Berlin (2020)

24. September (Donnerstag)

Zum letzten Mal war ich 2002 in Berlin. Da gab es das Holocaust-Denkmal noch nicht. Und der Palast der Republik stand noch. Entsprechend alt ist mein Reiseführer. Dedes Reiseführer ist noch älter. Da war die Mauer noch nicht gefallen. Zeit, mal wieder nach Berlin zu fahren.

Meinen neuen Reiseführer habe ich ausgesucht, weil er einen Eintrag zu Humboldt hatte. Aber es nutzt nicht viel. Außer in den Namen wie Humboldt-Forum und Humboldt-Universität haben sie keine Spuren in Berlin hinterlassen. Das Elternhaus, das Schlösschen in Tegel, kann man nicht besichtigen, und es ist noch nicht einmal von außen einsehbar.

Hertha Zehlendorf, Rapide Wedding, Reinickendorfer Füchse – solche Namen transportierten in unserer Kindheit Kenntnisse über Berliner Bezirke. Und Wilmersdorf kannte man durch Sammy Drechsels Elf Freunde. Und Pankow durch Bolle. Und Köpenick durch den Hauptmann.

Am Anfang war die Spree. Ihr verdankt Berlin seine Existenz. Spree hat etwas mit ‚sprühen‘ zu tun, sie ist, dem Namen nach, ein ‚spritziger Fluss‘. Dagegen ist Havel mit Haff und Hafen verwandt. Sie war ein Fluss mit vielen Buchten oder wurde jedenfalls so wahrgenommen. Die Havel mündet nicht, wie ich dachte, in die Spree, die Spree mündet in die Havel. Und die mündet in die Elbe.

Berlin ist nicht Ber + lin, sondern Berl + in. Aber aufgrund der ersten, der falschen Deutung kam der Bär in das Berliner Wappen, und wurde Albrecht der Bär, der Askanier, zum Stadtgründer. Die Endung des Namens ist slawisch, eine Bezeichnung für eine Siedlung, und taucht auch in Stettin oder Neuruppin oder Schwerin auf, aber auch in Döblin. Das erste Element des Namens wird auf brlo zurückgeführt, ‚Sumpf‘, ‚Morast‘. Berlin war eine Stadt im Sumpf.

Der erste Blick aus dem Fenster des Hotels fällt auf einen Baukran. In Berlin wird weiterhin überall gebaut. Die größte Baustelle im Zentrum ist das fast fertige, wieder aufgebaute Schloss. Und damit ist man bei einem zweiten Merkmal Berlins angekommen: Vieles ist wiederaufgebaut, nicht saniert oder restauriert, sondern wiederaufgebaut. Dazu gehört auch das Brandenburger Tor. Weder das Brandenburger Tor noch die Quadriga sind im Original erhalten, beide wurden zerstört und neu gebaut, die Quadriga nach einem originalen Gipsabdruck.

Das Brandenburger Tor (von Langhans entworfen) hieß ursprünglich Friedenstor, und die Quadriga (von Schadow entworfen), die später darauf kam, war ursprünglich eine Friedensgöttin. Nachdem sie von Napoleon nach Paris entführt und dann wieder nach Berlin zurückgekehrt war, wurde aus der Friedensgöttin eine Siegesgöttin, und sie bekam einen Adler und ein Eisernes Kreuz. Nach dem Krieg bis zur Wiedervereinigung stand sie wieder ohne Adler und Eisernes Kreuz da, aber jetzt hat sie sie wieder.

Der größten Baustelle Berlins ist es zu verdanken, dass wir gestern immer noch in Tegel gelandet sind. Der BER lässt weiterhin auf sich warten.

Als wir ankamen, war es schon dunkel. In Berlin wird es genau eine halbe Stunde eher dunkel (und hell) als bei uns.

Der Transfer mit Bus und U-Bahn von Tegel zu dem in Mitte gelegenen Hotel, am Märkischen Museum, ging problemlos. Wenig Volk unterwegs. Auch Touristen sind wenige unterwegs. Ob wir deshalb an das sensationell gute Angebot in unserem Hotel gekommen sind? Tolle Lage, riesige Räume, komplette Ausstattung und Preise wie für eine Pension auf dem Lande.

Dede hat für den ersten Tag eine Führung im Bundestag gebucht. Wir fahren zwei, drei Stationen mit der U-Bahn und gehen dann weiter zu Fuß, durch ein nichtssagendes Viertel mit vielen hohen Häusern und der riesigen Berlin Mall. Erkennen kann man hier nichts. Eine solche Straße könnte in jeder beliebigen Großstadt sein.

Ein Passant, ein Russe, weist uns den Weg. Er kann kein Deutsch, versteht die Frage aber. Ein Russe weist zwei Deutschen den Weg durch ihre Hauptstadt!

Dann biegen wir ab und kommen auf eine Straße, die an einem Park entlang führt. Aus der Ferne sieht man über den Bäumen die Kuppel des Reichstags und einen seiner Türme. Rechts, jenseits der breiten Straße, das Holocaust-Denkmal. Die Stelen sehen von hier aus niedriger aus als sie sind, weil man das unterschiedliche Bodenniveau des Denkmals nicht merkt.

Dann stehen wir vor dem Reichstag. Der ist größer, als ich ihn in Erinnerung habe. Seine vier Türme stehen für die damaligen Königreiche Preußen, Bayern, Sachsen und Württemberg.

Die Nähe des Reichstags an der Mauer erinnert mich an die Frage eines ausländischen Touristen, die mal Titel eines Artikels in der Zeitung war: „Warum haben sie den Reichstag so nahe an die Mauer gebaut?“ Völlig abwegig ist das nicht, denn der neue alte Reichstag, ohne Kuppel, wurde erst 1971 fertiggestellt. Während der deutschen Teilung diente der Reichstag nur ganz selten als Tagungsort, höchstens ein paar Fraktionssitzungen fanden dort statt. Das hatte rechtliche Gründe, denn nach dem Viermächtestatus durfte der Bundestag in Berlin keine bindenden Entscheidungen treffen. Es lag aber auch daran, dass man wusste, dass das ganze Gebäude verwanzt war. Feind hört mit.

Gegenüber, am anderen Ende der Wiese, das Bundeskanzleramt, an der Seite das Abgeordnetenhaus. Hohe Stockwerke, viel Glas, viel Licht, und ringsherum viel Grün. Man wundert sich über so viel Platz. War das alles brach liegendes Land zu Zeiten der DDR? Ein Puffer an der Grenze zum feindlichen Ausland?

Ich finde das alles gelungen und wundere über die viele Kritik, die ich zu der Anlage des Platzes gehört habe. Störend sind nur die vielen Barrieren und Pavillons für die Organisation der Besichtigungen. Man kann nur hoffen, dass sie Provisorien sind. Hier könnte man sich gut eine unterirdische Eingangshalle vorstellen, die den Platz frei lässt.

Der Platz heißt nicht Potsdamer Platz, wie ich erst behauptete und auch nicht Pariser Platz, wie ich dann dachte, sondern der Platz der Republik. Das einzige Gebäude auf dem großen Platz, das den Krieg unbeschadet überstand, ist die Schweizer Botschaft. Die fällt jetzt auch architektonisch aus dem Rahmen.

Dann beginnt die Führung. Es geht um das Gebäude, aber auch um parlamentarische Verfahren. Die Führerin, eine überzeugte Westdeutsche mit wenig Verständnis für ihre nörglerischen ostdeutschen Verwandten, war früher bei der Treuhand und ist heute beim Bundesrat. Das erwähnt sie aber nur nebenbei. Sie ist sehr kompetent und macht viele ironische Bemerkungen: „Sie dürfen photographieren, aber wenn Sie hässliche Photos von mir machen, stellen Sie sie nicht ins Netz. Dann bekommen Sie Ärger mit meinem Mann.“ Wenn irgendwas von früher zur Sprache kommt, wendet sie sich immer nur an mich als den Greis der Gruppe: „Sie können sich vielleicht noch erinnern,…“

Wenn man das Gebäude betritt, steht man nach dem Aufgang über die Treppe direkt vor dem Plenarsaal. Die Lobby ist eigens dafür zur Seite verlegt worden. Foster legte Wert darauf. Das Volk sei wichtiger als die Lobbyisten. Nette Geste, nicht sehr realistisch.

Der Eingang zum Plenarsaal hat drei Türen, mit den entsprechenden Beschriftungen für den Hammelsprung. „Sie können sich sicher noch erinnern…“. Ja, kann ich.

Über dem Eingang schwebt der Adler. Foster wollte ihn nicht, aber die Abgeordneten bestanden auf ihm. Der Bonner Adler konnte nicht mitgenommen werden, da er aus Gips war und beim Abnehmen in seine Teile zerbrach. Foster legte immer neue Entwürfe vor, er wollte vor allem einen schlankeren Adler, aber am Ende musste er auch da klein beigeben. Der Adler ist größer als der alte und hat, im Gegensatz zu dem, keine Klauen. Darauf legte Foster wert. Und er hängt an einer Glaswand, so dass er von beiden Seiten gesehen werden kann.

Bei dem weiteren Gang durch das Gebäude verliert man leicht die Orientierung. Das Gebäude ist riesig, es gibt unterirdische Gänge, und architektonisch eine Mischung aus Neu und Alt. In irgendeinem unterirdischen Gang gehen wir eine Treppe hinunter, bei der eine Stufe farblich und vom Material her von den anderen abgesetzt ist. Diese Stufe bezeichnet den Verlauf der Grenze.

Im alten Teil sieht man an einer Wand Graffiti. Sie stammen von den russischen Soldaten, die den Reichstag eingenommen haben, meist Orts- und Personennamen, auch Aussprüche, teils feindlich gesinnte. Die hat man stehen lassen, die zotigen hat man entfernt. Die Führerin

plädiert für Verständnis für die Soldaten, die nach all den Entbehrungen, nach all den Gefahren, nach dem Verlust vieler Kameraden, endlich die Hauptstadt des Feindes erobert hatten.

Die Alliierten haben je ein Kunstwerk im Reichstag hinterlassen. Wir sehen das amerikanische und das französische. Das amerikanische ist eine moderne Säule mit laufender elektronischer Schrift. Die Künstlerin hat Debatten des Bundestags ausgewählt und lässt den gesamten Wortlaut dieser Debatten an der Säule entlang laufen. Insgesamt würde man achtundzwanzig Tage brauchen, um alles zu lesen.

Obwohl es heute elektronische Aufzeichnungen der Debatten gibt, werden sie auch weiterhin von Stenographen protokolliert, u.a. deshalb, weil die auch die Zwischenrufe einbeziehen können. Die Stenographen schreiben mit einer Geschwindigkeit von 480 Silben pro Minute. Unsere Führerin spricht mit einer Geschwindigkeit von 360 Silben pro Minute.

Das französisches Kunstwerk sieht aus wie eine Mauer aus Ziegelsteinen, ist aber keine. Jeder der vermeintlichen Steine steht für einen demokratisch gewählten Abgeordneten, von 1918 bis 1990, insgesamt 5.000. Die Steine sind namentlich gekennzeichnet, soweit der Name bekannt ist. Das Namensschild von Angela Merkel ist abgegriffen. Die Führerin sagt, die Kinder würden es bei der Führung berühren. Sie liebten die Kanzlerin. Auch Hitler hat einen Stein. Er war tatsächlich für kurze Zeit Abgeordneter des Parlaments in der Weimarer Republik. Ein Stein ist namenlos. Er steht für die Abgeordneten, die nie welche wurden, die Abgeordnete hätten sein müssen, wenn es nicht das Ermächtigungsgesetz gegeben hätte. Tatsächlich kamen die Abgeordneten während der Nazizeit alle vier Jahre in der Kroll-Oper zusammen, um Hitler in seinem „Amt“ als Diktator zu bestätigen. Du darfst weitermache, Diktator! Wir erlauben es dir!

Dann stehen wir plötzlich vor einer Glasfassade und blicken auf die Spree direkt vor uns und ein anderes Gebäude mit einer Glasfront. Die Dächer der beiden Gebäude sind seitlich abgeschrägt. Wenn man sie über die Spree hinüber zusammenschieben würde, würden sie ineinander passen. Das bedeutet Zusammengehörigkeit, denn beide sind Gebäude des Parlamentes (anders ist es mit dem Bundeskanzleramt, auf das man rückwärts blickt, das ist auch architektonisch abgesondert), aber es hat wohl auch was mit dem Zusammenkommen von Ost und West zu tun, denn die Spree bildete die Grenze.

