sich aber einfach geweigert, das einzulösen. Er habe zwölf Jahre lang jeden Monat 400 € Unterhalt gezahlt. Seine Frau habe kein bisschen nachgegeben.
Dann kommt mein Essen. Es gibt den Enkircher Zwiebelteller und einen Enkircher Weißwein. Aber nur ein Glas. Morgen steht eine weitere anstrengende Etappe an.
30. August (Mittwoch)
Frühstück gibt es erst um 8.00, also verzögert sich die Abfahrt bis 8.30. Als ich kaum auf dem Rad sitze, höre ich Du hast die Route verlassen. Ich drehe um und bekomme Die Navigation wird fortgesetzt.
Es geht über Radwege, mal an der Bundesstraße entlang, mal hoch über der Mosel, mal verschwindet die Mosel. Es ist wieder kalt.
Die schönste Strecke ist die vor Zell, direkt an der Mosel, grün zu allen Seiten, die Bundesstraße weit oben.
In Zell steht im Kreisverkehr eine große schwarze Katze mit einem gefüllten Weinglas in den Pfoten, zum Zuprosten erhoben. Das spielt auf den Namen des örtlichen Qualitätsweins an, die Schwarze Katz.
Der Name Zell ist lateinisch. Er kommt von cella, der Bezeichnung für einen klösterlichen Gutshof.
Der Kilometerzähler bewegt sich so langsam, dass ich glaube, dass er kaputt ist. In Zell habe ich gerade mal 14 km hinter mir.
Nach Zell kommt, nachdem es erst gar nicht gut aussah, noch mal eine sehr schöne Strecke, bis Bullay. Hier soll ich die Fähre nehmen.
Auf der anderen Seite Wald. Die Bäume beginnen sich zu verfärben, aber nur auf dieser Seite.
Irgendwo taucht plötzlich eine Ruine auf, von Bäumen umstanden. Nur die Fassade, ausgerechnet die Fassade, ist stehen geblieben. War früher sicher mal ein stattliches, hohes zweistöckiges Haus. Durch die leeren Fenster sieht man auf die Bäume.
Richtung Cochem geht es direkt an der Bundesstraße entlang. Hohe Weinberge links von ihr, auf kantigen Schieferfelsen. Ein echter Hingucker.
Vor dem Calmont stehen Touristen, die aus dem Bus ausgestiegen sind und machen Photos. Er gilt als der steilste Weinberg Europas. Der Name scheint tatsächlich was mit caldo zu tun zu haben und ‚Warmer Berg‘ zu bedeuten.
Ich bekomme es jetzt mit dem Wind zu tun, und es fällt auch etwas Regen. Hält sich aber in Grenzen. Als ich an einem Imbisstand meine erste Pause mache bei einer Portion Pommes, ist es schon wieder trocken. Es ist inzwischen 12 Uhr, und ich habe 40 km hinter mir.
Dann werde ich von der Mosel weggeleitet, über die Peter-Altmeier-Brücke. Das kommt mir alles etwas merkwürdig vor. Ich stehe vor einer steil aufsteigenden Landstraße ohne Radweg. Da soll ich rauf? Ich entscheide mich dagegen, fahre zur Mosel zurück und folge den Schildern Richtung Cochem, in der bangen Erwartung, wie viele zusätzliche Kilometer das wohl bedeuten wird. Bei all der Aufregung verpasse ich die Schleuse von Bruttig-Fankel, von der ich unbedingt ein Photo machen wollte.
Ich bin etwas beruhigt, als ich in Klotten sehe, dass es nur noch knapp 50 km nach Koblenz sind, jedenfalls für die Autofahrer, und ganz so weit brauche ich nicht. In Klotten mache ich auf einer überdachten Terrasse Pause bei Kaffee und Wasser.
Der Himmel zieht sich immer weiter zu, und ich versuche, noch einen Zahn zuzulegen. Das klappt auch. Es ist eine lange, öde Strecke, aber man merkt jetzt doch das Gefälle, auch wenn man es nicht sieht.
Auf der anderen Seite die Burg Thurant mit Alken. Da lasse ich mir die Gelegenheit nicht entgehen, ein Photo zu machen.
Auf meiner Seite, in Löf, ein Café: Kaffee Klatt’sch. Ich wundere mich über den unorthodoxen Apostroph, aber der hat seinen Grund: Die Inhaberin heißt Klatt.
Dann geht es, schon kurz vor Kobern, meinem Ziel, steil rauf, von der Bundesstraße weg, neben der Eisenbahn her. Das ist schöner zu fahren, aber dafür geht es auch rauf und runter.
