8. Mai (Sonntag)
An Superlativen mangelt es nicht: Görlitz besitzt 3.500 Einzeldenkmäler, so viel wie keine andere Stadt in Deutschland. Und wird von vielen, wie dem ehemaligen Vorsitzenden der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, für die schönste Stadt Deutschlands gehalten.
Görlitz ist die östlichste Stadt Deutschlands und gehört damit zusammen mit Oberstdorf, Selfkant und List zu den Zipfelorten Deutschlands. Und es liegt genau auf dem 15. Meridian, gibt also die MEZ ohne jede Abweichung wieder. Am Tag unserer Ankunft geht die Sonne hier um 5.22 auf, immerhin 38 Minuten früher als in Trier. Der Sonnenuntergang ist etwa eine halbe Stunde früher.
In Görlitz ist es oft kälter als in Berlin oder Cottbus. Das liegt an den eisigen Winden, die von den Höhen des Isergebirges und des Riesengebirges kommen.
Görlitz hat eine bewegte Geschichte. Und die neuere Geschichte hat etwas zur Folge, was Görlitz ganz besonders macht. Der Stadtteil auf dem anderen Ufer der Neiße ist nicht (mehr) Görlitz, sondern Zgorzelec, eine selbständige Stadt. Auf dem anderen Ufer, mit einer Görlitz mit einer Fußgängerbrücke verbunden, ist Polen!
Görlitz hatte manchmal Glück im Unglück. Im 2. Weltkrieg blieb es weitgehend verschont von Zerstörung, und nach dem Stadtbrand von 1525, als ein Drittel der Gebäude zerstört wurden, hatte es einen Baumeister, Wendel Roskopf, der einen großzügigen und einheitlichen Wiederaufbau im Sinne der Renaissance veranlasste. Er hatte Kontakt zu italienischen Baumeistern gehabt, kopierte aber nicht einfach die italienische Renaissance, sondern vermischte sie mit böhmischen, ungarischen und schlesischen Einflüssen. Dazu gehört eine besondere Fassadengestaltung mit Pilastern, Gesimsen und eigenwilligen Fensterbändern. Pilaster und Portale sind oft mit Kannelüren und Pfeifen geschmückt. Wandmalereien vervollständigen die baukünstlerische Arbeit. Nach dem Stadtbrand gab es keine größeren Katastrophen mehr, so ist im Laufe der Jahrhunderte alles erhalten geblieben, von der Gotik über die Renaissance, den Barock und die Gründerzeit bis hin zum Jugendstil. Wenn man sich für jedes Baudenkmal fünf Minuten Zeit nimmt, ist man zwei Wochen Tag und Nacht beschäftigt, um alles zu sehen.
Zum ersten Mal erwähnt wird Görlitz 1071, in einer Schenkungsurkunde. Da taucht es auf als Villa Goreliz, ‚Brandstätte‘.
In Görlitz gibt es das Café 13 und das Café 1900. Und es gibt die Jesus Bäckerei. Es gibt das Speiselokal Zum gebratenen Storch, den Gasthof Dreibeiniger Hund und die Herberge Zum Sechsten Gebot.
Die Reise geht um 9 Uhr in Köln los. Zu dieser Zeit ist der Bus, wie ich jetzt erfahre, schon drei Stunden unterwegs. Und es liegen noch über 600 Kilometer vor uns!
Ich werde, obwohl ich in letzter Minute eintreffe, oder vielleicht gerade deshalb, sehr freundlich begrüßt, von dem Reiseleiter und von dem Busfahrer. Wir sind insgesamt 33. Zu meiner Überraschung erfahre ich, dass ein paar Teilnehmer selbständig mit dem Auto anreisen.
Hermanito ist ein Opfer der frühen Abfahrtszeit und der Verspätungen der Bahn geworden und hat den Zustieg in Essen verpasst. Dann plant er um und will in Köln zusteigen. Aber auch diese Abfahrt verpasst er. Jetzt geht es mit dem Zug nach Görlitz. Sein Verbleib ist während der gesamten Fahrt ein Thema. Immer wieder werde ich nach dem neuesten Stand der Dinge gefragt.
Es geht auf die Autobahn, Richtung Wetzlar. Es ist Sonntag, und wir kommen ohne jeden Stau durch. Die erste Hälfte der Strecke ist schön, sehr grün, mit Wald und Wiesen zu beiden Seiten. Danach wird die Landschaft etwas unansehnlicher.
Während der Pause bietet der freundliche Busfahrer Kaffee an. Ich höre mit, wie er einem Reisenden erklärt, der Bus habe schon 600.000 Kilometer hinter sich. 1.000.000 würden die meisten Busse schaffen.
Nach vier Stunden passieren wir die ehemalige Grenze. Der erste bekannte Ort in Ostdeutschland ist Eisennach. Es ist immer noch ein schönes Gefühl, dass man jetzt so ohne weiteres über diese Grenze fahren kann. Gleichzeitig etwas verstörend, dass es keine Spuren der Grenze mehr gibt.
Während der Fahrt werden verschiedene Zeitungsartikel zu Görlitz herumgereicht. Einer macht auf das Problem des Bevölkerungsschwunds aufmerksam. Görlitz hatte mal 100.000 Einwohner, hat jetzt nur noch 56.000. Allein nach der Wende verließen 17.000 Einwohner die Stadt. Das hat zur Folge, dass Gebäude verfallen, weil sie weiter auf eine Renovierung warten, aber auch, dass perfekt renovierte Gebäude der Altstadt leer stehen. Die Görlitzer zogen in der Zeit der DDR meist in Plattenbauten am Stadtrand und haben kein Interesse, in die Altstadt zu ziehen. Die Stadt versucht jetzt mit allen möglichen Mitteln, Neubürger anzusiedeln. Die ersten Monatsmieten und der Strom werden von der Stadt übernommen, die Stadt zahlt fürs erste Jahr Kontogebühren und Haftpflichtversicherung, man darf umsonst Bus fahren und bekommt Karten fürs Theater. Und vier Flaschen Bier. Das hat bisher 2.000 neue Siedler angezogen.
Es geht an Weimar, Jena und Gera vorbei, und dann kommen wir nach Sachsen: Chemnitz, Dresden, Bautzen. Als wir in Görlitz ankommen, ist es schon sechs Uhr. Trotz der langen Fahrt dreht der Busfahrer noch eine Ehrenrunde durch die Altstadt. Der erste Eindruck ist sehr gut.
Das Hotel liegt wunderbar in einem Park, direkt an der Neiße. Vom Hotelzimmer blickt man auf das andere Ufer, auf Zgorzelec.
Abendessen gibt es praktischerweise gleich hier im Hotel. Und im Laufe des Abendessens taucht dann auch Hermanito auf. Er scheint alles gut verkraftet zu haben, besser als man das erwarten konnte nach all dem Hin und Her.
Im Anschluss an das Abendessen gibt es noch die Vorstellung des aktualisierten Programms. Hört sich gut an, eine Mischung aus Städtetour und Seminar.
Zum Abschluss trinken wir noch ein Landskron. Das steht hier synonym für Bier. Die Brauerei hat eine lange Geschichte. Sie wurde im 19. Jahrhundert gegründet, mit allen Schikanen, Reichspatent und königlicher Erlaubnis. Der Erfolg blieb nicht aus. Und man wollte einen Erweiterungsbau, in der Nähe der Neiße. Die Polizei war dagegen. Die Brauerei sei eine „Unzier“ für die Uferpromenade. Aber die Bürger setzten sich durch. Der Standort an der Neiße war bewusst gewählt, denn hier gewann man im Winter die Eisblöcke für die Kühlung. Die dicken Mauern garantierten eine gleichmäßige Temperatur und verhinderten das Schmelzen der Eisblöcke. Nach 1945 wurde die Brauerei zunächst ein halbstaatlicher, dann ein staatlicher Betrieb. Nach der Wende ging die Brauerei an die enteignete Besitzerfamilie und wurde dann von einer internationalen Brauerei aufgekauft. Die war aber am Ende nicht zufrieden mit dem Ertrag: Jeder Braustandort musste im Jahr 220.000 Hektoliter produzieren. Das konnte Landskron nicht leisten, und es drohte die endgültige Schließung. Aber dann kam die Rettung von einem Unternehmerehepaar, das ein besonderes Faible für historische Bauten hat. Jetzt werden 150.000 Hektoliter pro Jahr gebraut und im „Landskronland“ getrunken. Dazu leisten wir heute auch unseren Beitrag.
9. Mai (Montag)
In neuerer Zeit hat sich Görlitz einen Ruf als Görliwood erworben. Die Altstadt hat als Kulisse für historische Filme gedient und sich dabei in Frankfurt, Königsberg, Heidelberg, Dresden, New York, Venedig verwandelt. Alles begann 1954 mit Der Ochse von Kulm, und seither sind hier über 80 Filme mit mindestens einer Stunde Laufzeit entstanden, darunter Der Vorleser, Inglorious Basterds, The Grand Budapest Hotel, Goethe!, In 80 Tagen um die Welt, Der Turm.
Der berühmteste Sohn der Stadt ist Jakob Böhme. Er wurde von Hegel der „erste deutsche Philosoph“ genannt, war Zeitgenosse von Galileo und Kepler. Von Hause aus war er Schuster. Er schrieb in privaten Aufzeichnungen Texte, in denen er die traditionelle Schöpfungslehre in Frage stellte. Freunde veröffentlichten diese Texte als Buch. Das Buch wurde beschlagnahmt. Böhme wurde untersagt, seine Ideen zu verbreiten. Er veröffentlichte trotzdem ein weiteres Buch, wurde aus Görlitz ausgewiesen, kehrte zurück, wurde wiederum verklagt und starb schließlich in Görlitz. Sein Grab wurde am Tag nach der Bestattung verwüstet. An der Neißebrücke steht ein Denkmal für ihn.
Am Morgen strahlender Sonnenschein. Es sieht nach einem richtigen Sommertag aus. Sandalenwetter.
Der Busfahrer fährt uns zu unserem Veranstaltungsort, gerade mal zwei Kilometer entfernt, und dann ist sein Arbeitstag beendet, um 9 Uhr am Morgen. Das hat er sich nach dem Marathon von gestern auch verdient.
Die beiden Vorträge am Morgen sind ein Flop. Der erste Mann ist ein Künstler und der selbsterklärte Generalkonsul der fiktiven Republik von San Marco. Wir befinden uns in seiner Werkstatt, einem großen, von ihm selbst umgebautem und mit allerlei Zeugs ausgestattetem Saal in einem ebenfalls von ihm selbst sanierten Gebäude der Innenstadt. Er soll von seinem Leben berichten, als Zeitzeuge, und man erwartet sich Einsichten in das Leben in der DDR und das Leben nach der Wende, aber er gerät immer wieder auf „Nebenbahnen“ und bringt keinen Gedanken zu Ende. Seine Erzählweise ist diffus, anarchisch, kraus, verwirrend. Es ist eine Qual, ihm zuzuhören.
