12. Oktober (Dienstag)
Die Ankunft an dem Stuttgarter Sackbahnhof und der unendlich lange Weg zur S-Bahn, weit um das Bahnhofsgelände außen rum an der Baustelle vorbei, erinnern mich an Stuttgart 21. Nach all der Aufregung ist es jetzt aus der öffentlichen Debatte verschwunden, und aus meinem Kopf auch.
Wenn man durch den Bahnhof und das Bahnhofsgebäude geht, hat man als Außenstehender den Eindruck, dass der Bahnhof auf jedem Fall eine Sanierung vertragen kann. Ob im großen Stil oder nicht ist eine andere Frage. Stuttgart 21, daran erinnert der Stand der Bauarbeiten, bezieht sich nicht etwa auf das Jahr, sondern auf das Jahrzehnt. Die Fertigstellung ist für 2025 geplant.
Der Umweg hat einen Vorteil: Ich komme gleich an der Touristeninformation vorbei. Dort bekomme ich einen Stadtplan und die Information, dass ich auch zu Fuß zum Hotel kommen kann. Das ist gar nicht schwer: einfach die Königstraße runter. Der Name der Straße erinnert an die Zeit, als aus dem Herzogtum Württemberg das Königreich Württemberg wurde.
Der Himmel ist zwar verhangen, aber es regnet wenigstens nicht. Auf der Königstraße ist ziemlich viel los. Sie ist breit und verläuft schnurstracks von Nord nach Süd. Parallel zu ihr verlaufen zwei Bundesstraßen, vermutlich das Resultat der Städtebaupolitik der Nachkriegszeit. Nicht schön, aber die Innenstadt profitiert davon: Der meiste Verkehr bleibt außen vor. Die beiden Bundesstraßen sind nach Adenauer und Heuss benannt. Passt zu Stuttgart, passt zu Württemberg.
Die Königsstraße führt an einem Platz vorbei, den ich aus einem früheren Besuch in Stuttgart in Erinnerung habe, den ich aber nicht mehr identifizieren kann. Es ist der Schlossplatz.
Auf einer Plakatsäule sehe ich das Wappen von Stuttgart, ein steigendes schwarzes Pferd auf gelbem Hintergrund. Ob das auch eine Anspielung an den Namen der Stadt ist? Der Name Stuttgart ist tatsächlich von Stutengarten abgeleitet, einem alten Gestüt dieser Gegend. Hört sich nach Wohnzimmeretymologie an, scheint aber wirklich zu stimmen.
Der Name meines Hotels, Wartburg, gibt mir zuerst ein Rätsel auf, erklärt sich dann aber: Die evangelische Kirche ist in ihren Betrieb involviert. Ein Teil der Einnahmen soll gemeinnützigen Zwecken zukommen. Reisen als karitative Veranstaltung?
Auch zur evangelischen Kirche gehört der Hospitalhof, wo ich am Nachmittag einen Vortrag halten soll. Das ist nicht nur das Bildungszentrum, sondern fast ein ganzes Stadtviertel, ruhig gelegen, mit Plätzen, Bäumen, Bewohnern und reichlich Gastronomie. Und zentral gelegen. Vom Hotel aus sind es nur ein paar Schritte bis hierhin.
Es ist bleibt noch Zeit, einen Reiseführer zu kaufen, in einer großen Buchhandlung in der Königstraße, Teil einer Kette, wie fast alle Geschäfte in der Königstraße. In der Buchhandlung gibt es eine ganze Ecke zu Stuttgart, aber, was für eine Enttäuschung: Es gibt allerhand Devotionalien zum VfB, Genießertouren, Wanderungen durch die Schwäbische Alb, Stuttgart für Fortgeschrittene, aber keinen vernünftigen Reiseführer. Der einzige Standardreiseführer von den gängigen ist der schlechteste von allen, mit mehr Informationen zu Events, Einkaufen, Übernachten als zu den Sehenswürdigkeiten. Zum Kunstmuseum heißt es: „Toll, dass es im Kubus auch noch klasse Kunst zu sehen gibt.“ Das Café und die Aussicht scheinen wichtiger zu sein.
Das Viertel Hospitalhof gruppiert sich um das Zentrum Hospitalhof, einer Kombination aus einer Kirche, der Fassade eines alten Klosters und dem modernen Bildungszentrum, alle zu einem Karree verbunden. Das kann ich mir in den nächsten Tagen noch genauer ansehen.
Wie schon in der Kommunikation vorher erweist sich der Hospitalhof als sehr professionell und äußerst freundlich im Umgang. Als ich in den Vortragssaal komme, erscheint auf der Projektionsfläche schon meine Präsentation.
Als der Vortrag zu Ende ist, ist es bereits dunkel geworden. Ich mache mich durch den Dauerregen auf die Suche nach einem Lokal mit schwäbischer Küche. Das erweist sich als schwierig. Das einzige Lokal, das ich finde, auf dem Schlossplatz, ist bis auf den letzten Platz besetzt, obwohl es richtig groß ist. Bei der weiteren Suche bin ich wieder einmal überrascht, obwohl ich das doch schon zur Genüge kenne, von der ungeheuren Popularität von Burgerlokalen. An jeder Ecke gibt es eins, alle vollbesetzt. Man findet auch reichlich Steakhäuser und dergleichen und Lokale, wo es nicht viel mehr als Sandwiches gibt. Alles American style. Selbst das Burrito sieht nicht mexikanisch aus. Eine Art kultureller Überfremdung, über die niemand klagt.
Am Ende, nachdem ich ungewollt in die eigentliche Altstadt gekommen bin – Rathaus, Markthalle, Altes Schloss – lande ich einer versteckten Ecke in einem japanisch-chinesischen Lokal mit vietnamesischen und koreanischen Gerichten. Sehr bunt aufgestellt. Statt Maultaschen gibt es Bambussprossen und Tsingtao statt Trollinger.
Auf dem Rückweg komme ich, wie das so ist, an mehreren Lokalen mit traditioneller Küche vorbei, darunter am gemütlich aussehenden Amadeus, nicht gerade ein schwäbisch klingender Name. An einer Stelle sehe ich ein Hinweisschild, auf dem Bohnenviertel steht. Da sollte man noch mal recherchieren, woher der Name kommt. Aber heute nicht mehr.
13. Oktober (Mittwoch)
Wie keine andere Stadt steht Stuttgart in Griechenland für Deutschland. Daran erinnere ich mich während des Frühstücks. Wenn man mit einem Griechen von Deutschland spricht, dann hat der garantiert einen Onkel oder einen Cousin in Stuttgart.
Zuerst sehe ich mir den Hospitalhof an. Die Frontseite ist die spätgotische Fassade des ehemaligen Dominikanerklosters, sehr sehenswert, dahinter öffnet sich der leere Innenhof des Hospitalhofs. Ein ungewöhnlicher Anblick. Die Fassade nimmt eine Seite des quadratischen Hofs ein, die Schauseite. Sie geht auf den Platz vor dem Hospitalhof hinaus. Im rechten Winkel dazu steht die Kirche, ihr Ostchor geht auch auf den Platz hinaus. Die beiden anderen Seiten nimmt das moderne Gebäude des Bildungszentrums ein.
Die Kirche ist verschlossen. Offensichtlich ist sie auch gar keine Kirche mehr. Schon nach der Reformation wurde sie Hospital. Heute ist sie wohl Teil des Bildungszentrums.
Vor dem Ostchor der Kirche ein schöner, moderner Brunnen. Den habe ich gestern völlig übersehen. Er besteht aus drei nebeneinander in den Himmel wachsenden, schlanken, gegliederten Bronzesäulen, an denen das Wasser hinunterläuft. Der Brunnen nimmt offensichtlich die Form der Säulen der spätgotischen Kirche auf. Er ersetzt einen Brunnen, der im Krieg ausgelagert wurde und später nicht mehr auffindbar war. Wo der wohl ist?
Nicht zu übersehen ist eine große Skulpturengruppe, die man, etwas seitlich versetzt, vor die Fassade des Dominikanerklosters gesetzt hat, gut hundert Jahre alt. Sie zeigt einen triumphierenden Christus mit Siegesfahne, zu seinen Seiten sitzen Luther und Melanchthon, beide in ein Buch vertieft.
Links vor der Kirche steht eine Bank, aus einfachen Holzbalken bestehend, auf der Bankgeheimnis steht. Jede Bank habe, wie jeder Mensch, ihr Geheimnis.
Allmählich klappt es mit der Orientierung besser. Ich muss eine der Bundesstraßen überqueren, um in die Innenstadt zu kommen. Der Hospitalhof liegt nämlich knapp außerhalb.
Bald bin ich schon in der jetzt bereits vertrauten Königstraße. Ich will zielstrebig zur Staatsgalerie gehen, aber ich werde abgelenkt durch den Blick auf die Stiftskirche mit ihren beiden unterschiedlichen Türmen, eins der Wahrzeichen Stuttgarts. Es sind nur ein paar Schiritte bis dorthin.
Auf dem Platz vor der Kirche steht der Sparkassenbrunnen. Ihn krönt die Figur einer kräftigen, eher spärlich bekleideten Frau mit Trauben in beiden Händen, den Blick nach oben gerichtet. Sie symbolisiert den Dank für die Ernte. Die Inschrift auf dem Brunnenrand preist die Tugend der schwäbischen Sparsamkeit: „Ernte wächst nur, wo gesät, drum spare ehe es zu spät.“
Auch dieser Brunnen, vom Beginn des 20. Jahrhunderts stammend, wurde im Krieg zerstört und (in veränderter Form) wieder aufgebaut. Man muss sich klar machen, dass das meiste hier nicht in seiner ursprünglichen Form steht. Seit der Frankfurter Altstadt merke ich immer und überall, wie viel an Sehenswürdigkeiten in Deutschland wiederaufgebaut worden ist.