Dann kommt das Ortsschild von Kobern. Aber es sind noch drei Kilometer bis zur Unterkunft. Die werden mir schwer. Es geht in den historischen Ortskern, aber dann wieder raus, an großen Supermärkten vorbei. Ich steige ab und schiebe das Rad ein Stück. Dann steige ich wieder auf, und bald kommt Du hast dein Ziel erreicht. Aber was für eins? Hier sind nur Mietshäuser, keine Alte Kellerei zu sehen. Und ich bin auch nicht auf der Marktstraße. Ich schiebe das Rad durch den Ort, frage nach der Marktstraße und suche dann die Hausnummer. Hier muss es sein. Es erweist sich, dass der heutige Name des Hotels nicht mehr Alte Kellerei ist. So steht es aber noch im Internet. Vielleicht aus Werbezwecken.
Ich wuchte mein Fahrrad über die Stufen rauf auf die Terrasse. Vor dem Eingang steht Heute Ruhetag. Das beunruhigt mich erst mal nicht, ich hatte im Internet gelesen, dass das Lokal heute geschlossen hat. Aber angenommen, dass an der Rezeption jemand sein würde. Da ist aber keiner. Man muss anrufen. Es meldet sich ein Mann mit holländischem Akzent. Er sei im Moment selbst nicht da, werde mich aber am Telefon anleiten. Erst gibt es ein Missverständnis über das, was er Schlüsseltresore nennt, aber am Ende komme ich an meinen Schlüssel. Ich nehme an, ich kann jetzt einfach aufschließen, aber weit gefehlt. Er lenkt mich um die Gebäude herum, an einer Schnapsbrennerei vorbei und dann auf die Straße, auf die mich der Routenplaner geschickt hat. Der Mann sagt mir, wie ich in das Haus komme und wo mein Zimmer sei. Wo kann ich denn das Fahrrad unterstellen? Ja, dafür hat er jetzt auch keine Lösung. Er sei heute nicht vor Ort. Ich solle das einfach in den Gang stellen. Leichter gesagt als getan. Man muss die Tür öffnen und dann das Fahrrad die Treppe hinaufschieben. Aber dann ist die Tür schon wieder zugefallen. Am Ende klappt es, und ich komme in mein spartanisch eingerichtetes Zimmer. In dem es, entgegen der Beschreibung, keinen Schreibtisch gibt.
31. August (Donnerstag)
Der junge Mann an der Rezeption fragt mich, wie es gewesen sei, und als er meine Kommentare hört, bietet er einen Preisnachlass an: 50 € statt 59 €. Immerhin. Eine nette Geste.
Es ist kalt, ich bin zu dünn angezogen, aber die Strecke entschädigt dafür. Wunderschön, etwas erhöht, Weinstöcke auf Augenhöhe und dann ganz unregelmäßig sich den ganzen Felsen hochrankend, rechts die Eisenbahnlinie und weiter unten die Mosel. Zwischen den beiden die Bundesstraße, an der ich heute noch mein Wohlgefallen haben soll, die aber jetzt, früh am Morgen, nicht weiter stört.
Es ist stark bewölkt, aber oben kämpft sich die Sonne durch die Wolken und verbreitet einen matten Glanz zwischen den dunklen Wolken.
Ich komme durch Winningen. Kopfsteinpflaster, Fachwerkhäuser, Steinhäuser auf beiden Seiten, die durch wilden Wein verbunden und alle beflaggt sind, in Blau und Rot mit dem Stadtwappen. Unten, am Weinhof, erfahre ich warum: Das Weinfest findet in diesen Tagen statt, das älteste Deutschlands, wie es heißt.
Nach Winningen geht es an verlassenen Gartengrundstücken vorbei und dann durch ein Wohngebiet. Vielleicht ist dies schon ein Vorort von Koblenz. Links erscheint eine große Christuskirche mit zwei Türmen.
Hier heißen die Friseursalons Hair Lounge oder Haarmanufaktur. Auf dem Weg hierher hießen sie Damen- und Herrensalon und Ihr Friseursalon.
Dann kommt das Ortseingangsschild Koblenz, Stadtteil Metternich. Du hast die Route verlassen wird von da an mein treuer Begleiter.
Ich komme auf eine große, dem Routenplaner zufolge 470 Meter lange Brücke. Am Ende heißt es Du hast die Route verlassen. Wie bitte? Wie kann das denn sein? Am Anfang der Brücke war ich doch noch richtig. Und am Ende der Brücke gibt es als Alternative zu meinem Weg nur eine Schnellstraße, und die kommt nicht in Frage. Soll ich etwa in die Mosel springen? Ich schiebe das Rad langsam zurück, und dann entdecke ich tatsächlich eine kleine Lücke im Geländer, die ich übersehen habe. Hier ist eine Wendeltreppe. Ich muss das Rad die Treppe runtertragen, wohl oder übel. Zwischendurch muss ich zweimal verschnaufen. Die mit entgegenkommenden Fußgänger müssen lachen. Wie kommt der nur darauf, sein Rad eine Treppe runterzutragen?