Der zweite Redner, Theologe, ehemaliger Leiter von verschiedenen Heimen, Mitglied des Neuen Forums, kommt mit einem dicken Ordner und allerhand weiteren Materialien, aber die meisten davon kommen nicht zum Einsatz. Wenn sie zum Einsatz kommen sollen, findet er sie nicht. Er ist in seiner naiven Art, mit der er seine eigene Verwicklung in die Abläufe vor und nach der Wende schildert, ganz liebenswürdig, aber man wartet bis zum Schluss darauf, dass irgendetwas Brauchbares zur Sprache kommt. Auch auf die Fragen im Anschluss gibt es keine richtigen Antworten. Als das Ende des Vortrags durch das resolute und gleichzeitig diplomatische Einschreiten unseres Reiseleiters eingeläutet wird, bin ich nicht traurig darüber.
In der Mittagspause setzte ich mich mit Hermanito in ein Straßencafé am Postplatz, dem Zentrum des Gründerzeitviertels. Wir lassen uns von der Sonne bescheinen. An der Stirnseite des Platzes steht das ehemalige Post- und Telegraphenamt. Auf dem flachen Dach stehen verschiedene Figuren, die Bezug nehmen auf die Funktion des Gebäudes. Eine Frau scheint ein Telefon, eine andere einen Brief in der Hand zu halten. Ein Putto mit Blitz in der Hand symbolisiert die Elektrizität.
In der Mitte des Platzes steht ein Brunnen mit einem Schaft aus Carrara-Marmor und einer weiblichen Bronzefigur, die mit ihren muskulösen Armen eine riesige Muschel über dem Kopf trägt. Aus der Muschel fällt das Wasser in die Brunnenschale.
An der Längsseite des Platzes ein langgestrecktes neoklassizistisches Gebäude, das ehemalige Geschäfts- und Wohnhaus eines Görlitzer Kaufmanns. Der Balkon wird von vier Karyatiden getragen, die mit symbolischen Beigaben ausgestattet sind. Vermutlich symbolisieren sie Handel und Handwerk.
Die Straßenbahnschienen machen hier einen engen Bogen, auf dem die Straßenbahnen, von denen wir unterschiedliche Typen sehen, über den Platz fahren.
Wir sehen uns noch ein bisschen in der Gegend um und stoßen dabei auf den Dicken Turm, einen runden mittelalterlichen Turm, Teil der ehemaligen Stadtbefestigung. Er diente lange als Gefängnis. Es gab keinen Eingang, die Gefangenen wurden, wie es heißt, an einem Seil von oben in das Verließ hinabgelassen. An der Fassade ein Monumentalrelief, das das verschlungene Stadtwappen und die beiden Patroninnen von Görlitz zeigt, Maria mit Krone und Barbara mit Turm. Ein Löwe, an seinen zwei Schwänzen als Symbol Ungarns zu erkennen, hält die ungarische Krone hoch. Das stammt aus der Zeit, als Matthias Corvinus Landesherr über Görlitz und die Oberlausitz wurde.
Ganz in der Nähe der riesige Kaisertrutz, auch Teil der alten Stadtbefestigung, eine Bastion, die dem Schutz der Via Regia diente, der wichtigen Handelsstraße, der Görlitz seinen Reichtum zu verdanken hatte. Sie führte von Santiago nach Kiew, und Görlitz handelte in beide Richtungen. Von diesen mächtigen Bastionen soll es 32 gegeben haben! Der Name Kaisertrutz bezieht sich auf den Dreißigjährigen Krieg und die Angriffe der Kaiserlichen Truppen, denen die Schweden als Hausherren hier trotzen konnten.
Am Nachmittag steht eine Stadtführung auf dem Programm. Sie beginnt am Rande des Postplatzes. Unser Führer, schütteres Haar, Pferdeschwanz, zotteliges Haar, im Nebenberuf Schauspieler und Musiker, spielt sein schauspielerisches Talent und seine rhetorische Begabung voll aus und erklärt alles in wohlgeformten, langen Sentenzen, ohne in den geschlagenen drei Stunden auch nur einmal ins Stocken zu geraten. Auch hier geht es, wie bei den Vorträgen am Vormittag, oft um ihn selbst, aber es ist eine Freude, ihm zuzuhören.
Er beginnt die Führung mit einer Lobrede auf den Fall der Mauer und die Entwicklung danach. Bei allen Problemen solle man nicht vergessen, was da alles gewonnen worden sei. Das gelte auch und ganz besonders für die Sanierung der Altstadt von Görlitz, die heute nicht mehr wiederzuerkennen sei. Der Sanierungsstand liegt jetzt bei 90%. Unterwegs zeigt er uns ein nicht renoviertes Haus, aber das Ensemble der verfallenden Stadt aus Zeiten der DDR kann man sich trotzdem kaum vorstellen. Er empfiehlt dafür Filme aus der Vorwendezeit, vor allem Gevatter Tod, auf einer Erzählung der Brüder Grimm beruhend.
Zuerst steht ausgerechnet eine der Bausünden aus der Zeit unmittelbar nach der Wende auf dem Programm, die das Lob auf die Sanierung beinahe ironisch klingen lässt. Hier hat man ein Caféhaus und ein Ballhaus, beide im Jugendstil gebaut, abgerissen und dafür moderne Kaufhäuser gebaut. Die passen hierher wie die Faust aufs Auge.
Unser erster Halt ist das Kaufhaus Wertheim, ein Bau mit Elementen des Neobarock und des Neoklassizismus mit einer großen bemalten Lichtkuppel und Messing-Kronleuchtern im Jugendstil. Es stammt aus der Zeit, als die kaufkräftigen preußischen Beamten Görlitz als Pensionopolis entdeckten. Das Problem: Das Kaufhaus steht seit 2007 leer. Es entspinnt sich eine Diskussion über die Gründe für den Leerstand. Unser Führer meint, es liege an der mangelnden Kaufkraft. Görlitz hat das niedrigste Durchschnittseinkommen in ganz Deutschland. Auch die Altersstruktur der Bevölkerung trage nicht gerade zum Konsum bei. Das Durchschnittsalter liegt bei 55. Siemens betreibt hier eine inzwischen abgespeckte Gasturbinenfabrik und Alstom eine ebenfalls inzwischen abgespeckte Waggonwagenfabrik (hier werden die meisten in Deutschland eingesetzten Doppelstockwaggons gebaut), und dann gibt es noch die Görlitzer Liebesperlen und eine Birkenstock-Fabrik, aber für junge Leute gelte die Devise: Gute Ausbildung bekommen und dann nix wie weg. Die Gastronomie, erklärt er, könne sich nur deshalb halten, weil die Lokale von polnischen Oligarchen für wenig Geld aufgekauft worden seien. Und die stellten polnische Servicekräfte ein, die unter dem Mindestlohn bezahlt würden, vorbei an den in Deutschland geltenden Regelungen.
Wir kommen zum Marienplatz, der das Gründerzeitviertel mit der Altstadt verbindet, und dann zum Obermarkt, einem langestreckten Platz, der an Schönheit und alter Bausubstanz seinesgleichen sucht. Er reflektiert 650 Jahre Baugeschichte. Hier drückt sich, vor allem in den Bürgerhäusern der Renaissance, der unglaubliche Reichtum der Stadt aus, in erster Linie auf Handel und Stapelrecht beruhend.
Unser Führer bringt die Rede auf den Görlitzer Scharfrichter Straßburg, in ganz Europa für seine „saubere Arbeit“ bekannt und wie ein Volksheld gefeiert, u.a. in Paris. Sein Schwert ist erhalten und irgendwo hier in einem Museum ausgestellt.
Auf den Obermarkt mündet die Verrätergasse. Dort lebte der Rädelsführer Peter Liebig. An der Fassade seines Hauses ist eingemeißelt: D V R T 1527 = Der Verräterischen Rotte Tür 1527. Das war als Warnung für Nachahmer gemeint. Peter Liebig war der Anführer von unzufriedenen Handwerkern, die einen Aufstand planten. Sie wollten um Mitternacht zuschlagen, aber die Turmuhr schlug sieben Minuten zu früh. Die Umstürzler wähnten sich in Sicherheit, aber der Nachtwächter war noch unterwegs, entdeckte sie und meldete den Vorfall. Die Absichten der Umstürzler kamen ans Tageslicht, und für die hieß es dann: Kopf ab und Vierteilen.
Wir betreten eins der typischen Görlitzer Hallenhäuser. Das ist die Besonderheit, auf der der Antrag auf Anerkennung von Görlitz als Weltkulturerbestätte beruht. Dieser Antrag läuft gegenwärtig. Man kann hier gut sehen, wie zwei ursprünglich getrennte Häuser durch eine Halle miteinander verbunden wurden und so unten eine Passage entstand. Die ermöglichte es den Pferdefuhrwerken, hineinzufahren, ihre Waren abzuladen und am anderen Ende wieder hinauszufahren, eine wichtige Erleichterung für den dichten Verkehr dieser Zeit in einer florierenden Handelsstadt.
Ebenfalls am Obermarkt ein Barockhaus von 1719, vom Leinengroßhändler Schaumburg gebaut. Es beherbergte später Friedrich Wilhelm III., Zar Alexander I., August den Starken und Napoleon. Es heißt, der kleinwüchsige Napoleon habe bei der Abnahme einer Truppenparade vom Balkon des Hauses auf einem Hocker gestanden, weil er sonst hinter der Brüstung nicht zu sehen gewesen wäre.
An einem seitlichen Ende des Obermarkts steht die Dreifaltigkeitskirche, die ehemalige Klosterkirche des Franziskanerordens. Nach der Reformation ging es mit dem Orden bergab. Der einzige verbliebende Mönch vermachte das Anwesen der Stadt, mit der Auflage, die Stadt müsse eine Schule eröffnen. Zehn Jahre später wurde das Gymnasium gegründet, das bis heute als eins der besten in Mitteldeutschland gilt. Die Ausstattung der Kirche ist fast komplett erhalten. Der Turm, der wie ein Minarett aussieht, ist eine spätere Zugabe, denn die Franziskanerkirchen hatten keinen Turm.
Die Brüderstraße, nach den Franziskanern benannt, verbindet Obermarkt und Untermarkt. Dort warten weitere Höhepunkte auf uns, an erster Stelle das Rathaus mit seinem Turm mit zwei kunstvollen Uhren. Die untere wurde von Bartholomäus Scultetus – Mathematiker, Humanist, Bürgermeister – mit einem 12-Stunden-Zifferblatt versehen, eine Neuerung damals. Mit dem neuen Zifferblatt wurde auch der Gregorianische Kalender in der Lausitz eingeführt. In der oberen oberen Uhr, die die Mondphasen wiedergibt, ist das 24-Stunden-Zifferblatt noch erhalten. Dort verkündet ein Löwe – heutige leiser, früher lautstark – Mondphasen und Monate. Auffällig die Figur eines Stadtwächters mit Helm im unteren Ziffernblatt. Der rollt jede Minute mit den Augen, und dazu fällt ihm die Kinnlade runter. Er soll bestraft worden sein, weil er einen Brand verschlafen und nicht gemeldet hatte. Wegen seines martialischen Aussehens wird er „Alter Schwede“ genannt.
Der Eingang zum Rathaus befindet sich dahinter. Eine leicht geschwungene Treppe führt zu einem Renaissanceportal und daneben zu einer Art weltlicher Kanzel. Von dort verkündete der Stadtsprecher dem Volk die neuesten Meldungen.