Die Führerin erzählt von einer dramatischen Fluchtaktion, die genau hier stattfand, als vier Menschen schwimmend versuchten, das Ufer zu erreichen. Drei von ihnen gelang es, die vierte war eine schwangere Frau. Offensichtlich schoss man aber nicht auf sie, weil die Aktion diesseits der Spree von Zuschauern beobachtet wurde, und auch sie erreichte am Ende das Ufer. Das ist ergreifend, aber war es wirklich so, dass sich Grenzsoldaten der DDR an einem Ufer und Westberliner Zivilisten am anderen Ufer gegenüberstanden?

Es wird wieder unterirdisch, und wir kommen an einer Bildergalerie vorbei. Vor dem Bild des gerade errichteten Reichstags von 1884 bleibt die Führerin stehen und fragt uns, was denn da fehle. Mit fällt nichts auf, aber Dede weiß sofort die Antwort: die Inschrift. „Dem deutschen Volke“ wurde dem Kaiser, dem das gar nicht gefiel, von den Parlamentariern abgerungen, als Gegenleistung für die Bewilligung von Kriegskrediten.

Wir besichtigen noch einen Andachtsraum, der so gestaltet ist, dass er für alle Schriftreligionen gleich gelten kann (die Zahl sieben spielt eine wichtige Rolle) und einen Raum, in der die Kunst des Bundestags ausgestellt ist.

Dann geht es in den Plenarsaal. Die Zuschauertribünen ziehen sich weit in den Raum hinein, die meisten Zuschauer sitzen näher am Rednerpult als die meisten Abgeordneten. Wofür sind die Sitze hinter dem Präsidenten? Da sitzen Experten für die Geschäftsordnung. Wenn der Präsident mal nicht weiter weiß, kann er sich umdrehen und nachfragen. Sehr praktisch. Das wünschte man für sich selbst auch in vielen Situationen.

Die Führerin erwähnt, dass nach der Verabschiedung eines Gesetzes sich alle Abgeordnete erheben, ob sie dafür oder dagegen gestimmt haben. Sie dokumentieren damit, dass sie zu dem Gesetz „stehen“. Davon haben wir beide noch nie gehört.

Die Führerin plädiert für Verständnis für die Abwesenheit vieler Abgeordneter bei den Debatten im Plenum. Die täten in dieser Zeit ihre Arbeit, häufig in den Ausschüssen. Sie plädiert auch für Verständnis dafür, dass die Abgeordneten während der Debatte Zeitung lesen oder ihr Handy benutzen. Die wüssten längst vorher, was die Redner sagten. Ein Schüler habe sie mal gefragt, ob das denn nicht alles nur Show sei. Sie findet nicht, aber die Frage des Schülers ist nicht ganz unberechtigt. Die Führerin konzediert aber, dass es keinen guten Eindruck macht, wenn man dem Redner nicht zuhört.

Wir werden verabschiedet, können aber noch auf die Terrasse. Die Kuppel ist geschlossen, sie wird gesäubert. Der Nationalfeiertag steht bevor. Wegen Corona hätte man sonst jetzt ohne Probleme in die Kuppel gekonnt, für die man normalerweise stundenlang anstehen muss. Ich war damals schon mal in der Kuppel. Das ging noch ohne große Kontrolle. Man stellte sich einfach in die Schlange und ging rauf.

Von der Terrasse versuchen wir, mit mittelmäßigem Erfolg, zu identifizieren, was man sieht. Gut erkennbar sind die Siegessäule, die Kuppel der neuen Synagoge, die Kuppeln von Französischem Dom und vom Deutschen Dom.

Nach dem Reichstag geht es Richtung Brandenburger Tor. Links, abseits der Straße, liegt das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma: ein kleiner See, eine Art Tümpel, in dessen Zentrum ein flaches Dreieck liegt. Was das für eine Bedeutung hat, kriegen wir nicht heraus. Es gibt keine Information. Um den See herum unregelmäßige Natursteine. Auf einigen von ihnen sind Namen eingraviert, die Namen der Konzentrationslager, in die Sinti und Roma gebracht wurden. Wie viele dabei umkamen, weiß man nicht genau. Man schätzt eine halbe Million.

Dann kommt das Brandenburger Tor. Der Platz auf der westlichen Seite heißt Platz des 18. März. Vermutlich mit Bezug auf die Märzrevolution. Der Platz auf der östlichen Seite, da, wohin die Quadriga blickt, ist der Pariser Platz. Gleich hier gibt es eine Touristeninformation, und wir machen einen letzten, vergeblichen Versuch, irgendwo eine Führung hinter die Kulissen zu bekommen, in irgendeinem der vielen berühmten Theater.

Gleich daneben steht die DZ-Bank, mit einer ganz unspektakulären Fassade, aber einem spektakulären gläsernen Foyer, dessen Form man durch das Fenster erahnen kann. Rein darf man nicht. Wegen Corona durchgehend für Besucher geschlossen.

Dann machen wir eine Kaffeepause in einem Café Unter den Linden. Man kann draußen sitzen. Auch hier ist kein Betrieb, weder in den Lokalen noch auf der Straße. Nur Fahrräder gibt es zuhauf. Das ist die wichtigste Veränderung seit meinem letzten Besuch vor 18 Jahren. Da sah man hier weit und breit kein Fahrrad.

Gegenüber dem Café ist Madame Tussauds. Hier fand das letzte Attentat auf Hitler statt. 2018 wurde er von einem Besucher geköpft. Über das weitere Schicksal Hitlers ist nichts in Erfahrung zu bringen.

Wir brechen auf und kommen an der Russischen Botschaft vorbei. Bis zum ersten Weltkrieg stand hier das Palais des russischen Zaren. Hier stieg man ab, wenn man die deutsche Verwandtschaft besuchte. Danach wurde er zur Botschaft der Sowjetunion. In der Nazi-Zeit wurden hier Botschaftsangehörige verhaftet und gegen deutsche Botschaftsangehörige in Moskau ausgetauscht. Nach der Zerstörung im Krieg wurde das alte Palais durch ein neoklassizistisches Gebäude ersetzt, dem Reiseführer zufolge stalinistische Architektur. Aber wenn es das ist, dann von der milden Art.

„Gähnen ist der stille Schrei nach Kaffee“ steht auf dem Schild vor einem Café. Später entdeckt Dede den Ausspruch auch noch auf einer Karte.

Auf der anderen Straßenseite das Schweizer Haus, mit der Figur Wilhelm Tells an der Ecke des Gebäudes, auf Höhe der ersten Etage. Leicht zu übersehen. Auch das Schweizer Haus hat den Krieg unbeschadet überstanden. Die Alliierten waren nicht sehr treffsicher.

Auf unserer Seite eine hypermoderne Ausstellungshalle von VW, mit Bugatti und Porsche und Phaeton, die zum Losfahren auf den Boulevard bereit zu stehen scheinen.

Dann kommt ein Andenkenladen. Alle, absolut alle Artikel mit dem Motiv des Ampelmännchens: Socken, Bier, Stempel, Computerpads, Schirme, Lakritz, Etuis, Tempos, Korkenzieher und sogar Nudeln in Form von Ampelmännchen.

Auf der anderen Seite die Staatsbibliothek, auch hier wird renoviert. Auf gleicher Höhe in Straßenmitte Friedrich der Große, reitend. Man sagt, Reiterskulpturen seien das schwierigste, was die Bildhauerei zu bieten hat. Kann sein. Wäre aber schön gewesen, wenn sie so eine besondere Skulptur nicht auf so einen hohen Sockel gestellt hätten. Die Fernwirkung ist gut, aber man kann kaum Details erkennen. Auf dem Sockel allerlei Szenen und Gestalten. Die Reiseführer sagen süffisant, seine Generäle habe er an seiner Seite bzw. vor ihm, die Gelehrten, darunter Kant und Lessing, hätten nur unter dem Schwanz Platz gefunden. Aber das ist ein bisschen zu maliziös gedacht.

Wir sind inzwischen, ohne es recht zu merken, auf dem Opernplatz angekommen. Er bildet er eine Verlängerung von Unter den Linden. Was hier alles rumsteht! Unglaublich!

Auf der linken Seite die Humboldt-Universität, mit den Statuen von Wilhelm (dem Namensgeber der Universität) auf der einen Seite vor dem Eisengitter und Alexander von Humboldt auf der anderen Seite. Dem Reiseführer zufolge sind die Statuen nur im Sommer zu sehen. Im Winter werden sie zwecks Winterschlaf einkassiert. Kann das sein?

Auf dem Sockel von Alexanders Monument die Inschrift Al segundo descubridor de Cuba. An der Seite des Sockels ein Relief, das eine Frau zeigt, die Zwillinge säugt. Ist das Mutter Natur? Warum säugt sie Zwillinge? Welchen Bezug hat das zu Humboldt. Ganz egal, ich kann mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, vor meinem Idol für ein Photo zu posieren.

Der Opernplatz selbst ist unregelmäßig bebaut, mit repräsentativen Bauten zu allen Seiten, die aber entweder schräg zum Platz stehen oder seitlich stehen: das Opernhaus, die Hedwigs-Kathedrale, die Juristische Fakultät (so monumental, dass hier eine ganze Universität untergebracht sein könnte) und ein Gebäude mit einem Hotel der besseren Kategorie. Auffällig, dass viele der Gebäude ein Giebeldreieck haben, kannelierte Säulen und dorische Kapitelle. Und dass die Dächer voller Statuen sind. Von der Mitte des Opernplatzes kann man locker über dreißig zählen. In dem schönen Spätsommerlicht machen sie sich ausgezeichnet.

Die Namensgebung der Hedwigskirche ist kein Zufall. Sie ist der Herzogin von Schlesien geweiht, das sich Friedrich der Große gerade unterworfen hatte. Sein Vater hatte den Katholiken lediglich zugesagt, eine eigene Kirche bauen zu dürfen, um ihren Gottesdienst nicht mehr in einem Magazingebäude feiern zu müssen. Sein Sohn betrieb den Kirchenbau dann selbst. Auch zur Selbstdarstellung.

In der Mitte des Opernplatzes, auf dem die Bücherverbrennung während der Nazizeit stattgefunden hat, ein Denkmal, das wir gezielt gesucht haben: In der Mitte des Platzes ist in den Boden eine Glasplatte eingelassen. Durch die sieht man in einen Raum voller Bücherregale. Ohne ein einziges Buch. Die Regale würden Platz für zigtausend Bücher bieten, so viele, wie bei der Bücherverbrennung vernichtet wurden. In seiner Einfachheit ein eindrückliches Mahnmal. Wenn auch Dede findet, die Regale sähen zu sehr nach IKEA aus.

Auf der anderen Seite, hinter einem Wäldchen von vertrockneten Kastanien, das Maxim-Gorki-Theater, ein ausgesprochen schöner Bau, weiß getüncht, schlanker, leichter, eleganter als die sonst manchmal sehr wuchtigen Bauten des Berliner Zentrums. Das heutige Maxim-Gorki-Theater war früher der Mittelpunkt des preußischen Kulturlebens, als Konzert- und Veranstaltungssaal. Hier traten Clara Schumann, Paganini, Mendelssohn und Liszt auf, und Schlegel hielt hier Vorträge. Und dies war auch der Ort, wo Alexander von Humboldt seine spektakulären Vorträge über seine Amerikareise hielt.

An der Seite des Kastanienwäldchens, ziemlich versteckt, stoßen wir zufällig auf ein Denkmal: Heine. Erkannt hätte man ihn nicht.

Etwas versetzt davon, ebenfalls abseits von Unter den Linden, das Zeughaus, mit einer breiten Fassade, in rosa gehalten. Die Fassade sehen wir allerdings von hier aus nicht, sondern die Hinterfront. Die steht voller Gerüste. Links davon der moderne Erweiterungsbau des Zeughauses, mit einer schönen, geschwungenen gläsernen Eingangshalle. Durch die schmale Gasse zwischen dem alten und dem neuen Gebäude sieht man auf den Fernsehturm des Alexanderplatzes und den Turm der Marienkirche.

Wir komme an die Spree, auf der anderen Seite liegt schon die Spreeinsel, eine der Keimzellen Berlins. Dies ist die nördliche Spitze der Spreeinsel, die Museumsinsel, und wir sehen von unserer Seite aus zwei der fünf bedeutenden Museen der Museumsinsel, das Alte Museum und das Neue Museum. Uns ist aber mehr nach Bier als nach Museum, und wir setzen uns draußen vor das Zeughaus in ein Café. Dede riskiert tatsächlich die Berliner Weiße, erst grün, dann rot. Für mich gibt es ein Berliner Kindl, besser als das bittere Schultheiß vom Vorabend.