Dann geht es Richtung Koblenz. Man sieht in der Ferne die Türme von St. Florian. Es geht Richtung Deutsches Eck, aber hier ist alles durcheinander, nicht nur wegen der vielen Touristengruppen, die schon unterwegs sind – ich höre Englisch und Spanisch – sondern auch, weil die ganze Gegend mit hässlichen Plastikbannern abgesperrt ist. Morgen wird der Kaiser 30.
Von da an Du hast die Route verlassen irre ich durch die Gegend, komme Du hast die Route verlassen irgendwie in die Altstadt Du
hast die Route verlassen und an St. Florian vorbei. Dann sehe ich endlich einen Radweghinweis Richtung Andernach. Beherzt schlage ich die Richtung ein. Du hast die Route verlassen.
Der Routenplaner schickt mich durch ein Gewerbegebiet, über einen Spaghettiknoten, durch ein Industrieviertel, durch das Hafenviertel und dann Kilometer und Kilometer lang an der Bundesstraße entlang. Parallel zu ihr verläuft die Autobahn. Rheinromantik pur.
An einer Stelle bleibe ich ganz stecken. Der schmale Lehmpfad am Rande der Bundesstraße ist aufgerissen. Hier werden Leitungen verlegt. Arbeiter kommen mir entgegen, die die mächtigen Kabel von einer Trommel wegziehen müssen. Ich gucke kurz, ob ich ein Stück über die Bundesstraße fahren kann, wie es ein anderer, mutiger Radfahrer macht, aber angesichts der heranbrausenden Lastwagen entscheide ich mich dagegen. Ich lasse die Arbeiter vorbeiziehen und schiebe dann das Rad über den schmalen Streifen, der noch von dem Weg verbleibt.
Immer weiter geht es an der Bundesstraße entlang. Ich hoffe auf Erlösung, und die kommt auch dann bald. Allerdings geht es ins Hafenviertel, aber wenigstens von der Bundesstraße weg.
Im Hafenviertel werde ich von einem Lastzug überholt. Der hupt protestierend, ich hebe protestierend den Arm, dann kommt der Lastzug zurück und bleibt neben mir stehen. Die Fahrerin ruft etwas durch das offene Fenster, aber ich kann das wegen des Motorenlärms nicht verstehen. Ich sage, so laut ich kann, da hinten sei doch das Schild mit dem Radweg. Sie antwortet etwas, was ich wieder nicht verstehe. Aber sie macht eine Bewegung zur anderen Seite der Straße. Sie hat Recht. Da ist ein roter Streifen für Radfahrer in den Asphalt markiert. Ich hebe entschuldigend die Hand und brülle ihr noch zu, dass ich jetzt auf den Radstreifen fahren werde. Sie winkt mir kurz zu und fährt weiter.
Dann geht es endlich zum Rhein runter. Hier ist es nicht schön, aber immerhin ruhig. Ich mache eine kleine Trinkpause auf einer Parkbank und esse einen Apfel. Es ist inzwischen 11 Uhr. Meinem Kilometerzähler zufolge habe ich 33 km hinter mir, dem Routenplaner zufolge 18. Ich glaube meinem Kilometerzähler.
Dann, nach Weißenthurm, kommt eine richtig schöne Strecke, direkt am Rhein entlang, ohne Getöse. Zum Genießen. Allerdings hält die Freude nicht lange an. Bald hat mich die Bundesstraße wieder.
Andernach sollte man demnächst mal besichtigen. Macht einen schmucken Eindruck, und an Geschichte scheint es nicht zu mangeln. Ich steige ab und schiebe mein Fahrrad in die Innenstadt, durch ein altes Stadttor und an einer Kirche mit Dachreiter vorbei, vermutlich einer ehemaligen Klosterkirche. Irgendwo sehe ich einen geschichtsträchtigen Rundturm, und dann kommen zwei Plätze. An einem mache ich Pause bei einer Bäckerei.
Weiter geht’s. Auf dem nächsten Teilstück führt der Weg immer wieder mal unter der Eisenbahnunterführung hindurch auf die andere Seite der Eisenbahn und dann wieder zurück. Dabei muss man immer wieder rauf und runter. Die Bundesstraße bleibt immer in der Nähe.
Hinter Bad Breisig, mit einer schönen, gepflegten, etwas nach Kurort aussehenden Flussfront, gibt es noch mal eine schöne Passage am Rhein. Dann kommt wieder die Bundesstraße.
Kurz vor Remagen mache ich noch mal eine Trinkpause, nicht ahnend, dass ich noch mal fast anderthalb Stunden brauchen würde, bis ich an der Unterkunft ankommen würde. Die liegt etwas außerhalb von Remagen, in Rolandseck.
Von Remagen selbst ist kaum was zu sehen, außer der berühmten Brücke, deren Stumpf man als Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg hat stehen lassen. Sie stürzte im März 1945 ein, nachdem Wehrmachtssoldaten vorher vergeblich versucht hatten, sie zu sprengen. Es war die erste feste Brücke, über die die Alliierten auf die andere Seite des Rheins gelangen und das Ruhrgebiet angreifen konnten. Damit deutete sich endgültig das Ende des Krieges an.
