Holland (2022)

25. August (Donnerstag)

Bahnfahren in Zeiten des 9-Euro-Tickets. Kein Zuckerschlecken, wie die letzten Wochen gezeigt haben. Aber meine schlimmsten Befürchtungen bestätigen sich nicht. Ich habe das Glück, den einzigen Zug zu erwischen, der bis Köln durchfährt, und er kommt hier noch ziemlich leer an. Ich bekomme Platz für das Fahrrad und auch einen Sitzplatz.

Unterwegs ist Zeit für Lektüre. Dabei erfahre ich etwas über den gerade verstorbenen Theo Sommer. Am Ende des Kriegs entging er der französischen Kriegsgefangenschaft, weil er zufällig gerade an dem Tag, als seine Kameraden in einer Berghütte festgenommen wurden, zusammen mit einem Freund eine Bergwanderung gemacht hatte. Später holte er sich bei der französischen Militärkommandantur einen Passagierschein. Darauf stand: „A pie, avec sa bicyclette“. Er musste das Fahrrad schieben. Fahren war nicht erlaubt. Bis er nach Kempen kam. Dort begann die Amerikanische Besatzungszone. Vor dort aus durfte er fahren.

Meine Reise geht Richtung Holland. Das erste und einzige vor der Reise festgelegte Ziel ist Roermond. Es liegt an der Mündung der Roer in die Maas und heißt deshalb auch so, analog zu anderen Ortsnamen, die auch auf die Mündung anspielen wie Travemünde, Dortmund oder Gmünd. Die Maas ist die große Schwester der Mosel, der die Römer eine Verkleinerungssilbe verpassten und sie zur „kleinen“ Maas, der Mosella, machten.

Roermond kenne ich von einem kurzen Zwischenstopp an einem eiskalten Wintertag. Ich habe ein ganz hübsches Stadtzentrum in Erinnerung, aber die Erinnerung ist verblasst. Die meisten assoziieren mit Roermond ein Outlet-Zentrum.

Dann kommt der Zug in Köln an. Auf dem Bahnsteig ist es voll, immer wieder kommen verspätete Züge oder kommen doch nicht, und bei unserem gibt es am Ende ein ordentliches Gedränge. Auf den Sperrsitzen, vor denen man das Rad abstellen soll, sitzen zwei Damen. Ich bitte sie, aufzustehen, damit das Rad nicht beim Aus- und Einsteigen im Weg ist und damit ich es festmachen kann. Die eine Dame steht zähneknirschend auf, die andere nicht. „Wie, soll ich jetzt etwa auch noch aufstehen?“ Ich sage ja, ich brauche den Platz und habe auch einen Platz für das Fahrrad reserviert. Sie findet es trotzdem blöd, dass sie aufstehen muss. Ich sage noch einmal verbindlich, es seien doch noch zwei Plätze frei und es sei doch für alle wichtig, wenn die Fahrräder angeschlossen würden, aber ihren Ärger kann ich damit nicht besänftigen. „Ja, ist ja gut!“ Jedenfalls finden wir alle drei einen Sitzplatz. Es ist für mich aber ziemlich eng, da ich Rucksack und Satteltaschen unter den Füßen bzw. auf dem Schoß habe, aber die Fahrt dauert nicht allzu lang.

Als ich in Aachen aus dem Bahnhof komme, genau um 12 Uhr Mittag – High Noon – ist es sonnig und heiß. Kein Wölkchen am Himmel, kein Lüftchen, das einem um die Nase weht.

Es gibt Dutzende von Hinweisschildern für Radwege auf dem Bahnhofsvorplatz, aber keins kommt für mich so richtig in Frage. Aber ich habe ja Komoot. Das sagt mir, ich solle Richtung Nordosten fahren. Wo das ist, weiß ich nicht. Also fahre ich über den Bahnhofsvorplatz auf die andere Straßenseite, und dann bekomme ich eine Ansage, die zu einer Art Leitmotiv dieser Tour wird: „Du hast die Route verlassen. Es steht keine Online-Verbindung zum Umplanen zur Verfügung. Wirf einen Blick auf die Karte.“ Dabei bin ich noch keine 50 Meter gefahren. Ich probiere es in alle anderen Richtungen, links, rechts, zurück, immer habe ich die Route verlassen.

Ich überlege, es vielleicht bei der Touristeninformation zu versuchen, damit ich wenigstens in die richtige Richtung komme. Auf dem Weg sehe ich aber einen Fahrradladen und versuche es spontan dort. Die kennen doch bestimmt die Umgebung und die Radwege. Roermond? Nie gehört. Das ist doch bestimmt in Holland. Ja, ist es. Ja, dann fahren Sie am besten hier oben rechts. Da ist schon Vaals ausgeschildert.

Darauf lasse ich mich ein, in der Hoffnung, in Holland, gleich hinter der Grenze, ein Hinweisschild nach Roermond zu finden. Oder mich nach den berühmten Knotenpunkten richten zu könne, von denen mir alle immer so begeistert erzählt haben. Holland ist ja, wie man hört, das reinste Radfahrerparadies.

Es ist wirklich nur eine kurze Strecke nach Vaals. Auf dem Weg passiere ich ein Lokal, das Sauerbratenpalast heißt. Auf der Speisekarte steht Sauerbraten in 13 Variationen.

Man kommt bald in das Stadtgebiet Vaals, noch auf deutscher Seite, und dann nach Vaals. Dort geht es sehr lebendig zu. Scheint ein attraktiver Einkaufsort für Deutsche zu sein. Allerdings sind die Preise in Holland, wie ich in den nächsten Tagen feststellen werde, deutlich höher als bei uns.

Es gibt hier keine Hinweisschilder für Radwege und auch keine Knotenpunkte. Etwas unschlüssig fahre ich einfach mal weiter. Richtung Maastricht, wie die Ausschilderung für Autos angibt. Nicht ganz richtig, aber auch nicht ganz falsch. Ich spekuliere darauf, dass es bald eine Abbiegung gibt.

Zur Sicherheit will ich in einem Café nachfragen. Vor dem Café ein Schild, man solle hier keine Räder parken. Aber, wo denn dann? Es gibt nur die Straße und den Radweg entlang der Straße. Ich gehe rein, die Tür steht offen, aber es ist niemand da. Also fahre ich weiter.

Da ich nun einmal hier bin, auf der linken, der falschen Seite, fahre ich auf dem breiten Radweg einfach weiter. Es kommt mir kein Rad entgegen. Wohl aber ein Autofahrer, der hupt und mich darauf verweist, dass ich auf der falschen Seite fahre. Das passiert später noch einmal.

An einem Kreisverkehr kommt von rechts ein Auto. Der Fahrer verlangsamt das Tempo. Ich fahre über die gestrichelte Linie, weil ich glaube, er wolle mich vorlassen. Daraufhin kurbelt er das Fenster runter und motzt mich an, sowas wie die holländische Version von „Was fällt dir denn ein? Hast du keine Augen im Kopf? Ich habe Vorfahrt.“

Etwas weiter gibt es auf der linken Seite einen zweispurigen Radweg. Ich fahre auf der rechten Seite, dann an eine Fußgängerampel. Bei der muss ich drücken, damit es grün wird. Da die Ampel auf der linken Seite ist, fahre ich rüber, um an den Schalter zu kommen. Da kommt von links ein Radfahrer. Der motzt mich an, was mir denn einfalle, mich dahinzustellen? Dabei hat er genug Platz und hat mich auch rechtzeitig gesehen.