Von dem Café aus sehen wir auf das neu errichtete, fast fertige Schloss, noch mit einer großen Baustelle um den Schlossplatz herum. Das Schloss ist an alter Stelle wiederaufgebaut worden, statt des Palasts der Republik. Ich finde, da hätte man eine bessere, eine modernere Lösung finden können. Das Schloss ist ein bisschen zu wuchtig und nicht sonderlich schön. Von hier, vom Schloss, rief 1918 Liebknecht die Sozialistische Republik aus, während Scheidemann die bürgerliche Republik vom Balkon des Reichstags ausrief. Vom Balkon des Schlosses hatte auch der Kaiser gesprochen, 1914: „Ich kenne keine Parteien mehr!“

In den nächsten Tagen entdecken wir bei einem Spaziergang die Rückseite des Schlosses, erst ohne sie zu erkennen. Sie ist ganz modern, mit der Aufschrift Humboldt-Forum in der Mitte der Fassade. Was immer man von der architektonischen Lösung hält, das wird ein phantastisches Museum werden, eine Art globales Museum, in dem man sozusagen von Kontinent zu Kontinent gehen kann. Mit großzügigen Öffnungszeiten und kostenlosem Eintritt.

Seitlich zum Schloss steht das ehemalige Staatsratsgebäude. Das ist das Gebäude mit dem Mittelrisalit der alten Schlosses. Ich habe es immer mit dem Palast der Republik verwechselt. Aber jetzt, wo das geklärt ist, stellt sich eine andere Frage: Warum sieht der Mittelrisalit des Schlosses so anders aus als der des Staatsratsgebäudes? Der Mittelrisalit müsste doch identisch sein mit dem des Staatsratsgebäudes, Original und Imitation.

Am Abend gibt es arabisches Essen. Selbst die Fleischgerichte schmecken hier vegetarisch. Den dominanten Geschmack der Gerichte macht die frische Joghurtsoße aus. Es gibt leckere Vorspeisen. Die heißen hier mazza. Daher haben die Türken ihre meze, und von denen wiederum haben es die Griechen.

25. September (Freitag)

Vor dem Hotel wird an einer Brücke über den Spree-Kanal gebaut. Die Straße ist gesperrt, und es gibt keinen Autolärm. Stattdessen hört man einen arabischen Bauarbeiter Lieder singen.

Vom Hotelzimmer aus, sechster Stock, sieht man eine weitere Kuppel. Berlin ist reich gesegnet damit. Zu welchem Gebäude diese Kuppel gehört, erfahren wir an der Rezeption: zum Schloss!

Wie zu erwarten, müssen wir heute Regenschirm und Regenjacke herausholen. Wir kommen aber noch einigermaßen ungeschoren davon. Als die Führung beginnt, hört es auf zu regnen. Aber die Farbe des Tages bleibt Grau.

Wir fahren zum Alexanderplatz. In der U-Bahn-Station Alexanderplatz eine Serie von Werbeplakaten einer Firma, Klarna, einem Einkaufszentrums: jedes Plakat anders als das andere, aber alle dem gleichen Schnittmuster folgend, immer mit einem ironischen Kommentar unter einem auffälligen Bild. Weil du nichts lieber anziehst als BlickeWeil Pudding auch Vitamine hat.

Den Alexanderplatz, ausgerechnet den Alexanderplatz, hat die Konsumindustrie in Beschlag genommen: Kaufhof, dm, Saturn, Burger King. Warum der Platz so eine Attraktivität in der DDR hatte, ist schwer zu verstehen. Schön ist anders.

Mitten in der tristen Umgebung die Weltzeituhr, Dede von einer aus der DDR stammenden Kollegin als eins der Highlights von Berlin ans Herz gelegt. Wie enttäuscht sie ist von der vielgepriesenen Uhr, zeigt sie statt durch Worte durch ihren Gesichtsausdruck. Der lässt die Tristesse des Tages fast vergessen. Und noch ein interessanter Aspekt: Dede fragt, was man sich wohl dabei gedacht habe, den Leuten in der DDR die Uhrzeit aus allen möglichen Orten anzuzeigen, in die sie nie reisen konnten.

Vom Alexanderplatz machen wir einen Spaziergang durch den Nieselregen zum Berliner Dom. Auch der wird restauriert. Auch der hat eine Kuppel. Auf der anderen Seite die Spitze der Spreeinsel, der Museumsinsel. Ich habe die Orientierung verloren. Dede sagt, wir stünden am anderen Ende der Spreeinsel als gestern. Ganz stimmt das nicht, wir stehen am anderen Ufer. Von hier aus läuft die Spreeinsel in einer Richtung spitz zu, das ist die Museumsinsel (die nur ein Teil der Spreeinsel ist), und an deren Ende stehen wir. In die andere Richtung zieht sich die Insel noch weit hin, bis zum Märkischen Museum, also bis zu unserem Hotel. Das sehe ich aber erst später auf der Karte.

Auf dem Weg zum Treffpunkt für die Führung stoßen wir auf ein modernes Denkmal, aus Bronze vermutlich: Man sieht ein Pult, vor dem zwei Schüler stehen, auf dem Pult und drum herum Äpfel, Tulpen, ein Adler, ein Gürteltier, ein mathematisches Messinstrument, eine Büste. Vor dem Denkmal eine Inschrift auf Sütterlin, die Dede am Ende entziffern kann: Lebe im Ganzen! Das ist das Motto von dem Mann, einem Allroundkünstler als Wissenschaftler und Reformpädagogen, dem das Denkmal gewidmet ist: Diesterweg.

In der Nähe der Hackeschen Höfe ist der Treffpunkt für die Führung mit dem Thema Hinterhöfe. Die ist vor allem eins: zu lang. Nach zweieinhalb Stunden sind wir müde und nicht mehr aufnahmefähig. Die Führerin ist mir nicht sonderlich sympathisch, aber ich weiß nicht warum. Ob es an ihrem schnoddrigen Ton liegt?

Wir befinden uns in der „Spandauer Vorstadt“. Hat mit Spandau nichts zu tun. Die Bezeichnung rührt da her, dass hier das Stadttor Richtung Spandau stand, und dieses Gebiet lag also „vor Spandau“.

Wir befinden uns ganz in der Nähe der Keimzelle Berlins, nahe der Spree. Berlin begann als Doppelstadt, Cölln auf der Spreeinsel, Berlin auf der rechten Spreeseite. Cölln wurde tatsächlich von Siedlern aus Köln gegründet. 1307 kam es zur Vereinigung. Warum es ursprünglich eine Doppelstadt war und warum die vereinigte Stadt dann Berlin hieß, weiß auch die Führerin nicht. Wenn es anders gekommen wäre, hätten wir heute ein Köln am Rhein als kleines Pendant zu Köln an der Spree, so wie wir Frankfurt an der Oder als Pendant zu Frankfurt am Main haben.

Die Gegend, in der wir uns befinden, war lange Zeit mehr oder weniger unbesiedelt. Da hatte man vielleicht einen Schrebergarten oder veranstaltete ein Gartenfest. Oder es was das Ziel eines Sonntagsausflugs. Das änderte sich erst mit dem Maschinenzeitalter. Da legten die großen Firmen, Siemens, Borsig, AEG hier ihre Fabriken und Arbeitersiedlungen an. In der Zeit der DDR war das Viertel eher vernachlässigt. Man interessierte sich eher für den Alexanderplatz und repräsentative Gebäude. Genau das hat aber dazu geführt, dass hier vieles erhalten geblieben ist. Wie die Führerin am Ende der Führung einen Städteplaner zitiert: „Armut ist der beste Konservator.“

Wir gehen zuerst in einen Hinterhof, der eigentlich keiner ist, jedenfalls nicht denen entspricht, die wir später sehen. Es ist eine schlauchartige Passage, schmal und lang. Es ist alles bunt und etwas schrill, mit Graffiti und Fähnchen und allerlei Zeugs, das in der Gegend herumsteht. Alles sehr alternativ angehaucht. Das ist vom Baudezernat so gewollt. Die Häuser hier sind nicht sonderlich wohlhabenden, unkonventionellen Familien überlassen worden, die hier ihre kleine eigene Welt haben.

In diesem Hinterhof betrieb ein gewisser Otto Weidt eine Bürstenwerkstatt. Weidt beschäftigte blinde und gehörlose Juden. Die Werkstatt war in der Nazi-Zeit ein „systemrelevanter“ Betrieb, und Weidt nutzte das aus, um seine Angestellten vor Verfolgung und dem Abtransport in die Lager zu bewahren. Einige versteckte er, andere holte er mittels Bestechung aus einem Sammellager zurück. Eine Art Schindler im Kleinformat.

Die Höfe, die mir danach sehen, angefangen mit den Hackeschen Höfen, sind nicht die typischen Berliner Hinterhöfe, die der dunklen, engen Mietskasernen, sondern das genaue Gegenteil. Sie entsprangen der lebensreformatorischen Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts, zu der auch Kneipen und FKK und Müsli gehörten. FKK deshalb, weil man gewahr wurde, das es der Gesundheit förderlich ist, wenn man sich an der frischen Luft aufhält und sich die Sonne auf den Bauch scheinen lässt.

So sind die Hinterhöfe hier licht und weit und schön gestaltet, in einem Stil, der etwas an arabische Vorbilder und etwas an Jugendstil erinnert. Die einzelnen Höfe, insgesamt sechs oder sieben, sind irgendwie verschachtelt angelegt, und jeder diente einem anderen Zweck: Arbeiten, Wohnen, Freizeit usw. Die Gewerbe, die man hier ansiedelte, waren Gewerbe der gehobenen Art: Leder, Kaffee, Pelze, Bank.

Der erste Hof ist der Vorzeigehof, mit glasierten Fassaden, Die Wohnungen waren mit den Segnungen der modernen Zivilisation wie Kanalisation ausgestattet. Sie hatten Zentralheizung, Stuckdecken, Flügeltüren, Innentoiletten (im Treppenhaus) und elektrisches Licht. Die Glühbirnen hatten keinen Lampenschirm. Sie waren Ausdruck des Fortschritts. Man wollte zeigen, was man hatte.

In der DDR wurden die Höfe weder saniert noch abgerissen. Nach der Wiedervereinigung wurden sie saniert und an die ursprünglichen Besitzer zurückgegeben, allerdings mit vielen Auflagen. Die galten aber nicht für das Dachgeschoss. Da entstanden Luxuswohnungen.

Wir sehen dann noch eine Reihe anderer Höfe, aber nicht nur die. Wir kommen auch zu einer Kirche, der Sophienkirche. Sie ist die einzige Berliner Kirche mit barockem Turm. Hier liegen Ranke und Zelter begraben, einer der wenigen, dem Goethe erlaubte, in seiner Gegenwart zu rauchen.

Die Sophienkirche war der Ort eines spektakulären Auftritts Martin Luther Kings. Der war von Brandt nach Berlin eingeladen worden. West-Berlin. Ost-Berlin war nicht vorgesehen. King war aber auch von dortigen Pfarrern eingeladen worden. Die amerikanischen Behörden hatten ihm aber den Pass abgenommen. Er ging trotzdem zum Check Point Charlie und versuchte sein Glück mit seiner American Express Card. Es funktionierte. Man kannte ihn natürlich und ließ ihn durch. Er predigte dann in der Marienkirche im Rahmen eines Gottesdienstes, und da es da so voll war, wurde für den Abend ein weiterer Gottesdienst angesetzt, eben hier, in der Sophienkirche. Kings Botschaft vom gewaltlosen Widerstand war den DDR-Oberen natürlich ein Dorn im Auge. Und „Let my people go!“, das mit Inbrunst gesungen wurde, gehörte vermutlich auch nicht zu ihren Lieblingsliedern.

In der Passage, die zur Sophienkirche führt, stehen Häuser mit Löchern in der Fassade. Natürlich wollen wir wissen, was das ist. Einschusslöcher? Ja, tatsächlich. Noch aus dem 2. Weltkrieg. Nicht, dass die hier wie verrückt herumgeballert haben, sagt unsere Führerin. Die Löcher wurden durch Granatsplitter und Querschläger verursacht. Klingt einleuchtend. Und erklärt im Nachhinein auch ähnliche Einschusslöcher, die ich in Sarajewo an Häuserwänden gesehen habe.

Wir kommen in das Viertel, das früher das Judenviertel gewesen ist. Jedenfalls gibt es hier ein jüdisches Gymnasium, nach Mendelssohn benannt und wohl auch von ihm gegründet. Es ist weiter in Betrieb. Und muss bewacht werden.