Für mich geht es, in Rolandseck angekommen, immer an der tosenden Bonner Straße entlang. Der Routenplaner zählt die letzten Kilometer runter, und dann kommt 0. Aber wo soll ich jetzt hin? Ich stehe vor einer Tankstelle und einem benachbarten türkischen Lokal. Von Ferienwohnung nichts zu sehen. Ich fahre weiter geradeaus und habe die Route verlassen, ich fahre zurück und habe die Route verlassen, ich fahre zum Arpmuseum hoch und habe die Route verlassen, ich fahre zum Rhein runter und habe die Route verlassen. Dann stelle ich den Routenplaner aus.
Als kleinen Aufheller sehe ich unterwegs ein Lokal mit dem selbstironischen Namen Restaurant Bellvuechen.
Ich schiebe das Rad die Bonner Straße runter, bis ich an die richtige Hausnummer komme. Kurz davor fallen die ersten dicken Tropfen, aber richtig nass werde ich nicht mehr.
Die Unterkunft ist in einem etwas heruntergekommenen Patrizierhaus alter Tage mit einem verwilderten Garten. Wieder muss man anrufen, um ins Zimmer zu kommen. Am anderen Ende meldet sich ein Mann mit ausländischem Akzent. Er sei in zehn Minuten da.
Die Unterkunft bedeutet noch mal einen gehörigen Abstrich gegenüber gestern. Das Zimmer ist spartanisch eingerichtet. Auf dem Boden liegen ein gebrauchter Ohrenreiniger, ein Stück Farbband, ein Blatt, an der Wand Löcher, wo ehemals ein Bild hing. Der Zimmerschlüssel passt von innen nicht, und neben der Tür ist eine kaputte Steckdose.
Als ich den Mann, Afrikaner, nach dem Zugangscode zum Internet frage, deutet er auf ein Gekritzel an der Wand. Da steht aisha1999. Die Tochter des Propheten? Nein, die Frau des Propheten. Mit Allahs Hilfe klappt die Anmeldung im Internet.
Das WC ist auf dem Flur. Wo ich denn das Fahrrad sicher abstellen könne, will ich wissen. Am besten auf dem Zimmer. Fahrrad auf dem Zimmer, WC auf dem Flur.
Im Zimmer gibt es einen Wasserkocher und eine Auswahl an Tee. Es gibt Erdbeertee, Women’s Balance und Magentee aus Peru. Nach einiger Suche finde ich aber irgendwo dazwischen auch noch einen Earl Grey.
Ich klettere aufs Bett und von dort auf die Fensterbank. Nur so kann man das Oberlicht schließen. Jetzt kommt der Autolärm von der Straße etwas gedämpft ins Zimmer.
Gleich nebenan liegt die Pizzeria Avanti!, und die öffnet schon früh. Ich bin der erste Gast. Es ist eigentlich eher eine bessere Imbissbude, und die meisten Kunden kommen wohl, um bestellte Speisen abzuholen. Die Betreiber sprechen untereinander Arabisch. Sie kommen aus dem Libanon, sind aber schon seit den achtziger Jahren in Deutschland.
Bier gibt es nur in der alkoholfreien Variante, aber es gibt Wein, mit Alkohol. Ich bestelle einen Chianti, aber der wird viel zu kalt serviert. Die meisten Kunden wollten das so, sagt der Wirt.
Bis das Essen kommt, habe ich noch Zeit, mich in dem Raum umzusehen. In der Ecke steht eine Pendeluhr, in der sich die sieben Geißlein verstecken könnten, auf den Fensterbänken stehen Schiffsmodelle, lauter Dreimaster, an der Wand hängt ein Spiegel, der in einen Sattel eingefasst ist, und an der Wand hängen künstliche Lampen mit flackernden Kerzen.
Das Essen ist richtig gut, ein lecker angemachter, großer Salat und ein Makkaroni-Auflauf.
Danach bin ich froh, dass es nur noch wenige Schritte bis zur Unterkunft sind.
1. September (Freitag)
Als ich am Morgen aufwache, regnet es noch nicht, aber für den ganzen Tag ist Regen angesagt. Als ich fertig zum Aufbruch bin, schüttet es aus allen Löchern. Da bleibt nichts anderes übrig als zu warten. Ich setzte mich auf die Loggia vor dem Haus und sehe dem Regen zu. Kein Nachlassen. Ziemlich trostlos. Die Autos rasen über die graue Straße durch den grauen Tag und spritzen Wasser zu allen Seiten.
Irgendwann habe ich den Eindruck, dass der Regen nachlässt, aber vielleicht ist das nur Wunschdenken. Ich nehme meinen Rucksack auf die Schulter und trage die Satteltaschen auf die Loggia. Und rrrummms, fällt die Tür hinter mir ins Schloss. Fahrrad drinnen. Schlüssel drinnen.