Dann fahre ich in einen kleinen Ort ab. Dort gibt es ein schön unter Bäumen gelegenes Café. Ich bestelle Wasser und Kaffee und frage ein Ehepaar am Nebentisch nach dem Weg nach Roermond. Sie sind völlig verblüfft. Roermond? Als ob das völlig aus der Welt wäre. Nein, nach Maastricht solle ich nicht fahren. Maastricht liege hier, Roermond da. Ich solle zurückfahren, zwei Dörfer weiter, und dann links abbiegen. Nach Heerlen. Dort sei dann bestimmt schon Roermond ausgeschildert.

Bei der Gelegenheit erfahre ich auch, was es mit den zweisprachigen Ortschildern auf sich hat, die ich auf dem Weg gesehen habe. Ein Name ist holländisch, der andere ist im Limburger Dialekt. Diese dialektalen Ortsnamen ähneln eher dem Deutschen.

Ich fahre zurück, wie der Mann es mir empfohlen hat und dann links ab Richtung Heerlen. Es geht steil bergauf. Das hatte der Mann schon angekündigt. Als ich an dem Scheitelpunkt ankomme, geht es auf einmal nicht mehr weiter. Der Radweg hört auf, die Autostraße führt weiter. Der Mann hat mir, als er mir den Tipp gab, die Rechnung ohne das Fahrrad gemacht.

Ich muss wohl oder übel in die falsche Richtung abbiegen. Im nächsten Ort gibt es wieder einen Hinweis Richtung Heerlen. Dem folge ich, aber dann geht die Straße Richtung Heerlen in eine Autostraße über.

Was tun? Ich fahre aufs Geratewohl in eine Richtung und komme nach Kerkrade, an den Stadtrand. Dort ist eine Karte der Umgebung angebracht, aber der Ausschnitt ist zu klein. Ich fahre weiter, einen Bogen, und plötzlich bin ich wieder in Kerkrade, am anderen Ortsende.

Die einzigen Richtungsschilder, die ich sehe, führen nach Maastricht oder nach Aachen. Also fahre ich in eine andere Richtung.

Irgendwo in der Walachei – große Straßen, kein Verkehr – kommt mir ein radelndes Ehepaar entgegen. Ich fuchtele wie wild mit den Armen, damit sie stehenbleiben. Das tun sie auch. Ich frage nach Roermond. „Roermond? Jesse!“ Und dann stellt die Frau die Frage der Fragen: „By bike?“. Aber sie erklären mir genau, wie ich nach Heerlen komme.

Und diesmal klappt es. Es ist ein großes Aufatmen, als ich in den Ort komme: Häuser, Menschen, Gärten, Bäume, alles da. Und Hinweisschilder für Radfahrer. Die ersten, nach 44,99 Kilometern. Allerdings kommt keine der Richtungen für mich in Frage.

Ich fahre Richtung Zentrum und schiebe das Rad dahin, wo die meisten Menschen sind. Irgendwo entdecke ich ein Museum mit einer Ausstellung zu Keith Haring: Schunck Museum. Da muss ich schnell ein Photo machen.

Zwei Frauen mit Kinderwagen schicken mich eine Straße hoch, zur Touristeninformation. Roermond? Das sei aber weit. Ich erfahre, dass ich Richtung Brunssum fahren solle. Das sei ausgeschildert.

Und das ist wirklich so. Am Ortsrand von Brunssum ist ein schönes Café. Die Terrasse ist fast voll besetzt mit Stammgästen. Tee und Wasser für mich. Und hier komme ich auf die Idee – warum nicht vorher? – mich ins Internet einzuwählen und Komoot zu aktualisieren.

Von hier aus geht es besser mit der Wegfindung. Nach 62 Kilometern taucht zum ersten Mal ein Schild Richtung Roermond auf. Und nach 64 Kilometern passiere ich, am Rande einer Schnellstraße, eine Ländergrenze: Bundesrepublik Deutschland.

Die Fahrt geht weiter, immer an der Bundesstraße entlang, glücklicherweise auf abgetrennten Radwegen. Es ist drückend heiß, es gibt keinen Schatten, es geht bergauf, die Strecke hat keinerlei Reiz. Irgendwann trinke ich den Rest Wasser, der noch in der Flasche ist. Brühwarm. Gar nicht so schlecht, wie man meinen sollte.

Dann komme ich wieder nach Holland. Es geht immer weiter an der Nationalstraße entlang. Kein Café, kein Kiosk, keine Tankstelle, wo ich „aufladen“ kann. Der Mund ist staubtrocken.

Nach 82 Kilometern geht es von der Nationalstraße ab. Es kommt eine Allee – der erste schöne Streckenabschnitt. Es ist einsam hier, kein Mensch kommt mir entgegen.

Dann kommt so eine Ferienanlage, wie es sie jetzt überall gibt, eine großflächige Anlage. Obwohl ich weiß, dass es weitere Kilometer sind und mir die Kräfte schwinden, fahre ich rein, auf der Suche nach einem Café. Da ist tatsächlich eins, das Pimpernel. Ob man auch als Fremder hier was trinken darf? Ja klar, kommen Sie rein.

Was für eine Erleichterung: erst Wasser, dann Kaffee, dann Eistee, hervorragend in einem bauchigen Glas mit Eiswürfeln und Zitrone serviert. Himmlisch!

Es geht weiter. Jetzt stellen sich Krämpfe im Oberschenkel ein. Ich muss immer wieder das Bein hängen lassen, damit es nicht so schmerzt.

Aber Komoot leitet mich jetzt sicher in die richtige Richtung. Und irgendwann sind es plötzlich nur noch 5 Kilometer bis Roermond. Mir wachsen neue Kräfte. Dann nur noch 1 Kilometer, und dann, wie lange man auch fährt, immer wieder 1 Kilometer.

Ich passiere eine Kapelle mit einem Dachreiter. Jetzt ist mein Akku leer und Komoot verlässt mich. Ich fahre einfach ins Zentrum, auf einen Platz voller Straßencafés. Könnte der Marktplatz sein. Wieder Kaffee, Wasser, Eistee. Ich frage nach meinem Ziel. Hotel Parkzicht? Das sei nicht im Zentrum, sagt die freundliche Kellnerin. Und guckt auf ihrem eigenen Handy nach. Ich muss zurück. Das Hotel liegt gleich hinter der Kapelle.

Ich fahre zurück. Sitzen kann ich nicht mehr, aber die Gewissheit, kurz vor dem Ziel zu sein, spornt mich an, und nach einigem Hin und Her in der Nähe des Parks stehe ich dann endlich vor dem Hotel. Um 8 Uhr. Nach 98 Kilometern.

Der Mann in der Rezeption begrüßt mich mit Namen, noch bevor ich mich vorstelle. Ich sei der einzige Gast, den sie noch erwarten. Die Formalien sind schnell erledigt. Ich könne auch noch etwas zu essen bekommen, das Lokal sei noch etwa eine Stunde geöffnet. Die Kneipe sieht etwas duster und nicht sehr einladend ein, aber das ist mir jetzt egal. Zurück in die Stadt fahre ich sicher nicht mehr.

Als ich wieder runterkomme, sagt mir der Mann, ich könne hier im Wirtsraum oder draußen auf der Terrasse vor dem Hotel sitzen. Oder im Garten hinter dem Hotel. Garten? Gerne.