In der Nähe ein Friedhof mit einem Mahnmal davor. Eine Gruppe von Menschen, jung und alt, die starr nach vorne blicken, mit ausdruckslosen und gleichzeitig ausdrucksstarken Gesichtern. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, war dies ein jüdischer Friedhof. Aber als nach der letzten Bombardierung Berlins Tausende von Toten hier auf den Straßen lagen, wusste man sich nicht anders zu helfen, als die Toten, unter Missachtung der jüdischen Tradition, hier zu verscharren. Unter den Toten war auch ein Nazi-Offizier, einer, der am Abtransport der Juden beteiligt gewesen war. Es hatte sich vermutlich auch nicht ausmalen können, dass er eines Tages anonym mit Tausenden anderer auf einem jüdischen Friedhof begraben sein würde.

Gegenüber das Missing House. Die Benennung ist englisch, warum, ist unklar. Das Missing House ist genau das, was der Name sagt, ein Haus, das fehlt. Es stand ursprünglich da, wo jetzt eine Baulücke klafft, zwischen zwei Häusern, an die es angrenzte. Ein Künstler, der auf diese Baulücke und ihre Geschichte aufmerksam wurde, brachte an der Breitseite eines der Nachbarhäuser Tafeln mit den Namen der damals hier wohnhaften, im Krieg umgekommenen Menschen an, um sie dem Vergessen zu entreißen. Die Namenstafeln sind auf der Höhe der Etage angebracht, in der diese Menschen ursprünglich wohnten.

Am Ende kommen wir noch zu der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße. Deren glänzende Kuppel kennt man von Bildern. Die Neue Synagoge stammt aus dem 19. Jahrhundert, der Stil ist orientalisierend und muss in dem preußischen Berlin fremd gewirkt haben. Die Beschreibung des Innenraums erinnert mich an die Synagoge von Budapest. Da kommt man sich wie in einer christlichen Kirche vor. Die Synagoge war Symbol des fortschrittlichen, assimilierten Judentums, mit Chormusik und deutschen Texten.

Die Synagoge wurde durch die Bomben der Alliierten zerstört, nicht von den Nazis. Sie stand unter Denkmalschutz! Oder hatten die Nazis, wie die Führerin es ausdrückt, einfach „was anderes“ zu tun?

Wieder aufgebaut nach dem Krieg wurde nur die Eingangshalle, nicht der eigentliche Raum, der abseits der Straßenfront, in dem hinteren Teil des Grundstücks, lag. Dieser Raum wurde brach liegengelassen nach dem Krieg. Kurioserweise war die Eingangshalle, also das, was man jetzt sieht, gar nicht vorgesehen. Wegen der Grundstücks sollte die Synagoge ein Stück eingerückt sein, nicht mit der Straßenfron abschießen. Das wollten aber die Juden nicht, und nur deshalb entstand die Eingangshalle.

Die Führung nimmt kein Ende, wohl aber meine Konzentrationsfähigkeit. Umgekehrt dazu nehmen die Rückenschmerzen zu und ich bin nicht unglücklich, als Schluss ist.

Nach der Führung gehen wieder dahin, wo wir gerade hergekommen sind, zurück zu einem Café, das Dede unterwegs geortet hat, gleich neben dem Missing House. Es lohnt sich. Das Café ist gemütlich, die Bedienung freundlich, und es gibt guten Kuchen: Streuselkuchen und – Kindheitserinnerungen – Kalten Hund.

Danach geht es noch mal zum Alexanderplatz und von dort zur Marienkirche, einem der wenigen Orte, die ich noch von meiner früheren Reise kenne. Aber das eigentliche Highlight der Marienkirche, und das einzige, woran ich mich erinnere, ist nicht zu sehen: der Totentanz. Auch hier wird renoviert. Der Totentanz ist ein mittelalterliches Fresko, auf dem der Sensenmann die Vornehmen dieser Welt zum Totentanz bittet.

Die Kirche stammt aus der Zeit vor der Reformation und ist so vollgestopft mit Ausstattungsstücken, dass wir fragen müssen, ob es sich tatsächlich um eine protestantische Kirche handelt. Tut es. Man hätte auch drauf kommen können, wenn man sich das Denkmal auf dem Kirchplatz vorher angesehen hätte: Luther.

Von hier fahren wir zum Gendarmenmarkt. Dort, im Französischen Dom, soll sich eine Weinstube befinden. Aber ach, der Französische Dom wird auch restauriert. Eine Baustelle mehr.

Der Französische Dom ist nicht nur kein Dom im Sinne von Kathedrale, er ist überhaupt keine Kirche. Er wurde nur als Pendant zum Deutschen Dom am anderen Ende des Platzes gebaut. Fast deckungsgleich. Die Bezeichnung Dom ist dem Französischen zu verdanken, wo dome ‚Kuppel‘ bedeutet. Der französische Dom wurde für die Hugenotten gebaut, die Friedrich der Große nach Berlin gebracht hatte. Wenn man genau hinsieht, erkennt man doch einen Unterschied zwischen dem Deutschem Dom und dem Französischen Dom: Die nördliche Verlängerung des Deutschen Doms hat eine flache Kuppel, die des Französischen Doms ein Satteldach, mit Dachziegeln. Und unter diesem Anbau befindet sich dann doch eine Kirche, eine für die reformierte französische Gemeinde.

Um einen Raumeindruck zu bekommen, gehen wir in den Deutschen Dom. Aber dort ist eine Ausstellung zur deutschen parlamentarischen Geschichte untergebracht, und zwar so, dass alles mit modernen Gängen und Wänden zugestellt ist. Man könnte in jedem beliebigen modernen Gebäude sein, von der Architektur des Doms ist innen nichts zu sehen. Man kann auch von den oberen Etagen nicht in den Innenraum hinuntersehen.

Das erste Gebäude, das wir sahen, als wir auf den Gendarmenmarkt zu kamen, war keiner der beiden Dome, sondern das Gebäude an der Längsseite des Platzes, größer und monumentaler als die beiden Dome. Das ist das Konzerthaus.

Vom Gendarmenmarkt gehen wir in die Jägerstraße, gleich hier am Gendarmenmarkt beginnend. Dort befindet sich die Mendelssohn-Remise, die Keimzelle der Mendelssohns in Berlin. Remise deshalb, weil das ursprüngliche Bankgebäude, das sich hier befand, bald zu klein und durch ein anderes Gebäude hier in der Nähe ersetzt wurde. Die ursprüngliche Bank wurde dann zur Remise für Pferdekutschen. Davon erahnt man aber heute nichts mehr.

Hier gibt es eine Ausstellung mit Dokumenten, Büsten, Pokalen und persönlichen Gegenständen der Mendelssohns, darunter ein evangelisches Liederbuch. Sind die Mendelssohns am Ende zum Christentum konvertiert?

Unter den Dokumenten befindet sich eine Notiz, ein kurzer Brief, von Alexander von Humboldt, an einer der Mendelssohn-Frauen gerichtet Er hat eine unglaublich schlechte Handschrift, krickelig, krakelig, mit kleinen Buchstaben, in schrägen Linien verlaufend. Ob das jemand lesen konnte? Humboldt soll im Laufe seines Lebens 50.000 Briefe geschrieben haben. Kurze Notizen dieser Art gehören vermutlich dazu. In einer der Schautafeln der Ausstellung erfahre ich, dass Humboldt in einem Haus ganz hier in der Nähe, in der Jägerstraße, geboren wurde. Nicht auf Schloss Tegel.

Geldgeschäfte und Kultur. Die Mendelssohns wussten beides perfekt miteinander zu verbinden. Sie betrieben einen der fortschrittlichen Salons des Berlins des 19. Jahrhunderts. Geschäftlich profitierten sie von ihrer Opposition gegen Napoleon, die ihnen erst Arrest eingebracht hatte. Nach der Niederlage Napoleons hatten sie durch ihren Widerstand Kredit bei den Preußen. Sie wurden an der Abwicklung der französischen Kriegsentschädigungen beteiligt und stiegen dann groß ins Geschäft ein, durch Beteiligungen an Firmen aus dem Bereich der Eisenbahn, der Versicherungen und der Aktienbanken. Dann folgte die Ausdehnung nach Russland. Dann kam der Handel mit Luxuswaren und Kunst- und Bildungsgütern dazu. Die Salons waren ein perfekter Umschlagplatz für diese Geschäfte. Das nennt man Geschäftssinn.

Auf schweren Beinen geht es dann zum Hotel zurück. Am Abend Pizza und Pasta imVerona auf der anderen Seite des Spree-Kanals. Serviert von einer Kellnerin aus Nepal. Die Pasta ist erstklassig, die beste, die ich seit langem gegessen habe.

26. September (Samstag)

Bei scheußlichen Wetter steht heute eine Führung mit dem Thema Berliner Mauer an,. Die startet am Nordbahnhof. Außer uns nimmt nur ein Ehepaar aus der DDR teil, aus dem Fernen Osten. Der Führer ist auch Ostdeutscher, Berliner. Er verwechselt gerne Akkusativ und Dativ und sagt „es stößte auf Widerstand“ und „er treibte im Wasser“. Ist das Dialekt?

Kaum aus dem Bahnhof heraus überschreiten wir, ohne es zu merken, die ehemalige Grenze, im Boden durch einen Streifen markiert. Sind wir jetzt von Ost nach West oder von West nach Ost gegangen? Man kann es nur erahnen, von der Grenze ist wenig übrig geblieben. Was jetzt noch steht, ist wieder aufgebaut, nichts ist an Ort und Stelle erhalten, auch die 200 Meter Mauer nicht, die man heute wieder sieht. Und die steht „falsch“ herum, mit der nackten, unbeschrifteten Seite nach Westen und der Seite mit den Graffiti nach Osten. Links und rechts davon ist der Verlauf der Mauer durch Eisenstangen markiert.

Der Führer tut sich schwer, eine Frage Dedes zu verstehen, auf die ich auch gerne die Antwort wüsste. Was ist eigentlich mit der Mauer um Berlin herum? Wenn man an die Mauer denkt, meint man immer die Mauer mitten durch Berlin. Die Antwort fällt vage aus.

An einer Stelle steht ein Wachturm. Auch der hat schon eine Reise hinter sich. Irgendein Flugplatzbetreiber hatte ihn sich unter den Nagel gerissen, wusste dann aber nichts damit anzufangen und stellte in bei Ebay zum Kauf ins Netz. Die Denkmalbehörde erwarb ihn für 3.000 DM. Heute ist er das Vielfache wert. Besteigen kann man ihn nicht, eine durch Corona bedingte Einschränkung.

Im Boden markiert sind die verschiedenen Teile des Schutzwalls. Es gab eine hintere und eine vordere Mauer, jeweils drei Meter hoch, durch einen breiten Streifen getrennt. Auch wenn man die zweite Mauer überwunden hatte, war man noch nicht im Westen. Es fehlten noch ein paar Meter. Auch hier konnte man noch abgefangen werden.

Zwischen den Mauern gab es einen Stacheldrahtzaun, der zwar nicht elektrisch war, der aber Bewegungen meldete. Und es gab einen geharkten Sandstreifen, auf dem man Fußabdrücke sehen konnte.

Einen Schießbefehl gab es, aber in der DDR wussten die meisten nichts davon. Auch der genaue Aufbau der Mauer war nicht bekannt.

Die Spree gehörte komplett zum Gebiet der DDR. Erst am anderen Ufer war man gerettet. Zu den Todesopfern – insgesamt vermutlich um die 150, hier in einer Mauer alle, soweit bekannt, mit Bild und Namen verewigt – gehörte auch ein fünfjähriges Kind aus dem Westen, dessen Ball in die Spree gefallen war. Wie Kinder das so machen, sprang er dem Ball hinterher. Und starb, weil keiner den Mut hatte, ihn zu retten. Ein anderes prominentes Opfer war ein angeschossener junger Mann, der auf dem Grenzstreifen verblutete. Als von der DDR Hilfe kam, war es zu spät.

Unter Willy Brandt wurde später eine Lösung für solche Fälle ausgehandelt.

Ganz unbekannt war mir die Versöhnungskirche und ihr Schicksal. Sie befand sich im Grenzstreifen, im Osten, wurde aber meist von Gläubigen aus dem Westen besucht. Der Pfarrer war aus dem Osten. Das ging lange gut, sogar nach dem Mauerbau noch. Dann aber wurde der Zugang vom Westen von DDR versperrt. Die Kirche konnte nur noch von Bürgern aus der DDR besucht werden. Und nur noch für eine begrenzte Zeit. Danach wurde sie von den Grenzposten der DDR als Spähturm benutzt. Bis 1985. Dann wurde die Kirche gesprengt. An der Stelle, wo sie stand, steht heute eine moderne Kapelle, die Versöhnungskapelle. Die Geschichte der Sprengung erinnert mich an eine Nachricht aus Kindheitstagen, die irgendwie im Gedächtnis geblieben ist. Da ließ Ulbricht eine Kirche sprengen, eine mittelalterliche Kirche. Das war aber nicht in Berlin, sondern in Leipzig. Es war die Paulinerkirche.