Ich wähle die Nummer von gestern, keiner geht ran. Es gibt noch zwei weitere Nummern, Anrufbeantworter und noch mal Anrufbeantworter. Ich versuche die erste Nummer noch mal. Nichts. Ich klopfe an die Tür, in der vagen Hoffnung, dass mich jemand hört. Nichts.
Da die Telefonnummern nur draußen vor dem Haus an der Fassade stehen, bin ich schon zum ersten Mal für heute nass geworden. Aber nicht zum letzten Mal.
Ich stehe unschlüssig vor dem Eingang und warte. Probiere die Nummer noch mal und noch mal. Dann meldet sich irgendwann eine verschlafene Stimme. Das muss der Afrikaner sein, aber ich verstehe kein Wort von dem, was er sagt. Das Gespräch wird unterbrochen, das wiederholt sich dann noch mal, dann sagt er, er werde versuchen, jemanden im Haus zu erreichen. Tatsächlich kommt nach ein paar Minuten ein freundlich lächelnder junger Mann die Treppe runter und öffnet mir. Ja, das sei ihm auch schon mal passiert.
Los geht’s, trotz des Regens. Ich fahre die schreckliche Bonner Straße entlang. Die Regenjacke hält den Regen gut ab. Noch.
Es regnet ununterbrochen. Es schüttet geradezu. Ohne Regen wäre dies eine richtig schöne Strecke, immer am Rhein entlang, auf dem Radweg. Alles ruhig. Nur ganz wenige sind unterwegs bei dem Wetter. Ein Radfahrer kommt mir entgegen, dick eingepackt, wir lächeln uns unwillkürlich zu, eine Joggerin, die dem Wetter trotzt, eine Frau, die mit Hund und Regenschirm unter einen Baum geflüchtet ist und eine Frau, die völlig ungerührt, ohne Regenkleidung, durch den Regen spazieren geht.
So langsam geht der Regen in Nieselregen über und hört dann ganz auf. Ich komme gut voran, nach gut einer Stunde habe ich schon 20 km hinter mir.
Es kommen bekannte Namen wie Bad Honnef, Königswinter und Bad Godesberg. Dann kommt Bonn. Mit Museumsmeile und Universität nicht weit vom Radweg entfernt.
Dann geht es vom Radweg ab, und über die Dörfer. In Widdig trifft man überall auf Plakate, die gegen irgendeinen Plan protestieren: Nein zur Rheinspange – Ja zur Nulllösung. Vermutlich ein Verkehrsprojekt.
Vielleicht weil ich mich habe ablenken lassen, bin ich plötzlich die Radwegehinweise los. Ich fahre im Ort hin und her, ohne Erfolg. Dann kommt mir eine einzelne Dame mit Regenschirm entgegen – freiwillig geht bei dem Regen niemand vor die Tür – und die wimmelt sofort ab. Slawischer Akzent. Sie wohne noch nicht lange hier, sie kenne sich hier nicht aus.
Irgendwie komme ich, einem Pfeil folgend, zum Rhein runter und fahre direkt am Rhein entlang, aber in die – gefühlt – falsche Richtung. Ich fahre trotzdem weiter, bis zum nächsten Richtungsschild. Der Hinweis auf Köln ist verloren gegangen, es stehen Bonn und Brühl zur Auswahl. Bonn ist definitiv falsch, Brühl hört sich auch nicht richtig an. Ich fahre dennoch Richtung Brühl und komme an eine Abzweigung. Der Radweg führt unten geradeaus, aber in der Ferne sieht man dort eine Sperre. Links führt ein Weg nach oben, und an der Verzweigung ist ein Pfeil angebracht, von dem man nicht weiß, wohin er weist. Ich fahre rauf, irre wieder durch den Ort, ohne eine Alternative zu finden. Jetzt stelle ich den Routenplaner an, der schickt mich wieder dahin, wo ich hergekommen bin, und dann stracks auf die Sperre zu. Baumarbeiten. Ich hieve das Fahrrad hoch, um an der Sperre vorbeizukommen, in der Hoffnung, dass so früh noch keine Landschaftsgärtner unterwegs sind. Aber dann sehe ich sie schon aus der Ferne. Und ihre Maschine nimmt die ganze Breite des Weges ein. Kein Vorbeikommen.
Ich erspähe eine Lücke zwischen den Bäumen links und schiebe das Fahrrad zwischen ihnen den Hang hoch. Und habe Glück. Oben ist ein Wanderweg, mitten durch den Wald, sehr schön, wenn auch mit unbekanntem Ziel. Der Untergrund ist nicht leicht zu befahren, es ist ein Kiesweg mit einigen Steinen als Flicken und etwas Asphalt. Man fährt über die glitschigen Steine und durch die Wasserlachen. Aber der Weg ist wirklich schön, und am Ende erscheinen wundersamerweise Radweghinweise, sogar wieder Richtung Köln.