Auch zerstört war die Stiftskirche. Außen merkt man das kaum, aber innen wohl. Man hat nur die erhalten gebliebenen Teile gesichert, alles andere ist neu. Der gotische Chor steht noch, hat aber moderne Fenster. Die Kirche hat eine komplizierte Baugeschichte, war mal einschiffig, mal dreischiffige Basilika, mal Hallenkirche, und die Halle, die jetzt entstanden ist, ist nur ein weiterer Schritt auf diesem Weg, aber schön ist sie nicht unbedingt. Modern ist auch eine Skulptur unter der Decke, aus zeltartigen Teilen bestehend, die die alten gotischen Gewölbe wiedergeben sollen. Modern ist auch die überdimensionale Orgel auf der Empore.
Aber von der alten Ausstattung ist einiges erhalten, darunter Lettnerfiguren, die die Anbetung darstellen, und eine Kanzel mit den vier Evangelisten- Die sind beidhändig. Sie halten in jeder Hand einen Griffel.
Eine Besonderheit ist im nördlichen Seitenschiff ein Schutzmantelchristus. Unter seinem breiten Mantel finden alle, ob geistlich oder weltlich, ob arm oder reich, vom Bauern bis zum Kaiser, von der Nonne bis zum Papst, ihren Schutz.
Im Chor stehen an der Nordwand elf Ritterfiguren, alle gleich und doch alle anders. Alle stehen auf Löwen, einige ganz bequem auf dem Rücken, andere auf dem Kopf des Löwen, der das gar nicht zu genießen scheint, alle tragen eine Rüstung, alle haben einen Helm, aber bei einigen liegt er zu Füßen, die meisten, aber nicht alle, haben Bärte. Die Gesichter sind stark individualisiert. Was das Ganze soll, ist schwer zu sagen, aber vermutlich steht es in Verbindung mit den Grabmälern der württembergischen Grafen, die sich, teils in Form von Tischgräbern, hier in der Kirche befinden.
Ganz schwer zu finden ist das „Himmelfahrtloch“. Es hängt ganz oben in dem Zylinder der modernen Treppe im Süden. Es ist ein Schlussstein aus der alten Stiftskirche, Sandsteinblöcke mit bemalten Engelsfiguren, die einen Kreis um ein Loch herum bilden. Auf jeden Fall originell.
In der Unterkirche hat man Spuren der Vorgängerkirchen gefunden, der alten Dorfkirche, aber auch der dreischiffigen Kirche. Der Fund war ein Zufallstreffer. Man wollte einen alten Kohlenkeller umbauen und musste eine Wand versetzen, um eine WC-Anlage zu errichten. Dabei kommt alles zum Vorschein.
Außen an der Kirche eine Inschrift, die besagt, dass hier die erste evangelische Predigt gehalten wurde, 1534, dem Urdatum der Reformation in Stuttgart. Diese Inschrift befindet sich im Süden, am Aposteltor, mit spätgotischen Steinplastiken der Apostel, um Christus herum gruppiert.
Es hat inzwischen angefangen zu regnen, aber die Sonne scheint weiterhin. „Der Teufel hat Hochzeit“, sagten die Erwachsenen, als wir klein waren.
Jetzt geht es aber schnurstracks zur Staatsgalerie. Die liegt auch gerade außerhalb der Innenstadt, auf der anderen Seite der Adenauerallee. Der Bau selbst mit seinen Rundungen, seinen Rampen, seinem Wechsel aus Glasflächen und Steinflächen ist eine Sehenswürdigkeit. Innen bemerkt man sofort die grünen Noppen auf dem Boden der Rampen, die nach oben führen. Auch die Glastüren haben grüne Gitter.
Statt zur Ausstellung gehe ich zuerst in den Museumsladen und ins Café. Bei beiden habe ich Glück. Im Museumscafé bekomme ich ein dringend benötigtes Notizbuch. Auf der Klappe steht: „Ich war beim IQ-Test, zum Glück war er negativ.“
In dem Café bekomme ich einen Kaffee gratis. Es werden gerade Filmaufnahmen gemacht. Ich soll als Statist den Kunden mimen, der Kellner bringt mir den Kaffee. Als ich bezahlen will, winkt er ab, der gehe auf Kosten des Hauses. Meine erste Gage für eine Rolle in der Filmindustrie. Ich frage den Kellner, was es damit auf sich hat. Es handelt sich um einen Werbefilm, der am Wochenende in Stuttgart in der Öffentlich präsentiert wird, ein Werbefilm für Auszubildende. Der Kellner ist selbst Auszubildender. Er kommt aus Bangladesch und spricht sehr gut Deutsch.
Das Museum zu besichtigen und bei all den Kunstwerken die Orientierung nicht zu verlieren wird einem hier leicht gemacht: Jeder Raum, gleich groß wie jeder andere und nicht zu groß, hat einen bestimmten Schwerpunkt. Der wird auf einer Schautafel kurz erklärt, und dann kann man sich jeweils ein oder zwei Werke dazu ansehen.
Es geht im 18. Jahrhundert und mit Paninis Roma Antica los, einem Gemälde, das zeigt, dass zu dieser Zeit noch immer um die Auseinandersetzung mit der Antike geht. In einem sakral aussehenden Raum hängen an allen Seiten, dicht an dicht, so als wenn sie zugeschnitten wären, um zwischen die anderen zu passen, unzählige Bilder. Alle stellen Stätten des Roms der Antike dar: Kolosseum, Pantheon, Trajanssäule usw. Und in dem ganzen Raum stehen antike Objekte herum, Vasen, Brunnen, Sarkophage und der Laokoon. Im Vordergrund ist ein Maler zu sehen. Der malt selbst ein Gemälde mit antikem Bezug und ist in einer lebhaften Diskussion mit anderen Malern, die um ihn herumstehen, verwickelt. Dieser Maler ist Panini selbst. Das macht Roma Antica sozusagen zu einem Wortbeitrag im Streit über die Vorbildlichkeit der Antike.
Gleichzeitig ist das Jahrhundert ein Jahrhundert der Umbrüche. Der bürgerliche Alltag wird zu einem Sujet der Malerei, wie hier in der Darstellung einer Operationsszene. Die Operation wird natürlich ohne Betäubung vorgenommen. Ein junger Mann krümmt und windet sich, während ihm der Arzt (mit Perücke) eine Nadel in die entblößte Seite sticht. Der Patient hat den Mund weit geöffnet zum Schreien. Aus der Wunde tropft Blut. Ein anderer Mann, der Arztgehilfe vermutlich, hält den Patienten mit kräftigen Armen fest, damit er nicht entkommen kann. Am Bildrand sieht man eine Frau, vermutlich die Mutter, die die Hände ringt, den Kopf halb abgewandt, halb hingewandt zu dem Eingriff. Hier werden Elemente der christlichen Ikonographie in die Welt des Bürgertums übertragen: der Schmerzensmann in der Mitte, die Lanze, die in die Seite gebohrt wird, das Blut, die händeringende Mutter.
Auch das Verhältnis der Genres untereinander verändert sich: Die Porträtmalerei wird der Historienmalerei ebenbürtig. Die Maler verstehen sich als „Seelenmaler“. Gesinnung und Charakter der Porträtierten sollen zum Ausdruck kommen. Gleichzeitig benutzt das Bürgertum das Bildnis als Ausdruck der neuen Rolle, die sie in der Gesellschaft einnehmen. Auch Frauen werden jetzt – zukunftsweisend – Gegenstand der Porträtmalerei. Besonders gefällt mir das Ganzfigurenporträt von Wilhelmine Cotta, der Frau des Verlegers. Sie trägt ein weißes Empirekleid, das über die übereinandergeschlagenen Beine bis auf den Boden fällt. Der Faltenwurf ist der der antiken Skulpturen. Gleichzeitig gucken unter dem Kleid die Spitzen ganz neumodischer Schuhe hervor. Auch die Frisur entspricht der Mode der Zeit. Sie trägt das Haar hochgesteckt, aber ein paar schön gedrechselte Locken fallen in die Stirn hinein und bis auf die Schulter herunter. Eine hübsche Frau, aber nicht als glänzende Schönheit dargestellt. Die Gesichtszüge haben auf den zweiten Blick fast etwas Derbes.
Im 18. Jahrhundert gewinnt die Landschaftsmalerei an Bedeutung. Noch orientiert man sich an den großen Vorbildern des vorigen Jahrhunderts, an Poussin und Lorrain und deren imaginäre hügelige römische Landschaften, in südländisches Licht gehüllt und mit antiken Tempeln und mythologischen Figuren ausstaffiert. Aber allmählich ändert sich die Sache, und im 19. Jahrhundert, als die Landschaftsmalerei, früher das Stiefkind der Malerei, zur Leitgattung wird, tauchen ganz andere Landschaften auf. Jetzt ist die deutsche Landschaft Gegenstand der Malerei. Die Darstellung ist zwar realistischer, aber eigentlich geht es den romantischen Malern um die Landschaft als Stimmungsbild. Besonders kommt das durch die starken Kontraste zustande, zum Beispiel in der „Böhmischen Landschaft“ von C.D. Friedrich, auf dem der dunkle Vordergrund, Bäume, Wiesen, Felsen, mit dem hellen Himmel kontrastiert, der mehr als die Hälfte des Gemäldes einnimmt. Dunkle Erdenschwere, helle Jenseitsverheißung. Ganz ähnlich ein Bild von Carus mit einem außergewöhnlichen Gegenstand, den „Katzenköpfen bei Zwickau“. Das sind Basaltfelsen, eigentümlich geometrisch aussehende geologische Formationen. Die menschenleere Kuppe ist in ein gespenstisches Licht gehüllt, die Proportionen scheinen dramatisch gesteigert.
Auffallend der Kontrast unter den Gemälden in der Historienmalerei. Ein Bild zieht schon von Weitem die Aufmerksamkeit auf sich durch den starken Hell-Dunkel-Kontrast. Sieht nach Caravaggio aus. Es handelt sich um eine Anbetung der Könige von einem gewissen Bencovich. Der helle Lichtschein fällt auf das göttliche Kind. Von dem Licht bekommt auch Maria noch eine Menge ab und zwei der Könige ein bisschen. Aber ihre dunklen Umhänge verschmelzen schon mit dem Hintergrund, in dem die anderen Figuren, darunter der dritte König, nur noch schemenhaft zu erkennen sind.
Das komplette Kontrastprogramm dazu zwei Gemälde von Falciatore. Sehen wie galante Rokoko-Gemälde aus, helle Farben, viel Licht, ein blauer Himmel, das blaue Meer, eine Pferdekutsche, ein Reisekoffer, elegant gekleidete Figuren, die sich fast operettenhaft bewegen. Auf den zweiten Blick enthüllt sich die grausige Wirklichkeit. Es handelt sich um einen Brigantenüberfall bzw. einen Piratenüberfall. Beide schildern mit Lust am Grauen das Gemetzel, das hier stattfindet: ein mit einer Hiebwunde am Kopf auf dem Boden liegender Mann, ein anderer, dem gerade ein Dolch in den Bauch gestoßen wird, ein am Boden liegender Hund, bei dem die Gedärme aus dem Körper treten, ein Pirat, der seinen Säbel schwingt, um einen Mann zu enthaupten, eine Mutter, die ihr kleines Kind zu retten versucht, obwohl es aussichtslos erscheint, ein Junge, der umgefallen ist und jetzt zwischen den Kämpfenden auf dem Boden liegt, ein Hund, der versucht, einem Piraten ins Bein zu beißen. Das ist alles hoffnungslos überzeichnet, die Gesten und Aktionen sind ironisch entstellt. Schwer zu sagen, was die Bedeutung solcher Gemälde ist.
Sehr beeindruckend auch ein Gemälde von Cocorrante, das ein vom Kentern bedrohtes Schiff zeigt. Vor der Küstenlandschaft mit antiken Ruinen sieht man zwischen den Säulen auf das stürmische Meer und das zur Seite geneigte Schiff. Man kann den Sturm förmlich spüren, das Rauschen des Meers förmlich hören. Die bewegten Wellen, die Gischt, die Wolken, die sich um einen schmalen blauen Abschnitt des Himmels formieren, die aufgeregt gestikulierenden, aber vermutlich hilflosen Menschen an Land, all das ist an Dramatik kaum zu überbieten.
Ganz anders, aber ebenso beeindruckend, die „Parze Lachesis“ von Bellotti. Eine alte Frau, deren wichtigstes Merkmal ihre faltige Haut ist. Falten, wo man hinsieht, im Gesicht, am Hals, im Ausschnitt, an den Händen. Die Falten treten auf der dunklen Haut besonders hervor. Ganz besonders ist ihr verlorener, in die Ferne gerichteter, nachdenklicher, fast trauriger Blick. Sie ist nicht nur einfach eine alte Frau – so könnte man das Bild auch lesen – sondern eine Parze, und hält, kaum sichtbar, den Faden des Lebens in der Hand. Der ist von Klotho gesponnen worden, Lachesis bemisst seine Länge, Atropos wird ihn abschneiden. Kein Wunder, dass Lachesis so gedankenverloren dreinblickt.
Dann wird es ruhiger, es kommen die typischen Veduten von Venedig und dann taucht auf einmal sie auf, die berühmteste Frau der Staatsgalerie, dort, wo man sie am wenigsten erwartet, fast am Ende des Gangs, dort, wohin sich nur noch wenige Besucher verirren: die Putzfrau. Den Eimer mit Putzlappen vor sich, sitzt sie auf dem Boden, ganz in ihre Arbeit vertieft. Sie ist so realistisch dargestellt, dass man denken könnte, sie wäre real. Es ist eine Skulptur von Duane Hanson, einem der Vertreter des amerikanischen Hyperrealismus. Durch den Gipsabdruck von lebenden Modellen können Details und individuelle Züge perfekt wiedergegeben werden. Die Wirkung wird noch gesteigert durch die Verwendung von echten Requisiten wie der Perücke und der Kittelschürze. Die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit wird verwischt, und die ungewöhnliche Platzierung ruft Irritation hervor, anders, als wenn sie in einem trivialen Wachsfigurenkabinett stünde. Die Skulptur hat Kultstatus.
Zeit für eine Pause. Ich kehre in das Café zurück und gehe dann in die Abteilung für die Moderne.
Die Moderne setzt hier am Jahrhundertbeginn an, u.a. mit Paula Modersohn-Becker und einem Porträt mit dem Titel „Kind mit Übergewicht“. Man reibt sich die Augen. Das Mädchen soll übergewichtig sein? Da galten damals wohl andere Kriterien als heute. So ändern sich die Zeiten. Das Bild steht für ihre Credo des „Strebens nach einfachem, großen Eindruck“. Das gelingt. Das Kind ist in sich versunken, klammert die Hände fast krampfhaft ineinander. Hinter ihm vor dem sonst leeren blauen Hintergrund hängt ein Uhrengewicht, das zu der Schwere des Ausdrucks beiträgt.
Ganz anders Kirchner („Meine Zeichnungen duze ich, meine Bilder sieze ich“). Sehr bunt, helle Farben. Alles, die Figuren, die Objekte, die Landschaft, scheint, laienhaft ausgedrückt, aus Strichen zu bestehen. Und wird dadurch auch irgendwie zur Einheit. Man sieht zwei junge, schlanke, unbekleidete Figuren (die vielleicht auch an Adam und Eva denken lassen) ins Meer schreiten. Rechts davon liegt am Strand eine weitere Figur. Alles ist rund, die Dünen, die Wellen, der Leuchtturm im Hintergrund. Das Bild ist in Fehmarn entstanden, das Kirchner sehr schön fand, vor allem die Küste, die ihn sogar an die Südsee erinnerte!
Dann kommt Marc mit blauen und gelben Pferden und einem roten Hund. Erinnert mich an den Kommentar unseres Volkschullehrers zur modernen Kunst: „Gelbe Pferde und Auge aufm Knie.“
Einen besonderen Platz hat Picassos „Mutter mit Kind“. Es hängt nicht an der Wand, es steht im Raum. Ein unglaublich beeindruckendes, nahegehendes Porträt von großer Traurigkeit. Mutter und Kind sind Gaukler, sie gehören einem Zirkus an. Sie blicken sich nicht an, die Mutter blickt nach links, das Kind nach rechts. Die Mutter hat das Kinn auf eine Hand gestützt und sieht, sorgenvoll, schräg auf den Boden hinunter. Das Kind, mit einem bleichen und ausgezehrten Profil, hat die Arme über Kreuz geschlagen und sieht mit ernstem Gesichtsausdruck zur Seite. Zwischen den beiden auf einem einfachen Holztisch ein leerer Teller.
In einem Raum fällt mir sofort ein Gemälde im Hochformat ins Auge, das die ganze Höhe der Wand einnimmt. Schon von weitem glaubt man, eine Auferstehung zu sehen. Dank der länglichen Figuren denkt man unweigerlich an El Greco. Aber mit der christlichen Auferstehung hat das Thema wenig zu tun. Der Himmel zwischen den Wolken ist leer, oder so scheint es jedenfalls zu sein, es sei denn, das ist doch ein Fuß, den man in die Wolken entschwinden sieht. Aber die Menschen unten schenken der Himmelfahrt keine Beachtung. Sie schauen auf den Boden, schauen sich gegenseitig an, sind in Gedanken versunken. Vorne am Bildrand kranke, ausgezehrte, arme, gebeugte Menschen, die verzweifelt aussehen, nicht erlöst. Die wenigen Menschen, die nach oben blicken, scheinen nicht zu verstehen, was da vor sich geht.
Erstaunlich gut gefällt mir das „Triadische Ballett“ von Oskar Schlemmer. Es nimmt einen Raum für sich ein, einen verdunkelten Raum, in dem beleuchtete Figuren aus Pappmaché erhöht aufgestellt sind, die ihren Schatten an die Wände werfen. Das hat etwas Geheimnisvolles. Die Figuren stellen keine realen Tänzer dar. Es sind abstrahierte Figuren, jede anders als die anderen. Hier wird nicht nach Wirklichkeit gestrebt, sondern bewusst nach Künstlichkeit. Das Triadische Ballett (noch nie gehört), basiert, wie der Name sagt, auf der Zahl 3: Es gibt 3 Akte mit jeweils 3 Szenen, die vor 3 verschiedenen Hintergründen (fröhliches Gelb, festliches Rosa, mystisches Schwarz) von den Tänzern in insgesamt 18 Kostümen getanzt werden.
Unter dem Motto „Jenseits der Vernunft“ werden Dadaismus und Surrealismus thematisiert. Hier sieht man u.a. Schwitters „Undbild“. Der Titel ist Programm. Das Bild addiert Teile zu einem Ganzen, Teile die nicht zusammengehören. Es ist eine Collage aus verschiedenen Materialien, meist Holz und Pappe, teils bedruckt, die sich gegenseitig überlappen. Sie sind scheinbar wahllos zusammengefügt. Das Wort und steht am oberen Rand des Bildes. Schwitters zufolge konnte man und nicht malen.
Auch dazu gehört Dalís „Le moment sublime“, ein Bild, das, wie Schwitters Collage, nicht zusammengehörige Elemente zusammenfügt: einen Teller mit Spiegeleiern, einen Telefonhörer, eine Schnecke, ein (toter?) Fisch, eine Art Tropfen, ein abgestorbener Ast, das alles vor einer kargen Küstenlandschaft mit Klippen im Hintergrund. An einem Ast hängt vom Telefonhörer hinab eine Rasierklinge, die das rechte Spiegelei im nächsten Moment zu zerschneiden scheint. Ob man es will oder nicht, das Bild lässt eine beunruhigende Krisenstimmung entstehen.
Unter dem Motto „Radikale Nichtkomposition“ erscheinen unter anderem Yves Kleins „Monochrome Bleu“ und Newmans „Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue II“, das die drei Primärfarben thematisiert. Vertikal verläuft in der Mitte ein blauer Streifen durch das monochrome Rot, an den Seiten ein schmalerer gelber Streifen. Das Rot soll die Farbe des Erhabenen sein, soll einen sakralen Bezug haben. Seine Leuchtkraft wird durch das Gelb und das Blau noch gesteigert. In Kleins Bild soll das Blau, aufgrund einer besonderen Bearbeitung des Materials, einen Eindruck „undefinierter Räumlichkeit“ erzeugen. Klein ließ sich das verwendete Ultramarin Blau sogar patentieren!
Es kommen noch ein paar Installationen in dieser Abteilung, aber die sehe ich mir nicht mehr an. Die Bilder von Feuerbach, die mir so sehr ans Herz gelegt worden sind, finde ich nicht, und die Abteilungen der Altdeutschen Malerei und der Niederländischen Malerei sind ohnehin wegen Renovierung geschlossen. Es reicht aber sowieso für heute.
In dem Museumsladen kaufe ich noch ein paar Karten. Die Verkäuferin gibt mir zehn Euro zu viel zurück. Ich widerstehe dem ersten Impuls, sie mir in die Tasche zu stecken und gebe ihr sie zurück. Ihr Dankeschön fällt nicht gerade überschwänglich aus.
Die frische Luft ist wohltuend nach dem langen Museumsbesuch. Sobald man die Bundesstraße überquert, kommt man zum Schauspielhaus. Es ist eins der größten Dreispartenhäuser, das größte überhaupt in Deutschland. Leider gibt es keine Führungen, ich hätte es mir gerne angesehen.
Zuerst sehe ich den Bau von der Seite mit einer klassizistischen Fassade mit Giebelfeld. Die reizvollere Ansicht ist von vorn, die Seite mit einem Halbrund aus Säulen. Das Haus liegt an dem Eckigen See. Der heißt so, weil er nicht rund ist. Die beste Photoperspektive hat man, wenn man auf der anderen Seite des Sees steht.
Rechts von mir ein moderner Bau mit Glas und Stahl, nicht sehr hoch. Ich frage mich, was das wohl sein kann. Es ist der Landtag. Die Architektur verschrieb sich damals dem Credo der Transparenz, die auch für die Politik gelten sollte.
Hinter dem Landtag ein barocker Bau mit einer mächtigen Fassade, die ich zuerst für die Hauptfassade halte. Es ist aber nur die Seitenfassade des Nordflügels. Es ist das Neue Schloss, dessen Dimensionen ich jetzt erst erfasse. Ein Hauch von Versailles.
Im Zentrum des Schlossplatzes eine Triumpfsäule, und zu ihren Seiten zwei Brunnen. Hier gibt es, wie fast überall in der Innenstadt, Sitzgelegenheiten, und da die Sonne herauskommt, ist das perfekt für eine Pause.
Dem Schloss gegenüber, aber weit weg am anderen Ende des Schlossplatzes, ein weiteres monumentales Gebäude, der Königsbau, aber trotz des Namens gibt es hier nur eine Einkaufspassage.
Daneben der moderne Glaskubus des Kunstmuseums, auffällig, mit Ankündigungen in riesigen Buchstaben an der Fassade. Vor dem Museum verläuft die Königstraße.
Ich gehe zur anderen Seite des Platzes durch die Lücke zwischen zwei Gebäuden, und siehe da, ich bin auf dem Schillerplatz. Hier steht die Stiftskirche, die ich mir heute Morgen angesehen habe. Scheint eine halbe Ewigkeit her zu sein. Ich hätte die Stiftskirche aber gar nicht hier, so nahe am Schlossplatz, vermutet.
Im Zentrum des Platzes die Statue von Schiller, mit Darstellungen auf dem Podest, die man nicht so ohne Weiteres versteht. Die Statue ist hoch, es soll die höchste überhaupt sein, und Schiller hat einen Lorbeerkranz auf. Stuttgart hatte was gutzumachen. Schiller gefiel es nämlich hier, gelinde gesagt, gar nicht, und er verließ Württemberg, nachdem er Die Räuber geschrieben hatte, in einer Nacht- und Nebelaktion, illegal, unter falschem Namen, gegen den Willen des Landesherrn.
Die beiden Gebäude, die neben der Stiftskirche den Platz begrenzen, sind die Alte Kanzlei und das Alte Schloss, mit einem Rundturm hinten. Die Alte Kanzlei, in Weiß gehalten, asymmetrisch, mit zwei schön verzierten Portalen direkt nebeneinander, ist ein ausgesprochen schöner Bau, und das Alte Schloss, rötlich gehalten, steht ihm in Nichts nach. Der Platz ist wirklich ein Schmuckstück, und wieder stelle ich mir vor, dass das alles hier zerstört war.
Der Platz wird abgeschlossen von einem Gebäude mit einem merkwürdigen Namen: Fruchtkasten. Es ist ein spätmittelalterliches Gebäude und eins der ältesten erhaltenen der Stadt. Der Name deutet auf seine ursprüngliche Funktion hin: Getreidespeicher. Heute ist hier das Museum für Musikinstrumente untergebracht.
Etwas abseits des Platzes fällt mein Blick auf ein weiteres Gebäude: die Markthalle. Nichts wie rein. Der richtige Ort nach der langen Besichtigung. Und es lohnt sich! Wunderbare Stände mit verlockend aussehenden Auslagen. Alles beste Qualität. Hier gibt es Kaviar, Trüffel, Halva, kanadische Spitzmorcheln und isländischen Lachs, griechisches Olivenöl in Kanistern, Cheddar, Gruyère, Gorgonzola und Manchego, Kusmi-Tee und natürlich „echte Spätzle“. Griechenland ist mit einem Stand vertreten, die Schweiz auch, und Spanien, Italien und Ungarn, und es gibt eine Austern-Bar.
Die Markthalle ist zweistöckig, ähnelt französischen oder spanischen Vorbildern, hat Arkaden zu zwei Seiten und moderate Stilelemente des Jugendstils. Am Eingang gibt es etwas zur Entstehungsgeschichte. Man sieht 77 Schilder, alle weiß, ohne Beschriftung, außer einem, auf dem ein Name und ein Photo zu sehen sind. Das zeigt Martin Elsaesser, den Architekten der Markthalle. Er gewann 1910 den Wettbewerb, mit seinen zarten 26 Jahren, und stach dabei sogar seinen Lehrer aus! Die Sache war gewagt: ein modernes Gebäude mitten im damals mittelalterlichen Stuttgart!
Auf der anderen Seite der Markthalle der Marktplatz. Hier geht es ganz anders zu, laut und geschäftig, als hinten auf dem Schillerplatz. Der Blick auf die Markthalle wird etwas verstellt von den vielen Schirmen, Bäumen, Schildern, so dass das Gebäude nicht so richtig zur Wirkung kommt.
Zur Wirkung kommt aber das Schild eines Gasthauses: Marktstüble. Die Speisekarte hört sich gut an. Drinnen ist es rustikal eingerichtet, und die Kellner begrüßen einen sehr freundlich. Platz genug ist auch da. Und das Essen ist ein Gedicht. Ich nehme ein Gericht, das als Stuttgarter Spezialität gilt: Linsentopf. Linsen mit Saitenwürstchen, Speck und Spätzle. Und zum Nachtisch gibt es den „Warmen Ofenschlupfer“, einen Auflauf mit Äpfeln, Rosinen, Zimt und Zucker, serviert mit Grütze und Sahne.
Die Speisekarte gibt auch Auskunft über die Markthalle und die Umgebung. Man erfährt, dass die Markthalle heute 40 Stände hat. Aber früher 430 hatte! Wie muss es da zugegangen sein!
Und man erfährt, dass das Gestüt, der Stutengarten, die Keimzelle Stuttgarts, hier ganz in der Nähe, am Platz des heutigen Alten Schlosses gelegen, von einem Schwabenherzog gegründet wurde, die Siedlung, die sich um das Gestüt bildete, aber – horribile dictu– von einem Marktgraf von Baden!
14. Oktober (Donnerstag)
Beim Frühstück serviert eine äußerst freundliche und äußerst gesprächige Chinesin. Sie weiß noch, wo ich gestern gesessen habe. Als ich das kommentiere, sagt sie, wie zur Erklärung: „Ich arbeite schon seit 31 Jahren hier.“
Liegt Stuttgart nicht am Neckar? Wo ist der bloß? Habe ihn noch nicht zu sehen bekommen. Er fließt nicht durch die Altstadt, sondern etwas außerhalb, Richtung Cannstatt, wo auch das alte Neckarstadion liegt.
Weißenhofsiedlung? Porschemuseum? Schweinemuseum? Wilhelma? An Alternativen mangelt es wirklich nicht, man könnte locker eine Woche hier verbringen. Ich mache es mir einfach und schließe die erst mal alle aus, weil sie nicht in unmittelbarer Nähe sind. Ohne richtig entschieden zu haben, was ich will, mache ich mich auf den Weg.
Und bleibe im Zentrum hängen, angelockt vom Fruchtkasten, schon wegen seines Namens. Aber das Museum richtet heute ein Konzert des Jugendorchesters aus, und so lande ich, eher zufällig, im Alten Schloss. Im Württembergischen Landesmuseum. Was für ein glücklicher Zufall!
Schon das Betreten des Innenhofs macht Eindruck: Renaissance pur, und prächtiger, als es das relativ schlichte Äußere erwarten lässt, mit repräsentativen Arkaden zu zwei Seiten.
Ein interessantes Detail aus der Baugeschichte mit Blick auf die Aktualität: Bei einem Umbau wurde das Bodenniveau der Anlage angehoben – um eine ganze Etage. Zum Hochwasserschutz. Und zwar schon im 16. Jahrhundert!
Alle Augen auf sich zieht im Innenhof Herzog Eberhard im Bart. Er war der erste Herzog von Württemberg und verlegte die Residenz nach Stuttgart. Eine Pilgerreise nach Jerusalem stellte eine Wende in seinem Leben dar. Er ließ das Lotterleben seiner Jugend hinter sich, mit Turnierspielen, Jagden und Abenteuern mit schönen Frauen. Auf seiner Pilgerreise soll er versprochen haben, seinen Bart zukünftig nicht mehr zu schneiden – daher der Name.