Das erste Passagierscheinabkommen gab es schon 1963, und da gingen zwischen Weihnachten und Neujahr 700.000 Menschen über die Grenze!

Wir kommen zur Bernauer Straße. Die berühmten Häuser von damals stehen nicht mehr, die, die mit der Vorderfront im Westen und der Hinterfront im Osten standen. Sie wurden schon zu Zeiten der DDR abgetragen. Aber die Bilder hat man noch im Kopf, von den Bewohnern, die evakuiert werden sollten und von den Fenstern, die zugemauert wurden. Dabei kam es zu dramatischen Fluchtversuchen- Eine Frau sprang aus dem dritten Stock auf die Straße und wurde dabei so stark verletzt, dass sie auf dem Weg ins Krankenhaus starb.

Etwas weiter ist an einer Hausfassade großformatig das berühmte Photo des Fluchtversuchs von Schumann, dem Grenzsoldaten, angebracht. Wie er den Stacheldraht überspringt und sein Maschinengewähr wegwirft. Das Photo gehört heute zum UNESCO-Welterbe. Es ist gegen jede Wahrscheinlichkeit entstanden. Der Photograph musste zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, erahnen, dass sich was tun würde, die Kamera bereithalten und genau im richtigen Moment auf den Auslöser drücken. Er hatte Schumann beobachtet, bemerkt, dass der nervös war, und er spürte, dass etwas in der Luft lag. Für Schumann nahm die Flucht kein gutes Ende. Er nahm sich das Leben. Der goldene Westen erwies sich nicht als das erhoffte Paradies.

Hier ganz in der Nähe ist an einer Stelle im Boden Tunnel 57 markiert. Die Zahl bezeichnet die Zahl der Flüchtlinge, die durch diesen Tunnel in den Westen gelangten. Es war eine von Spiegel und anderen westlichen Institutionen finanzierte Aktion von drei Studenten, die sich mit bloßen Händen durch die Erde gruben, jeden Tag einen Meter weiter. Solche Tunnelaktionen gab es öfter, aber diese war wohl die erfolgreichste. Wir fragen uns, ob wohl alle Tunnel von West nach Ost gegraben wurden.

Der Führer erzählt noch von anderen spektakulären Fluchtaktionen und auch von „Rückholaktionen“ der Stasi, die den Geflüchteten im Weste auflauerte und sie in die DDR zurückbrachte. Am Ende erzählt er von Schabowskis verunglücktem Auftritt in der Pressekonferenz.

Der Regen ist inzwischen immer heftiger geworden, und wir suchen uns ein Café zum Aufwärmen. Auf einer breiten Straße gibt es reichlich Gastronomie, alles etwas alternativ angehaucht. Die Häuser hier sind sehr schön restauriert, die alte Bausubstanz ist erhalten Es sind hohe Häuser mit schönen Fassaden, jedes anders als das andere und trotzdem zueinander passend. Wo sind wir hier? Die Kellnerin in dem Café ist über unsere Frage überrascht: Prenzlauer Berg! Das soll der Prenzlauer Berg sein? Nicht zu glauben!

Wir sind so durchnässt, dass wir erst mal ins Hotel zurückfahren und dann beschließen, ins Märkische Museum zu gehen. Aber wir sind nicht die einzigen, die auf diese Idee gekommen sind. Eine lange Schlange vor dem Eingang, trotz der Kälte, und der Türsteher erklärt, wie lange man noch vor dem Museum und wie lange man dann noch innerhalb des Museums warten muss, um in die einzelnen Säle zu gelangen. Wir streichen die Segel.

Am Abend gibt es indisches Essen im Shezan, darunter Dhal, eine rote Linsensuppe, die Dede aus Sri Lanka kennt. Bei der Rückschau auf die Führung von heute erfahre ich, was es mit den DDR-Sperrkonten auf sich hatte.

27. September (Sonntag)

Dank Dedes Beharrlichkeit gibt es heute doch noch die erst geplante und dann abgesagte Führung auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof. Mr. Smith, der Führer, war einfach angetan von ihrem Interesse. Und überrascht. Was uns denn an dem Friedhof so interessieren würde? Als wir darüber sprechen, erinnere ich mich an den Cemitério dos Prazeres in Lissabon, an den Friedhof von Bogotá, an den Highgate Cemetery in London, an den (nur aus der Ferne gesehenen) Friedhof von Sarajewo, an den Jüdischen Friedhof in Prag und an unsere gemeinsame Besichtigung des alten jüdischen Friedhofs in Trier, wo die Vorfahren von Marx begraben liegen. Lauter Sehenswürdigkeiten. Und ich erinnere mich daran, dass ich immer wieder nach dem Père Lachaise gefragt werde. Den kenne ich nicht. Und den Melaten-Friedhof in Köln auch nicht.

Auf dem Weg zum Friedhof machen wir Halt am Bahnhof Friedrichstraße, am „Tränenpalast“, dort, wo man sich, wenn ich das richtig verstehe, früher von Gästen aus dem Westen verabschiedet hat. Über dem Eingang erscheint das Wort Ausreise, daneben die russische und die französische Entsprechung. War das die Grenze zwischen dem französischen und dem russischen Sektor?

Auf dem gegenüberliegenden Ufer befindet sich das Berliner Ensemble. Über dem Haus dreht sich, weit sichtbar, von einem Ring umgeben, der bekannte Schriftzug des Theaters. In der Nähe befindet sich der Schiffbauer Damm. Der hat dem Theater seinen ursprünglichen Namen gegeben.

In einem Geschäft an der Ecke ist das Schaufenster mit alten Nähmaschinen dekoriert, alle schwarz, in verschiedenen Stapeln entlang des großen Schaufensters. Alle möglichen Marken sind vertreten: Singer, Pfaff, Bernina, aber auch Siemens und AEG.

Dann kommen wir zum Friedrichstadtpalais, einem Gebäude mit interessanter Fassade: lange, schmale Fenster und Zierelemente aus Eisen. Das Palais war in der DDR der Sitz eines Varieté-Theaters. Wir sind uns nicht einig, aus welcher Zeit es stammt: Dede findet, das sei typische DDR-Architektur, ich finde, es sieht älter aus, eher nach Jahrhundertanfang.

Dann geht es zum Dorotheenstädtischen Friedhof. Mr. Smith, unser Führer, ist ein Mann, dem es nicht an Selbstbewusstsein mangelt. Und er lässt uns während der Führung ungefragt an seinen Werten und Einstellungen teilnehmen. Er polemisiert gegen alles, was ihm nicht in den Kram passt: den Berliner Senat, die heutige Jugend, Bertolt Brecht und Keramik-Inlays. So geht es kulturkritisch weiter, von flottem Urteil zu witzigem Vorurteil.

Zur Konzeption des Friedhofs und dessen Geschichte sagt er wenig, hat aber viel zu den einzelnen Gräbern zu sagen, vor allem zu denen, die hier begraben sind. Der Friedhof ist eher klein, und man ist erstaunt, wer hier alles begraben liegt.

Als erstes sehen wir das Grab von Litfaß. Der war Berliner. Auf dem schwarzen Grabstein erscheint nur der Nachname, in Sütterlin. Das gesamte Grab ist bedeckt mit einer Platte, die wie Beton aussieht, ohne Blumen, ohne Inschrift, ohne Lichter oder andere Dekoration. Es ist aber kein Beton, sondern Marmor!

Gegenüber Brecht und Helene Weigel. Auf deren Grabsteinen nur die Namen. Das Grab ist langgezogen. Brecht liegt in einem Zinnsarg. Die Vorstellung, von Würmern gefressen zu werden, sagte ihm nicht zu.

In der Nähe das Grabmal von Heinrich Mann. Der war zuerst in den USA begraben und wurde erst später hierher überführt. Der Leichenzug wurde mit militärischen Ehren eskortiert. Was dem großen Antimilitaristen wohl kaum gefallen hätte. Nelly ist hier nur mit einem Namensschild vertreten. Sie ist in den USA begraben, wo sie Selbstmord beging. Sie konnte den Druck der Manns und deren großbürgerliche Welt und deren Getratsche und Nasenrümpfen nicht ertragen und flüchtete sich in den Alkohol.

Daneben das Grabmal Hufelands. Der kam auf Empfehlung von Goethe von Weimar nach Berlin, an die Charité. Er kümmerte sich sofort um Arme und Kinder und gründete ein Armenhospital. Später trat Hanemann als sein Gegenspieler auf.

In der Nähe das Grab von Anna Seghers. Sie hieß weder Anna noch Seghers, sondern NettyRadványi (nach ihrer Verheiratung). Sie hatte eine wissenschaftliche Arbeit über Malerei geschrieben und war dabei auf einen holländischen Maler namens Seghers getroffen. Unserem Führer zufolge beschleunigte ihr Siebtes Kreuz den Eintritt der USA in den Krieg. Das halte ich für blühenden Unsinn.

Vor dem Grabstein von Christa Wolf steht ein Gefäß mit Stiften, vor dem von Wolfgang Herrndorf ein Exemplar von Tschick und vor dem von Heiner Müller, für den Leben nur „Rauchen, Saufen und Sterben“ bedeutete, ein Aschenbecher.

Dann sehen wir die Grabmäler von Günter Gaus, von Egon Bahr und von Johannes Rau. Den scheint Berlin am Ende doch noch in seinen Bann bekommen zu haben. Ich hätte vermutet, er wäre in seiner Heimat begraben. Vor dem Grabstein die Porzellanfigur eines Hundes, eine Anspielung auf eine Bemerkung Raus am Ende eines Interviews, als dem Journalisten keine Frage mehr einfiel und er nach dem Hund fragte, der während des Interviews zu Raus Füßen lag. Rau sagte: „Als Hund taucht er nichts, aber als Mensch ist er unersetzlich.“

Fritz Teufels Urne wurde gleich am Tag nach der Beisetzung geraubt und von einigen Kombattanten neben das Grab von Rudi Dutschke gebracht. Die Urne kehrte aber dann doch wieder an ihren Platz zurück.

Borsigs Beerdigung war die größte, die der Friedhof je erlebt hat. Er hatte die Arbeitszeit seiner Arbeiter reduziert, eine Sterbekasse und Badehäuser gegründet und die Siedlung Borsigwalde, eine Arbeitersiedlung ohne Hinterhäuser und Seitenflügel, dafür mit Gärten und kleinstädtisch wirkender Architektur.

Fichte und Hegel liegen gleich nebeneinander („Bei Fichte und bei Hegel / Da streiche ich die Segel“). Der Führer spricht im Zusammenhang mit ihnen von Typhus und Cholera, und das ist ganz wörtlich gemeint. Das waren die Todesursachen der beiden. Hegel bewunderte als junger Mann Fichte sehr, und als Fichte hier begraben wurde, wünschte er sich, eines Tages neben ihm begraben zu werden. Den Wunsch erfüllt man ihm dann. Fichte wurde schon als junger Mann Dekan der Humboldt-Universität (die damals vermutlich noch nicht so hieß), aber es gab nur Ärger. Er konnte mit Menschen einfach nicht umgehen und verursachte überall Zerwürfnisse und Spaltungen.

Ein Grabmonument, das von Süler, dem Architekten, auf den wir hier in Berlin mehrmals stoßen, hat ein unpassend modern erscheinendes Aussehen, aus Beton und Stahl, aber das hat seinen Grund: Das ursprüngliche Monument wurde zerstört und durch dieses ersetzt, entworfen von Studenten der Technischen Universität. Sie erwiesen ihm damit ihre Reverenz als Pionier des Einsatzes von Stahl in Monumenten. Auch Schinkel liegt hier auf dem Friedhof begraben. Das Monument trägt nur seinen Nachnamen.

Später lese ich, dass auch Lothar Bisky hier begraben liegt, der Vater des Autors meiner Geschichte von Berlin, aber dessen Grab sehen wir nicht.

Das auffälligste Monument mit schöner Dekoration und verkachelten Säulen ist einem Fabrikanten gewidmet, der Kacheln produzierte, Friedrich Hoffmann. Das Monument sieht fast fröhlich aus, und das, obwohl er, wie das Grabmal ausweist, einen ungewöhnlichen Schicksalsschlag hinnehmen musste: Er verlor 1855, innerhalb weniger Wochen, vier seiner Kinder an Scharlach.