In Rodenkirchen, dem damaligen Wohnort meiner großartigen Kölner Ausbildungsleiterin, geht es endlich an den Rhein, aber die Idylle ist hier auch etwas durch die Straßenbahn und die vierspurige Bundesstraße beeinträchtigt.
Dann kommt Dat hellije Coellen mit dem Dom und den Heiligen Drei Königen und St. Ursula und den 11.000 Jungfrauen. In Erinnerung an die befinden sich elf Flammen im Wappen von Köln. Die Zahl 11.000 verweist natürlich, wie vielleicht die ganze Geschichte, ins Reich der Legende. Wie sollten auch 11.000 Jungfrauen auf einmal zusammenkommen? Und wer hätte etwas davon gehabt, sie zu töten. Vermutlich waren es 11 Jungfrauen, und die Zahl 11.000 erklärt sich aus einem Lesefehler: XI.M.V. wurde nicht als 11 martyres virgines, sondern als 11 milia virgines gelesen.
Ich komme zur Rheinpromenade. Dort befindet sich eine Großbaustelle. Hier wird die ganze Anlage neu gemacht.
An der Rheinpromenade, schon in der Altstadt, sehe ich Entresan, einen winzigen türkischen Imbiss. Die Frau hinter der Theke sieht meine von Wasser und Elend triefende Figur wie einen Geist an, aber ich bekomme doch einen Tee und ein verpacktes Croissant. Dann noch einen Tee. Tut gut.
Die Baguettes sind hier nach Ortsteilen von Köln benannt: Porz, Chorweiler, Altstadt, Rhein.
Ich schiebe mein Rad an der Uferpromenade entlang, vorbei an der Bastei, der Ex-Vertretung und an Groß St. Martin mit seinem wunderbaren Dreikonchenchor.
Die Strecke von Köln Richtung Leverkusen ist ausgesprochen schön. Erst am Rhein entlang, dann etwas erhöht durch den Grüngürtel, an den Akaluwien vorbei, den Akademischen Lustwiesen. Die sind aber bei diesem Wetter nicht belegt. Es hat wieder angefangen zu regnen, und der Regen wird immer heftiger.
Ganz im Norden von Köln kommt Worringen. Das ist der Ort der siegreichen Schlacht der Bürger von Köln über den Erzbischof. Der musste die Stadt verlassen, schlug später seine Residenz in Brühl auf. Köln war freie Reichsstadt, der Wunschtrau aller deutschen Städte hatte sich erfüllt.
Das Wetter wird immer schlechter, inzwischen ist alles nass geworden. Und meine Stimmung geht immer weiter den Bach hinunter. Dann komme ich irgendwie von der Route ab und komme in ein Industrieviertel. Ich fahre zurück und sehe irgendwo einen Pfeil, den ich übersehen habe, und den man auch übersehen kann.
Weiter geht es durch den strömenden Regen in ein Wohnviertel. Dann komme ich wieder von der Route ab und gelange in eine gottverlassene Gegend. Der Radweg endet, hier fahren nur Lastzüge her, die kommen reihenweise aus der Ausfahrt aus einem Zementwerk. Verlassen stehe ich am Straßenrand, im Regen, traue mich nicht auf die Straße, und schiebe das Fahrrad über die schmale Grasnarbe am Rande der Straße zurück, ohne zu wissen, wo ich bin und wohin ich fahren soll. Der Höhepunkt der Trostlosigkeit.
Ich schaffe es bis unter eine Brücke, wo ich mich unterstellen kann. Ich hole das Handy aus der Jackentasche, das ist inzwischen auch nass. Ich suche nach Papiertaschentüchern, finde erst keine. Dann tauchen welche in irgendeiner der vielen Taschen des Rucksacks auf, auch feucht. Behelfsweise reibe ich das Handy trocken und lasse es irgendwo in den Tiefen des Rucksacks verschwinden, in der Hoffnung, dass es die Sache übersteht.
Dann taucht unverhofft irgendwo ein Radweg auf, aber nach ein paar Minuten ist die Herrlichkeit schon wieder vorbei. Baustelle. Es gibt ein Umleitungsschild. Ich werde vom Radweg weggelotst und dann eine Straße steil bergauf. Ich habe das Gefühl, dass das nicht sein kann, fahre auf gut Glück in eine Stichstraße gegenüber und habe Glück. Ich lande auf dem Radweg, hinter der Baustelle.
Jetzt geht es beschwingt weiter, obwohl die Kräfte schwinden und der Regen unvermindert anhält. Die Strecke ist schön, mehrere einsame Kilometer geht es auf dem Radweg weiter, und langsam schrumpft die Entfernung nach Dormagen. Sogar der Regen gönnt sich eine Pause.
Die letzten vier, fünf Kilometer wird es wieder ungemütlicher, mit vielen Straßen und vielen Ampeln.