Und der ist wie eine Offenbarung, alles andere, als das Hotelzimmer und der Wirtsraum vermuten lassen. Die Tische sind auf ein großes Terrain verteilt, getrennt durch niedrige beschnittene Bäume mit Lichterketten und einer Hecke in der Mitte. Und es ist tatsächlich noch Platz an dem letzten freien Tisch.

Die Speisekarte hat es in sich: italienische Speisen, aber erlesene, ausgesuchte, ungewöhnliche Gerichte, keine einzige Pizza. Und das Essen ist göttlich.

Die Speisekarte hat die Namen der Gerichte auf Italienisch und die Beschreibung jedes Gerichts auf Holländisch. Das meiste kann man verstehen. Ich bitte um Hilfe bei den pijnboompitten. Das sind irgendwelche Nüsse. Nicht so wichtig. Aber was sind uien? Das sind Zwiebeln!

Es gibt als Vorspeise Insalata Fagiolini Ortalana, köstlich, warm serviert. Und als Hauptspeise Linguine Amatriciana, mit Speck, Tomaten, roten Zwiebeln und rotem Pfeffer. Dazu Bier. Die Kellnerin ist erst etwas zögerlich, als ich nach einem lokalen Bier frage. Ja, sei hätten eins, das komme nicht nur aus Roermond, sondern sogar hier aus dem Viertel. Es heißt Kapels. Wohl eine Anspielung auf die Kapelle. Es ist dunkelblond und schmeckt wunderbar. Und straft die Bemerkung eines Kumpels Lügen, der angekündigt hatte, das holländische Bier tauge nichts.

Als die Kellnerin kommt und fragt, ob es geschmeckt habe, und ich bejahe, frage ich, wie man das auf Holländisch sagt: Smakelijk? Nee, eigentlich nicht, sagt sie vorsichtig. Wie man das denn sagt? Lecker!

26. August (Freitag)

Aus Gründen, die ich im Nachhinein selbst nicht verstehe, entschließe ich mich trotz der langen Distanz nach Herzogenbusch durchzufahren und auf Tilburg und Breda zu verzichten. Beide liegen zu nahe an Roermond und zu nahe beieinander. Diese Entscheidung sollte ich später bereuen.

Über Breda hatte ich im Reiseführer gelesen, dass dort jedes Jahr im September der Roodharigendag stattfindet, der Tag der Rothaarigen, ein Festival mit Ausstellungen, Diskussionen, Workshops. Künstler fertigen Porträts an, Stilberater leisten Hilfestellung in Sachen Mode.

Ich mache mich früh auf den Weg. Vor dem Hotel steht ein Schild, auf dem für ein besonderes Angebot geworben wird. Das gibt es woensdag und zondag. Während der Sonntag parallel zu unserem ist, hat das Niederländische für den Mittwoch die alte mythologische Anspielung auf Wotan erhalten, so wie das Englische.

Ich fahre die Kapellerlaan entlang. An einem Bahngleis, das ich überquere, heißt es Wacht! Dann führt der Weg an der Minderbroedersingel vorbei, und ich frage mich wieder, was wohl singel heißt.

Dann komme ich an den Platz von gestern, nicht der Marktplatz, wie ich dachte, sondern der Platz der Munsterkeerk. Der Platz ist heute in der Frühe fast menschenleer. Die Kirche hat eine frühgotische Westfront und zwei spitz zulaufende Türme.

Ich fahre einmal um die Kirche herum. Von Osten kommt sie erst so richtig zur Geltung. Sie könnte auch in Köln stehen. Romanik pur.

Im Süden steht ein Denkmal für Cuypers, einen in den Niederlanden bekannten Baumeister. Er trägt ein langes Gewand, hat einen zotteligen Bart und schütteres Haar und hält einen Stift und einen Block in der Hand. Sein Blick ist in die Höhe gerichtet.

Ich setzte mich einen Moment auf eine Parkbank, in der Gesellschaft einer Frau, die die Beine übereinandergeschlagen hat und zweier Männer, der eine lässig den Arm auf der Lehne, der andere die Arme auf die Knie gestützt. Es sind alles moderne Skulpturen.

Über Kopfsteinpflaster geht es zur Sint-Christoffelkathedraal, einem mächtigen Backsteinbau. Dahinter der Rattenturm, der einzige erhaltene Teil der alten Stadtbefestigung, ein Rundturm. Er diente eine Zeitlang als Gefängnis für Frauen, die der Hexerei beschuldigt waren. Später stand er lange leer und gammelte vor sich hin. Aus der Zeit stammt die Bezeichnung Rattentor.

Vor der Kathedrale ein langgestreckter Platz, wohl der Hauptmarkt, mit typisch holländisch aussehenden schmalen Backsteinhäusern und einem aus dem Rahmen fallenden Rathaus, klassizistisch, mit einer Loggia auf ionischen Säulen.

Der Tag ist ganz anders als gestern. Eine dichte Wolkendecke lässt keinen Sonnenstrahl durch.

Nach dem üblichen Hin und Her mit Komoot („Du hast die Strecke verlassen“) geht es im Zickzackkurs um die Stadt herum. Dann wird die Maas überquert. Der Roer bin ich gar nicht begegnet. Und auch an der Stelle, die ich von einem früheren Besuch in Erinnerung hatte, bin ich nicht vorbeigekommen.

Der Weg führt an einer Schnellstraße entlang, dann wird es ruhiger, es geht durch ein Wohnviertel. Es folgt eine schöne Strecke am Waldrand entlang.

In einem Ort namens Roggel kaufe ich bei Jan Linders Getränke und Kekse. Der Ort hat ein paar hübsche Häuser, und am Ortsrand sehe ich ein Plakat, das für Anjis Geschäft wirbt: „Bie Anja – Det leukste winkel van Heythuisen.“

Die Stimme auf Komoot spricht Weg wie weg aus: „Folgen Sie dem weg 300 Meter.“ Es gibt auch ein paar versteckte Anglizismen in der Ansage: „In 500 Metern rechts abbiegen“ statt „Nach 500 Metern rechts abbiegen.“

Komoot führt mich jetzt ziemlich zuverlässig, aber ausgeschilderte Radwege gibt es wieder keine. Die Route führt weiterhin an der Straße entlang.

Ich komme wieder nicht so richtig voran. Nach 3 Stunden habe ich gerade einmal 40 Kilometer hinter mir, obwohl ich heute nicht mit der Hitze zu kämpfen habe. Ich habe aber ein bisschen mit dem Wind zu kämpfen und mit den schweren Beinen von gestern.

Der nächste größere Ort ist Liessel. Das, was man wohl ein Straßendorf nennt. Alles ist entlang der Straße aufgereiht. Es gibt ein paar Lokale, aber alle sind noch geschlossen.

Dann kommt wenigstens eine Parkbank, und ich kann meinen Durst löschen. Der ist trotz der kühleren Witterung genauso groß wie gestern.

Es geht weiter über eine eher unansehnliche Straße, aber die hat den Reiz, auf beiden Seiten von Bäumen bestanden zu sein.

Der nächste Ort ist Bakel. Ich fahre ins Zentrum und sehe links eine Cafeteria. Ich gehe rein und bestelle einen Kaffee: „Kaffee haben wir nicht.“ Das Wort Cafeteria wird hier wohl im weitesten Sinne gebraucht.

Etwas weiter kommt dann aber ein echtes Café in Sicht, mit vielen Plätzen draußen, an denen aber nur eine Handvoll Stammgäste sitzt.