Sowohl Eisler als auch Becher, der Komponist und der Texter der Nationalhymne der DDR, liegen hier begraben. Die Nationalhymne der DDR wurde nach 1972 ohne Text gesungen. Den Parteioberen gefielt eine Textzeile nicht: „Deutschland einig Vaterland!“

Das Grab eines gewissen Besson, ein schön gestaltetes Grab, ist leer. Seine Asche hat man in der Schweiz verstreut. Er ist Mitglied einer Patchworkfamilie, zu der auch Katharina Talbach gehört, eine Schauspielerin aus der DDR, die Dede kennt. Ihr Ehemann wurde, wenn ich das richtig verstehe als junger Mann von seinem eigenen Vater an die Stasi verraten. Der gab die Briefe seines Sohnes aus dem Militärlager an die Stasi weiter.

Zwei Nebenfrauen Brechts, Ruth Berlau und Elisabeth Hauptmann, die sich auf den Tod (!) nicht ausstehen konnten, liegen hier direkt einander gegenüber begraben, in einiger Entfernung von Brecht.

Am Rande des Friedhofs ein Grab ohne Leiche. In der Nazi-Zeit wurden in der nahegelegenen Charité Experimente an Frauen vorgenommen. Experimente, die einem die Haare zu Berge stehen lassen. Wenn ich es richtig verstehe, ging es darum, wie sich Situationen besonderer seelischer Zustände, Belastungen durch Angst, Streit, Zorn auf die weiblichen Geschlechtsorgane auswirken. Dazu wurde Gewebe entnommen. Diese Gewebeproben von Hunderten von Frauen wurden über Jahrzehnte konserviert und schließlich vor ein paar Jahren hier in diesem Grab beigesetzt.

Nach der Führung gibt es erst mal eine Kaffeepause. Dafür brauchen wir noch nicht einmal den Friedhof zu verlassen. Dort gibt es ein gemütliches Café. Und das hat gerade aufgemacht.

Auch für die nächste Besichtigung brauchen wir nur ein paar Meter weiter: Das Brecht-Haus ist gleich nebenan. Es war die letzte Wohnstätte Brechts in Berlin.

In dem Eingangsraum hängt ein Gedicht von Brecht an der Wand, „Kinderhymne“, maschinengeschrieben, mit handschriftlichen Verbesserungen in Rot, leider unleserlich. Es ist ein Plädoyer für Vaterlandsliebe im besseren Sinne. Die letzte Strophe lautet: „Und wenn wir dies land verbessern / Lieben und beschirmen wirs / Und das liebste mags uns scheinen / So wie andern Völkern ihrs“. Die Klein- und Großschreibung scheint unergründlichen Gesetzen zu folgen.

Eine energiegeladene Frau, die eine halbe Stunde ohne Unterbrechung und voller Euphorie über Brecht und Helene Weigel spricht, führt uns durch das Haus. Sie spricht mit einer Affengeschwindigkeit und ohne ein einziges Mal zu stocken.

Alles ist so erhalten geblieben wie bei Brechts Tod. Darauf legte Helene Weigel wert. Sogar ihre, am Bettpfosten hängende Handtasche und die Ausgabe der New York Harold Tribune auf Brechts Nachttisch sind original. Nur dass Helene Weigel „umgezogen“ ist, in den (später entstandenen) Wintergarten. Sie wohnte eigentlich oben, dort, wo jetzt das Archiv ist. Helene Weigel überlebte Brecht um 15 Jahre und sorgte für den Nachlass, unermüdlich, ohne die Konfrontation mit den Behörden zu scheuen.

Wie kamen sie in dieses Haus? Brecht hatte mehrmals bei den Proben einen cholerischen Anfall bekommen, hatte sie mit unflätigen Worten traktiert, hatte sie als schlechte Schauspielerin verunglimpft. Sie ließ sich das nicht gefallen, zog aus, wollte sich scheiden lassen. Brecht ging in die Knie, entschuldigte sich und zog ihr hinterher, hier in dieses Haus, Man einigte sich auf strenge Trennung: Brecht wohnte in der Mitte, Helene Weigel oben, in getrennten Wohnungen. Nur unten hatte man gemeinsame Räume. Es funktionierte.

Die Führerin warnt davor, Brecht wegen seines Umgangs mit den Frauen zu sehr zu verdammen oder die Frauen zu sehr zu bemitleiden. Alle wussten, worauf sie sich einließen. Auch Helene Weigel war noch liiert, als sie sich mit Brecht einließ, der damals selbst noch verheiratet war. Auch die anderen Frauen waren keine Unschuldsengel. Und bei allen ging es letztlich um die Arbeit. Um das Theater. Dem wurde alles untergeordnet.

Wir sehen Brechts Etage, drei Zimmer, zwei große und ein kleines, das war das Schlafzimmer. Hier starb Brecht, nur wenige Jahre nach seiner Rückkehr aus Amerika. Als Todesursache wird normalerweise Herzinfarkt genannt. Die Führerin sagt, das stimme vermutlich nicht, aber es war auf jeden Fall ein Problem mit dem Herzen. Brecht war mehrere Wochen stationär in der Charité behandelt worden. Man vermutet, dass der Tod hätte verhindert werden können, wenn das Penicillin nicht so schnell absetzt worden wäre.

In den beiden anderen Räumen Brechts Bücher und persönliche Objekte. An der Wand ein Bild von Konfuzius, daneben mittelalterliche Heiligenstatuen, Maria und Johannes, und Photographien von Lenin und Marx. Brecht war, wie die Führerin betont, zu allen Seiten offen. Er hatte keine ideologischen Scheuklappen.

Auch eine Rolle mit chinesischen Schriftzeichen hängt an der Wand. Konnte Brecht etwa Chinesisch? Nein, aber er wäre gerne nach China gegangen. Er konnte aber sehr gut Latein und las die lateinischen Klassiker im Original. Französisch konnte er kaum, obwohl er auch französische Bücher hatte. Englisch konnte er wohl richtig gut, auch wenn es mit der Aussprache haperte. Und er sehr langsam sprach. Aber wie er sich in Amerika vor dem Untersuchungsausschuss aus der Affäre zog, das muss man in einer fremden Sprache erst mal schaffen. Ausgewiesen wurde er trotzdem.

Zwei der Schreibmaschinen, die Brecht benutzte, sind erhalten. Sie stehen auf zwei Tischen. Beide waren gleichzeitig im Einsatz, für unterschiedliche Projekte.

In dem großen Raum steht eine ganze Reihe von Tischen, alle unterschiedlich. Und es gibt ein Schreibpult. Auch hier gilt: verschiedene Tische für verschiedene Projekte. Das leuchtet mir ein, würde mir auch gefallen. Brecht nutzte den großen Raum auch, um beim Dichten auf und ab zu gehen. Ähnlich wie Schiller.

Was sind denn diese großen Zinnschalen auf den Tischen? Obstteller? Ja, denkste! Aschenbecher! Es wurde gequalmt, was das Zeug hielt. Brecht war Frühaufsteher, und gleich nach dem ersten Tee vor sieben Uhr am Morgen kam die erste Zigarre an die Reihe. Helene Weigel war Kettenraucherin. Sie starb an Lungenkrebs. Auch in der Mailänder Skala rauchte sie. Als sie fragte, ob sie rauchen dürfe, wagte niemand, ihr zu sagen, dass Rauchen verboten war. Sie war eine Weltberühmtheit.

Unsere Führerin betont, dass es bei den Brechts sehr fröhlich zuging. Man spottete und witzelte und nahm die verbalen Bälle der anderen gerne auf. Das sollte man gar nicht glauben angesichts der ausgemergelten Gesichter und der ernsten Blicke von Brecht und Helene Weigel auf den Photos.

Wir verabschieden uns von unserer Führerin mit herzlichem Dank für die Erklärungen. Und machen uns auf den Weg zum Alexanderplatz. Unterwegs fällt mir noch eine alte Anekdote um Helene Weigel ein. Sie musste in dem letzten Akt eines Stückes eine stark gealterte Frau spielen. Das gelang ihr verblüffend gut. Als sie gefragt wurde, wie sie das angestellt habe, sagte sie: „Ganz einfach. Ich habe das Gebiss herausgenommen.“

Jetzt folgt eine ausgedehnte Entdeckungstour rund um den Alexanderplatz. Obwohl sich einige der Sehenswürdigkeiten vor uns verstecken wollen, oft hinter Barrieren oder Bauzäunen, haben sie keine Chance gegen Dede. Sie setzt ihren Orientierungssinn und ihre Straßenkarte ein und hat ein gutes Auge für Männer, die wie echte Berliner aussehen. Und ihre Fragen beantworten können. So erfahren wir auch endlich, was es mit einer weiteren Kuppel auf sich hat, die wir immer wieder aus der Ferne sehen. Es ist nicht die vom Schloss, nicht die vom Berliner Dom, nicht die der Synagoge, nicht die vom Französischen Dom und nicht die vom Deutschen Dom. Sie ist anders als die anderen, schmaler, länglicher. Sie gehört zum Alten Stadthaus, Anfang des vorigen Jahrhunderts gebaut und später Sitz des Ministerrats der DDR.

Wir kommen zum Neptunbrunnen, einem von drei Brunnen in diesem Bereich, aber der, der die meisten Blicke auf sich zieht, ein neobarockes Gebilde, italienischen und französischen Vorbildern nachempfunden. Auf dem Brunnenrand vier üppige, leicht bekleidete Frauenfiguren. Sie stehen für vier Flüsse. Wir versuchen, sie an ihren Emblemen wie Getreide, Sichel, Holzstamm, Reben zu erkennen, aber wir denken zu westlich. Es sind Rhein, Elbe, Oder und Weichsel. Weiter innen, auch konzentrisch angelegt, vier Tiere, die Wasser in die Höhe spritzen, auch sie vermutlich allegorisch: Robbe, Schlange, Krokodil, Schildkröte. Und oben in der Brunnenschale Neptun, mit Dreizack und langem Bart, herausfordernd und etwas grimmig guckend.

Hinter dem Brunnen das Rote Rathaus, das wirklich rot ist, ein Backsteinbau mit etwas zu groß geratenem Turm. Es wurde noch vor der Reichsgründung vollendet und bildet mit seiner roten Fassade und seinem Turm den Kontrast zum Schloss mit seiner Kuppel, das es an Größe sogar überragt.

Dann kommen wir ins Nikolaiviertel. Das ist von der DDR neu aufgebaut worden, nach mittelalterlichen Vorlagen, aber doch auch mit modernen Bauten zwischen den alten. Die Kirche selbst ist leider Museum, sonst hätten wir gerne einen Blick reingeworfen.

An der Ecke das Ephraimpalais, ein schönes Barockpalais, mit konvexer Fassade, eins von zwei Häusern (das andere ist das Knoblauchhaus), das den Krieg unbeschadet überstanden hat.

Hier im Nikolaiviertel befindet sich auch das Zille-Museum. In der Nähe ein Zille-Denkmal, eine Kalksteinfigur, „überraschend ausgemergelt“, einer Inschrift auf einer Tafel zufolge. Zille war nämlich von großer Körperfülle, aber hier erscheint er schlank. Die Absicht des Künstlers war, ihn mit seinen Figuren aus dem „Miljöh“ verschmelzen zu lassen. Die waren zu arm, um dick zu sein.

Endlich finden wir dann auch das Marx-Engels-Denkmal, im Volksmund Sakko und Jacketti genannt. Wegen des Baus der U-Bahnlinie 5 wurde das Denkmal hierher versetzt, und jetzt blicken die beiden nicht mehr Richtung Osten, sondern Richtung Westen. Auf dem Handy hört man die Stimme Gregor Gysis. Der erzählt aus der Sicht von Engels über sich und Marx und das Denkmal.

Und dann kommt die Museumsinsel. Ich bin echt platt, die ganze Anlage ist atemberaubend! Von der Wiese vor dem Alten Museum bekommen wir jetzt auch den Berliner Dom in voller Wucht zu sehen. Die Museen sind ein Kontrastprogramm dazu, Klassizismus gegen Barock. Alles ist sehr gelungen, vor allem durch die langen Säulengänge vor den Gebäuden, kannelierte Säulen mit dorischen Kapitellen. Immer wieder hat man andere Aussichten und Einblicke.

Die Museen sind ein Ensemble von fünf bedeutenden Bauten, die im Laufe von 100 Jahren hier entstanden: Altes Museum, Neues Museum, Alte Nationalgalerie, Bode-Museum, Pergamon-Museum. Das Alte Museum heißt erst Altes Museum, seitdem es das Neue Museum gibt. Vorher hieß es Königliches Museum oder beim Volk einfach Museum. Seit Kriegsende wurden die kriegszerstörten Museen sukzessive wiederhergestellt oder saniert. Der Masterplan sieht vor, dass alle fünf Museen zu einem einzigen Museum mit zentraler Eingangshalle und unterirdischen Verbindungen zusammengefasst werden.