Als ich endlich am Hotel ankomme – der Nieselregen hat wieder eingesetzt – ist die Rezeption noch nicht besetzt. Die öffnet erst um 16 Uhr. Ich muss noch eine Stunde warten, völlig durchnässt.
Ich schiebe das Fahrrad die Kölner Straße zurück in die Altstadt. Dort gibt es Lemkes Cafeserie, ein beliebter Treffpunkt. Die haben einen gut geschützten Wintergarten. Ich hole ein paar trockene Sachen aus meinen Satteltaschen, verschwinde kurz und ziehe mich um. Dann gibt es Kaffee und Kuchen.
Der Wintergarten ist fast voll besetzt. Zwei junge Frauen an einem Tisch, eifrig in ein Gespräch vertieft, zwei ältere Frauen an einem anderen Tisch, eine Gruppe von Männern, die eine Runde Kölsch nach der anderen bestellt, ein Ehepaar und vier türkischstämmige junge Männer, alle mit schwarzem Haar mit modernen Kurzhaarschnitten und ganz in Schwarz gekleidet. Sie trinken Kaffee und rauchen, einer daddelt ununterbrochen an seinem Handy rum, was ihn aber nicht davon abhält, sich am Gespräch zu beteiligen.
Als es auf 4 Uhr zugeht, setzt der Regen wieder richtig heftig ein, noch heftiger als zuvor. Die Leute von der Einkaufsstraße flüchten mit ihren Schirmen unter das Dach des Wintergartens, die Frauen im Wintergarten müssen sich an einen anderen Tisch setzen, weil es inzwischen von der Seite rein regnet, alle schauen dem Treiben kopfschüttelnd zu, und auf der anderen Straßenseite gehen die automatischen Türen einer Bank auf, ohne dass ein Passant vorbeigeht. Der auf den Boden prasselnde Regen sorgt dafür.
Wohl oder übel muss ich warten auf die warme Dusche. Als das Schlimmste vorbei ist, schiebe ich das Rad zum Hotel, den Schirm mit der anderen Hand über mir. Die Regenjacke ist zu nichts mehr zu gebrauchen. Alles, wirklich alles ist nass, sogar die Geldscheine, die im Portemonnaie im Rucksack waren. Gott sei Dank haben Notebook und Handy den Regen unbeschadet überstanden.
Eine freundliche Frau mit tiefer Stimme und starkem Makeup hält mir die Tür auf und zeigt mir, wo ich das Fahrrad unterstellen kann. Dann kommt der Höhepunkt des Tages. Eine warme Dusche.
2. September (Samstag)
Das Hotel, das wegen seiner schäbigen Fassade von dem aufgegebenen Lokal nicht den allerbesten Eindruck macht, bietet unten in völlig renovierten Räumen ein mehr als ordentliches Frühstück an.
Aus den Lautsprechern hört man einen der lokalen Radiosender, mit Popomusik, einer angestrengt fröhlichen Moderatorin und jeder Menge Werbung. Da ist man sofort mit dem Leben versöhnt, wenn man daran denkt, dass man das nicht jeden Morgen über sich ergehen lassen muss.
Der Start erfolgt diesmal etwas später. Ich schiebe mein Fahrrad durch die Fußgängerzone Richtung Stadtausgang. Im Polski Sklep gibt es polnische Artikel, von Backwaren bis zu Spirituosen. Das Modegeschäft Elégance macht Räumungsverkauf, der Ratskeller steht zum Verkauf an, und die City-Buchhandlung ist leer.
Am Ortsausgang fällt mein Blick auf ein Straßenschild: Mithras-Straße. Mithras? Hier in Dormagen? Ein kleines Ergänzungsschild gibt Auskunft: Der Mithras-Kult wurde von den Römern an den Niederrhein gebracht, und zwei Weihereliefs aus dem 2. Jahrhundert belegen den Opferkult für Dormagen. Mithras wurde zum eigentlichen Konkurrenten des Christentums, mit dem es einige Elemente gemeinsam hatte: Licht, Blut, Monotheismus.
Bald kommt der Radweg und mit ihm eine Entfernungsangabe nach Düsseldorf: 20 km. Der Radweg ist bestens und führt durch eine schöne Gegend. Der Himmel ist zwar noch bedeckt, aber es ist heller als gestern und vor allem – trocken. Es hat sich ausgeregnet. Ideale Bedingungen fürs Radfahren.
In Zons, einem Ort, den ich schon immer mal besichtigen wollte, mache ich kurz Halt außerhalb der Stadtmauer. Dahinter sieht man die historische Mühle und einen spitzen Kirchturm.
Dann wird der Radweg kurz verlassen. Auf einer Dorfstraße biegt ein Auto auf die Straße ein und übersieht mich. Ich kann ausweichen, aber es ist knapp. Ein schwarzer SUV. Ich atme erst einmal tief durch und nehme dann langsam Fahrt auf. Vor mir immer noch der SUV, der scheint seine Fahrt zu verlangsamen. Dann biegt er rechts ab, Richtung Radweg. Der Wagen bleibt stehen, und mir schwant nichts Gutes. Ich will mit gehörigem Abstand vorbeifahren, da öffnet sich die Tür und der Fahrer, mit ausländischem Akzent, bittet um Entschuldigung: „Ich habe Sie übersehen.“ Alles in Ordnung, kann passieren, nichts passiert, sage ich, und wir wünschen uns noch freundlich einen guten Tag.
Dann geht es mit der Fähre auf die andere Rheinseite. Der Weg führt durch einen Vorort von Düsseldorf und direkt auf eine Baustelle zu. Neben mir ein Fahrer auf einem Rennrad. Er ist genauso verdutzt wie ich, kennt sich auch nicht aus und bemerkt, das sei nicht seine erste Baustelle heute. Wir kreisen verloren durch das Wohnviertel und kommen immer wieder in eine Sackgasse oder einen Wendehammer. Der andere Radfahrer verschwindet hinter einer Ecke. Wieder taucht vor mir eine Baustelle auf, mit einem Sackgassenschild, aber eine Dame, die mir entgegenkommt, gibt freundlich Auskunft. Da könne ich mit dem Fahrrad entlang fahren, kein Problem, und dann nennt sie noch einen Stadtteil, an dem ich mich orientieren soll. Sie hat Recht, ich kann weiterfahren, aber die Baustelle zieht sich lang hin und dazwischen sind keine befestigten Wege.
Dann wird die Fahrt etwas bequemer, auf gut asphaltierten Radwegen, aber mit vielen Ampeln, da man immer wieder die Bundesstraße überquert.
Ich fahre an einem Standbild von Johannes Rau vorbei, über den Platz, der auch nach ihm benannt ist, Richtung Zentrum und dann über viel befahrene Straßen, aber immer auf Radwegen zum Rheinufer hinunter, zu den Kasematten. Das war der Treffpunkt. Als ich gerade mein Rad abgestellt habe, höre ich Rufe von weiter unten, und bald darauf werde ich in Empfang genommen, von Schwester, Bruder, Schwägerin. Sie haben schon ein paar Hürden hinter sich gebracht im Laufe des Vormittags und freuen sich jetzt auf eine Pause an der Rheinterrasse.
Dann geht es gemeinsam los. Den Rest der Strecke brauche ich nicht alleine zu absolvieren. Und die Strecke ist dank gründlicher brüderlicher Vorbereitung und dem entsprechenden Orientierungssinn schön und gut zu befahren, abseits der vielbefahrenen Straßen, über Radwege, über Dorfstraßen, an Feldern entlang. Ich genieße es, mich um nichts kümmern zu müssen.
Als mir die letzten Kilometer vor unserer Pause im Duisburger Innenhafen etwas sauer werden, werden meine beständigen Fragen nach den verbleibenden Kilometern („Ist es noch weit?“) geduldig beantwortet.
An Innenhafen bekommen wir eine Stärkung in Form von Nachos und einer Brotauswahl. Ein freundlicher, schneller, effizienter Kellner bedient uns, und wir sehen mit Bewunderung zu, wie er am Ende alles, Teller, Gläser, Tassen, Besteck, Brotkorb, gebrauchte Servietten, auf einer Hand hält und sicher die Treppe hinaufträgt und die andere Hand noch frei hat für das Glas, in dem Besteck und Servietten bereit standen. Beim Aufladen der ganzen Gerätschaft verrät er uns das Berufsgeheimnis: Der faule Kellner ist der beste Kellner. Der ist zu faul, zweimal zu gehen und nimmt lieber alles auf einmal mit.
Die Pause hat uns gutgetan, aber die allerletzten Kilometer ziehen sich. Ich werde mit Schokolade und Wasser versorgt und mit Anfeuerungsrufen unterstützt, als die Kräfte schwinden. Am Ortseingang bekomme ich dann noch ein Photo vor dem Ortseingangsschild mit den Partnerstädten.
Erst der allerletzte Teil der Strecke ist mir vertraut, und dann laufen wir im heimatlichen Hafen ein. Die Unterkunft hier ist die beste der ganzen Fahrt.
1) Dienstag: Trier – Enkirch, 0-99 = 99 km, 6.30-14.00 = 7,5 Std.
2) Mittwoch: Enkirch – Kobern-Gondorf, 99-191 = 92 km, 8.30-15.00 = 6,5 Std.
3) Donnerstag: Kobern-Gondorf – Remagen, 191-264 = 73 km, 8.30-14.30 = 6 Std.
4) Freitag: Remagen – Dormagen, 264-347 = 84 km, 9.00-15.00 = 6 Std.
5) Samstag: Dormagen – Oberhausen, 347-422 = 75km, 10.00-19.00 = 9 Std.