Ich bekomme meine erste Bestellung auf Niederländisch hin: „Mag ick een koffie verkeert?“ Danach verließen sie ihn aber, und ich muss auf Englisch umsteigen. Ich bestelle auch noch einen Apfelkuchen (appeltaart met slagroom). Der wird warm serviert und schmeckt köstlich. Es hat aber 50 Kilometer gebraucht, bis ich meinen Morgenkaffee bekomme.

Von meinem Platz aus sehe ich auf ein Lokal nebenan. Dort hat man auf dem Vordach einen alten 2CV platziert, eine Ente, ein schönes Photomotiv.

Erstaunlich: Im Niederländischen sind die Niederlande, die doch sonst überall Plural sind, Singular: Nederland. Dafür hört sich die Sprache nach Plural an: Nederlands.

Es geht weiter auf einer unspektakulären Strecke. Abwechslung bieten Schafe, Pferde und Rehe auf den Bauernhöfen.

Am Wegesrand ein auffälliges Schild, das auf eine verkaufte Immobilie hinweist: Verkocht!

An einer größeren Kreuzung kommt noch einmal eine Parkbank. Pause. Vor der Parkbank eine moderne Skulptur, zwei betende Hände, die aus einem Steinblock emporwachsen. Eine Erinnerung an Kriegszeiten. Die deutsche Wehrmacht versuchte hier, den Vormarsch der Alliierten nach Arnheim zu stoppen. Dabei kam eine Frau in diesem Ort ums Leben, die Mutter von zwei Kleinkindern. Außerdem gab es zahlreiche Verletzte. Und schließlich kamen später sechs Kinder ums Leben, als sie mit der herumliegenden Munition spielten.

In Veghel tauchen an einer großen Kreuzung plötzlich Hinweisschilder für Radfahrer auf. Und Herzogenbusch ist gleich dabei: 19 Kilometer. Kurz darauf sind es 15 Kilometer, dann 18 Kilometer, dann verschwindet Herzogenbusch wieder von den Schildern.

Noch mal wird der Getränkevorrat aufgefüllt, diesmal bei Jumbo. Draußen steht Vlot winkelen (Schnell einkaufen). Das bezieht sich vermutlich auf die Methode, mit der beim Einkauf vorgegangen wird. Man scannt den Preis des gerade aus dem Regal genommenen Artikels gleich im Geschäft ins Handy ein und begleicht dann am Ausgang die Rechnung selbst, ohne Kassiererin. Davon machen hier viele Gebrauch. Ich frage mich, wie man vorgeht, wenn man einen Artikel im Einkaufswagen hat und sich dann entscheidet, ihn doch nicht zu nehmen.

Gegenüber dem Jumbo ein Frisörsalon: Kapsalon. Das Wort kapsalon bezeichnet auch ein Gericht. Das wurde von einem Frisör erfunden.

Danach wird es etwas schöner und ruhiger. Dann überquere ich die Autobahn, schon zum dritten Mal. Es beginnt zu regnen. Ich fahre die Autobahn entlang und dann über eine Brücke. Von Herzogenbusch ist noch nichts zu sehen. Kein Wunder, es sind noch 4 Kilometer.

Dann überquert man eine hübsche alte Zugbrücke, die so eng ist, dass sie immer nur von einer Seite aus befahren werden kann. Danach geht es rechts ab, und jetzt beginnt der schönste Streckenabschnitt. Eine lange Folge von mächtigen Bäumen links, und rechts die Maas.

Dann kommt die Innenstadt. Sie ist sehr belebt, sieht sehr holländisch aus, hat aber eine riesige, stark verzierte Kirche, die Kathedrale, wie sich später herausstellt, mit einem mächtigen quadratischen Glockenturm, der überhaupt nicht zu dem Rest passt.

Auf dem Marktplatz eine Kirmes mit bunten, lauten, überdimensionierten Karussells.

Es geht noch ein bisschen im Zickzack durch kleine Gassen, und dann stehe ich vor meinem Hotel, dem Golden Tulip. Es liegt auch am Marktplatz, aber das merke ich später erst, denn der Weg zur Rezeption führt durch den Hintereingang.

Das Hotel ist eher vornehm, aber die Einrichtung eher zweckmäßig. Es gibt eine eigene Fahrradgarage auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse. Hier gibt es sogar Ladestationen für Pedelecs. Und davon wird auch kräftig Gebrauch gemacht.   

Es war wieder eine gewaltige Strecke, wieder 98 Kilometer, aber heute ist es erst halb vier, und ich kann mich nach einer kleinen Ruhepause noch ein bisschen in der Altstadt umsehen.

Herzogenbusch hat seinen Namen von dem nahegelegenen Wald eines Herzogs. Auf Niederländisch heißt es s’Hertogenbosch, aber die Einheimischen sagen einfach Den Bosch, in Analogie zu Den Haag.

Die Spezialität von Herzogenbusch, im ganzen Land bekannt, sind die Bossche Bollen. Die gebe es, erfahre ich an der Rezeption, überall in der Innenstadt, aber die besten seien die von Jan de Groot.

Ich folge dem Stadtplan, und als ich an einer Ecke stehe, um mich zu orientieren, werde ich gleich von zwei Jungen angesprochen, die ihre Hilfe anbieten. Sie sind selbst mit dem Fahrrad unterwegs, steigen aber ab, um mich zu begleiten, bis zu einer Brücke. Dann deuten sie in die richtige Richtung. Von hier aus kann man es nicht verfehlen. Ich bin beeindruckt von der Freundlichkeit.

Die Brücke führt über Wasser, aber ob das die Maas ist, kann ich nicht herausfinden. Sieht eher nach einem Kanal aus.

Ich habe Pech. Bei Jan de Groot wird gerade geschlossen. Man kann höchstens noch einen Bossche Bollen auf die Hand bekommen. Aber ich würde mich gerne setzen.

Dann habe ich Glück. In einem benachbarten Hotel, das, genauso wie meins, seins Bossche Bollen von Jan de Groot bezieht, ist das Café noch geöffnet.

Es handelt sich um ein kugelförmiges Gebäck, groß, mit einer Cremefüllung und einem Schokoladenüberzug, eine Art Windbeutel mit Schokolade. Wird mit Messer und Gabel serviert. Schmeckt gut.

Auf einem Grünstreifen vor dem Hotel sehe ich eine Skulptur, die Kinder beim Bockspringen zeigt. Das war dieser Tage noch Thema, als es darum ging, dass auch Kinder der digitalen Generation manchmal noch mit den einfachen Spielen aus unserer Kindheit zu begeistern sind.

Das Viertel auf dieser Seite der Brücke ist anders. Gerade Straßen und Häuser, die aus einer Periode stammen, die man bei uns Gründerzeit nennen würde. Wahrscheinlich ist es eine Ausweitung der Stadt aus dieser Zeit.

Ich gehe noch etwas in der Stadt herum und beobachte das bunte Treiben. Überall Menschen, es herrscht eine mediterrane Feierabendstimmung.

An jeder zweiten Ecke sieht man ein Schild mit der Aufschrift To Huur. Hat nichts mit Hure zu tun, sondern mit engl. hire und unserem (an)heuern und letztlich auch mit heuer.

Ich sehe die Statue von Hieronymus Bosch, dem berühmtesten Sohn der Stadt, aber sie ist jetzt eingezwängt zwischen Karussells, Kirmesbuden und Stromkästen. Dadurch kommt sie nicht so richtig zur Geltung. Auch das Geburtshaus, vor dem sie angeblich steht, ist jetzt von hier aus nicht zu sehen. Bosch hält eine Palette in der Hand, trägt eine Malerkappe und ein langes Gewand. Die Statue soll nach dem einzig erhaltenen Porträt aus seiner Lebenszeit gefertigt sein.

Ich gehe einmal um die Kathedrale herum. Sie ist geschlossen. Sie ist reichlich mit Bauschmuck ausgestattet und riesengroß. Von Osten sieht man sie hinter herabhängenden Zweigen und einem Gitter am schönsten.

Am Abend begnüge ich mich mit einer Portion Pommes. Die gibt es beim Boemerang, einer Imbissbude in der Nähe des Hotels. Nicht gerade gemütlich, aber beliebt bei den Einheimischen, die hier Schlange stehen. Auch hier fehlt Personal: Wij zoeken medarbetere.

Ich esse die Pommes auf einem Betonpfeiler auf einem Platz hinter dem Hotel. Sie schmecken anders als bei uns, sind kaum gesalzen und knusprig.

27. August (Samstag)

Der Tag beginnt mit der vergeblichen Suche nach Hotels im Internet. Weder in Arnheim noch in Nimwegen (noch in der Umgebung) finde ich etwas, jedenfalls nichts zu akzeptablen Preisen. Es geht bei 230 € pro Nacht los – ohne Frühstück. Also suche ich aufs Geratewohl etwas in der Provinz und stoße dabei auf Wageningen.

Erst sehe ich mich aber noch in Herzogenbusch um. In der Altstadt ist es jetzt ruhiger als am Abend, jedenfalls auf dem Marktplatz. In der Fußgängerzone ist dagegen schon einiges los. Hier findet der Wochenmarkt statt. Es gibt alles von Handyhüllen bis zu Brabantschem Wurstebrot. Vor allem die Käsestände fallen ins Auge, große Räder und vorgefertigte stattliche Portionen sind zu sehen.

An den Kreuzungen stehen freundliche Aufpasser und sorgen dafür, dass die Radfahrer absteigen. Das gilt aber nur an Markttagen. Sonst gibt es ein gutes Miteinander von Fußgängern und Radfahrern.

Ich suche und finde das Zwanenbroedershuis und stelle fest, dass ich es gestern schon aus dem Augenwinkel gesehen, aber wegen der merkwürdigen beigen Fassung der Fassade ignoriert habe. Es ist das Haus einer mittelalterlichen Bruderschaft, der auch Bosch angehörte. Das Haus ist fest integriert in die Häuserzeile und hat jüngere Backsteinbauten zum Nachbarn. Einen Schwan sieht man als Relief an der Fassade und als Skulptur ganz oben. Der Schwan bezieht sich auf das jährliche Festessen der Bruderschaft, bei dem immer ein Schwan verzehrt wurde.

Die Kathedrale ist jetzt geöffnet. In der riesigen Kirche findet gerade ein Gottesdienst statt, mit vier Gläubigen, alle auf den ganzen Kirchenraum verteilt. Die Kirche ist vor allem breit und hat auch sehr breite Seitenarme und breite, vermutlich neugotische Fenster. Und einen Chorumgang mit sieben Kapellen. Das Hauptschiff hat im Obergaden sehr schöne, skulptierte Wände. Die Orgel, aus dunklem Holz, nimmt die gesamte Höhe im Westen über dem Eingang ein.

Wieder draußen, sehe ich mir den unpassenden Glockenturm noch mal an, von dem ich gestern gedacht habe, irgendein Stümper habe ihn nachträglich ohne Rücksicht auf die Architektur errichtet. Aber er ist nicht nachträglich errichtet worden, im Gegenteil: Er ist das Überbleibsel der alten, romanischen Kathedrale. Aus Kostengründen hat man ihn stehen lassen und sich so den Bau eines Glockenturms erspart.

Neben dem südlichen Seitenportal, suche ich, über eine Karte gebeugt, an der Fassade eine moderne Skulptur, ein Engel, der ein Handy in der Hand hält. Ich kann sie nicht finden, und wieder werde ich angesprochen, diesmal von einer freundlichen Frau. Sie weist ganz nach oben. Da ist er. Von hier aus nicht so gut zu erkennen. Er hält das Handy ans Ohr und trägt über der Schulter eine Laptoptasche. Da anrufen auf Niederländisch bellen heißt, heißt die Figur De Bellende Engel.


Auf der anderen Seite, neben dem nördlichen Seitenportal, wird saniert, daher kann ich die andere Figur nicht sehen, nach der ich Ausschau halten wollte, De Erwtenmann. Das ist ein mittelalterlicher Steinmetz, der sich hier selbst verewigt hat. Er war sauer über die Bezahlung mit der ewigen Erbsensuppe und stellt sich selbst dar, wie er den Teller mit der Erbsensuppe zur Seite stößt.

Das Seitenportal, figurenreich, würde mancher Kirche als Hauptportal gut zu Gesicht stehen. Es ist klar gegliedert, und die Figuren stehen eher einzeln als zu Szenen zusammengefügt. Mir fällt Johannes mit dem Kelch auf, der Patron der Kirche, Sint Jan, David mit der Harfe und Moses mit den Hörnern, die das Resultat eines Übersetzungsfehlers sind, der überdauert hat. 

Dann suche ich noch nach dem Noordbrabants Museum, am anderen Ende der Altstadt. Herzogenbusch gehört zur Provinz Nordbrabant. Der Weg führt mich über Straßen, durch die ich bisher noch gar nicht gekommen bin.

Das klassizistische Gebäude steht weit hinter der Straßenfront, hinter einem schönen schmiedeeisernen, oben vergoldeten Gitter. Im Innenhof vor dem Eingang die Skulptur eines liegenden Mannes, der auf seinem erhöhten Schienbein ein Schiff balanciert. Ihm gegenüber liegt ein Tier, das ihn anschaut. Sieht aus wie ein Schwein.

Ich genehmige mir einen Milchkaffee in einem der vielen Cafés dieses Viertels, einen der schlechteren, aber dafür teureren dieser Tage, und mache mich auf den Weg. Es ist inzwischen 11 Uhr geworden.

Auf verschlungenen Wegen geht es aus der Stadt heraus. Immer wieder werde ich von Komoot zurückgeschickt. Am Stadtrand sehe ich drei auffällige, schmale Hochhäuser, modern, mit abgeflachten, gläsernen Ecken an beiden Enden.

Dann kommt das gewohnte Bild: Es geht an der Straße entlang. Diesmal ist der Radweg aber ausgeschildert. Dabei fahre ich eine Straße entlang, die Hustenweg heißt.

An einer Kreuzung geht es kurz einen Weg rauf und dann nach rechts, und auf einmal bietet sich ein ganz anderes Bild dar: Der Weg führt über einen Deich an der Maas entlang. Da lässt es sich gut radeln. Ein rietgedecktes Haus, ein Postbote auf dem Fahrrad, ein großes ehemaliges Gehöft mit Krüppelwalmdach, ein Hund, der die Passanten kontrolliert, eine große Trauerweide, Wind, eine Fahne mit roten und weißen Karos, eine Parkbank.

Dann verlässt die Route den Deich. Ich komme an einen Yachthafen und werde einen kleinen Seitenweg entlang geleitet. Sanft bergab. Kann eigentlich nicht richtig sein. Ich fahre trotzdem weiter. Noch 20 Meter, noch 6 Meter, und dann stehe ich am Wasser. Schiebe das Fahrrad zurück, ziemlich verwirrt. Und gehe erst einmal in das moderne Café am Yachthafen. Auf meine Frage, ob es Internet gebe, antwortet der Kellner: „Next week.“ Ich sehe mir in Ruhe die Karte auf dem Display an und merke, dass ich richtig war: Ich muss eine Fähre nehmen!

Die kommt auch schon bald. Sie ist klein, nur für Radfahrer und Fußgänger geeignet, hat lustige bunte Fähnchen und ein Schutzdach für den Fährmann. Der sieht aus wie ein Seebär, wie er im Buche steht: langer, zotteliger Bart, langes Haar, zu einem Pferdeschwanz gebunden, sonnengebräuntes Gesicht, breitkrempiger Hut. Seine Frau kassiert ab. Sie will, wenn es eben geht, dass man mit Karte zahlt, nimmt aber auch Bargeld an: 3 Euro.

Was ist das für ein Wasser, durch das wir fahren? Keine Ahnung. Der erste Teil sieht aus wie ein See, der zweite wie der Nebenarm eines Flusses.

Auf der anderen Seite ist ein hübscher kleiner Ort, aber der ist bald durchfahren, und dann geht es wieder an der Hauptstraße entlang. Hier gibt es überall Apfelplantagen. In langen, gleichmäßigen Reihen mit niedrigen Pflanzen, die kaum als Bäume zu bezeichnen sind, werden Äpfel gezüchtet. Und jetzt gerade auf einen LKW verladen. Vor einem Wohnhaus auf der anderen Seite steht ein Apfelbaum, ein Echo aus vergangenen Zeiten.

In Wamel frohlocke ich. Wir verlassen die Hauptstraße und fahren wieder über einen Deich. Auf den Feldern sitzen Graugänse und ganze Kolonien von Möwen, die sich zur Besprechung zusammengefunden haben. Dazwischen einzelne Reiher und wohl auch mal ein Storch. Wieder kleine schwarze Vögel, die aufgeregt durch die Luft fliegen. Welche Vögel das wohl sein mögen?

Auf diesem Deich verkehren auch Autos. Und Motorräder. Schwere Maschinen. In größeren Gruppen kommen mir die Motorradfahrer entgegen. Die Geschwindigkeitsbegrenzungen scheinen für Motorräder nicht zu gelten. Ich höre die Anweisungen nicht und bin auch so gedankenverloren, dass ich bis ans Ende des Deichs fahre, anderthalb Kilometer zu weit.

Ich muss zurück und dann in die Dorpstraat. Hinter dem Ort geht es wieder an der Autobahn entlang. Dann geht es über eine Brücke. An der Ampel warten Vater, Mutter und Sohn auf das Grün. Der Vater trägt einen Helm, die beiden anderen nicht. Das dürfte etwa dem Schnitt entsprechen, jeder dritte trägt einen Helm, vor allem aber Radfahrer, die professionell ausgerüstet sind. Die Freizeitfahrer tragen in der Regel keinen Helm.

Ich komme in einen kleinen Ort, Kesteren. Alles sehr holländisch hier. Hierher verläuft sich kein Fremder. An einem Platz ein großer Supermarkt, in dem ich mich mit Wasser und Eistee versorge.

An diesem Platz hat auch ein Slager sein Geschäft. Das ist ein Metzger (Schlager heißt schlager auf Holländisch). Gegenüber die Boutique Mooi Goed. Das ist eigentlich doppelt gemoppelt. Beides bedeutet ‚gut‘, wobei mooi mit unserem regionalen Gruß Moin! verwandt ist. Der hat nichts mit Morgen zu tun, sondern bedeutet Guten!

Kurz darauf kommt das erste Schild nach Wageningen: 6 Kilometer. Das verleiht mir neue Kräfte. Kurz vor Wageningen verlässt man die Provinz Utrecht (in die man gerade erst gekommen ist) und kommt in die Provinz Gelderen. Beim Verlassen der Provinz heißt es, wie beim Verlassen der Orte überall: Tot ziens!

Bald bin ich am Ziel. Diesmal ist es nicht so spät geworden. Die Unterkunft ist in einem großen, gut auf Fahrradgäste eingestellten Hotel am Rande eines Parks, dem Hotel WICC, was sich irgendwie nach YMCA anhört.

Nach einer Erholungspause mache ich mit auf den Weg ins Zentrum. Gehen ist jetzt die reinste Erholung, und der Weg ist nicht weit. Lange bin ich unschlüssig, wo ich einkehren soll. Eigentlich wollte ich einen kapsalong probieren, aber den gibt es nur in Imbissbuden, und ein hübsch gelegenes Lokal, bei dem ich anfrage, hat nur Burger im Angebot.

Am Ende lande ich genau im richtigen Lokal, eher durch Zufall: Eetcafé H 41. Vor dem Lokal steht eine Schiefertafel, auf der darauf hingewiesen wird, dass das Lokal über Terras und Tuin verfügt. Mit tuin ist ‚Garten‘ gemeint. Das Wort hat dieselbe Wurzel wie town und Zaun.

Der dunkle Eingang ist nicht gerade einladend, aber drinnen ist es voll, immer ein gutes Zeichen. Es gibt Plätze draußen im Garten. Die Kellner sind schnell und freundlich. Wieder gibt es ein gutes lokales Bier. Die Kellnerin bietet es erst etwas zögernd an und ist froh, als sie sieht, dass es mir gut schmeckt.

Der Name eines Gerichts auf der Speisekarte fällt mir ins Auge. Das muss ich probieren: Känguru. Das Fleisch ist sehr dunkel. Im Geschmack kaum mit anderem Fleisch zu vergleichen, am ehesten vielleicht noch mit Wild. Es ist ganz dunkel, außen etwas zäh, aber innen noch rötlich und sehr zart. Hat sich auf jeden Fall gelohnt.

Am Abend denke ich dann endlich daran, zu klären, was singel heißt, das Wort, auf das ich schon so oft gestoßen bin. Es heißt ‚Ringstraße‘.

28. August (Sonntag)

Am Morgen an der Rezeption bekomme ich noch Aufklärung über ein Schild, das ich an einem Café in Herzogenbusch gesehen habe: Ome Bernard. Das ome ist eine veraltete Form von oom, also Onkel.

Ein wunderbarer Sommermorgen, die Sonne scheint, der Himmel ist blau, die Luft ist kühl. Ich fahre durch die menschenleere Stadt, dann an Bäumen, Feldern und Wiesen vorbei. Aber nur für kurze Zeit. Wieder stehe ich plötzlich vor einer Fähre. Die Abfahrtszeit ist 6.45. Aber nur werktags. Und heute ist Sonntag. Die Etappe beginnt mit Warten.

Die Fähre ist größer als die vorige, und die Strecke ist kürzer. In knapp zwei Minuten sind wir am anderen Ufer. Außer mir ist nur ein weiterer Passagier auf der Fähre, auch ein Radfahrer.

Wieder mal geht es an der Straße entlang, aber es ist kein Verkehr, und ich fahre der Sonne entgegen. Dann überqueren wir die Autobahn. Kurz darauf kommt eine Abbiegung, und dann ist es einfach nur noch schön. Links ein Kanal. Schilf an der Uferböschung, mal auf der einen, mal auf der anderen Seite, dann Seerosen im Wasser, Enten mit dunklem Gefieder, Brücken, deren Bögen sich im Wasser spiegeln. Dann Baumreihen, mal auf der einen, mal auf der anderen Seite, mal auf beiden und einmal sogar dreifach. Pappeln, Eichen, Birken. Deren schwarze Umrisse auf dem Stamm wirken wie Augen, die mich beobachten. Vögel schwirren durch die Luft, auf einem Feld steht reglos ein Reiher. Als ich verlangsame, hebt er ab, bevor ich überhaupt zum Anhalten komme. Seine Schwingen sind riesig, hätte ich ihm nicht angesehen. Ein paar Angler, ein vereinzelter Radfahrer. Alles ruhig, nur der Wind raschelt in den Blättern.

Es ist der schönste Abschnitt der gesamten Tour. Auch das schönste Photo kommt hier zustande, mit der tiefstehenden Sonne am Horizont.

Nach Huisen kommt nach einer Abbiegung eine Parkbank. Nehme ich dankbar an. Die ersten 22 Kilometer liegen hinter mir. Auf einem Schild lese ich, was es mit dem „Kanal“ auf sich hat, an dem ich entlang gefahren bin. Es handelt sich um ein System von Deichen, Entwässerungsgräben, Seitendämmen und Entwässerungskanälen, angelegt im Mittelalter unter der Ägide eines Grafen, der die Bewohner verpflichtete, im Kampf gegen das Wasser zusammenzuarbeiten. So ein System nennt man Wetterung oder auch Wetter. Das erklärt wahrscheinlich auch Ortsnamen mit dem Bestandteil Wetter.

Dann weitet sich die Landschaft etwas aus. Hier kann der Wind so richtig zupacken. Ich habe zu kämpfen, komme aber gut voran. Die Strecke ist flach oder sogar etwas abschüssig und der Radweg, wie überall bisher, in bestem Zustand.

Dann geht es auf einen Deich. An unerwarteter Stelle geht es steil eine kurze Böschung runter. Ich stehe vor einem verschlossenen Gatter. Kann nicht richtig sein. Ich schiebe das Fahrrad wieder rauf, aber der Routenplaner sagt mir, sich solle wieder runterfahren. Neben dem Gatter ist ein kleines Eisentor. Das ist geöffnet. Ich stehe in einer Dünenlandschaft, auf sandigem Boden. Fahren kann man hier nicht. Ich schiebe das Rad ein paar hundert Meter, und wieder stehe ich am Wasser. Eine weitere Fähre.

Der Fährmann kommt ohne Passagiere und bringt nur mich ans andere Ufer: „Twee twintig“. Gott sei Dank steht dann dort gleich eine ganze Gruppe von Radfahrern.  

Wir haben den Wal überquert. Auf der anderen Seite stehen niedrige Eichen. Die hängen voller Eicheln. Auf Kopfhöhe. Sieht man sonst selten. Ich hätte hier auch keine Eicheln erwartet.

Wieder fällt mir ein Schild ins Auge, das mich dieser Tage schon verwirrt hat: Veerdienst. Ich frage mich, um welches Verdienst es sich handelt und wem das gebühren könnte. Dann lese ich ein paar Zeilen des Textes, und der Groschen fällt: Fährdienst.

Danach geht es wieder über einen Deich. Die Stelle, an der man den Deich verlässt, wird von einer Backsteinkapelle mit Türmchen markiert. Sie steht oben auf dem Deich, und gibt vor den dichter werdenden weißen Wolken ein schönes Photomotiv ab. An der Seite der Böschung, auf der man den Deich verlässt, steht eine moderne Skulpturengruppe, drei langgezogene Figuren mit langen Hälsen, Mann, Frau und Kind darstellend. Oder vielleicht Josef, Maria und Jesus.

Ich komme nach Millingen, Millingen aan de Rijn. Es ist, wie ich später bemerke, der letzte Ort vor der Grenze, ein größerer Ort mit einer großen, wenig ansehnlichen Kirche. In dem Ort findet eine Art dezentralisierter Flohmarkt statt. Vor allen möglichen Häusereinfahrten, Vorgärten und Parkbänken werden gebrauchte Sachen angeboten.

Ich spekuliere hier auf ein Café und habe am Ende Glück: De Kastanje. Es gibt Erholung bei Kaffee und Wasser.

Am Ortsausgang ist schon Kleef ausgeschildert: 8 Kilometer. Es geht über einen Radweg an der Straße entlang, mal wieder, aber es ist eine Allee, und es sind wenige Autos unterwegs.

Übergangslos geht es nach Deutschland. Nach 8 Kilometern kommt Kleve, das aber von der Tour links liegen gelassen wird. In der Ferne sieht man den Kirchturm von Kalkar.

Dort angekommen, schiebe ich das Rad in die Altstadt, auf den Marktplatz. Im Zentrum des Platzes steht eine Linde. Sie war früher der Ort, an dem Recht gesprochen wurde, unter freiem Himmel und in aller Öffentlichkeit. Die Gerichtsstätte musste kenntlich gemacht werden. Es wurde eine Umfriedung geschaffen, um das Alltagsgeschehen außen vor zu lassen. Später verlagerten sich die Gerichtsverhandlungen von der Linde in eine Laube des Rathauses und dann in einen Schöffensaal im Rathaus. Die Linde war nur noch Schmuckstück für den Markt. In den fünfziger Jahren wurde deutlich, dass der Baum von der Spitze her verdorrte und abstarb. Man überlegte lange, was geschehen solle, auch das Fällen des Baums stand zur Diskussion. Dann wurde der Baum chirurgisch behandelt und gesundete wieder. Inzwischen ist die Linde 470 Jahre alt.  

Der Rathausplatz ist ein langgestreckter Platz mit sehr unterschiedlichen Gebäuden, teils alt, teils modern, aber gut aufeinander abgestimmt. Auffallend das Nebeneinander von (älteren) giebelständigen und (neueren) traufständigen Häusern. Wer da wohl heute drin lebt?

Das Rathaus selbst, ein Backsteinbau, dreistöckig, hat in der Mitte einen ungewöhnlichen, aus der Wand hervortretenden oktogonalen Turm. Unten davor ein Renaissanceportal mit der Figur der Justitia. Darüber das Kalkarer Wappen, rot, mit drei Zinnentürmen. Das Untergeschoss, da, wo heute die Gastwirtschaft ist, war einst Markthalle mit Tuch- und Fleischständen und der städtischen Waage. Oben war ein Kornspeicher. Dieses Rathaus, das ein älteres ersetzte, war Ausweis des Reichtums Kalkars gegen Ende des Mittelalters, ein Reichtum, der sich dem Tuchhandel und dem Bierbrauen verdankte.

Bin erst etwas unschlüssig, entscheide mich dann spontan, heute hier zu Mittag zu essen. Ich habe Glück. Auf der Terrasse des Rathauses, etwas erhöht gelegen, bekomme ich den letzten freien Platz. Und ein köstliches Drei-Gänge-Menu. Drinnen ist der große Speisesaal bis auf den letzten Platz besetzt.

Am Nebentisch eine Gruppe von Motorradfahrern mit paillettenbesetzten Hemden und Schirmmützen, den Motorradhelm vor sich auf dem Tisch. Sie sprechen mit einem markanten Ruhrgebietsakzent. Als sie aufbrechen und ihre Harleys knattern lassen, haben sie für einen Moment die Aufmerksamkeit des ganzen Marktplatzes für sich.

Bevor ich mich wieder auf den Weg mache, werfe ich noch einen Blick in die Nikolaikirche mit ihren berühmten Schnitzaltären. Sie liegt etwas versetzt abseits des Marktplatzes. Jeder einzelne dieser Altäre wäre für jede andere Pfarrkirche ein herausragendes Kunstwerk, hier steht fast an jedem Pfeiler einer.

Anders als ich es in Erinnerung habe, sind die meisten Figuren nicht in Gold gefasst. Das hat zwei Gründe: In der späteren Phase war Gold nicht mehr in, die Altäre waren von vornherein holzsichtig konzipiert. Eine Neigung zu ungefassten Figuren hatte auch das 19. Jahrhundert, die Zeit der Restaurierung der Kirche. Das entfernte sogar den Goldüberzug vieler Figuren.  

Die meisten der Altäre sind Flügelaltäre, Triptychons. Die Flügel sind jetzt immer geöffnet, was einerseits wünschenswert ist, weil man sonst die wichtigsten Teile nicht sehen könnte, andererseits aber den Zauber nimmt, den man früher empfand, wenn die Altäre nur zu ganz bestimmten Zeiten geöffnet wurden.

Man kann stilistisch zwei Typen unterscheiden, die mit Szenen, die von Figuren nur so wimmeln, wie die Kreuzigung am Hauptaltar, und die mit einzelnen, größeren, nicht zu einem Bild zusammengefügten Skulpturen. Auffällig die Figur einer Maria Magdalena, die als Bürgersfrau mit modischer Haube dargestellt wird, elegant, selbstbewusst, völlig verweltlicht.

Skulptur und Malerei ergänzen einander. Auf einem Bild sieht man als Hintergrund zur Auferstehung des Lazarus den Kalkarer Marktplatz! Das Rathaus, obwohl verändert, ist gut zu erkennen, und auch die Linde stand schon an ihrem Ort, ist aber wohl eine Vorläuferin der heutigen Linde.

Nach der Besichtigung – es ist jetzt wieder sommerlich heiß – mache ich mich auf die letzten Kilometer der heutigen Etappe nach Kehrum, einen Vorort von Kalkar.

29. August (Montag)

Auf geht’s zur letzten Etappe, der kürzesten der Tour. Wieder geht es früh los, wieder sind die Bedingungen ideal.

Erst geht es ein Stück an der Straße entlang, dann über eine stillgelegte Bahntrasse. Sehr schön. Am Wegesrand hat jemand auf einem Tischchen unter einem Sonnenschirm selbstgemachtes Apfelmus und Äpfel aus dem eigenen Garten angeboten. Man entscheidet selbst, wie viel man zahlt. Ich nehme einen Apfel mit.

Hier sieht man das ländliche Deutschland, das man im Ausland kaum zur Kenntnis nimmt. Wiesen, Felder, Weiden, Hecken, in der Ferne die Silhouette von Xanten.

Dort angekommen fahre ich schnurstracks in die Altstadt, zum Marktplatz. Das Café am Dom hat trotz der frühen Zeit schon geöffnet. Ich bestelle mir ein opulentes Frühstück. Außer mir sitzen hier nur zwei Stammgäste auf der Terrasse.

Da erste Schild, was ich bei der Fahrt nach Xanten rein gesehen habe, war Siegfried. Die Verbindung der Stadt mit der Nibelungen-Saga wird hier voll ausgespielt. Auch das Café macht Anspielungen auf die Geschichte der Stadt. Die Frühstücksvarianten heißen Hagen, Brunhilde, Ad Santos (der alte Name der Stadt) und Viktor (der Namenspatron des Doms).

Xanten nimmt unter den Römerstädten in Deutschland eine Sonderstellung ein. Die mittelalterliche Stadt steht nicht auf der römischen Stadt wie in Köln oder Trier. Sie liegt außerhalb der heutigen Stadt.

Der Xantener Dom ist ein Dom, aber keine Kathedrale. Oft wird beides gleichgesetzt, und im allgemeinen Sprachgebrauch stimmt das auch, wie beim Kölner Dom oder beim Trierer Dom, aber nicht beim Xantener Dom oder beim Billerbecker Dom, und wohl auch nicht beim Berliner Dom und beim Magdeburger Dom. Das sind keine Bischofssitze.

Nach dem Frühstück gehe ich noch kurz durch einen Torbogen in die Domimmunität. Der Dom ist geschlossen, wohl wegen Sanierungsarbeiten. Vor dem Dom stehen mehrere große, beeindruckende Skulpturengruppen, alle aus derselben Zeit stammend. Auch hier sehen einige der biblischen Figuren aus wie Xantener Bürger der Zeit.

Weiter geht’s Richtung Rheinberg, an der Straße entlang. Dabei überquere ich eine Straße mit dem Namen Spanische Schanzen. Das muss eine Reminiszenz auf der Zeit der spanisch-niederländischen Kriege sein.

In Rheinberg, einem hübschen Städtchen, überquere ich die Underbergstraße und komme dann auf die Kamper Straße (die führt zum Kloster Kamp vermutlich) und setze mich dort noch einmal in ein Café. Es gibt Wasser mit einer Zitronenscheibe. Wunderbar. Erfrischend und leckerer als Wasser pur. Am Nebentisch klagen die Leute über die Hitze. Die sei ja unerträglich. Dabei ist es heute gar nicht mehr so heiß. So langsam wirft der Herbst seinen Schatten voraus. Der einzige richtig heiße Tag auf meiner Tour war der erste, der Donnerstag. Das war wie Hochsommer.

Am Ortsausgang von Rheinberg mache ich ein Photo von der Fassade eines Wohnhauses. Aus dem Fenster des zweiten Stocks schüttet jemand eine Gießkanne aus. Das Wasser fällt in bunten Tropfen, die immer dicker werden, nach unten. Und fallen dort auf einen aufgespannten Regenschirm.

Dann kommt Orsoy. Und damit die letzte Fähre der Tour. Sie verkehrt von Orsoy nach Walsum und zurück. Auf der Steuerkabine sind die Wappen der beiden Städte angebracht. Das von Orsoy hat drei Pferdeköpfe. Die sind eine Anspielung auf den Namen der Stadt: oy steht für ‚Aue‘, ‚Wiese‘, und ors, verwandt mit engl. horse, für ‚Pferd‘. Orsoy ist also eine Pferdewiese.

Als die Fähre kommt, werden zwei holländische Autos von dem energischen Fährmann nach vorne gewinkt. Was das zu bedeuten hat, merken wir erst in der Mitte des Flusses. Dort liegt ein Schiff. Die Fähre macht genau längs des Schiffes Halt, und jetzt werden die Autos auf das Schiff verfrachtet. Ein Mast auf dem Schiff wird Richtung Fähre gelenkt. An dem Mast hängt ein eisernes Dreieck. Daran werden Seile befestigt, und die werden dann am anderen Ende um die Räder eines der Autos gewunden. Und das Auto hebt sich in die Höhe, schwebt eine Zeitlang in der Luft und wird dann sanft auf dem Schiff deponiert. Dann ist das zweite Auto an der Reihe. Als es in der Luft über dem Wasser schwebt, sind wir schon wieder weitergefahren.

Als ich gerade aufsteigen will, sehe ich am Ufer eine Frau stehen, die mir freundlich zuwinkt. Es dauert einen Moment, bis der Groschen fällt. Ich werde abgeholt. Und bekomme Geleitschutz für die letzten Kilometer. Wir fahren an der Straße entlang, und ich bekomme bei Sinalco noch mal Flüssigkeitszufuhr. Dann geht es auf die vertraute Bahntrasse, und schon am Mittag sind wir am Ziel. Genug Zeit, auszuruhen.