Hier steht ein prächtiges Reiterstandbild von ihm, in voller Rüstung, mit erhobener Lanze, das Pferd in vorsichtiger Bewegung. Eine Führerin erklärt einer Gruppe von Schulkindern die Statue. Sie fragt nach dem Dorn, der da vorne an einer Seite der Brust aus dem Panzer hervortritt. Wozu könnte die gut sein? Die Antwort: Auf diesen Dorn konnte man die schwere Lanze legen, wenn sie nicht im Einsatz war. Ich bin genauso beeindruckt wie die Kinder und sage der Führerin artig Dankeschön, bevor ich ins Museum gehe.
Es geht los mit ganz frühen vorklassischen Idolen, von den Kykladen oder aus Mykene, kleine Figuren, mit erhobenen oder vor der Brust gekreuzten Armen, die ältesten von 2.800 v. Chr. Von solchen Figuren wurde göttlicher Beistand erhofft. Besonders schön ein Paar dieser Idole, offensichtlich zusammengehörend, aber mit unterschiedlichen Gesten, vielleicht Mann und Frau symbolisierend. Aufgrund ihrer Form werden sie nach den griechischen Buchstaben Ψ (Psi) und Φ (Phi) benannt.
Weiter geht es mit der griechischen, der römischen und der etruskischen Kultur, mit Statuetten, Vasen, Goldschmuck und Wandmalereien.
Alle drei hatten eine Unzahl von Göttern, und gerade dieser Polytheismus erlaubte die Übernahme von fremden Göttern. Aber es gab auch kulturspezifische Götter, wie die geflügelten Dämonen der Etrusker und die Laren und Penaten der Römer.
Ein Import aus dem Osten ist Kybele, die große Göttermutter aus Phrygien, heute noch Namensgeberin der Plaza de la Cibeles in Madrid. Mit ekstatischen Festen wurde sie gefeiert. Hier ist sie vertreten mit einem interessanten Relief, in dem sie gleich zweimal erscheint, beide Male auf dem Thron sitzend, aber mit unterschiedlichen Attributen. Mit solchen Darstellungen wollte man unterschiedliche Wesenszüge der Götter zum Ausdruck bringen.
Hochinteressant, eigens in einer abgedunkelten Rotunde untergebracht, die unzähligen römischen Figuren, die Abnormitäten darstellen: Bucklige, Kleinwüchsige, Glatzköpfige usw., eine Randgruppe der Gesellschaft, ebenso wie Arme, Hässliche und Fremde. Die Römer begegneten ihnen, wenn man so will, ohne Scheu, aber auch ohne Mitleid oder Respekt. Man machte sich über sie lustig. Bei Gastmählern ließ man sie zur Belustigung auftreten. Auch diese Figuren, aus Ton und Bronze, dienten der Belustigung. Aber sie hatten auch eine Schutzfunktion!
Ebenfalls noch hier in der Rotunde der Kopfteil der Statue eines Mannes, einer Statue aus Ägypten, aus griechischer Zeit, die hier so positioniert ist, dass man sie von hinten und von vorn sehen kann. Das ist wichtig. Von vorne hat der Mann eine für Ägypten ganz ungewöhnliche Haartracht, einen Bart und einen Blütenkranz. Auf dem Rückenpfeiler ist er nochmals dargestellt, jetzt kahlköpfig, ohne Bart und zwischen Horus und Sachmet stehend. Die Statue ist ein Zeugnis des kulturellen Austauschs am Nil zwischen Griechen und Ägyptern.
Dann kommen Wandmalereien, vermutlich Einzelstücke eines früheren größeren Ensembles. Sehr gut, vor allem die Porträts, mit hellen Farben, wie ein modernes Photo wirkend. Wunderbar die Details bei Wimpern und Ohrringen und der fleischfarbene Teint bei der Darstellung einer jungen Frau (oder etwa eines Mannes?). Das Material scheint Holz zu sein.
Dann kommen, auf einem Mauersims aufgereiht, die Büsten römischer Kaiser (mit Lotto-Mitteln erworben): Augustus, Tiberius, Germanicus, Nero, Galba, Nero Germanicus. Alle sind bartlos, außer Nero Germanicus. Der war Thronanwärter, aber wurde einer Verschwörung bezichtigt und in die Verbannung geschickt. Der Bart ist hier Ausweis seines Außenseitertums.
Dann kommt die „Kunst- und Wunderkammer der Herzöge von Württemberg“, das, was man früher Kuriositätenkabinett nannte, so was wie der Vorläufer des Museums. Sie diente der Repräsentation, aber auch dem Erfassen der Welt. Außerdem diente sie der Bildung. Wenn man im Rahmen von Festlichkeiten durch die Kunstkammer führte, regte deren Sammlung zum Gespräch an. Die Sammlung wurde im Laufe der Zeit immer mehr erweitert, den Grundstein legte der weitgereiste Friedrich I. gegen Ende des 16. Jahrhunderts.
Die ersten Objekte befinden sich in einem abgetrennten, abgedunkelten Raum, einem Raum im Raum – es ist wirklich ein Wunder, was man allein hier alles zu sehen bekommt. Zum Beispiel Straßeneier aus Südafrika. Erst auf den zweiten Blick sieht man, dass sie Darstellungen enthalten, in Form eines in die Schale geschnitzten Reliefs, ohne Farbe: die vier Erdteile und die vier Lebensalter. Die Eier sind ein perfektes Beispiel für die Symbiose von Natur und Kunst, von der hier oft die Rede ist.
Das trifft auch zu auf einen Pokal, der aus dem Horn eines Nashorns gedrechselt wurde (XVII). Der Pokal wird bekrönt von einem kleinen Nashorn aus vergoldetem Silber.
Interessant ein Messerset aus Indien (XVII), für den europäischen Geschmack in Asien hergestellt, nicht anders als heute. Die aufwändig geschnitzten Griffe der Messer laufen in ein Gesicht aus, drei Männer, drei Frauen. Auf den ersten Blick sehen sie etwas orientalisch aus, aber wenn man genauer hinguckt, sehen sie doch europäisch aus.
Erheblich älter (XII) ein Reliquienschrein, vermutlich Elfenbein, in Form einer Basilika, mit Dutzenden von geschnitzten Figuren, sehr kunstvoll gearbeitet. Als der Reliquienschrein in die Sammlung kam, wusste man nicht mehr, was für eine Funktion er hatte. Er wurde unter „Modell einer Kirche“ inventarisiert.
Bei einem in Südwestdeutschland entstandenen Kartenspiel (XIV), das hier ausgestellt ist, handelt es sich um das älteste erhaltene in der Welt! Auffällig die Größe der Karten und die Ausführung der Figuren- und Tierdarstellungen.
Ein Holzrelief zeigt Christus im Gebet, sehr ausdrucksstark. Darunter eine Ikone mit zwei Heiligen (XVII). Sie stammt aus China!
Ein ganz merkwürdiges Ausstellungsstück ist ein hölzerner Bilderrahmen, ohne Bild. Statt eines Bilds ist auf der Innenfläche ein skulptiertes abgewinkeltes Bein angebracht, sehr muskulös. Sieht fast wie eine anatomische Studie aus, aber: Warum ist das Bein auf dem Bilderrahmen gelandet?
Einen merkwürdigen Namen hat ein schön verzierter Becher: Geiselbecher (XVII). Was kann das nur sein? Es war so: Als die Franzosen in Stuttgart einfielen, drohte die Zerstörung der Stadt. Man konnte sie vermeiden, indem man Geiseln stellte. Als die Geiseln drei Jahre später aus der Haft entlassen wurden, vermachte man ihnen als Anerkennung kunstvolle Deckelbecher. Dieser ist einer davon.
An der Wand eine Jagdtrophäe, an der irgendwas nicht stimmt. Es ist ein Hase mit Gehörn, wenn auch nur einem kleinen, im Ansatz begriffenen. Krankhafte Knochenauswucherungen, Hasenhörner genannt, waren bekannt, und Exemplare davon befanden sich auch in Sammlungen. Dieser Hase aber ist ein Fake. Er besteht aus einem geschnitzten hölzernen Kopf mit aufgesetzter Geweihstange.
Wunderbar gearbeitet ein doppeltes Salzfässchen, aus Elfenbein (XVI). Die Schalen für das Salz, ganz oben, sieht man zuerst gar nicht. Sie sind nur der obere Abschluss einer Architektur mit hohen Säulen, zwischen denen sich eine Burg oder eine Stadt befindet. All das, nur um das Salz angemessen an der Tafel zu präsentieren.
Es gibt aber auch reichlich wissenschaftliche Instrumente, meist Messinstrumente für die Navigation und die Sternebestimmung: Quadrant, Zirkel, Vexierspiegel, Prismen, Waagen, Rechenstäbe und ein Astrolabium. Sie sind fein gearbeitet und meist mit einer dünnen Goldschicht überzogen. Ihre Namen beschwören die Vorstellung der frühen Neuzeit und der Seefahrt herauf.
Zu den Instrumenten im weitesten Sinne gehört auch ein Komponierkasten (XVII), entwickelt von Athanasius Kircher. Es besteht aus lauter Täfelchen, mit Angaben über Rhythmus und Phrasierung, die in einer flachen Schatulle stecken. Die Täfelchen konnten aus dem Kasten gezogen und immer neu miteinander kombiniert werden. So konnten auch Laien Musik komponieren! Hört sich ganz modern an, nach dem Zufallsgenerator am Computer.
Ebenfalls hochmodern ein Schrittzähler (XVII). Der Schrittzähler wurde so am Körper befestigt, dass eine Zugverbindung zum Bein entstand, die bei jedem Schritt einen Zählmechanismus auslöste. Sie hatten aber andere Funktionen als heute, eher wissenschaftliche. Es ging um die Erschließung des Herrschaftsgebiets des Landesherrn. Dabei wurden sie zur Entfernungsmessung eingesetzt. Aufgrund dieser Angaben wiederum konnten zuverlässige Landkarten erstellt werden.
Ganz kurios ein Wildschweinschädel (XVI). Auf den zweiten Blick entdeckt man, dass noch die Degenspitze des Jägers drinsteckt.
Ungewöhnlich auch die eiserne Maske eines Räubers (XVI). Sie gehörte einem vermeintlichen Massenmörder und wurde in der Rüstkammer des Herzogs aufbewahrt. Dann wurden große Teile der Sammlung durch ein Feuer zerstört. Die Maske war eins der wenigen Objekte, die überlebten.
Es gibt eine Vielzahl von Darstellungen mit biblischen Szenen und Städteansichten. In einer scheint ein Engel in einem Bottich zu stehen. Oder ist es kein Engel, sondern ein Märtyrer?
Unter dem ausgestellten Schuhwerk befinden sich zwei Paar Chopinen aus Venedig (XVII), hohe Stelzschuhe. Das erste Paar war wohl noch so gerade zum Tragen geeignet. Das andere scheint ein Ausstellungsstück zu sein. Ist es aber nicht. Solche Schuhe wurden wirklich getragen, obwohl man nicht selbständig darin laufen konnte, sondern von Dienerinnen zu beiden Seiten gestützt werden musste. Solche Schuhe sorgten für Furore und wurden besonders oft von Kurtisanen getragen.
Eine ganz auffällige kleine Schnitzfigur stammt aus Holland (XVII). Sie zeigt einen Bauern, über dem Boden hockend mit heruntergelassener Hose, Pfeife rauchend. Er verrichtet sein Geschäft. Der Clou daran war, dass man die Pfeife anzünden konnte und dann der Qualm aus den unterschiedlichen Löchern herauskam. Der Herzog war so angetan von der Figur, dass er bestimmte, sie solle „hinfüro das Wortzeichen“, also die Symbolfigur der Kammer sein. Ausgerechnet ein Bauer bei der Verrichtung seiner Notdurft!
Dann geht es in den eigentlichen Museumsraum, außerhalb der abgedunkelten Kammer. Vor deren Eingang steht eine mannshohe Figur, die den Archäologen ein Rätsel aufgibt. Es handelt sich um eine große Sandsteinfigur (XII) mit langen Zöpfen, offenem Mund, dreieckigem Bart, die herunterhängenden Hände vor dem Körper gekreuzt. Wer ist das? Was ist das? Ein Priester? Ein Druide? Gar Christus selbst?
Dann gibt es unzählige Gebrauchsgegenstände oder Schmuckobjekte (manchmal schwer zu entscheiden, was es ist) aus einer Vielzahl von Materialien: Bergkristall (hält Speisen kalt), Nautilus (besonders attraktiv durch seine Lichtdurchlässigkeit), Lapislazuli, Achat, Quarz. Auch hier ist das Thema immer die Verbindung von Kunst und Natur.
Was mir sehr gut gefällt ist ein Tafelgeschirr, das eine ganze Vitrine einnimmt: Teller, Becher, Flacons, Schalen, Salz- und Pfefferstreuer, aber auch Statuetten und Parfümfläschchen. Glatte Formen, alles in einem intensiven dunklen, gleichmäßigen Rot. Es handelt sich um Goldrubinglas, auch Kunkelglas genannt nach seinem Erfinder, einem Alchemisten. Er nutzte das bereits in der Antike vorhandene Wissen um die rotfärbende Eigenschaft von Gold. Das Resultat sind diese Objekte, die sich bei Hofe ungeheurer Beliebtheit erfreuten. Schließlich hatte man den Eindruck, das wertvolle Rubin vor sich zu haben.
Auf dem Weg in das zweite Obergeschoss hat man vom Treppenhaus einen schönen Blick in den Hof. Ich bin schwer beeindruckt von dem, was ich bisher gesehen habe, ahne aber nicht, dass es jetzt erst richtig losgeht, und zwar mit der Eiszeit. Auch hier sind sowohl die Exponate als auch die Präsentation allererste Sahne. Der einzige Nachteil ist, dass man keine guten Photos machen kann, weil das Glas der Vitrinen sich in der Kamera spiegelt. Aber das ist nebensächlich.
Es geht los mit einem riesigen Travertinstein, der vor dem Eingang liegt. In ihm haben sich die Abdrücke des Körpers und des Geweihs eines Hirsches erhalten. Er ist ein Zeugnis dafür, dass der Mensch schon damals, vor 240.000 Jahren, auf Jagd gegangen ist.
Dann kommen einige der Schatzstücke des Museums, Funde von der Schwäbischen Alb: ein Löwenkopf, ein Bär, ein Mammut, ein Bison, ein Adorant, teils für den Laien kaum zu identifizieren. Sie sind 35.000 – 40.000 Jahre alt und gehören zu den ältesten Kunstwerken der Welt! Was ihre Funktion war, lässt sich nicht feststellen, aber wahrscheinlich wurden ihnen magische Kräfte zugeschrieben. Die Figuren sind klein und abgegriffen, man vermutet also, dass man sie mit sich herumtrug und dass sie auch verschiedene Besitzer hatten.
Fast genauso alt die ältesten Musikinstrumente, auch klein: eine Flöte, ein Mundbogen, ein Trommelschlägel. Durch seine zwei Schlagenden konnte der einen markanten Doppellaut erzeugen.
Dann kommen Jagdinstrumente. Am Ende der letzten Eiszeit kommt die Speerschleuder auf. Sie bestand aus einem Speer und der eigentlichen Schleuder. Sie bedeutete einen Durchbruch. Man konnte damit bis zu 140 Meter weit schießen!
Steinzeitliche Waffen, aber auch Werkzeuge, wurden in der Regel aus Feuerstein gefertigt. Hier kam man unter anderen einen Dolch mit gegenüberliegenden Kerben sehen. Ein solcher Dolch gehörte auch zu der Ausrüstung von Ötzi.
Dann kommt die Sesshaftigkeit, der wichtigste Einschnitt in der Frühgeschichte. Das Steinbeil wurde das wichtigste Instrument. Es hatte Klingen aus Feuerstein. Solche Beile wurden ziemlich sicher beim Getreideanbau eingesetzt. Sie wurden immer wieder nachgeschliffen und dadurch immer kleiner.
Auch kriegerischen Zwecken diente das Steinbeil, wie man hier auf drastische Art sehen kann an mehreren durchbohrten Menschenschädeln, Resultat eines Massakers, das von Kriegern veranstaltet wurde.
Die Gräber dieser Zeit wurden außerhalb der Siedlungen angelegt, aber einzelne Tote wurden auch immer wieder innerhalb der Siedlungen bestattet. Die Toten wurden wie zum ewigen Schlaf gebettet, in Seitenlage und mit angewinkelten Armen und Beinen. Andere wurden in engen und kurzen Gruben bestattet, regelrecht zusammengeschnürt, so als fürchtete man ihre Wiederkehr. Gegen Ende der Jungsteinzeit werden die Bestattungsriten immer vielfältiger, bis hin zu seltsamen Teilbestattungen. Auch trat dann, wenn ich das richtig verstehe, die Einäscherung an die Seite der Körperbestattung. Aber ein richtig klares Bild bekomme ich davon nicht. Man müsste mal versuchen, das in einem etwas größeren Zusammenhang einzuordnen. Gibt es eine generelle Präferenz für die eine oder die andere Art der Bestattung bei den frühen sesshaft gewordenen Völkern? Gibt es da kulturelle Unterschiede?
Dann kommen die Pfahlbauten. Zu den wichtigsten Funden zählt ein Rad, genauer gesagt die Fragmente eines Rads, einem der ältesten der Welt!
Zu den Funden aus der Jungsteinzeit gehört der riesige Schädel eines Urstiers. Er wurde am Tor der Siedlung als Trophäe aufgestellt.
Sehr schön ein Tulpenbecher, der seinen Namen von seiner Form hat. Aus solchen Bechern wurde getrunken, und es wurden Flüssigkeiten darin aufbewahrt. Der Becher ist 4.000 Jahre alt und wurde in einer Abfallgrube gefunden.
Ebenfalls eine echte Augenweide eine Halskette, mit drei Anhängern aus Marmor. Sie ist aus Kalkperlen und Gagat gefertigt, die sich abwechseln, und das ergibt einen schönen Farbkontrast, Beige und Schwarz. Die Kette stammt aus einem Frauengrab und ist 4.000 Jahre alt.
Auch am Tor der Siedlung präsentiert wurde der sog. Trophäenschädel, ein menschlicher Schädel, der mit einem spitzen Gegenstand perforiert wurde. Zudem ist das Hinterhauptsloch künstlich erweitert. Wahrscheinlich wurde der Schädel an einem zugespitzten Holzpfahl aufgespießt.
Das erste Metall war Kupfer. Und dann gab es auch, durch den Zusatz von Arsen, die erste Legierung. Es eröffneten sich neue Horizonte.
Auch Zinn und Bernstein wurden jetzt importiert, meist auf dem Wasserweg. Auf dem Landweg geschah der Transport in Etappen, so dass man auch an Objekte kommen konnte aus Orten, die man selbst nie erreichte.
Aus Kupfer hergestellt sieht man hier Beile, Armreifen, Armspiralen, Dolche, Gewandnadeln.
Dann kommt die Bronze. Auch hier sieht man Waffen und Schmuck, darunter eine Kette mit Bernsteinperlen und ein prunkvoller Collier aus „Stachelscheiben“. Sie gehörten zur typischen Tracht auf der Schwäbischen Alb. Die Scheiben sind jetzt oxydiert. Ursprünglich leuchteten sie goldfarben.
Kurios ein Trinkgeschirr, mit Tassen, Situla (Zeremoniengefäß) und Ziste (Bronzeeimer). Täuschend echt nachgemacht. Denn es ist nicht Bronze, sondern Ton!
Dann ein riesiger Schild, der ist wirklich aus Bronze, mit der exakten Darstellung einer afrikanischen Gazelle!
Dann kommt die Eisenzeit. Die gute alte Bronze wird durch das härtere und deshalb bessere Eisen abgelöst. So die gängige Vorstellung. Hinter die setzen die Ausstellungsmacher ein Fragezeichen. Zinnreiche Bronze konnte sogar härter sein als Eisen, und das Eisen konnte man kaum noch in Form bringen oder einschmelzen. Und außerdem rostet es noch. Die Wertschätzung des Eisens beruhte zu Anfang wohl in erster Linie auf seiner Seltenheit. Es war Mangelware. Und auf seiner Neuheit. Es war „in“. Die Materialeigenschaften spielten dabei keine so große Rolle. Später beruhte die Wertschätzung des Eisens paradoxerweise auf seiner Verfügbarkeit. Man war nicht mehr, wie bei der Bronze, auf das Material aus den entfernt gelegenen Zinnminen angewiesen.
Als ich zu den Römern komme, die wiederum mit einer großen Ausstellung vertreten sind, sagt mir schon was, dass meine Ausdauer bald zu Ende geht.
Hier ist ein Meilenstein aus dem Limes aufgestellt. Er bezeichnet die Entfernung von Passau nach Kempten: 11 Meilen. Später, ab 202, wurden die Entfernungen in den keltischen Leugen gemessen. Durch das hervorragende Straßensystem und die regelmäßigen Wechselstationen – alle 35 Meilen, ca. 47 Kilometer – konnten Nachrichten gut transportiert werden. Bei offiziellen Nachrichten schaffte man bis zu 100 Kilometer am Tag!
Auffallend hier die große Sammlung von Schlüsseln aus der Römerzeit. Eigentum und das Eigentum schützen hatten einen hohen Wert. Die Schlüssel sind nicht sehr verschieden von denen unserer Kindheit. Wichtiger aber ist deren Entstehungszeit. Die meisten stammen aus dem 3. Jahrhundert, der Krisenzeit mit innerpolitischen Auseinandersetzungen, Bedrohung von außen und wirtschaftlichem Niedergang.
Eine kleine groteske Männerfigur ist hier zu sehen, mit verzogenen Gesichtszügen und einem übergroßen Phallus. Das Gesicht und Teile des Körpers sind geschwärzt. Wie kommt das? Die Figur diente als Kerzenständer, aber da der Abstand der Kerze, die auf dem ausgestreckten Körperteil ihren Platz hatte, nicht ausreichend war, verbrannte die Figur!
Die Schrift war bei den Römern von großer Bedeutung. Man sieht Schrift auf Tongefäßen, auf Wänden, auf Steindenkmälern, auf Schreibtäfelchen. Selbst ein Militärdiplom ist in einen Stein geritzt. Als Beurteilung steht da: Istum fecit – Gut gemacht!
Schrift ist auch in den Graffiti vertreten. Man findet sie sogar auf Gemälden. Einige ergeben keinen Sinn. Sie sind vermutlich von Analphabeten gemacht worden, in Nachahmung dessen, was sie da sahen, oder von Schreibkundigen, die sich einen Spaß machen oder die Schriftzeichen als Dekoration verwenden wollten. Man schätzt die Quote der Schreib- und Lesekundigen auf 10%-40%. Diese Geschichte erinnert mich an die Ptolemäer in Ägypten, die auf Sarkophagen Hieroglyphen anbringen ließen, zu einer Zeit, als die Kenntnis von Hieroglyphen längst untergegangen war. Sie hatten keine Ahnung, was sie da schrieben. Sah einfach schön aus.
Auf einem Altar gibt es eine genaue Zeitangabe. Die komplizierte römische Zeiterfassung kann man (wenn man es kann) auf unsere Zeiterfassung übertragen und kommt so auf ein genaues Ergebnis: 13. Januar 233. Die Zeitmessung richtete sich nach den amtierenden Konsuln und den Ämtern von Kaisern. Die Rechnung mit einem fixen Anfangsdatum – ab urbe condita – wurde erst in der Spätantike eingeführt. Das Jahr hatte zwölf Monate und begann ab 153 v.Chr. im Januar statt im März. Bestimmte Tage des Monats waren besonders hervorgehoben, der 1. (Kalendae), der 5. oder 7. (Nonae), der 13. oder 15. (Idus).
Viele römische Schätze dieser Region wurden gefunden, weil reiche Römer sie aus Furcht vor den anrückenden Germanen vergruben, in der Hoffnung, sie wiederzufinden, sobald die Gefahr vorbei war. Wozu es dann oft nicht mehr kam.
In der Wirtschaftskrise war Metall von besonderem Wert, und man ergriff ungewöhnliche Maßnahmen, um die Lage zu verbessern. So wurden nicht benötigte Metallobjekte eingeschmolzen, um neue Objekte aus dem Altmetall gewinnen zu können. Römisches Recycling. Einige Objekte mussten erst zertrümmert werden, bevor sie eingeschmolzen werden konnten. Hier sieht man einen für diesen Zweck zertrümmerten Helm.
Auch Münzfälscher hatten in der Wirtschaftskrise Konjunktur. Hier ist eine beträchtliche Sammlung von gefälschten Münzen zu sehen, über hundert gefälschte Denare aus Rottenburg. Sie wurden aus Kupfer geprägt und mit Zinn überzogen, um ihnen ein silbriges Aussehen zu verleihen. Die Fälschungen sind auch daran zu erkennen, dass sie auf der Vorder- und auf der Rückseite nicht zusammenpassende Stempel aufweisen.
Aus der Frankenzeit sind Grabbeigaben der Oberschicht vertreten. Ab dem 5. Jahrhundert setzte sich die Ganzkörperbestattung für alle Schichten durch. Vorher war sie den Vornehmen vorbehalten. Die Leichname ruhten dabei in westöstlicher Richtung, das Gesicht der Sonne zugewandt. Im 6. Jahrhundert wurden die Toten häufig in ausgehöhlten Eichenstämmen, sog. Baumsärgen begraben. Ein besonders schönes Exemplar ist hier ausgestellt. Auf dem Deckel, seine ganze Länge entlang, eine doppelköpfige Schlange. Solche Schlangen wurden oft gehörnt dargestellt. Die Schlangen galten wohl als Unheil abwehrende, dämonische Wächter der Toten.
Auch aus der Frankenzeit ein lederner Beutel mit 157 Münzen, eine blau-goldene Halskette mit Öse und Haken, Kerzen aus Bienenwachs, die sich im Schlamm erhalten haben, wunderbare Kämme (teils sogar mit Futteral), erst aus Geweih, dann aus Geweih und Knochen, Becher, Dauben und sogar eine Feldflasche. Aus Holz. Sieht aus wie die heutigen Flachmänner, nur größer.
Am merkwürdigsten von allen Ausstellungsstücken aus dieser Zeit sind aber die transformierten Schädel. Auch mit Laienauge ist zu erkennen, dass sie länger und schmaler sind als normale Schädel. Es war eine Transformation, die man im Sinne des geltenden Schönheitsideals vornahm, eine schmerzhafte Transformation mit Bändern und Schnüren, die sich jahrelang hinziehen konnte. Diese Tradition stammt aus dem Osten, wurden von den Hunnen nach Europa gebracht, und von den Alemannen übernommen.
Versunken in Gedanken an die menschliche Fähigkeit, sich für ein Modeideal zu opfern, verlasse ich dieses wunderbare Museum.
Als ich wieder an der frischen Luft bin, sehe ich mich ein bisschen auf dem Schillerplatz um.
Dabei fällt mein Blick auf eine Tafel am Fruchtkasten, die besagt, dass dies das Sterbehaus von Reuchlin sei. Er liegt in der Leonhardskirche, der zweitältesten Stuttgarts, begraben. Da ich keine Lust habe, in die Ferne zu schweifen, nehme ich mir die vor.
Vorher fällt mein Blick aber noch auf einen Hinweis auf die Stauffenberg-Gedenkstätte hinter dem Alten Schloss. Schon aus der Entfernung sieht man drei moderne Bronzestatuen, auf Bodenniveau, mit verzerrten und verstümmelten Körpern, kaum mit lebenden Figuren zu identifizieren. Als ich noch überlege, wer außer Stauffenberg hier abgebildet ist – falls das überhaupt das richtige Wort ist – sehe ich auf den im Boden eingelassenen Tafeln, um wen es sich handelt: Marsyas, Sonny Liston und einen Sterbender. Das hat gar nichts mit Stauffenberg und dem Widerstand zu tun. Die Gedenkstätte ist im Alten Schloss und momentan in Renovierung.
Also sehe ich mir die Skulpturen etwas genauer an. Sie stammen von Hrdlicka. Sonny Liston hat nur einen Arm und eine übergroße Faust. Der Kopf ist nur eine amorphe Masse, ein Gesicht ist nicht zu erkennen. Ein Bein steht frei, eins scheint mit der Erde verwachsen zu sein. Das passt alles irgendwie. Nicht so leicht erschließen sich die anderen beiden Figuren. Auch sie haben nur einen Arm. Der Sterbende hat keinen Kopf, und der überlange linke Arm hängt bis zum Knie runter, wie bei Sonny Liston die rechte. Marsyas, der gequälte Verlierer der griechischen Mythologie, streckt den rechten Arm in die Höhe, eher verzweifelt als triumphierend. Irgendwie verbindet alle drei Figuren was, aber warum sie in dieser Zusammenstellung hier stehen, erschließt sich mir nicht.
Auf dem Weg zur Leonhardskirche komme ich am Marktplatz vorbei mit dem modernen Rathaus, das ich bisher noch nicht gesehen habe. Der Marktplatz ist eine einzige Baustelle. Das Erkennungsmerkmal des Rathauses, das aus lauter quadratischen Glasteilen zu bestehen scheint, ist der hohe Uhrenturm, auch aus quadratischen Elementen gebildet, wahrscheinlich die Idee des Turms des mittelalterlichen Rathauses zitierend.
Um zur Leonardskirche zu kommen, muss man die Bundesstraße überqueren, klares Zeichen dafür, dass die Kirche außerhalb der mittelalterlichen Stadt lag. Auch sie war zerstört und wurde wieder aufgebaut, was man an dem Abschluss einiger der gotischen Fenster sieht, die keinen Dreipass, sondern rechteckige Muster haben und das Alpha und Omega und die Jahreszahl 1949.
Die Außenmauern der Kirche tragen einen dunkelgelben Verputz, der schön mit dem unverputzten rötlichen Sandstein der Fenstereinfassungen und Strebepfeiler kontrastiert. Das hohe Satteldach des Langhauses, gedeckt mit roten Ziegeln, und der dreistöckige Turm mit einem spitzen Helm aus Kupfer geben der Kirche ein besonderes Aussehen.
Vor der Kirche – oder dahinter – steht eine hohe Kreuzigungsgruppe. Das Kreuz erhebt sich auf einem zerklüfteten Erdhügel, dem Kalvarienberg. Man sieht den leidenden Christus am Kreuz, das flankiert wird von Maria und Johannes. Erst auf den zweiten Blick entdecke ich eine zweite Frau. Sie kniet vor dem Kreuz und hält es mit beiden Armen umschlungen. Auf dem Erdhügel entdeckt man, wenn man genau hinsieht, Schnecken, Totenschädel, Schlangen, Eidechsen und Menschenknochen.
Leider ist die Kirche verschlossen. Also richte ich noch einen kurzen Blick auf das Gebäude an der anderen Seite der Kirche. Das ist das Siegle-Haus (1912), früher ein Kulturhaus, jetzt Sitz der Philharmonie, ein schwer einzuordnendes Gebäude, mit einigen geschwungenen Formen und einem schönen gusseisernen Geländer an der Treppe, die von beiden Seiten zu dem höher gelegenen Eingang führt, der aber durch eine Art Portikus verdeckt ist.
Ich bin hier im Bohnenviertel angelangt, dessen Name mir dieser Tage schon aufgefallen ist. Der stammt tatsächlich von der Gartenbohne, die damals das Hauptnahrungsmittel für die arme Bevölkerung war und in den Gärten des Viertels angebaut wurde.
Es scheint sich um ein ehemaliges Handwerkerviertel zu handeln. Jedenfalls lassen die Straßennamen das vermuten: Weberstraße, Brennerstraße, Wagnerstraße. Heute ist es eine Mischung aus Wohnviertel und alternativem Viertel. Hier gibt es ein Geschäft mit Lebensmitteln aus Madagaskar, ein Restaurant mit afrikanischen Speisen und einen Laden mit dem Namen Hanf im Glück.
Die Bebauung ist eine bunte Mischung aus Fachwerk, Gründerzeit, Nachkriegsarchitektur und modernen Häusern, die mittelalterliche Formen zitieren. Selbst die Schrift auf den Straßenschildern ist gemischt, mal in Fraktur, mal in Antiqua, auch für ein und dieselbe Straße!
Eine der Straßen des Viertels führt zum „Türmle“, dem Schellenturm, einem runden Turm aus Backsteinen und einem achteckigen Fachwerkaufsatz, vielleicht Teil der ehemaligen Stadtmauer.
Etwas höher, schon fast außerhalb des Viertels an einer verkehrsreichen Straße gelegen, die Katharinenkirche, dem Reiseführer zufolge die „englische Kirche“. Tatsächlich ist es die Kirche der Altkatholiken, in der die Anglikanische Gemeinde Gastrecht hat.
Im Bohnenviertel selbst ist es ruhig. Autoverkehr gibt es so gut wie gar nicht. An der Fassade eines alten Fachwerkhauses entdecke ich die Darstellung von drei Mohren, mit goldenem Schmuck, darunter den charakteristischen Ohrringen, und goldenen Lendenschurzen. Man hat Klischee Klischee sein lassen und die Figuren bisher nicht entfernt, übermalt oder weiß angestrichen.
Wieder auf der anderen Seite der Bundesstraße komme ich über eine autofreie, als „Fahrradstraße“ ausgewiesene Straße zum Tagblattturm, an einer lauten Kreuzung mit Großbaustelle gelegen. Ich hatte von dem Tagblattturm vorher irgendwo gelesen. Eigentlich sieht das Gebäude harmlos genug aus. Aber es gilt als eins der ältesten Hochhäuser in Deutschland, in den zwanziger Jahren erbaut. Das Gebäude besitzt achtzehn Stockwerke und war bis zu seinem Bau sehr umstritten. Den Namen hat es von einer Zeitung, die der Auftraggeber für den Bau war.
Schräg gegenüber an der Kreuzung, quasi als Gegenstück zum Tagblattturm, ein altes, zweistöckiges Wohnhaus, in dem das Hegel-Museum untergebracht ist. Auch das ist wegen Renovierung geschlossen. Hegel wurde in Stuttgart geboren und ging hier zum Gymnasium, bis er zum Studium nach Tübingen ging.
Der Laden im Bohnenviertel mit dem Namen Hanf im Glück hat mich wieder an Hans im Glück erinnert und den Brunnen, den man ihm in Stuttgart gewidmet hat. Ich muss wieder dahin, wo ich gerade herkomme. Der Brunnen steht in einem ruhigen, verkehrsfreien Viertel mit reichlich Gastronomie. Der Brunnen steht an einem Platz, auf den verschiedene Gassen münden.
Über der Brunnenschale bückt sich Hans über sein Schwein, und in den Medaillons am Gitter, das den Brunnen umschließt, sind andere Stationen seiner Reise abgebildet. Die Medaillons sind golden, genauso wie das Schwein, vielleicht ein Verweis auf das Glück. Denn Glück hat Hans immer gehabt, jedenfalls in seiner eigenen Wahrnehmung. Auch hier sieht man ihn lächelnd und zufrieden dreinschauend mit seinem Schwein. Und das, obwohl das Schwein ja, von außen betrachtet, schon den Abstieg bedeutet, nachdem aus dem Klumpen Gold ein Pferd, aus dem Pferd eine Kuh und aus der Kuh das Schwein geworden ist. Am Ende bleiben ihm nur noch zwei schwere Steine, und als die in den Brunnen fallen, ist er froh, sie nicht mehr tragen zu müssen. Ein Glückskind. Ein beneidenswerter Charakter. Und ein bewundernswerter Charakter.
Eigentlich hatte ich vor, in die Weinstube zur Kiste zu gehen, Stuttgarts ältestem Lokal, aber hier sieht alles so einladend aus, dass ich mir den Weg erspare, zumal die Sonne wieder rausgekommen und es wieder wärmer geworden ist, so dass man sogar draußen sitzen kann. Ich entscheide mich für den Platzhirsch, den Platzhirsch unter den Lokalen des Platzes. Keine kulinarische Offenbarung wie gestern im Marktstüble, aber schmackhaftes Essen.
Auf dem Rückweg komme ich an einer alternativen Bäckerei vorbei, der Bäckerei Lebe Gesund. Man wirbt mit dem Motto „Mehr als Bio“. Bio hat ausgedient, das gibt es jetzt in jedem Supermarkt, jetzt muss man einen Schritt weiter gehen. Von der Dreifelderwirtschaft ist die Rede und von Sauerteig. Hefe scheint des Teufels zu sein.
Ein etwas anderes Weltbild kommt in einem Konfektionsladen zum Ausdruck. Hier heißt das Motto „Kaufe dich glücklich!“ Der Laden heißt tatsächlich so.
15. Oktober (Freitag)
Die Bilanz des Stuttgart-Besuchs: Erstaunlich, was ich alles nicht gesehen habe. Selbst den Fernsehturm, den man doch eigentlich nicht übersehen kann, habe ich nicht zu Gesicht bekommen. Aber das, was ich gesehen habe, macht Lust auf mehr.
Auf dem Weg zum Bahnhof über die jetzt bereits vertraue Königstraße fallen mir die Brezle-Stände auf. In dem Reiseführer steht, dass die eine schwäbische Spezialität seien.
Bei der Gelegenheit fällt mir auch wieder ein, dass ich gelesen habe, dass Baden-Württemberg das erste Bundesland mit einem grünen Ministerpräsidenten und Stuttgart die erste Landeshauptstadt mit einem grünen Oberbürgermeister ist.
Zum ersten Mal sehe ich, vielleicht, weil jetzt kaum jemand unterwegs ist, dass in an einem Platz in der Königstraße in das Straßenpflaster die Namen und Wappen der Partnerstädte Stuttgarts eingelassen sind, eine illustre Reihe, und so bunt gemischt, dass Schwitters oder Dalí ihre Freude daran haben würden: St. Louis, Straßburg, Cardiff, St. Helens, Lodz, Samara, Brünn, Mumbai, Kairo, Menzel-Burguiba.
Wenn man Richtung Bahnhof geht, sieht man drei große Baukräne, kein schlechtes Bild für Stuttgarts derzeitigen Zustand. Von dem knallgelben Arm eines der Kräne, der waagerecht in der Luft steht und sich schön von dem blauen Himmel absetzt, mache ich ein Photo. Es scheint, dass ich von jeder Reise ein Photo von einem Baukran mit nach Hause bringe, seitdem ich in Santiago, ausgerechnet in Santiago, eines gemacht habe von einem Baukran über den Türmen der Kathedrale.
Ein weiteres Photo entsteht von dem Riesenrad, das auf dem Schlossplatz steht und eigentlich stört, weil es die Sicht auf das Schloss versperrt, aber vor dem dunkelblauen Himmel mit den weißen Wolken, durch die sich gerade die Sonne bricht, gibt es was her.
Dann kommt der Bahnhof. Ich gehe gerade auf die Fassade zu, die Fassade des alten Bahnhofs, die Stuttgart 21 überdauern und stehen bleiben soll. Zwischen den Kriegen erbaut, gilt sie als Wegbereiter der „Neuen Sachlichkeit“, mit der Verwendung von verschiedenen Natursteinen als Besonderheit. So endet die Exkursion nach Stuttgart mit demselben Thema, mit dem sie begonnen hat: Stuttgart 21.