Neben dem Rathaus ein weiteres wunderschönes Gebäude, der Schönhof, heute Sitz des Schlesischen Museums, das wir morgen besichtigen. Der Schönhof ist das erste profane Renaissancehaus in Deutschland. Von Roskopf erbaut (der nie in Italien war), sorgte der Bau für eine Sensation und war der Initialbau für die spezifische Görlitzer Renaissance.
Dann passieren wir das Biblische Haus, ein Bürgerhaus mit weißer Fassade. Der Name stammt von den kleinteiligen Reliefs mit Szenen aus dem Alten und dem Neuen Testament an der Fassade. Die Bildachsen sind so angeordnet, dass jeweils eine Szene aus dem Alten Testament in Bezug zu einer Szene aus dem Neuen Testament gesetzt wird. Am Portal ein bärtiger Gaffkopf, der sich fast den Hals verrenkt, um mitzubekommen, was sich auf dem Untermarkt abspielt.
Am Ende kommen wir zur etwas erhöht gelegenen St.-Peter-und-Paul-Kirche, einer gotischen Kirche, deren beiden weißlichen, später angebrachten Türme von überall zu sehen sind. Die Kirche hat romanische Fundamente, wurde aber in der späten Gotik zu einer fünfschiffigen Hallenkirche ausgebaut. Sie ist protestantisch und die erste Kirche in der Oberlausitz, wo ein evangelisches Abendmahl gehalten wurde (1525).
Gleich daneben steht das Waidhaus, der älteste Profanbau von Görlitz, um 1400 erbaut. An der Vorderseite hat es einen schönen Treppengiebel. Der Name bezieht sich auf Waid, die Pflanze, aus der der wertvolle Stoff gewonnen wurde, mit denen man Tuche blau färben konnte. Waid war, bis zur Erfindung des Indigos, einer der wertvollsten Farbstoffe überhaupt und eine der Quellen des Wohlstands der Bürger von Görlitz. Hier fällt zum ersten Mal der Name der Kaufmannsfamilie Emmerich, der uns im Laufe der nächsten Tage immer wieder begegnen wird. Unser Führer stellt sie, was ihren Reichtum und ihren Einfluss angeht, auf eine Stufe mit den Fuggern und den Medici.
Die Führung endet an der Neiße, direkt vor der modernen Fußgängerbrücke, die auf die andere Seite, nach Zgorzelec, führt. Man sieht den einen oder anderen Passanten, aber es herrscht kein reger „Grenzverkehr“, so wie ich mir das vorgestellt hatte. Wir gehen auch gar nicht auf die andere Seite. Dabei habe ich mir mühsam in den letzten Wochen die Aussprache von Zgorzelec eingeprägt: zgɔ’ʐɛlɛʦ.
Mit dem Bau der neuen Fußgängerbrücke wurde an einem 7. Mai begonnen, einem symbolischen Datum, denn am 7. Mai 1945 wurden noch die sieben Brücken von Görlitz von der Wehrmacht gesprengt, einen Tag vor der Kapitulation! Der Wahnsinn, zu dem wir Menschen fähig sind, scheint keine Grenzen zu haben.
Unser Stadtführer verabschiedet sich mit einem rhetorischen Tusch, dem eigentlich nichts hinzuzufügen ist. Wie er die drei Stunden, scheinbar mühelos, bewältigt hat, ringt einem Bewunderung ab. Ich kann kaum noch stehen. Die Begeisterung für seine Leistung lässt einen möglichen Mängel der Führung erst gar nicht erkennen, aber später mache ich mir doch klar, dass die Geschichte gar nicht vorkam. Und es fehlt etwas an Kohärenz. Alle Stationen standen ziemlich isoliert voneinander da.
Am Abend holen wir nach, was die Stadtführung versäumt hat: Wir gehen über die Brücke, nach Zgorzelec. Gleich am anderen Ende der Brücke gibt es ein polnisches Lokal, die Dreiradenmühle. Hier stand früher eine Mühle, auf deren Existenz heute noch die Grundmauern, das Wehr und die Lage schließen lassen. Aber von den Rädern der Mühle ist nur noch der Name erhalten. Die Mühle diente als Getreidemühle, aber auch als Walkmühle, denn in diesem Teil des alten Görlitz ließen sich wegen der Nähe zur Neiße vor allem Färber, Gerber und Tuchmacher nieder. Erst mit der Gründerzeit entstanden hier auch Stadtwohnungen, aber lange war auf dieser Seite der Neiße nur ein Dorf, von Handwerkern und Tagelöhnern bewohnt. Heute ist Zgorzelec eine selbständige Stadt mit 35.000 Einwohnern.
In dem Lokal gibt es solide polnische Küche und Żywiec, ein Bier mit, wie die Speisekarte betont, tschechischem Hopfen und polnischem Malz. Man kann mit Euro bezahlen, und die Kellner sprechen Deutsch. Als das Essenaufgetragen wird, kann ich eins meiner zwölf polnischen Wörter an den Mann bringen: Smacznego!
Wir sitzen draußen, und plötzlich sehen wir, wie auf die Neiße, ein paar Meter weiter, unzählige Regentropfen auf der Oberfläche des Wassers aufschlagen. Kann doch nicht sein. Wir sitzen im Trockenen und ein paar Meter weiter regnet es? Stellt sich tatsächlich als eine optische Täuschung heraus. Es sind Tausende von Mücken, die hier an dem gestauten Fluss auf die Wasseroberfläche aufschlagen.
10. Mai (Dienstag)
Auf dem Weg zum Schlesischen Museum kommen wir zur Fußgängerbrücke. Unser Reiseführer bleibt stehen, deutet auf die Häuser am anderen Ufer und erklärt, das seien keine restaurierten Häuser dort drüben, auch wenn sie so aussähen. Die seien neu. Ein polnischer Investor habe den Baugrund gekauft, die alten Häuser abgerissen und diese neue dahingestellt. Und die stünden seitdem leer. Kein Bewohner in keinem der Häuser. Kein Mensch weiß, warum.
Im Museum werden wir in zwei Gruppen aufgeteilt. Unsere Gruppe führt ein junger Holländer, und der macht seine Sache ausgezeichnet. Im Laufe der Führung stellt sich heraus, dass er mit einer Polin verheiratet ist und selbst auch Polnisch spricht. Immer wieder spricht er von Breslau. Für ihn ist das die weltoffenere Stadt in Polen gegenüber Warschau oder Krakau.
Was überhaupt Schlesien ist, ist gar nicht so leicht zu sagen. Es gab zwar mal ein Herzogtum Schlesien, aber Schlesien ist eher eine Kulturlandschaft, die mal zu Österreich, mal zu Deutschland, mal zu Polen gehörte oder sich über diese Länder ausdehnte. Heute spricht man von einer „Brückenlandschaft“.
Nicht Eroberung, sondern Einwanderung hat ursprünglich Menschen aus deutschen Landen hierhergebracht, teils als Resultat von Anwerbung. Man brachte bessere Geräte mit, vor allem Pflüge, und bessere Techniken, zum Beispiel die Dreifelderwirtschaft, und das trug zur Ertragssteigerung bei, und das lockte wiederum weitere Siedler aus der Ukraine und aus anderen Teilen Polens an.
Das Museum ist wegen seiner Exponate sehenswert, aber auch als Gebäude. Eine Besonderheit sind die fein bemalten Balkendecken in vielen Räumen, meist in gräulichen Tönen, aber in einem Raum auch in leuchtenden Farben. Hier haben polnische Restaurateure nach der Wende ganze Arbeit geleistet, denn alle Bemalungen lagen unter einer gräulichen Schmutzschicht verborgen, sofern die Decken nicht ohnehin abgehangen waren. Es muss wie ein Wunder gewirkt haben, als die Bemalungen wieder zum Vorschein kamen. Genial die Technik, die dabei angewandt wurde: Mit kleinen, vermutlich angefeuchteten Kügelchen aus Graubrot wurden die Flächen Millimeter für Millimeter abgewischt!
Bemerkenswert ist auch, dass dies kein Palast, sondern ein Kaufmannshaus ist, sichtbares Zeichen des Aufstiegs der Bürgerschaft in der reichen Handelsstadt Görlitz. Man lebte wie die Adeligen. Es gibt einen Empfangsraum und einen Festsaal zur Repräsentation, und in einem Raum befindet sich hinter der Eingangstür versteckt ein Schacht, in dem sich bereits eine Toilette mit Wasserspülung befand.
Bereits in der ersten Vitrine im ersten Raum gibt es eine Besonderheit: geschnitzte Figuren, die Bergleute mit verschiedenen Uniformen und Instrumenten darstellen, aber auch die Hl. Barbara als Schutzpatron der Bergleute. Sind die aus Holz? Muss sehr dunkles Holz sein. Ist es aber nicht. Die Figuren sind aus Kohle! Das ist eine Spezialität dieser Region.
Dann kommen Exponate aus Glas. Das ist weiß, und das war wohl eine Besonderheit, weil Glas, wie unser Führer sagt, bis dahin meist grün war. Einige Gefäße sind stark ziseliert, haben die Form von Schiffen oder Tieren. Nicht sehr praktisch, aber repräsentativ. Sie wurden für einen symbolischen Willkommenstrunk benutzt, danach ging man dann zu handlicheren Gefäßen über.
Bei den Trinkkrügen erfahren wir, dass fast alle ursprünglich einen Deckel hatten. Diese hatten die Funktion, die Getränke warm zu halten, denn sowohl Bier als auch Wein wurden meist warm getrunken, weil es in den Häusern viel kälter war als heute.
In einer anderen Vitrine ist Porzellan ausgestellt. Das Porzellan stammte tatsächlich aus dieser Gegend. Es war nicht so wertvoll wie das Meißner Porzellan, aber billiger und haltbarer.
Daneben ist Fayence ausgestellt. Meist sind es bunt bemalte Figuren im Rokokostil, eher kitschig für unseren Geschmack. Sie wurden meist als Tischdekor verwandt. Fayence ist, wie ich hier erfahre, eine hochwertigere Form der Keramik. Sie ähnelt dem Porzellan, ist aber, wie die Keramik und im Unterschied zum Porzellan, nicht durchscheinend.
Dann kommen wir zur Geschichte Schlesiens, und zwar zur Reformation. Die hatte hier durchschlagenden Erfolg, wurde dann aber von den katholischen Habsburger wieder rückgängig gemacht Nach dem Augsburger Religionsfrieden galt cuius regio, eius religio, also der Landesherr gab die Konfession vor. Demnach hätte ganz Schlesien evangelisch sein müssen. Das war aber nicht der Fall. Hier herrschte eine, wenn auch eingeschränkte, Form von religiöser Toleranz. Man erlaubte der protestantischen Gemeinschaft, bei ihrem Glauben zu bleiben und insgesamt drei Kirchen zu bauen, sogenannte Friedenskirchen. Das geschah mit einigen Auflagen – die Kirchen mussten aus Holz sein und nicht für die Ewigkeit gebaut sein – aber immerhin. Es wäre interessant zu wissen, wie weit diese wenigen Kirchen den Bedarf an evangelischer Seelsorge und Liturgie decken konnten.