Zum ersten Mal wird mir wenigstens ungefähr der Lageplan klar: vorne das Alte Museum, dahinter die Alte Nationalgalerie, quer zu ihr das Neue Museum. Und dort auch irgendwo das Pergamon-Museum, fast versteckt. Besser kann man es mit seiner doppelten Hinterfront von der Spree aus sehen, vom anderen Ufer. Und links davon am äußersten Rande der Insel, das Bodemuseum. Überwältigend. Hier könnte man Tage, Wochen verbringen, nur um einen Eindruck von den Sammlungen zu bekommen.

Schließlich finden wir auch noch den Weg zur Friedrichswerder Kirche. Auch sie ein Schinkel-Bau, unglaublich, reinste Neugotik, aus Backstein. Die Berliner Baubehörde hat hier richtigen Bockmist gebaut und einen echten Skandal ausgelöst. Durch die unbedachte Errichtung von modernen Apartmentblocks gleich in der Nähe der Kirche wurde deren Fundament untergraben und die Statik der Kirche gefährdet. Die Kirche ist geschlossen. Der Schaden könnte irreversibel sein.

Schinkel selbst steht auf dem Schinkelplatz, einem kleinen Platz etwa zwischen Schloss und Friedrichswerder Kirche. Passt. Er sieht jung und dynamisch aus. Man könnte ihn für einen Dichter des Sturm und Drang halten, mit einem Blatt Papier in der Hand. Aber der Griffel, den er in der Hand hält, ist ein Zeichenstift, keine Feder. Seine Statue wird passenderweise von Karyatiden getragen.

Am Ende eines langen Besichtigungstages findet Dede auch noch den Weg zu einem Lokal, das wir dieser Tage auf dem Heimweg gesehen haben. Hier gibt es Soljanka und Schweinemedaillons, und vier Glas Bier vom Typ Märkischer Landmann, eins für jedes Hoffenheimer Tor.

28. September (Montag)

Am Morgen trennen sich unsere Wege: Dede geht zum Jüdischen Museum, ich zum Zeughaus. Ich gehe zu Fuß. Die Sonne scheint.

Auf dem Weg komme ich an der Zentral- und Landesbibliothek vorbei. Die hat ein auffälliges Eingangstor, zweiflügelig. Das besteht aus einem eisernen Gitternetz mit Quadraten. In jedes Quadrat ist eine eiserne Platte eingefügt, die eine Version des Buchstabens A zeigt, mal groß- mal kleingeschrieben, in allen denkbaren Fonts, jedes anders als die anderen, insgesamt über einhundert. Man ist erstaunt, wie viel Variation es da gibt. Neben Buchstaben gibt es auch Logogramme aus Sprachen, die keine Buchstaben verwenden. Vermutlich haben sie etwas mit dem Lautwert des A zu tun oder haben eine ähnlich prominente Stelle im Schriftsystem wie es bei uns das A im Alphabet hat.

An der nächsten Straßenkreuzung hat man einen Blick auf den Turm der Nikolaikirche und den Fernsehturm, ein schönes Miteinander von Alt und Neu. Die Sonne bricht sich auf der silbrigen Kugel des Fernsehturms und zeichnet ein Kreuz auf die Kugel: „Die Rache des Vatikans.“ Am Abend stellt sich heraus, dass Dede gerade am Tag davor in einer Quizsendung davon gehört hat.

Das Zeughaus liegt gleich hinter der Schlossbrücke. Ich sehe mir die auf hohen Podesten stehenden Figuren von antiken Göttern und Helden an, auch sie von Schinkel entworfen. Weißer Carrara-Marmor, vier auf jeder Seite, oft in Paaren, männlich und weiblich. Man sieht Helme und Flügel, Siegerkränze und Schwerter, eine Fackel und einen toten Krieger. Sie zu identifizieren ist schwer, Athene und Nike scheinen darunter zu sein.

Am Zeughaus arbeiteten verschiedene Baumeister, darunter Andreas Schlüter. Den warf man aber bald raus, da sein Turm beim Schlossbau eingestürzt war. Aber ausgerechnet von Schlüter stammen die 22 Masken sterbender Krieger, die das menschliche Leiden und das Leiden durch den Krieg eindrucksvoll darstellen, und das ausgerechnet in einem Zeughaus, das von seiner Gründung an Lager für Waffen und Munition war.

Sofort nach dem Eintreten schaue ich mich nach den Masken um – vergeblich. Ich muss mich mit der Ausstellung begnügen, einer Ausstellung zur deutschen Geschichte, von den Anfängen bis zum 1. Weltkrieg. Viele der Exponate sind sehenswert, aber einen roten Faden finde ich nicht.

Dabei fängt es gut an, mit dem Thema Grenze. Das ist eins meiner „100 Wörter“, anhand derer man die deutsche Sprachgeschichte beschreiben kann. Auch hier wird betont: Grenze ist ein Fremdwort, aus dem Slawischen kommend. Es kam im Zuge der Osterweiterung ins Deutsche. Durch Luther kam es in die Schriftsprache und verdrängte das alte deutsche Wort Mark, jedenfalls in dieser Bedeutung. Erhalten ist das wiederum in Spanische Mark, Mark Brandenburg und vermutlich auch in der Grafschaft Mark.

Im Mittelalter was das Gebiet des heutigen Deutschlands zunächst lange dünn besiedelt, ohne feste Grenzen. Die Grenzen wurden dann wichtiger mit der wachsenden Macht der Fürsten. Dabei wurde häufig auf antike Bistumsgrenzen rekurriert. Bei den Germanen, Kelten und Slawen waren natürliche Grenzen wie Flüsse, Gebirge und Moore wichtiger.

Auf einer elektronischen Karte sieht man, wie sich im Laufe der Jahrhunderte die deutschen Grenzen veränderten, sich ausdehnten, dann wieder zusammenzogen. Am wichtigsten die Ausdehnung nach Süden, nach Italien, das zwischenzeitlich fast ganz zu Deutschland gehörte, und nach Osten. Die Osterweiterung wirkt bis heute nach, die nach Italien nicht. Interessant auch, dass das Ostreich nach Karl dem Großen fast genau die Ausdehnung hatte wie die Bundesrepublik der Nachkriegszeit.

Passend dazu gibt es eine Büste Karls des Großen. Der war wirklich groß, 1,80. Er hatte vier Ehen und zahlreiche Nebenfrauen. Seine Kleidung war betont fränkisch. Vom Sohn eines Hausmeiers wurde er zum Alleinherrscher eines Riesenreichs, nachdem er die Bayern, die Langobarden und die Sachsen unterworfen hatte.

Daneben, aus dieser Zeit, ein Exemplar des Heliandliedes, auf Altsächsisch, auf Pergament. Statt in Jerusalem zieht Jesus im Heliandlied in eine Burg ein.

Daneben ein Helm aus dieser Zeit, schwarz, mit ganz dünnem Mundschlitz und Löchern zum Atmen. Wenn man genau hinsieht, erkennt man, dass der Helm ganz fein ziseliert ist.

Dann, in einer Vitrine, schon aus dem Spätmittelalter, die prachtvolle Rüstung eines Ritters samt Pferd, silbern glänzend. Ritter und Pferd sind fast völlig verpackt hinter der Rüstung. Der Ritter trägt spitze Schuhe, die Klinge des Schwerts ist verziert und trägt eine Inschrift.

Unter den liturgischen Geräten ein Lesepult mit Adler. Der Adler war Symbol für die Auferstehung und Symbol für den Evangelisten Johannes, aber auch ein mächtiges politisches Symbol. Hier verschmelzen die Bedeutungen miteinander.

Anhand eines mittelalterlichen Stadtmodells sieht man, wie eine solche Stadt entsteht, was die wichtigsten und in der Regel immer gleichen Zutaten waren: Kirche, Spital, Herrschersitz, Kloster, Marktplatz, Befestigung. Man erfährt, dass es bis 1100 wenige Städte in Deutschland gab (außer den bereits in der Antike gegründeten), es dann aber eine regelrechte Explosion gab, vor allem wegen der Bevölkerungszunahme. Das dauerte aber nur bis 1350. Dann gab es kaum noch Stadtgründungen, u.a. wegen des Bevölkerungsrückgangs aufgrund der Pest.

In der Nähe ist ein jüdischer Grabstein ausgestellt. Er wurde bei einem Pogrom geschändet und dann in die Festung Spandau eingebaut.

Aus der Zeit der Reformation gibt es ein bekanntes Bild von Luther, von Cranach gemalt. Luther auf dem Sterbebett. Die Kissen, auf denen sein Kopf ruht, gleichen Wolken und deuten Luthers Aufnahme in den Himmel an. Das war politische Propaganda gegen die Katholiken, die Luther die Fahrt in die Hölle prophezeit hatten.

Mehrere Exemplare von Luthers Bibelübersetzungen sind ausgestellt, darunter Luxusausgaben, von den Fuggers finanziert, mit Holzschnitten von Cranach und reich verschnörkelten Initialen. Erstaunlich, wie schnell Luther übersetzte. Für das Septembertestament, das Neue Testament, brauchte er nur wenige Wochen. Es gab zwischen 1534 und 1545 (Luthers Tod) 3.400 Ausgaben mit mehr als einer Million verkaufter Exemplare!

Dann kommen die Bauernkriege, vertreten mit den Waffen der Bauern: Heugabeln, Mistgabeln, Äxte, Sensen. Sie hatten natürlich keine Chance gegen die fürstlichen Heere, die längst Kanonen hatten. Und unerbittlich gegen ihre Feinde vorgingen. Luther war auf der Seite der Fürsten und polemisierte gegen die „mörderischen Rotten der Bauern“. Dabei war er doch selbst einst ein Rebell gewesen.

In einem Gang steht ein Exemplar (eine Kopie) des Globus von Behain, der überhaupt ersten Darstellung der Erde in Kugelform! Der Globus stammt von 1492. Amerika fehlt noch.

An einer Wand ein Kruzifix mit einem elendig leidenden Christus, bei dem die Haut in Fetzen vom Körper hängt.

Es kommt die Zeit des Dreißigjährigen Kriegs mit einer Gegenüberstellung eines Porträts von Piccolomini und dem Schreiben eines Bürgers. Piccolomini, auf einem großformatigen Ölgemälde, mit vergoldetem Stab, erlesenen Handschuhen, seidenem Schal, glänzenden Sporen an den Lederstiefeln, selbstzufrieden dreinblickend, dreist, eitel, feist. Daneben das Schreiben eines Bürgers, der sein Leid beklagt. Er ist von Ort zu Ort geflohen, oft in finsterer Nacht, mit Frau und Kindern, hat Krieg, Elend, Pest, Teuerung, Hunger erlebt und ist am Ende wieder da gelandet, wo er gestartet war, in seiner Heimatstadt. Auf dem Weg hat er zwei Kinder verloren: „Ich kann den ganzen Jammer nicht beschreiben, darum will ich aufhören und es bleiben lassen.“

Dann kommen Gemälde von den Schlachten gegen die Türken, in Wien und in Budapest, das seit 180 Jahren türkisch war. Dort gibt es noch keine Brücke über die Donau, und Pest ist noch fast unbesiedelt.

Dann kommen weitere Kriege, der Siebenjährige Krieg, der Österreichische Erbfolgekrieg, die Napoleonischen Kriege. Ist das der rote Faden, den ich vermisst habe? Ist unsere Geschichte eine Folge von Kriegen?

Das passende Gegenstück ist ein Porträt Humboldts. Humboldt mit Halstuch, Kette, Orden, Brosche, Humboldt der Salonlöwe, nicht Humboldt der Abenteurer. Er konnte beides. Sein Gesichtsausdruck ist ernsthaft, aber nicht streng. Der Titel des Bildes spricht von Humboldts Tod, aber er sieht noch jugendlich aus, es kann kein Altersporträt sein.

Stellvertretend für die Industrielle Revolution steht eine Spinnmaschine, aus Tangermünde, ein riesiges, längliches Gerät mit mehreren Reihen von Spulen. Vergeblich versuche ich, die Funktionsweise des Geräts zu verstehen, aber es wird klar, dass sie 24 Stunden am Tag im Einsatz war und die Arbeit von Dutzenden von Arbeitern leisten konnte.

Zum Schluss kommt der 1. Weltkrieg, in erster Linie mit Plakaten vertreten, aber auch mit einer auf den ersten Blick unverständlichen Sammlung von schwarzen eisernen Formen, neun insgesamt. Erst die Beschriftung macht klar, worum es sich handelt: um den Stahlhelm. Es sind die verschiedenen Formen, die der Stahlhelm bei der Produktion durchläuft, die neun Ziehstufen, wie der technische Terminus lautet, von eher flach und breit bis hoch und schmal. Von diesem Stahlhelm wurden 8,16 Millionen Exemplare gefertigt!