Wir kommen in die Zeit des Schlesischen Krieges. Hier sind keine Waffen oder Rüstungen ausgestellt, sondern private Objekte, die zeigen, wie man mit dem Krieg und der Kriegsgefahr umging. Es ist zum Beispiel ein Trinkkrug ausgestellt, in dessen Wand man Goldmünzen eingearbeitet hat, eine Geldanlage in unsicheren Zeiten. Echt verrückt ein Leporello aus geprägten Münzen. Daran findet Hermanito besonderes Gefallen. Auf den Münzen werden Schlachten abgebildet und beschrieben. Etwas für echte Schlachtenbummler!
Zum ersten Mal wird mir klar, warum Preußen sich in den Schlesischen Krieg gestürzt hat: Schlesien war gebirgig, Preußen flach, und als Folge hatte Schlesien einen reichen Vorrat an Bodenschätzen: Kohle und Erz, aber auch Basalt, Granit, Sandstein, Kies und anderes. Das kann schon Begehrlichkeiten wecken.
Dann kommt noch eine Geschichtslektion. Hochinteressant. Es geht um eine Volksabstimmung. Die wurde 1921 durchgeführt. Es ging darum, ob Oberschlesien zu Deutschland oder zu Polen kommen sollte. Man sieht von der deutschen Propaganda verfasste bebilderte Flugzettel, auf denen goldene Zeiten angekündigt werden, wenn man sich für den Anschluss an Deutschland entscheidet, ganz im Gegensatz zu der Misere, die der Anschluss an Polen bedeuten würde: Gesundheit, Rente, Lebensstandard, Arbeit, alles besser in Deutschland. Der Volksentscheid ging knapp für Deutschland aus, etwa 60:40. Daraufhin machten die Politiker das, was man in solchen Situationen eher aus Hilflosigkeit macht: einen Kompromiss. Oberschlesien wurde geteilt. Kein guter Kompromiss. Die Wirtschaft Oberschlesiens war der Verlierer, es gab eine Grenze, wo es früher keine gab, Kohle und Erz waren auf einer Seite der Grenze, die Verhüttungsbetriebe auf der anderen. Letztlich etwas, was zu beiderseitigem Nachteil ausging. Unser Führer macht in diesem Zusammenhang eine interessante Bemerkung: Der Profiteur des Niedergangs des Schlesischen Kohlebergbaus war das Ruhrgebiet. Die Teilung war für viele Bergleute der Anlass, auszuwandern, und das Ruhrgebiet hatte seinen wichtigsten Konkurrenten verloren. So habe ich das noch nie gesehen.
Am Schluss der Führung bleibt nur noch Zeit für einen ganz kursorischen Blick auf das 20. Jahrhundert mit Nationalsozialismus, Weltkrieg und Vertreibung. Was deutlich wird, ist, dass die Nazis sich bemühten, alles wieder deutsch zu machen. So konnte man seinen Nachnamen eindeutschen lassen.
Es geht ohne Pause weiter. Gleich im Anschluss geht es in den Vortragssaal des Museums. Eine Frau, Kulturreferentin für Schlesien, berichtet über die deutsch-polnische Zusammenarbeit im kulturellen Sektor. Sie hat einen polnischen Vornamen und einen deutschen Nachnamen, und das macht sie zu einer geeigneten Kandidatin für so eine Aufgabe. Aber der Bericht ist dröge und nichtssagend. Wir sind uns beide einig, dass man gut auf ihn hätte verzichten können.
In Erinnerung bleibt mir in erster Linie eine Landkarte vom Beginn des Vortrags, auf der man sieht, dass der weitaus größte Teil Schlesiens heute in Polen liegt, nur einen Zipfel haben Tschechien und Deutschland. Das Zentrum des deutschen Zipfels ist Görlitz. Dieser Zipfel wurde nach der Wende Sachsen zugeschlagen, da er für ein eigenständiges Bundesland zu klein war. Der polnische Teil Schlesiens ist in drei Wojewodschaften aufgeteilt: Oberschlesien, Oppeln, Niederschlesien. Bei Schlesien denken Polen im Allgemeinen an Oberschlesien, Deutsche an Niederschlesien, heißt es.
Allenfalls noch erwähnenswert ist die Geschichte des Weinbaus in Schlesien. Das Weinbaugebiet um Zielona Góra, Grünberg, gilt als das östlichste der Welt, und Zielona Góra hat oder hatte den weltweit größten Anteil an innerstädtischen Weinbergen. Zur Zeit des Sozialismus wurde der Weinanbau vernachlässigt. Wein galt als bourgeois. Stattdessen setzte man auf Wodka und Obstschnaps. Nach dem Fall des Sozialismus wurde der Weinanbau wiederbelebt.
In der Mittagspause setzen wir uns in einen gestern von Hermanito entdeckten Biergarten mit Blick auf die Neiße und essen eine Kleinigkeit.
Danach sehen wir uns den Flüsterbogen an. Er ist an dem Portal eines Hauses am Untermarkt angebracht. Der Flüsterbogen hat eine Hohlkehle, die auch leise Töne überträgt. Wenn man an einem Ende etwas flüstert, kann man das am anderen Ende gut verstehen. An beiden Enden des Flüsterbogens sind hässliche Fratzen angebracht. Sie sollen das Haus vor unerwünschten Eindringlingen schützen.
Dann sehen wir uns noch den Erweiterungsbau des Rathauses an, einen prächtigen, breiten Neorenaissancebau. Der ist mir bei der Stadtführung irgendwie durch die Lappen gegangen. Unten sieht man die Wappen der fünf Städte des Sechsstädtebundes: Bautzen, Zittau, Lauban, Löbau und Kamenz. Fünf Wappen für einen Sechsstädtebund? Man muss ganz nach oben gucken, um die Antwort zu finden. Dort oben, direkt unter dem Giebel, alle anderen überragend, befindet sich das Wappen von Görlitz.
Am Nachmittag schwänze ich und mache mich selbständig, um mir ein paar Dinge anzusehen, die nicht auf dem Programm stehen. Zuerst gehe ich in die Touristeninformation und lasse mir alle Ziele auf einem Stadtplan einzeichnen. Die junge Frau macht das sehr gut.
Meine erste Station, die ehemalige Franziskanerkirche, jetzt Dreifaltigkeitskirche, ist nur ein paar Schritte entfernt. Sie hat noch das Chorgestühl aus der Zeit des Franziskanerklosters. Leider ist es ein bisschen dunkel, so dass man die Schnitzereien mit den Fabelwesen nicht gut erkennen kann. Über den Sitzen zieht sich das ganze Chorgestühl entlang eine Inschrift. Sie enthält die Chronik des Franziskanerordens. Auch wenn man nichts entziffern kann, schön aussehen tut es auf jeden Fall.
In dem niedrigen Seitenschiff gibt es sehr schön ausgemalte Gewölbe, unter anderem mit musizierenden Engeln, und die Bögen des Gewölbes sind auch schön bemalt.
In einer großen Seitenkapelle, die nicht durch ein Gitter abgetrennt ist und fast wie eine eigenständige Kirche wirkt, stehen ein paar sehenswerte Skulpturen, darunter eine Beweinungsgruppe. Diese Skulptur wurde von Georg Emmerich gestiftet, dem ich bei meinem nächsten Halt wieder begegnen werde. Am besten gefällt mir die Figur eines „Christus auf der Rast“. Christus, sitzend, mit Dornenkrone, sieht nachdenklich aus, er hat den Kopf auf eine Hand gestützt.
Mein nächstes Ziel bringt mich in ein anderes Viertel von Görlitz. Hier sind die Häuser nicht ganz so schön rausgeputzt wie in der Altstadt, aber doch in einem guten Zustand. Es geht zum Heiligen Grab. Hier kommt Georg Emmerich, erfolgreicher Kaufmann und „König von Görlitz“, ins Spiel. Er hatte als junger Mann die Tochter der verfeindeten Familie Horschel geschwängert. Der Vater widersetzte sich der Eheschließung und schickte den Sohn stattdessen auf eine Pilgerreise ins Heilige Land. Von dort brachte er exakte Pläne des Heiligen Grabs mit und stiftete nach seiner glücklichen Heimkehr einen Nachbau. Der steht bis heute unverändert da, während das Heilige Grab in Jerusalem zweimal durch einen Brand zerstört wurde und im jeweiligen Zeitgeschmack wieder aufgebaut wurde.
Das Heilige Grab befindet sich auf einen durch eine niedrige Mauer abgetrennten Areal. Ich kann mich hier in Ruhe umsehen, denn ich bin der einzige Besucher. Wenn man hineinkommt, sieht man zuerst auf drei etwas erhöht stehende Linden. Die stehen allegorisch für die drei Kreuze von Golgotha.
Die beiden wichtigsten Gebäude sind das Heilige Grab selbst und die Kapelle zum Heiligen Kreuz, eine Doppelkapelle mit steilem Dach. Unten befindet sich das sogenannte Adamsgrab. Diese Kapelle hat hinten in der Wand einen Riss. Der gemahnt an den Vorhang, der nach dem Tod Christi gerissen ist, aber auch an den Riss in der nicht durch Christus erlösten Welt. Oben befinden sich im Chor drei Löcher nebeneinander im Boden. Sie stehen für die drei Kreuze in Golgotha. Auf einer Seite, der Seite des nicht reuigen Verbrechers, befindet sich eine Blutrinne im Boden. Erst auf den zweiten Blick merkt man, dass das Gewölbe im Chor und im Gemeinderaum unterschiedlich ist. Im Gemeinderaum verlaufen die Gewölberippen kreuz und quer, im Chor gerade und symmetrisch. Christus hat die Welt, die aus den Fugen geraten war, durch seinen Tod wieder hergestellt, lautet die Botschaft.
Die Grabkapelle ist ein niedriger, blockartiger Quadratbau. Vor dem Bau liegt der Stein, der das Grab verschloss und der vom Engel weggewälzt wurde. Die Gefäße mit den Salben der Frauen stehen auf dem Dach. Sie werden nicht mehr benötigt. An der Fassade hat man reliefartig einige geometrische Formen eingefügt. Sie stehen für die drei Leidenswege Christi.
Ich bleibe noch eine Weile auf der Parkbank in der Sonne sitzen und genieße die Stille in diesem abgeschiedenen Ort. Dann mache ich mich auf den Weg zu meinem nächsten Ziel.
Das ist eine Bäckerei. Die lockt mich nicht wegen des Kuchens an, sondern ausschließlich wegen ihres Namens: Jesus Bäckerei.
Der heutige Inhaber hatte, als er diese Filiale 1992 eröffnete, keine Ahnung, dass es hier früher schon eine Bäckerei gegeben hatte, die erste noch vor 1500. Neber der Bäckerei stand in früheren Zeiten eine Kapelle. Von der blieb dann nur noch ein Bildstock übrig. Der steht heute noch neben dem Eingang der Bäckerei. Diese Kapelle bzw. dieser Bildstock waren eine Station auf dem Leidenswegs Christi, den die Gemeinde in der Karwoche zurücklegte und der zum Heiligen Grab führte. Wenn hier Station gemacht wird, verteilt der Bäcker traditionell an die Gläubigen als Wegzehrung ein Salzbrot, „Tränenbrot“ genannt. In dem Bildstock sieht man, wie Simon von Kyrene Jesus hilft, das Kreuz zu tragen. Den Namen Jesus Bäckerei trägt die Bäckerei also nicht umsonst.
Die Bäckerei liegt an einem unregelmäßigen kleinen Platz, auf den die Bogstraße mündet. Hier in Görlitz haben die Straßenschilder eine historisierende altdeutsche Schrift, vermutlich eine Form von Fraktur, und die verwendet zwei verschiedene Formen für den Buchstaben s. Das sieht dann so aus: 𝔅𝖔𝖌-𝔖𝖙𝖗𝖆𝖘ſ𝖊.
Auf diesem kleinen, dörflich wirkenden Platz gibt es auch ein kleines Café mit zwei kleinen Tischen draußen. Ich mache eine Pause bei Kaffee und Klekselkuchen, einen Kuchen, den ich von einem der Ausflüge von Porschendorf her kenne, einen Käsekuchen mit „Kleksen“ von Mohn.
Die Kellnerin ist Polin. Später höre ich, wie ein anderer Gast mit ihr spricht. Sie ist die Ehefrau des Intendanten des Stadttheaters, und der ist gerade in der heißen Vorbereitung der Premiere des Don Giovanni. Der Gast sagt, er könne nicht zur Premiere kommen, werde aber zu einer späteren Vorstellung hingehen. Die Kellnerin wird natürlich bei der Premiere dabei sein.
Später setzt sich noch ein weiterer Gast zum dem ersten am Nebentisch, und die beiden unterhalten sich über Literatur, über Bücher von Julie Zeh und von Jonathan Franzen und über ein Buch mit dem Titel Goethe in Schlesien.
Die Kellnerin weist mir den Weg zu meiner nächsten Station, diesmal ein Speiselokal. Auch hier geht es wieder nur um den Namen: Dreibeiniger Hund. Der dreibeinige Hund erinnert an eine Legende, derzufolge jedes Jahr zu Weihnachten um Mitternacht ein dreibeiniger Hund in die Stadt kam. Ließ man ihn ungestört seinen gewohnten Weg nehmen, so tat er niemandem etwas zuleide. Die Wachsoldaten ließen stillschweigend das Pförtchen am Frauentor zur Mitternachtsstunde offen, damit der Hund leicht hindurchkommen konnte. Ein besonders tollkühner Soldat wollte sich aber dem Hund entgegenstellen und verschloss das Pförtchen. Der Hund bleckte die Zähne, funkelte böse mit den Augen und übersprang das Tor. Als es wieder still geworden war, fand man den Soldaten ohnmächtig vor, seine Flinte war hin, ihren Lauf hatte jemand wie zu einer Schraube verdreht. Als er wieder zu sich kam, hatte er sein Gedächtnis verloren. Seitdem hat sich niemand mehr mit dem Hund angelegt.
Im Café ist mir aufgefallen, dass das Autokennzeichen von Görlitz GR ist. Das steht auch für Griechenland, und das passt gut zu Görlitz, denn Görlitz hat zweimal in seiner Geschichte Flüchtlinge aus Griechenland aufgenommen, während des 1.Weltkrieg und später, zur Zeit der DDR, während der griechischen Militärdiktatur. Insgesamt 15.000 Griechen lebten zu den verschiedenen Zeiten in Görlitz. Es gab griechische Geschäfte, Restaurants, Tabakläden, eine orthodoxe Kirche, eine griechische Tageszeitung, Ehen zwischen Griechen und Deutschen.
Ich gehe einen steil ansteigenden Weg hinauf und durch einen Torbogen und befinde mich auf einmal wieder vor dem Rathaus, dem Erweiterungsbau. Hatte völlig die Orientierung verloren. Mein nächstes Ziel ist der Stadtpark. Ich muss länger suchen, bis ich das Denkmal für Jakob Böhme finde. Es stammt vom Ende des 19. Jahrhunderts und wurde erst in neuerer Zeit hierher in den Park versetzt. Böhme sieht nachdenklich in die Ferne. In seiner linken Hand die aufgeschlagene Bibel, in der rechten Hand, die er an die Brust presst, hält er eine Feder und auf seinen Knien liegen Schreibbögen. Das Denkmal erfasst einen Moment, wo er Inspiration sucht für einen weiteren Kommentar zur Bibel, die er so anders deutet als seine Zeitgenossen. Zu seinen Füßen liegt ein Stiefel, als Erinnerung an seinen eigentlichen Beruf als Schuhmacher.
Das nächste Denkmal, das von Alexander von Humboldt, suche ich noch länger, nur um am Ende festzustellen, dass ich ganz in der Nähe des Hotels bin. Das Denkmal zeigt nur die Büste Humboldts, auf einem Sockel angebracht. Es erinnert daran, dass Humboldt Setzlinge, die er von seiner Amerika-Reise mitgebracht hatte, hierher nach Görlitz mitbrachte und pflanzte. Ob die Bäume noch stehen? Die wären natürlich ein Denkmal ganz eigener Art. Trotz der umständlichen Suche und des vielleicht nicht so inspirierenden Denkmals bin ich froh, den Weg gemacht zu haben, um hier in einem stillen Moment meinem Idol meine Reverenz zu erweisen.
Am Abend machen wir uns zu zweit auf den Weg zu einem Lokal in der Südstadt, das auch einen besonderen Namen hat: Zum gebratenen Storch, passenderweise am Tiergarten gelegen. Wir machen aber erst noch Halt an der alten Brücke über die Neiße. Hermanito erinnert sich an Szenen aus dem Fernsehen, wo man sah, wie sich während der Pandemiezeit, als hier plötzlich wieder eine Grenze war, der Bürgermeister von Görlitz auf der Mitte der Brücke mit dem Bürgermeister von Sgorselecz traf, um Absprachen zu treffen. Auf einem Schild am Brückeneingang sind die Partnerstädte von Görlitz aufgelistet: Wiesbaden, Amiens, Novy Jicin, Molfetta und natürlich Zgorzelec.
Der Weg ist weiter als gedacht, und dann kommt noch dazu, dass uns der Weg durch eine Baustelle versperrt wird. Wir müssen auf die andere Seite der Bahngleise. Auch dieses Viertel hat viele stattliche Wohnhäuser, viele mit Loggien oder Portalen und mit Stuck an der Fassade. Sie scheinen auch gut in Schuss zu sein.
Dann kommen wir an St. Jakobus vorbei, der Kathedrale von Görlitz, einem etwas erhöht gelegenen neugotischen Backsteinbau mit einem steilen Satteldach und einem Turm mit spitzem Helm. Der Bau der Kirche wurde notwendig, als es in Görlitz einen nach der Industriellen Revolution einen starker Zustrom von Katholiken gab. 1972 entstand durch Trennung von Breslau ein eigenes Bistum, mit der Hl. Hedwig als Kirchenpatronin. Der größte Teil des Bistums liegt in Brandenburg. Nur 3%-5% der Einwohner der Diözese bekennen sich zum Katholizismus, und das macht Görlitz zum kleinsten Bistum Deutschlands.
Dann kommen wir zu dem Lokal. Draußen, in dem Biergarten, sitzt niemand. Aber das Tor steht offen. Drinnen ist auch niemand. Aber dann kommt der Wirt. Ja, das Lokal sei geöffnet und ja, wir bekämen auch was zu essen. Wir könnten uns hinsetzen, wo wir wollen. Den ganzen Abend über bleiben wir die einzigen Gäste. Der Wirt, ein Tscheche, erklärt, dass hier abends in der Regel nicht so viel Betrieb sei, dafür aber tagsüber, wegen des nahegelegenen Tiergartens.
Es gibt Entenbrust mit Rotkohl und Knödeln und Pilsener Urquell, das nicht wie Pilsener Urquell schmeckt.
Der Rückweg führt uns an der erleuchteten Kathedrale und dann an dem erleuchteten Bahnhof vorbei. Dann geht es die Berliner Straße hinunter. Die kennt Hermanito von seiner Odyssee vom Sonntag. Die Berliner Straße ist die wichtigste Einkaufsstraße von Görlitz, was man aber erst merkt, wenn man näher Richtung Stadtmitte kommt. Hier, im unteren Bereich, gibt es tatsächlich eine Menge Geschäfte, aber kaum Geschäfte für den täglichen Bedarf, keine Bäckerei, keine Metzgerei, keinen Supermarkt. Dafür gibt es reichlich Imbissbuden.
Wir kommen wieder über den Postplatz und fragen uns, warum wir bisher noch gar nicht auf die Annenkapelle gestoßen sind, von deren Geschichte der Reiseführer so interessant berichtet. Viel Zeit bleibt nicht mehr. Morgen und übermorgen stehen Ausflüge auf dem Programm, morgen nach Polen, übermorgen nach Zittau.
11. Mai (Mittwoch)
Beim Frühstück erzählt der Busfahrer, er sei zum Tanken nach Zgorzelec gefahren. 100 € gespart. Wir fragen uns, wie sich die Tankstellen in Görlitz überhaupt halten können. Man braucht ja nur kurz über die Brücke fahren. Hermanito sagt aber, er habe drei Tankstellen in unmittelbarer Nähe der Altstadt gesehen.
Heute geht es nach Polen, nach Jelenia Góra. Es geht über die Stadtbrücke, und schon sind wir drüben. Vom Russischen kann ich ein paar polnische Wörter ableiten: uliza, ‚Straße‘, koniec, ‚Ende‘, obuwie, ‚Schuhe‘, und auch der Name des Ortes, in den wir fahren, erschließt sich von selbst: Jelenia Góra ist die wörtliche Übersetzung von Hirschberg. So hieß der Ort früher. Aus einer Handvoll polnischer Wörter, die ich gelernt habe, kenne ich Witamy! Das sieht man hier überall. Es heißt ‚Willkommen!‘.
Man sieht sofort, dass man in einem anderen Land ist, nicht nur wegen der Beschilderungen. Die alten Häuser sind in einem schlechteren Zustand und weniger repräsentativ, und in den Außenbezirken stehen riesige Plattenbausiedlungen. Die waren in den sozialistischen Ländern gar nicht so unbeliebt, wie wir immer meinen. Sie waren besser ausgestattet als die Altstadthäuser, und man hatte alles in erreichbarer Nähe. Zwischen diesen Häusern findet man heute die Segnungen der westlichen Zivilisation: Kaufland, Kik, McDonalds. Und das Schild Zahnarztpraxis soll Patienten aus dem Westen anlocken.
Bald wird es grüner, Wiesen und Wälder, Raps. Dann kommt das Riesengebirge. Es liegt tatsächlich noch Schnee auf den Bergen.
Bei der Ankunft in Jelenia Góra macht Hermanito mich darauf aufmerksam, dass auf den Hinweisschildern unterwegs überall die Entfernungsangaben fehlten Mit einer Ausnahme: Ein Schild mit der Angabe der Entfernung zu McDonald’s.
Wir haben für diesen Tag eine polnische Führerin. Sie spricht gut Deutsch und hat einige erstaunliche Kenntnisse, was die Idiomatik angeht, ringt aber oft mit der Struktur und den Wörtern. Sie spricht mit einem markanten polnischen Akzent und lässt natürlich die Artikel aus: Das ist Sitz von Bürgermeister, gegan-gen, Anfän-ge, im Cherzen der Stadt, Friedchoff, die frihere Nuutzung, den Löfel abgeben, ein Schief an der Fassade.
Im Zentrum angekommen, bekommen wir gleich die Gelegenheit, zur Toilette zu gehen. Die Führerin sagt uns, wir sollten 50 Cent bereithalten, aber als ich die 50 Cent auf dem Teller deponieren will, protestiert die Toilettenfrau energisch: 1 Euro! Die Inflation hat es in sich. Die Toilette hat noch die traditionellen Zeichen für Mann und Frau in Polen: Dreieck und Kreis. Man weiß nie, was was ist.
An unserem Treffpunkt steht ein als Souvenirshop umgearbeiteter Straßenbahnwagen, und im Straßenpflaster hat man ein paar Schienen belassen als Erinnerung an die Straßenbahn, die früher nicht nur innerstädtisch verkehrte, sondern auch in die Orte der Umgebung fuhr.
Durch einen Torbogen betreten wir den Marktplatz, rechteckig, groß. Es ist umstanden von barocken Häusern. Die sind alle gut im Schuss, man hat aber, anders als in Görlitz, den früheren Fassadenschmuck abgekratzt.
Hier auf dem Marktplatz kommt mir wieder in Erinnerung, was der holländische Führer im Schlesischen Museum schon gesagt hatte: Das polnische Wort für Marktplatz, rynek, ist vom deutschen Wort Ring abgeleitet. Es gibt ja runde Marktplätze. Aber als das Wort einmal etabliert war und man die wörtliche Bedeutung vergessen hatte, wurde es auch für eckige Plätze verwandt. Das erklärt auch den Altstädter Ring in Prag. Der Name war mir bis jetzt immer komisch vorgekommen. Eine kleine Lektion in Sprachgeschichte.
Wir kommen zu einer Kirche, die geschlossen ist. Uns interessiert aber nur der Balkon über dem seitlichen Eingangsportal. Der sei in Zeiten der Pest angebracht worden, erfahren wir. Da habe man die Gläubigen nicht in die Kirche gelassen, sondern vom Balkon auf den Platz vor der Kirche hin die Messe gelesen.
Wir kommen über eine Fußgängerstraße und da an einem monumentalen Kaufhaus vorbei, im Jugendstil errichtet, mit viel Beton und Glas und Schmuck an der Fassade. Das Kaufhaus hat auch zwei Untergeschosse – das war damals eine Neuheit. An der Fassade ein Schiff als Symbol des Reichtums des Kaufmanns und zwei Hermesköpfe. Hermes war der antike Gott der Kaufleute. Und der Diebe.
Wir passieren eine kleine Kirche. Es handelt sich um eine ehemalige Friedhofskirche. Die ist jetzt orthodox. Und jeden Sonntag rappelvoll. Schon vor dem Krieg lebten viele Ukrainer hier, jetzt kommen noch die Flüchtlinge hinzu.
Die Führerin erzählt, dass die Kriegsfolgen sich auch bei der Spargelernte in Polen bemerkbar machen. Bisher kam immer ein ganzes Heer ukrainischer Gastarbeiter zur Spargelernte hierher. Die bleiben jetzt aus. Es ist verrückt: So, wie wir die Polen als billige Hilfskräfte ins Land rufen, rufen die Polen die Ukrainer ins Land.
Schon etwas außerhalb der eigentlichen Altstadt stoßen wir auf die abgeschieden hinter Mauern liegende, riesige Garnisonskirche, ein barocker Zentralbau mit Kuppel. An ihr interessiert vor allem die Geschichte. Sie war eine sog. Gnadenkirche. Das sind protestantische Kirchen, die in katholischen Ländern gebaut werden durften, als Konzession, als „Gnade“ sozusagen, der die Andersgläubigen teilhaft wurden. Es gab sechs Gnadenkirchen in Schlesien. Sie stammen aus dem 18. Jahrhundert und sind die Fortsetzung der Friedenskirchen im großen Stil. In diese Kirche passten 4.200 Gläubige, eine riesige Zahl. Sie fanden nicht nur unten, sondern auch auf den drei Emporen Platz. Heute ist die Kirche katholisch. Das ist alles hochinteressant, aber die wichtigsten Fragen bleiben unbeantwortet: Woher kamen die Protestanten? Und: Warum sieht die Kirche so katholisch aus, wenn sie den Evangelischen diente? Das gilt für die Architektur, aber auch für die Ausstattung. Alles, aber auch wirklich alles sieht nach katholischer Kirche aus. Als winzigen Hinweis auf eine protestantische Ausrichtung könnte man allenfalls die Uhr deuten, die Uhr, auf die man sieht, wenn man unter der Kuppel steht, ein außergewöhnlicher Platz für eine Uhr. An dieser Stelle würde man eine Laterne erwarten.
Hier gibt es noch einen kleinen Hinweis auf die Finanzierung der Kirche in Polen. Es gibt keine Kirchensteuer im engeren Sinne, wohl aber eine Abgabe, von genau 1%, bei der der Steuerzahler entscheiden kann, wem sie zugutekommt. Das kann die Kirche sein und ist es oft auch, muss es aber nicht.
Über den historischen Friedhof geht es zurück zum Bus und dann weiter nach Schloss Lomnitz. Hier wartet man schon mit dem Mittagessen auf uns. Das wird draußen unter Sonnenschirmen vor dem Kleinen Schloss serviert.
Schloss Lomnitz ist das Paradebeispiel einer gelungenen Wiederherstellung eines verfallenen Schlosses nach der Wende. Ein riesiges Projekt, das der Enkel des letzten Eigentümers in Angriff genommen hat, nachdem er zusammen mit seiner Ehefrau das Anwesen 1991 besucht hatte. Unglaublich, was sie in den dreißig Jahren aufgebaut haben. Schloss und Gut waren 1945 verstaatlicht worden, das Große Schloss wurde eine Zeitlang als Schule genutzt und verfiel dann zur Ruine. Im kleinen Schloss war die Verwaltung des landwirtschaftlichen Staatsgutes untergebracht, das hier ansässig war. Der Park wurde nicht mehr gepflegt und verwilderte.
Zunächst kauften die beiden das ruinöse Große Schloss, um es einer Totalsanierung zu unterziehen und als Familiensitz zu restaurieren. Dann kauften sie auch das Kleine Schloss, das Witwenschloss, und etwa zehn Hektar Park und Wiese dazu. Das Kleine Schloss wurde saniert und zu einem Hotel mit Restaurant umgebaut. Der große Park wurde schrittweise beräumt und wiederhergestellt. Jetzt kommen auch noch Stallungen und Wirtschaftsgebäude dazu, und man ist dabei, einen Landwirtschaftsbetrieb aufzubauen.
Wir gehen durch das Schloss, wo man auf verschiedenen Etagen Möbel und Accessoires aus der Zeit zusammengetragen hat. Oben ist auch eine Schulklasse aus früheren Zeiten zu sehen.
In einem Film sehen wir, wie über die Jahre Schritt für Schritt die Wiederherstellung gelang. Dabei halfen auch verschiedene Stiftungen, ein Förderverein und private Spender.
Für mich gibt es noch ein interessantes Detail im Park. Dort befindet sich ein Denkmal zur Erinnerung an Stefan Andres, dessen Frau aus Lomnitz stammte. Hier schrieb er seine Novelle El Greco malt den Großinquisitor.
Mit dem Bus geht es zurück nach Jelenia Góra. Unsere Führerin erzählt unterwegs von Hanna Reiß, der deutschen Fliegerin und Rekordpilotin. Sie stammte aus Jelenia Góra. Sie war befreundet mit Beate Uhse, die auch Pilotin war. Wir erfahren auch noch, dass Hauptmann aus dieser Gegend stammte und Fontane in den letzten Jahren seines Lebens immer wieder hierherkam. Dann verabschiedet sich unsere Führerin, und wir fahren nach Görlitz zurück.
Am Abend gehe ich mit Hermanito ins Schankhaus zum Nachtschmied am Obermarkt. Der Name bezieht sich auf eine Legende, derzufolge ein Schmied seinen tüchtigen Gesellen alle Arbeit machen ließ und sich selbst in der Schenke vergnügte. Das musste natürlich schlecht ausgehen. Irgendwann wollte er um die Mitternachtsstunde nach dem Rechten sehen und bemerkte, dass in einem Gitter ein Ring fehlte. Daraufhin legte er selbst Hand an und alles zersprang wie Glas. Seitdem muss der Meister schmieden in alle Ewigkeit.
Es gibt kleine Spezialitäten zu essen, und wieder können wir draußen sitzen. Hier am Obermarkt sieht und riecht man überall den Blauregen, den Hermanito leicht erkennen kann, weil er ihn auch im eigenen Garten hat. Blauregen sehen wir in diesen Tagen immer wieder, genauso wie Flieder.
Auf dem Weg vom Hotel hierher sind wir an der Synagoge vorbeigekommen, einem großen Bau, der aus nicht ganz geklärten Gründen die Reichskristallnacht überlebte. Sie wurde zwar in Brand gesteckt, aber gelöscht. Die Synagoge wurde im Jugendstil errichtet und 1911 eingeweiht. Heute dient die Synagoge als Kulturzentrum, nachdem sie zwischenzeitlich baufällig war und bis 2010 restauriert wurde. Bei der Restaurierung fanden die Restauratoren zwei eingemauerte linke Schuhe, einen Damenschuh und einen Herrenschuh. Was deren rituelle Funktion war, ist bis heute nicht bekannt.
Dann machen wir uns auf die Suche nach der Annenkapelle. Von der haben wir beide im Reiseführer gelesen, sie aber bisher nie gesehen. Dann stellt sich heraus, dass wir schon mehrmals an ihr vorbeigekommen sind. Allerdings ist sie von hinten durch einen Anbau kaum als Kirche zu erkennen. Die Annenkapelle ist das Resultat der Initiative eines Kaufmanns, Hans Frenzel (XVI), der ein Gelübde erfüllen und deshalb eine Kirche errichten wollte. Die Erlaubnis zur Errichtung der Kirche wurde ihm aber verweigert. Das stehe nur Regenten und Städten zu, sagte man ihm. Bis dahin war als einzige Ausnahme den Fuggern die Erlaubnis erteilt worden, eine Kirche zu bauen. Frenzel ließ nicht locker, bekam am Ende die Erlaubnis und baute die Kirche. Die Bezeichnung Kapelle könnte eher eine Finte sein, um die Erlaubnis zu bekommen, denn die Annenkapelle ist eher eine Kirche. Heute dient sie als Turnhalle und Aula.
Dann sehen wir uns noch die Rathauswaage an, den letzten Renaissancebau von Görlitz. An den schlanken Pfeilern mit Konsolen hat man Porträtbüsten angebracht, aber sie sind sehr dunkel und die Dargestellten schlecht zu erkennen. Was den Namen des Gebäudes angeht, liegt Hermanito richtig: In der Ratswaage wurden Handelswaren gewogen. Das diente einmal der Gewichtsbestimmung der Waren, aber auch der Steuererhebung. Im Internet stoße ich auf die Ratswaage von Gouda, die an der Fassade ein Relief hat, das den Vorgang des Wiegens darstellt.
Schließlich suchen wir noch die Herberge Zum Sechsten Gebot. Der Name erinnert an die Vergangenheit des Viertels, in dem käufliche Liebe zu haben waren. Die Mädchen mit angesteckter roter Rose boten hier ihre Dienste an. Die Zählweise der Zehn Gebote ist allerdings nicht so eindeutig, wie man meinen sollte. Für einige christliche Konfessionen und für die Juden ist das Sechste Gebot das Mordverbot, und das Ehebruchsverbot ist das Siebte Gebot.
12. Mai (Donnerstag)
Heute geht es nach Zittau. Die Fahrt ist mühsam. Für die kurze Strecke benötigen wir eine ganze Stunde. Unterwegs kommen wir an der Landeskrone vorbei, dem Hausberg von Görlitz und dem Namensgeber des Biers.
Hier bilden die hellgelben Rapsfelder ein schönes Muster mit den abwechselnd auftretenden dunkelgrünen Getreidefeldern.
In Zittau angekommen, geht es gleich zum Rathaus, einem riesigen Zentralbau auf dem schmucken Marktplatz. Im Rathaus werden wir in einen repräsentativen Empfangssaal geführt und dort von einem Mann begrüßt, der über die interkommunale Zusammenarbeit zwischen den grenznahen Städten von Deutschland, Polen und Tschechien in dieser Region referiert. Er macht das sehr gut, sachlich, ruhig, kritisch.
Er erklärt, dass der Neubau des Rathauses im italienischen Palazzo-Stil eigentlich ein Stilbruch war. Er passt nicht zu der barocken Architektur des Marktplatzes. Inzwischen gibt er aber Zittau eine Art Alleinstellungsmerkmal. Etwas Vergleichbares gibt es in der Umgebung nicht.
Es geht los mit einer Klage über den immer wieder verschobenen Ausbau einer Landstraße, die für Zittau eine schlechte Autobahnverbindung nach Dresden bedeutet. Die nach Prag ist dagegen sehr gut.
Zittau liegt an einem Dreiländereck Deutschland-Polen-Tschechien. Während die Zusammenarbeit mit Tschechien, in diesem Fall mit Liberec, gut funktioniere, sei die mit Polen viel schwieriger. Das liege auch daran, dass man jenseits der Grenze keinen Ort, sondern ein Loch habe. Dort befindet sich ein Kohleabbaugebiet, und erst hinter diesem Gebiet gibt es Ortschaften. Man ist also von vornherein stärker voneinander abgetrennt. Dazu komme die Tradition. In Zeiten der DDR sei die Grenze zur CSSR offener gewesen. Dorthin hätte man, wenn man Glück hatte, auch mal reisen können, um dort Urlaub zu machen. In Polen war das so gut wie unmöglich, erst recht seit dem Aufkommen von Solidarnosc. Da wäre einzig ein Verwandtenbesuch als Grund für eine Reise denkbar gewesen. Zwischen den Zeilen klingt allerdings auch an, dass die Bereitschaft zur Zusammenarbeit in Tschechien größer ist als in Polen.
Die Stelle, an der die drei Länder aufeinandertreffen, sei bisher nur mit drei Fähnchen markiert. Man habe sich etwas Interessanteres ausgedacht, wohl wissend, dass solche deutlich markierten Stellen Besucher anlocken. Da sei die Idee von einer dreischenkligen Brücke aufgekommen, über die man in die drei Länder gehen kann. Das scheiterte dann aber an der Rechtslage. Im EU-Recht sind keine solche trilateralen Projekte vorgesehen. Man habe dann überlegt, erst einmal eine Brücke mit Tschechien zu bauen, habe aber auch Polen nicht brüskieren wollen.
Gut funktioniere die Zusammenarbeit auf der untersten Ebene, auf der Ebene des Sportvereins und der Kaninchenzüchter. Die seien ein Selbstläufer, da komme man auch ohne große gemeinsame Sprachkenntnisse zurecht.
In Zittau kann man inzwischen Polnisch oder Tschechisch an der Schule lernen, aber wie viel Gebrauch davon gemacht wird, erfährt man nicht. Er selbst habe in der Schule noch Russisch gelernt, sagt der Referent, nicht Polnisch oder Tschechisch, und nach der Wende habe es dann immer noch kein Polnisch oder Tschechisch gegeben, sondern Englisch und Französisch.
Zittau hat heute 25.000 Einwohner, hatte früher mehr und hätte auch Platz für mehr. Nach der starken Abwanderung nach der Wende habe man jetzt ein Gleichgewicht von Zuwanderung und Abwanderung erreicht, aber dennoch schwinde die Bevölkerungszahl weiterhin wegen des hohen Durchschnittsalters der Bevölkerung. Es gibt mehr Sterbefälle als Geburten.
Und es sei weiterhin schwer, Fachkräfte nach Zittau zu locken. Das beste Beispiel: Ein Investor habe ein Grundstück am Marktplatz gekauft und dort ein Hotel mit Restaurant eröffnet. Seit der Eröffnung im November versuche er vergeblich, einen Koch zu finden.
Die alten Stärken von Zittau waren Textilherstellung, Fahrzeugbau und Kohleabbau. Davon habe nur die Textilherstellung überlebt. Die blühe und gedeihe und sei jetzt viel effizienter geworden. Das habe aber auch zur Folge, dass weniger Arbeitskräfte benötigt würden.
Für die Stimmungslage in Zittau ist auch nicht außer Acht zu lassen, dass man sieht, wie hier der Kohlebergbau beendet wurde, unter Verlust von Arbeitsplätzen und Wirtschaftskraft, während ein paar Kilometer weiter, jenseits der Grenze, in Polen, fröhlich weiter Kohle abgebaut wird. Dabei rückt das Abbaugebiet immer näher an die Grenze. So dass man sogar befürchtet, langfristig könne das Trinkwasser darunter leiden. Tschechien ist inzwischen deswegen gegen Polen vor Gericht gezogen.
Noch ein Beispiel für die Hürden bei der Zusammenarbeit: Als die Corona-Epidemie auf dem Höhepunkt und Tschechien noch stärker als Deutschland betroffen war, bot Zittau Krankenhausbetten auf der Intensivstation für Infizierte aus Tschechien an. Das Angebot konnte aber nicht angenommen werden. Es scheiterte an der Finanzierung. Niemand war bereit, die Kosten zu tragen.
Ein gutes Beispiel für die Zusammenarbeit seien die Volksfeste. Da kämen viele Besucher aus den Nachbarländern. Zittau profitiere dabei als die kleinere Stadt mehr von Liberec als umgekehrt. Bei den Volksfesten patrouillierten Polizisten aus allen drei Ländern, um Randalierer abzuschrecken, mit Erfolg.
Auch bei der Verbrecherjagd habe man Fortschritte gemacht. Die Polizei jedes der drei Länder könne jetzt bis zu einer gewissen Grenze im Territorium des Nachbarlandes agieren und brauche nicht mehr an der Grenze stehenzubleiben.
Ein Satz, eher beiläufig gesagt, bleibt mir aus dem Vortrag besonders in Erinnerung: Die Bürger der DDR hätten schnell gemerkt, dass mit dem Fall der Mauer die Grenzen nach Westen offen geworden waren, hätten aber lange gebraucht, um zu merken, dass auch die Grenzen nach Osten offen geworden waren.
Nach dem Vortrag haben wir noch Zeit, uns in Zittau umzusehen. Ich gehe mit Hermanito aber erst in ein Speiselokal, wo wir uns stärken. Hermanito begnügt sich mit einer Kleinigkeit, aber ich bestelle Teichlmauke, ein Gericht, dass die Speisekarte als „Nationalgericht der Oberlausitz“ ankündigt. Es wird wahlweise mit oder ohne Furzwulle serviert (womit wohl Sauerkraut gemeint ist). Das Gericht besteht aus Kartoffelpüree, gekochtem Rindfleisch, Brühe und eben Sauerkraut. Das Kartoffelpüree (die Mauke) wird so auf dem Teller angerichtet, dass es einen Kreis bildet und in der Mitte ein Loch freilässt. In dieses Lochen kommen das Rindfleisch und die Brühe und dann oben drauf das Sauerkraut. Bodenständige Kost, schmackhaft, auch wenn kein kulinarischer Hochgenuss. Wie so oft in diesen Tagen fehlt es an Salz.
Das Lokal, in dem wir gelandet sind, heißt Zum Alten Sack, und wir lassen uns nicht die Gelegenheit entgehen, uns unter dem Eingangsportal gegenseitig zu photographieren. Das Lokal befindet sich in einem historischen Gebäude, dem Salzhaus, das uns schon bei der Fahrt in die Stadt aufgefallen war. Es ist ein grau verputztes Haus mit einem Treppengiebel und diente ursprünglich zur Lagerung von Salz (daher Zum Alten Sack). Das Haus war ursprünglich vierstöckig, wurde aber später sogar noch aufgestockt, sichtbares Zeichen für die Bedeutung des Salzes in der Vergangenheit. Heute ist im Erdgeschoss das Lokal untergebracht, in den oberen Etagen gibt es Geschäftsräume, eine Bank und die Volkshochschule.
Auf dem Platz davor steht ein Brunnen mit einem keuleschwingenden Herkules ganz oben, eine Reverenz der Stadt an August den Starken. An einer der Brunnenschalen sieht man, wie Herkules schon als Baby die Schlangen erwürgt, die ihm die eifersüchtige Hera ins Körbchen gelegt hat.
Wir kommen an einem riesigen Gebäude mit Turm vorbei, das sich zu unserer Überraschung als Gymnasium entpuppt, eines der ältesten von ganz Mitteldeutschland. Es geht auf das 16. Jahrhundert zurück.
Ganz in der Nähe ein schönes Renaissancehaus, Wohnhaus und Handelskontor eines Kaufmanns, und, ganz in der Nähe, eine völlig überdimensionierte Kirche, wie man sie in einer Altstadt nicht erwarten würde.
Einige Rätsel gibt uns die ehemalige Franziskanerkirche auf. Sie ist heute Museum. Sie muss eine bewegte Baugeschichte haben. Man weiß kaum, wo hinten und vorne ist. An das gotische Langhaus sind zu einer Seite barocke Portale und Kapellen angefügt, an einem Ende ist die Kirche durch einen profanen Bau verlängert worden, dessen Funktion man nicht so richtig erkennt. Und dann entdecken wir auch noch, als wir uns auf Umwegen durch einen Häuserdurchgang noch einmal von der anderen Seite der Kirche nähern, dass auch der Hefftergiebel, ein Renaissancegiebel, der eher zu einem Rathaus oder einem Tanzhaus passen würde, Teil der Kirche ist.
Am Rande der Altstadt werfen wir einen kurzen Blick auf das Gerhard-Hauptmann-Theater. Unsere polnische Führerin hatte uns ja schon gesagt, dass Hauptmann aus dieser Gegend stammte. Und seine Weber spielen ja hier in Schlesien
Dann geht es zurück zum Rathausplatz. Dort sehen wir an einer Apotheke das Relief eines Kranichs und erfahren, dass der symbolisch für den Apothekerberuf steht. Hier am Marktplatz legen wir eine Kaffeepause ein. Es ist sommerlich warm, und die Terrasse ist gut besetzt, auch von unseren Mitreisenden.
Während der Pause lasse ich Revue passieren, was ich dieser Tage im Radio über Die Weber von Hauptmann gehört habe. Das Stück hat immer als aufrührerisch gegolten und wurde von den Nazis, die Hauptmann eigentlich hoffierten, verboten. Aber das Stück, so eindrucksvoll es auch sein mag, ist ein historisches Missverständnis. Die Aufständischen waren keine frühen Helden der Arbeiterbewegung, des Klassenkampfs (wie es auch Marx sah). Die aufständischen Weber waren nicht so bitter arm, wie allgemein angenommen wird. Es waren relativ besser gestellte Weber, die Baumwollweber, nicht die verarmten Leinenweber. Nicht die nackte Verzweiflung trieb sie, sondern die Angst vor dem sozialen Abstieg. Der Aufstand war auch kein Maschinensturm. Die Weber hatten Angst vor der Konkurrenz nicht ortsansässiger Weber. Von den mechanischen Webstühlen in England wussten sie gar nichts.
Dann geht es zurück zum Bus, der uns zu dem letzten Ziel bringt, St. Marienthal, einem in einem Tal gelegenen Zisterzienserkloster.
Man kriegt den Mund gar nicht mehr zu, wenn man auf das Gelände kommt. Es ist riesig. Dominiert wird die Szenerie von einer riesigen, barocken Kirche, wie man sie bei Zisterziensern gar nicht vermuten würde. Drum herum gruppieren sich alle möglichen Wirtschafts- und Verwaltungsgebäude.
Wir werden in einen Vortragssaal geführt und dort von dem Direktor der Stiftung mit folgenden Worten begrüßt: „Willkommen in St. Marienthal. Genauer gesagt: Willkommen bei der Stiftung St. Marienthal. Genauer gesagt: Willkommen im Kuhstall der Stiftung St. Marienthal.“ Tatsächlich befinden wir uns im ehemaligen Kuhstall des Klosters. Der Referent ist der Direktor der Stiftung St. Marienthal. Über die werden wir später noch etwas erfahren.
Zuerst geht es aber um das Friedensfest, das seit einigen Jahren in Ostritz, zu dem St. Marienthal gehört, ausgerichtet wird. Der Anlass war der Kauf eines renommierten Hotels in Ostritz durch einen Neo-Nazi, der das Hotel für ein Treffen von Rechtsradikalen zur Verfügung stellte. Zu verhindern war das nicht, aber man organisierte als Gegenentwurf ein Friedensfest. Dazu kam noch einen Gegenveranstaltung der Linken. Da Ausschreitungen befürchtet wurden, fanden die Treffen unter starkem Polizeischutz statt, mit Polizisten, die aus verschiedenen Bundesländern rekrutiert wurden. Alles verlief friedlich.
Das Friedensfest hat jetzt schon eine gewisse Tradition. Jedes Jahr steht es unter einem anderen Motto. Und es hat weit über Ostritz und Sachsen hinaus Aufmerksamkeit erregt, vor allem in einem Jahr, als man in einer verrückten Aktion (fast) den gesamten Alkoholvorrat des einzigen Supermarkts von Ostritz aufkaufte und den Neonazis damit den Spaß verdarb. Darüber wurde in den überregionalen Zeitungen in Deutschland, aber auch in Zeitungen in Spanien, Italien und sogar China berichtet! Man hört dem Mann gerne zu, er schildert die Details mit sehr lebendig und mit viel Humor.
In der anschließenden Diskussion werden die Gegenargumente besprochen: Was bewirken solche Feste? Schenkt man den Neonazis nicht mehr Aufmerksamkeit, als sie verdienen? Sollte man sie nicht einfach gewähren lassen? Wenn man ihnen Ostritz verleidet als Austragungsort ihrer Treffen, werden sie nicht einfach woanders hingehen? Wen erreicht man mit solchen Festen? Nehmen da nicht ohnehin diejenigen teil, die man sowieso auf seiner Seite hat? Der Mann geht sehr souverän mit diesen Fragen um, sagt, das sei wohl alles wahr, aber man habe einfach ein Zeichen setzen wollen.
Über das Neonazitreffen kommt die Diskussion auf die Lage in Ostritz nach der Wende. Der Mann argumentiert, es habe unglaubliche Fortschritte gegeben, die könne man einfach nicht leugnen: Sanierung von Häusern, Bau eines Altersheims, bessere Verkehrsanbindung, Bau einer Kläranlage und eine perfekte, vermutlich einzigartige Selbstversorgung mit Energie. Ostritz ist der einzige Ort in Deutschland, der sich zu 100% selbst versorgt. Der Strom wird durch Windkraft, Wasserkraft und Solaranlagen erzeugt, die Wärme wird durch ein Biomasseheizkraftwerk erzeugt, das Regenwasser wird gesammelt, das Abwasser in einer Pflanzenkläranlage gereinigt. Vorbildlich.
Der Referent sieht aber auch, wie viele Einwohner von Ostritz sich fühlen: Die jungen Leute wandern ab, die Bevölkerung ist von 5.000 auf 2.500 Einwohner zurückgegangen, Betriebe wurden geschlossen, die Realschule wurde geschlossen, ebenso Bäckerei und Metzgerei. Man fühlt sich abgehängt, vom Westen überfremdet, fühlt, dass die eigene Lebensleistung nicht zählt. Mir leuchtet das alles ein. Kein Wunder, dass hier die AfD Zulauf hat.
Dann geht es in einen anderen Saal, immer noch Teil des Kuhstalls, und hier gibt es Kaffee und Kuchen. Dabei werden wir in die Geschichte des Klosters und die der Stiftung eingeführt.
1-2-3-4 – so leicht sei es, sich das Gründungdatum des Klosters zu merken: 1234. Seitdem hat das Kloster – ein Nonnenkloster – ununterbrochen Bestand. Die Zahl der Nonnen ist, wie zu erwarten war, in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen. Jetzt sind es nur noch acht Nonnen, davon zwei bettlägerig und pflegebedürftig.
Der Rückgang der Zahl der Nonnen führte 1992 zur Gründung der Stiftung. Ihr Ziel war es, die alten Wirtschafts- und Gewerbegebäude einem neuen Zweck zuzuführen. Es sollte ein internationales Begegnungs- und Bildungszentrum entstehen. Das ist gelungen, gegen alle Widerstände und über alle Hindernisse hinweg. Inzwischen hat man ein Gästehaus eingerichtet und 16.000 Übernachten pro Jahr!
Die Anfänge waren dornig. Die Nonnen hatten Geld zusammengebettelt, das aber nicht mehr als eine Starthilfe war. Es mussten weitere Geldquellen erschlossen werden, aber das Bistum Görlitz und das Bistum Dresden zeigten kein Interesse, Bund und Land ebenso wenig. Dann sagte der Bischof von Hildesheim für zwei Jahre seine finanzielle Unterstützung zu. Man sanierte das erste Gebäude und lancierte die ersten Projekte. Der Beginn einer Erfolgsgeschichte. Am Anfang bestand die Belegschaft nur aus unserem Mann (dem Stiftungsdirektor), einer Sekretärin, einem Hausmeister und einem Assistenten, inzwischen hat man 50 Mitarbeiter.
Dann werden wir über das Gelände geführt. Alle Gebäude – die ehemalige Wagenremise, die ehemalige Brauerei, die Pferde- und Kuhställe, der Speisesaal – alles ist in perfektem Zustand und kann jetzt andere Funktionen erfüllen. Man hat einen Garten mit Bibelpflanzen angelegt, man hat in der Brauerei ein Informationszentrum eingerichtet, man hat eine Ausstellung unter dem Motto Ora et Labora eröffnet, und man hat sogar den alten Weinberg in mühsamer Kleinarbeit wieder hergestellt. Er ist der östlichste Weinberg Deutschlands. Es werden nur ca. 1.000 Flaschen pro Jahr abgefüllt, und die sind fast ausschließlich für den Eigenbedarf und die Weinbergbetreiber. Bier der Marke St. Marienthal wird in Lizenz von einer lokalen Brauerei gebraut.
Einen bösen Rückschlag gab es 2010: Hochwasser. Das Kloster liegt direkt an der Neiße. Man hatte gerade drei Jahre zuvor einen Hochwasserschutz mit hochfahrbaren Wänden angebracht. Aber die waren, entgegen allen Prognosen, nicht hoch genug. Alle Gebäude wurden überflutet, es entstanden große materielle und finanzielle Schäden. Man ließ sich davon aber nicht entmutigen, packte die Sanierung an und stellte alles wieder her. Jetzt gibt es auch einen zweiten Hochwasserschutz an Fenstern und Türen.
Es kommt die Frage auf, wie man denn mit Corona zurechtgekommen sei. Die Antwort: Hervorragend. Man habe finanzielle Hilfen und Kredite bekommen, und die Kredite inzwischen sogar zurückbezahlt. Mit der verrückten Folge, dass das Abrechnungsjahr 2021 bisher das beste in der Geschichte der Stiftung gewesen ist. Unglaublich. Der Stiftungsleiter macht Andeutungen, dass bei denjenigen, die sich beklagen über ausgebliebene oder unzureichende Unterstützung, irgendetwas nicht in Ordnung war mit den Abrechnungen der Vorjahre.
Direkt durch das Gelände führt der Oder-Neiße-Radweg, und Hermanito und ich haben denselben Gedanken: Könnte man auch mal machen. Von den Radfahrern profitiert die Stiftung aber nicht besonders. Die meisten, heißt es, führen nicht an der Quelle, sondern in Görlitz los, und da sei St. Marienthal zu nah für die erste Station. Wir nehmen uns vor, es anders zu machen und den Weg so zu planen, dass wir einen Halt hier in St. Marienthal einlegen.
Der Applaus am Ende des Rundgangs ist der lauteste, den es auf der Reise für einen Referenten gegeben hat. Nicht umsonst.
Dann geht es zurück nach Görlitz und direkt ins St. Jonathan, dem vielleicht schönsten Lokal von Görlitz, in einem alten Patrizierhaus untergebracht.
Vor dem Essen gibt es Zeit für das Feedback zu der Reise. Es bestätigt sich, was Hermanito schon von anderen Reisen mit der Organisation berichtet hat: Die Reaktionen sind unberechenbar und die Meinungen zu den einzelnen Punkten divergieren stark. Mich interessiert in erster Linie, warum Zgorzelec so wenig vorgekommen ist. Die Doppelstadt Görlitz-Zgorzelec war doch das Thema der Reise. Es heißt, in Zgorzelec, gebe es nichts zu sehen, die Stadtführer weigerten sich, über die Brücke zu gehen, und von polnischer Seite gebe es wenig Interesse an einer Zusammenarbeit. Es gibt aber in Zgorzelec zumindest eine Jacob-Böhme Gedenkstätte, ein Stellmacherhaus als Beispiel der Oberlausitzer Volksarchitektur, ein Kulturhaus und ein (als Gegenstück zum Schlesischen Museum konzipiertes) Lausitzmuseum. Da hätte man vielleicht erfahren, was es denn mit der Lausitz auf sich hat, so wie wir im Schlesischen Museum erfahren haben, was es mit Schlesien auf sich hat.
Dann gibt es das abschließende Essen, ein kulinarischer Genuss. Vom Rindfleisch über das Schweinefleisch bis zu Käse und selbst gebackenem Brot ist alles erste Sahne. Einige von und wollen wissen, wie man denn so ein zartes Rindfleisch hinbekommen kann. Die Antwort aus der Küche: 48 Stunden bei 60 Grad.