Wer darunter zu leiden hat, sieht man auf den Bezugskarten daneben. Schon im Februar 1915 begann die Rationierung, Brot, Kaffee, Tee, Seife. Ab Mai sollten Grieß, Grütze und Graupen nur noch an Berliner nach Vorlage einer Ausweiskarte ausgegeben werden. Milch war Mangelware, musst auf den Schwarzmarkt besorgt werden. Die wöchentliche Zuteilung von Mehl wurde zum Beispiel von 1,4 Kilo auf 0,7 Kilo reduziert. Wie wenig das ist, sieht man hier an einer Schüssel, die eine solche Menge Mehl enthält. Die Kartoffelernte fiel knapp aus, Kartoffeln wurden zunehmend durch Kohlrüben ersetzt. Kohlrüben kamen in den Brotteig, wurden zu Marmelade zerkocht oder dienten getrocknet als Kaffeeersatz. Scbon 1915 gab es erste Proteste gegen den Mangel, 1916 die ersten Streiks. Während des Krieges starben 750.000 Menschen im Reich an Hunger oder Unterernährung, mehr als im 2. Weltkrieg durch Bombenangriffe. Das Elend wird hier auf expressionistisch anmutenden Gemälde thematisiert: Hunger, Streik, Kindertod.

Auf den Plakaten dagegen sieht man die staatlichen Durchhalteparolen („Die Zeit ist hart, aber der Sieg ist sicher!“) und die entsprechende Ideologie dazu („Der Hauptfeind ist England!“).

So belehrt, geht es aus dem dunklen Museum dann wieder ans helle Tageslicht. Wir haben entgegen den Erwartungen doch noch einen weiteren sonnigen Tag erwischt.

Dede treffe ich gegen Mittag am Alexanderplatz wieder, an der Weltzeituhr. Ich muss tatsächlich nach dem Weg fragen, der Alexanderplatz ist riesig, und der Blick auf die anderen Seiten des Platzes ist durch die merkwürdige Konstruktion im Zentrum des Platzes verstellt.

Dede berichtet von ihrem Besuch im Jüdischen Museum. Sie habe viel über jüdische Kultur gelernt, vor allem eins: Der 28. September ist Jom Kippur, und an diesem Tag ist das Jüdische Museum geschlossen!

Sie hat stattdessen das schöne Wetter für einen Stadtbummel genutzt und ist am Checkpoint Charlie gelandet. Dort gibt es eine Ausstellung mit Informationen zum Grenzverkehr zu Zeiten der Mauer. Dede findet, die war so gut, dass wir uns die Führung am Sonntag hätten sparen können. Der Name des Checkpoint Charlie hat sich dem Buchstaben C zu verdanken. Es gab drei Übergänge, A, B und C. Und im amerikanischen Telegrafenalphabet steht Charlie für C.

Nach dem obligatorischen Kaffee merke ich, dass mein Reiseführer weg ist. Geklaut oder verloren? Dede ist für verloren, ich bin für geklaut.

Am Alexanderplatz, wieder an einem ganz anderen Ende, nehmen wir die Linie 200, um endlich auch mal richtig in den Westen zu gelangen. Zuerst kommt der Potsdamer Platz, dann die Philharmonie, dann der Breitsteinplatz mit der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Dort steigen wir aus. Der Breitsteinplatz hat seit dem Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt Puffer, die verhindern, dass Autos auf den Platz fahren können. Das ist wohl eher symbolisch gemeint. Es ist kaum vorstellbar, dass ein entschlossener Terrorist sich davon abhalten lässt.

In der Gedächtniskirche, in dem Turmstumpf, ist eine Ausstellung, in der man sehen kann, dass nach dem Krieg viel mehr erhalten war als der Turm. Man entschied sich aber für den Abriss. Das befürworteten auch die Alliierten. Der Architekt der neuen Gedächtniskirche wollte auch den Turm abreißen, aber dazu ist es dann doch nicht gekommen.

Wir sind auf dem Kudamm. Seit 1542 existierte in Berlin der Knüppeldamm, ein unbefestigter Reitweg auf dem Weg zum Jagdschloss Grunewald für Joachim II., und eben deshalb „des Churfürsten Damm“. Nachdem Bismarck in Paris die Champs Elysées gesehen hatte, ließ ihn der Gedanke an einen ähnlichen Prachtboulevard für Berlin nicht mehr los. Von ihm kam die Order zum Bau des Kurfürstendamms. Der Damm fing einst am Rande des Tiergartens an, aber 1925 verlor er ein Stück an die Budapester Straße. Deshalb beginnt der Kurfürstendamm heute nicht mit der Nummer 1, sondern mit der Nummer 11.

Wir gehen ein Stück den Kudamm runter, bis zum Café Kranzler. Man fragt sich, was den Kudamm früher so attraktiv machte. Wir gehen dann in umgekehrter Richtung, die Tauentziehenstraße runter. Hier steht auf dem Mittelstreifen, auf dem Fußgänger promenieren können, ein modernes Denkmal, wohl der Einheit gewidmet. Es besteht aus vier breiten, sich vom Boden nach oben schlängelnden Rohren, von denen sich zwei „umarmen“. So könnte es jedenfalls gemeint sein, denn die Rohre könnte man als menschliche Körper verstehen. Dede gelingt ein außergewöhnliches Photo mit der modernen Stahlkonstruktion im Vordergrund und dem Turm der Gedächtniskirche im Hintergrund vor einem mysteriös wirkenden Wolkenhimmel.

Weiter runter befindet sich das KaDeWe. Auch hier fragt man sich, was da so toll dran sein soll. Es ist wie andere Warenhäuser, nur dass die Auslagen nicht so gedrängt präsentiert und die Waren hochwertiger sind.

Am Ende der Straße befindet sich ein Bahnhof mit schöner Front. Es ist aber eine ganz normale U-Bahn-Station. Wir wollen zur East Side Gallery, aber die Sache erweist sich als kompliziert, da hier mehrere Bahnlinien gesperrt sind. Am Ende kommen wir aber doch dort an.

Noch vor den Mauerresten sehen wir die Oberbaumbrücke, eine auffällige Konstruktion über die Spree. Sie gilt als die schönste Brücke Berlins. Zuerst bin ich enttäuscht, aber aus einiger Distanz sieht sie wirklich schön aus. Sie erinnert entfernt an den Kreml. Die Oberbaumbrücke verbindet Kreuzberg mit Friedrichshain, muss also auch die Grenze zwischen Ost- und Westberlin gewesen sein.

Auf unserer Seite der Spree, also im Osten, stehen Reste der Berliner Mauer, nach dem Mauerfall von Künstlern aus verschiedenen Ländern gestaltet. Auch hier ist die Mauer auf der „falschen“ Seite bemalt, auch hier handelt es sich um Repliken, nicht um originale Mauerteile. Viele der Bilder verwenden grelle Farben und auffällige Formen, teils an Comics erinnernd. Bekannt ist der unästhetische Kuss von Breschnew und Honecker und der durch die Mauer schießende Trabbi, das beste Motiv für ein Mauermahnmal. Schön sind zwei Friedenstauben, die eine Schnur im Schnabel tragen, an der das Brandenburger Tor hängt. Interessant ein expressionistisch anmutendes Bild mit Menschen mit verreckten Hälsen. Dede findet die Erklärung: Wendehälse. Schön ist auch eins, das ein Tor in der Mauer, durch das man auf die Spree sehen kann, in das Gemälde integriert. Am besten gefällt mir eins, das einen handschriftlichen Brief reproduziert, den ein Mädchen aus Leningrad ihrem deutschen Brieffreud anlässlich des Falls der Mauer geschrieben hat, in einem auf liebenswerte Weise fehlerhaftem Deutsch. Sie gratuliert alles deutsches Volk und freut sich: Berliner Wand ist zerstört.

29. September (Dienstag)

Auch am Abreisetag wäre noch genug Zeit, sich etwas anzusehen, aber unser Aufnahmevermögen ist fast ausgeschöpft, und wir lassen es langsam angehen. Zu Fuß geht es ins Zentrum, nochmal ein Spaziergang auf den Linden, aber in umgekehrter Richtung. Dabei entdecken wir die Alte Wache, die wir bisher übersehen hatten, auch von Schinkel gebaut, mit einer doppelten Säulenreihe am Eingang. Drinnen ist die ganz leer, bis auf eine Kollwitz-Statue. In dem Zusammenhang lese ich, dass sich Kollwitz‘ Sohn freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hat und sie den Krieg für eine Sache von ein paar Wochen hielt.

Vor dem Brandenburger Tor steht ein Trabbi. Der gehört „Trabbi-Andy“, und der lässt sich gerne photographieren und sofort auf ein Gespräch ein. Der Trabbi sei 30 Jahre alt und habe mehr als 330.000 km auf dem Buckel. Er, Andy, arbeitet für die Arche, neben ihm sitzt eine lebensgroße Figur des Sandmanns, östliche Version. Er kenne sie alle, die Politiker, den Gysi und die Roth und die alle. Sie hätten ihm gesagt, es sei genug Geld da, nur würde sich keiner trauen, es auszugeben. Wo wir denn herkämen. Trier. Trier? Trier? Da war doch was. Und dann kommt sie plötzlich, die Erinnerung an den Unterricht in der Schule: „Korl Morx“.

Beim Holocaustdenkmal ist kein einziger Besucher zu entdecken, jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Eine Gruppe, die schnellen Schrittes zwischen den Stelen herläuft, nutzt das Monument, um von einer Seite zur anderen zu kommen, von einer Straße zur anderen. Als Abkürzung. Später trifft man dann doch auf den einen oder anderen Besucher, meist unverhofft, plötzlich hinter einer Stele hervortretend. Entweder erschrecken die uns oder wir sie.

Die Stelen, wenn das denn die richtige Bezeichnung ist, sind alle gleich hoch, nur sind sie eben unterschiedlich tief in die Erde eingelassen und dadurch dann doch unterschiedlich hoch. Dazu kommt das Gefälle im Boden, so dass man manchmal über den Stelen, manchmal unter ihnen steht. Die niedrigen Stelen erinnern in ihrer Form an Sarkophage. Ob das beabsichtigt ist, ist schwer zu sagen. Dede findet auch, dass die Pflastersteine der Wege zwischen den Stelen an die Stolpersteine erinnern, eine Assoziation, die ich nicht hatte. Mich berührt das Denkmal nicht, sagt mir nichts. Dede geht es genauso.

Dann fahren wir mit der 100 Richtung Westen. Die nimmt nach dem Streik am Vormittag gerade wieder den Betrieb auf. Leider erwischen wir keinen Doppeldecker. Beim Potsdamer Platz, einem nichtssagenden, großen Platz, wird die Grenze überschritten. Dann kommen die damals spektakulär eingestürzte Kongresshalle („Schwangere Auster“), die Siegessäule, das Schloss Bellevue. Alles sehr gepflegt. Am Bahnhof Zoo steigen wir aus. Die Fassade verbirgt sich unten hinter Baugerüsten, oben hinter einer modernen Glasfront. Dahinter hat sich ein amerikanisches Fastfood-Restaurant niedergelassen. Vom Bahnhof ist nichts zu sehen.

Von dort machen wir einen Spaziergang zu Shakespeare und Co., einer Buchhandlung, die sich als Enttäuschung erweist. Wahrscheinlich liegt eine Verwechslung mit einer anderen Buchhandlung ähnlichen Namens vor. Shakespeare und Co. besteht nur aus einem einzigen Raum, vollgestopft mit Büchern, immer nur ein Exemplar, meist gebundene Ausgaben, meist Klassiker: Borges, Baudelaire, Boccaccio. Auch Biskys Berlin-Buch ist vertreten, ein Exemplar davon steht im Schaufenster.

Wir befinden uns in Wilmersdorf. Das löst Erinnerungen an 11 Freunde aus, dem geliebten Fußballbuch aus der Kindheit, in dem sich alles um Heini und seine Freunde in Wilmersdorf dreht. Heini ist das Alter Ego von Sammy Drechsel, und auch sein eigentlicher Name.

Die Gegend ist schön, wir sitzen gleich neben der Buchhandlung auf einem baumbestandenen Platz vor einer Kirche und genießen Kaffee, Kuchen und Sonne.

Dann geht es langsam zum Hotel zurück. Unter den letzten Sonnenstrahlen lassen wir bei Bier und Bouletten in einem Bistro am Spreekanal die Tage in Berlin Revue passieren.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *