Panama (2024)

28. Dezember (Samstag)

„Oh, wie schön ist Panama!“ Der kleine Bär und der kleine Tiger, der eine ein guter Fischer, der andere ein versierter Pilzsammler, leben zufrieden am Ufer eines Flusses. Eines Tages fischt der Bär eine leere Kiste aus dem Wasser, die nach Bananen riecht. Auf der Kiste steht Panama. Der Bär glaubt, das müsse das glücklichste Land auf Erden sein, und überzeugt den Tiger, sich auf die Suche nach diesem gelobten Land zu machen. Sie verlaufen sich, werden in die falsche Richtung geschickt, begegnen immer wieder Tieren, die auch nicht wissen, wo Panama ist. Also drehen sie sich im Kreis und kommen eines Tages, ohne es zu merken, an ihren alten Wohnort am Fluss zurück. Alles hat sich verändert, das Haus ist durch die Witterung angegriffen, die Bäume sind gewachsen, die Brücke ist nicht mehr intakt. Die Veränderungen sind so groß, dass sie ihr altes Zuhause nicht mehr erkennen. Vor ihrem Haus finden sie die Reste des Schilds, auf dem Panama steht. Es hat sich von der Kiste gelöst. Sie halten es für ein Ortsschild und glauben, in Panama angekommen zu sein. Sie reparieren das Haus und sind glücklich, im Land ihrer Träume angekommen zu sein.

„Oh, wie schön ist Panama!“ ist eine der ersten Assoziationen, die man mit Panama hat. Noch enger verbindet man das Land mit dem Panama-Hut und dem Panama-Kanal. Auf beides werde ich im Laufe der Reise stoßen.

Erst einmal geht es darum, überhaupt anzukommen. Dazu bedurfte es gestern einer langen, zehnstündigen Fahrt in einem glücklicherweise bequemen Reisebus.

Zehn Stunden wegen des starken Verkehrs. Hätte noch schlimmer kommen können, wenn die Grenzprozeduren nicht einigermaßen zügig über die Bühne gegangen wären. Es war schon spät, und wir waren nur eine kleine Gruppe im Bus.

In Panama wird an der Grenze das Gepäck nicht kontrolliert, aber es wird streng darauf geachtet, dass man einen Nachweis über die Ausreise hat. Und man muss ein Formular ausfüllen, das es in sich hat und unter anderem nach dem Autokennzeichen des Buses fragt. Das war mir zu dumm, und ich habe einfach eins erfunden. Hat keiner gemerkt.  

Der heftige Regen, der uns die ganze Fahrt begleitete, lässt nach, als wir nach David reinkommen. Bei der Einfahrt in den Ort über eine unendlich lange, vierspurige, schnurgerade verlaufende Straße hat man den Eindruck, in eine US-Metropole einzufahren. Ich hatte mir David viel kleiner vorgestellt, aber es hat 400.000 Einwohner und ist die zweitgrößte Stadt Panamas.

Ich bin der einzige, der hier aussteigt. Alle anderen fahren weiter nach Panama-Stadt. Sie haben noch fünf Stunden Fahrt vor sich.

Die Haltestelle ist direkt an der Straße, über die wir gekommen sind, nicht an einem Busbahnhof. Taxis fahren auf der Straße entlang, halten aber nicht an. Alle sind ohnehin auf der Überholspur. Aber dann merkt einer, dass ich dort stehe, fährt in einem Bogen in das Viertel ein und nimmt mich auf. 4 Dollar will er haben. Am Ende gebe ich ihm 5, einfach aus Erleichterung, angekommen zu sein. Die Vermieterin sagt mir später, ich solle demnächst höchstens 3 zahlen, die Einheimischen zahlten nur 2.

Der Taxifahrer scheint sich aber seine Dollars verdienen zu wollen. Die Fahrt zieht sich hin. Der großstädtische Eindruck von der Einfahrt in die Stadt verschwindet sofort. Wir kommen in dunkle Viertel, ohne Häuser. Ich fürchte schon, dass das nicht mit rechten Dingen zugeht, aber dann stehen wir vor einem erleuchteten Haus, und auf das Hupen hin erscheint sofort Melisa, die Vermieterin.

Sie ist nett und gesprächig und hilfsbereit und führt mich in das kleine, aber gemütliche Apartment, das alles hat, was man braucht. Es laufen gleich drei Ventilatoren, zwei mache ich kurz danach aus.

Sie erklärt mir alles, fragt nach der Reise und erzählt von anderen Gästen. Die meisten würden ins Zentrum am liebsten zu Fuß gehen, das dauere eine knappe Viertelstunde. Da haben wir mit dem Taxi länger gebraucht. Einen Supermarkt gebe es gleich um die Ecke. Und das Leitungswasser könne man trinken.

Der Regen hat am Abend aufgehört, so dass ich trockenen Fußes in die Unterkunft gekommen bin. Dann ist es wieder volle Kanne losgegangen. Der Regen hält die ganze Nacht durch und auch am Morgen lässt er nicht nach.

Am späten Vormittag wird aus dem Sturzregen auf einmal Nieselregen, und ich mache mich gleich auf den Weg. Als erstes bewundere ich den schön hergerichteten Vorgarten mit seinen üppigen Pflanzen und schüttele den Kopf über die überbordende Weihnachtsdekoration, die Melisa an der Fassade angebracht hat. Sie lässt kein Klischee aus: Weihnachtsmann, Schneemann, Glocke, Kugel, Schleifchen, buntes Lametta, künstliches Tannengrün, Säckchen für die Geschenke und Merry Christmas neben Feliz Navidad.  

Was mir auf der Straße als erstes ins Auge fällt: ein Auge. Auf einem Schild. Darauf ist nichts zu sehen außer dem Auge. Muss eine Anspielung sein auf die zweite Bedeutung von ojo im Spanischen: Vorsicht! Scheint hier auch angebracht, denn gleich hinter dem Schild tut sich im Bürgersteig ein Graben auf. Das ist aber nicht gemeint. Auf den anderen Schildern mit Auge steht ein Text. Eine Warnung der Nachbarschaft an Diebe, Gauner, Räuber: Vorsicht! Wir haben dich im Auge!

Es ist kein Mensch unterwegs, und die Gegend sieht bei dem grauen Himmel trotz der Bäume und Sträucher, darunter einige echte Baumriesen, ziemlich trostlos aus. Überall Pfützen, aufgeweichte Wege, feuchtes Laub.

Dann sehe ich an der Bushaltestelle einen Mann, der dort mit Tüten hantiert. Ich frage ihn nach dem Weg zum Supermarkt. Den erklärt er mir sofort. Er selbst, sagt er, komme gar nicht von hier, sondern aus Boquerón. Er ist sehr erfreut, als er hört, dass das mein nächstes Ziel ist, obwohl ich etwas mit den Namen durcheinander komme. Boquete? Boquerón? Egal, er meint, die ganze Gegend dort heiße so. Er reicht mir die Hand und stellt sich vor. Er heißt Willam.  

Ich frage nach den Tüten, mit denen er herumhantiert. Die enthalten Leckereien, die er hier unter die Leute bringt, Hausmannskost sozusagen. Er hat Stammkunden in diesem Viertel. Mir verkauft er einen tamal – braucht man nur im Wasser zu erhitzen – und eine süße Masse, die sabemebien heißt. Hört sich vielversprechend an. Dazu, wie so oft in Lateinamerika, gibt es Käse.

Der Weg zum Supermarkt, dem Romero, ist wirklich kurz, nur einmal die Straße rauf. Der Supermarkt ist gut sortiert. Die Sonnencreme lacht mich höhnisch an, und die Regenschirme stimmen ein.

Die Hygieneartikel sind teuer – das Rasiergel kostet 11 $ – das Obst ist günstig.

Alle Preise sind in Dollar angegeben, vom Balboa ist nur auf einem Hinweisschild am Ausgang die Rede. Nach Ecuador und El Salvador ist Panama das dritte Land, das ich kenne, in dem außerhalb der USA der Dollar gilt. Es gibt aber einen Unterschied: In Ecuador und El Salvador wurde der Dollar vor 20 Jahren eingeführt, in Panama war er schon seit der Unabhängigkeit 1903 in Gebrauch und wurde 1941 zur offiziellen Zweitwährung gemacht.  

Der Balboa ist benannt nach Núñez de Balboa, dem spanischen Entdecker, Eroberer und Abenteurer. Er war der erste Europäer, der, nach einer fürchterlichen, qualvollen Durchquerung Panamas, den Pazifik gesehen hat. Datum und Stunde sind genau überliefert: 25. September 1513, um 11 Uhr vormittags. Ich hoffe, im Laufe der Weiterreise noch mal auf diesen Haudegen und seine abenteuerliche Biographie zu treffen.

Als ich mich auf den Rückweg mache, hat der Regen wieder voll eingesetzt. Mir fällt ein Auto ins Auge, das kein Nummernschild hat. Und dann noch eins. Und noch eins. There’s system in the madness. Erst dann merke ich, dass sie hinten sehr wohl ein Nummernschild haben, nur vorne keins. Das ist hier die Regel.

Zuhause esse ich den Tamal und probiere etwas von dem Süßen mit Käse. Diese Kombination ist in ganz Lateinamerika bekannt. Das Süße schmeckt etwa nach Schokoladenpudding, ziemlich fest in der Konsistenz. Der Käse ist salzig, hat mehr Geschmack als der andere Käse, den man hier bekommt.

Bin am Ende froh, wenigstens kurz draußen gewesen zu sein und schon die eine oder andere Entdeckung gemacht zu haben.

29. Dezember (Sonntag)

Die Hähne krähen früh, längst vor Sonnenaufgang. Spätestens ab 4 Uhr sind sie aktiv. Sie brauchen kein Tageslicht, um zu wissen, dass der Tag beginnt. Sie haben eine innere Uhr. Das haben japanische Forscher festgestellt, die sie mehrere Tage lang im Dämmerlicht  hielten. Die Hähne fingen dennoch vor Sonnenaufgang an zu krähen. Sie krähen auch den Tag über, nicht weniger als am Morgen, aber das Krähen in die morgendliche Stille hinein fällt uns besonders auf. Deshalb verbinden wir das Krähen der Hähne mit dem Tagesanbruch.

Es regnet nicht, und ich mache mich früh auf die Socken. Kaum bin ich aus dem Haus, schon hält ein Taxi. Der Fahrer will mich für 2 $ ins Zentrum fahren. Aber nicht zum Parque Central. Ich meine bestimmt den Parque Cervantes, sagt er.

Er arbeitet auch am Sonntag? Ja, sagt er, und zeigt auf seine Hose. Eine Arbeitshose mit großen Taschen und Leuchtstreifen. Er repariert Kabel. Das ist sein Zweitjob.

Am Straßenrand ein Bulldozer und Bauarbeiter. Die setzen die Straße instand. Es hat Schäden gegeben infolge der Überschwemmungen.

Ja, den Regen werden wir wohl vorläufig nicht loswerden, der halte bis in den Januar hinein an, sagt der Fahrer. Nein, sagt er, das sei völlig anormal für die Jahreszeit.

Er setzt mich am Parque Cervantes ab. Der ist zwar nicht hässlich, aber auch nichts Besonderes. Man wundert sich über manche der Bewertungen im Internet.

Auf den Platz zerstreut sieht man Drahtgestelle, die Rentiere darstellen und Sterne und Laubengänge. Außerdem Lichterketten.

Auch ein Herz hat man hier aufgestellt, mit Pfeil. An das Gestell kann man sein Schloss als Zeichen ewiger Liebe hängen. Wird noch nicht so viel Gebrauch von gemacht. Die Erklärung an der Seite kommt auf Spanisch und auf Chinesisch! Die Tradition, erfährt man, begann an Brücken in Venedig und Paris, wurde aber – wie zu erwarten war – erst durch einen Hollywoodfilm weltweit populär.

Auf dem Platz gibt es keine Skulptur, keine Büste, keine Erklärung dafür, warum der Platz Parque Cervantes heißt.

Dass heute Sonntag ist, merkt man nicht. Alle Geschäfte haben geöffnet, und es herrscht viel Betrieb.

Ich mache mich auf den Weg zum Busbahnhof. Am Straßenrand fällt mir ein offener Lieferwagen auf. Voll beladen mit eng aneinander stehenden länglichen Früchten. Keine Ahnung, was das sein kann. Dann fällt mein Blick auf die drei Männer, die daneben stehen und die vermeintlichen Früchte mit einem Messer bearbeiten. Und zum Vorschein kommen – Maiskolben! Die Männer erlauben mir gerne, ein Photo zu machen.

Am Busbahnhof herrscht echter Trubel. An einigen Stellen ist kaum ein Durchkommen, Verkaufsstände, Passanten, Offizielle, Wartende, Losverkäufer, Reisende, die Schlange stehen, Polizisten. Es gibt überhaupt keine Ausschilderung. Ich muss mich durchfragen.

Am Ende stehe ich vor einem Schalter und werde nach links dirigiert. Es tut sich nichts in unserer Schlange, und wir werden ans andere Ende dirigiert. Ich frage nach einer Fahrkarte nach Panama. Nein, die sei jetzt noch nicht im Verkauf. Dafür sei es viel zu früh. Ich solle einen Tag vor der Reise noch mal kommen. Aber dann bin ich nicht hier in David.

Ich gebe diesen Versuch auf und frage eine Polizistin nach der Verkaufsstelle von Ticabus. Die lächelt mich  freundlich an und sagt, ich solle ihr folgen. Wir gehen fast einmal komplett um das Gebäude herum, und am Ende steuert sie einen Kiosk an, der gar nicht nach Fahrkartenverkauf aussieht. Sie fragt aber die Verkäuferin, ob ich hier meine Fahrkarte bekäme. Ja, sagt sie, ich solle mich in die Schlange stellen. Da gibt es erst einmal Verzögerungen wegen der leidigen Frage des Wechselgeldes. Als ich an der Reihe bin, sage ich meinen auswendig gelernten Spruch runter. Sie nickt zustimmend und fängt an, von Costa Rica zu sprechen. Nein, nein, ich will nach Panama. Nach Panama! Von David nach Panama? Ja. Nee, dafür habe sie keine Fahrkarten. Da müsse ich dort hinten hin. Wo ich gerade herkomme.

Ich gebe mich geschlagen und kaufe ein paar Sachen im Supermarkt. Als ich das Portemonnaie öffne, merke ich auf einmal, dass da Balboas drin sind. Ob sie mir jemand untergeschoben hat?

Ich nehme ein Taxi, um mich nach Hause fahren zu lassen. Der Fahrer vermutet, ich sei ein Gringo. Als er Deutschland hört, muss er einen Moment überlegen. Dann spräche ich also Englisch? Ja, aber als Fremdsprache.

Wir kommen an einer Kirche vorbei, an der gerade Gläubige aus dem Gottesdienst strömen und in großen Gruppen vor der Kirche stehen. Ich frage den Fahrer, ob es eine katholische Kirche sei. Nein, die sei nicht katholisch, sondern … er muss nachdenken … evangelisch. Ich will nicht weiter nachhaken, aber mir kommt es so vor, dass mit evangelisch hier evangelikal gemeint ist.

Als wir ankommen, fragt der Fahrer mich, wie man aquí auf Deutsch sage. Hier. Er wiederholt es mit perfekter Aussprache.

Als ich bezahle, frage ich nach dem Balboa. Nein, kein Problem. Die seien auch im Umlauf. 1 Balbo = 1 Dollar. Es scheinen aber nur Münzen im Umlauf zu sein.

Unverrichteter Dinge nach Hause gekommen, aber immerhin nicht nass geworden. Gegen Mittag setzt der Regen wieder ein. Ohne Ende. Im Fernsehen wird berichtet, dass der Flughafen von Panama vorübergehend gesperrt war und dass in Boquete Arbeiten zur Sicherung der Stadt gegen den über die Ufer tretenden Fluss ausgeführt werden. Meteorologen raten dringend, sich von Flüssen und Stränden entfernt zu halten.

30. Dezember (Montag)

Rein zufällig sehe ich auf meine Uhr und aufs Handy gleichzeitig. Das stimmt was nicht mit der Uhrzeit. Ist die Uhr stehengeblieben? Nein. Aber sie hinkt um eine Stunde hinterher. Die Erklärung ist einfach: Panama ist um eine Stunde voraus.

Heute regnet es nicht. Vor dem Haus fegt eine Frau das Laub weg. Bei dem Regen ist einiges zusammengekommen. Sie erklärt mir, dass es sich bei den Früchten an dem Baum vor dem Eingang um Papaya handelt. Die seien jetzt reif.

Es stellt sich heraus, dass sie Melisas Mutter ist. Die kommt und ruft mir ein Taxi. Sie findet es auch ganz normal, dass man die Fahrkarte nach Panama nicht vorher kaufen kann. Ich solle einfach früh aus Boquete anreisen und dann hier den ersten Bus nehmen, in dem noch Platz ist. So machten das alle hier.

Der Taxifahrer kommt. Wir fahren am Colegio Francisco Morazán vorbei, das immer als Orientierungspunkt gedient hat. Ob denn jetzt nicht Ferien seien, frage ich. Doch, aber jetzt gehe es darum, Kreditpunkte zu bekommen, ganar créditos. Für jedes Fach gibt es eine unterschiedliche Zahl von Kreditpunkten, und man muss eine Mindestzahl in jedem Schuljahr erwerben, um weitermachen zu können. Ob man aber jetzt dafür Prüfungen ablegen muss oder einfach die Kreditpunkte „einsammelt“, weiß ich nicht.

In Boquete, meint der Taxifahrer, sei es kühl, ich müsse mit 17° rechnen.

Am Busbahnhof bringt er mich genau an die Haltebucht, von der die Busse nach Boquete abfahren. Man bezahlt im Bus. Als wir ankommen, fährt gerade ein Bus ab, aber die fahren in kurzen Abständen, und meiner ist besonders schön. Außen ganz bemalt, innen mit grünem Band überall, an den Eisenstangen, am Lenkrad, an einer riesigen eisernen Kurbel. Neben dem Lenkrad Heiligenbildchen, und auf einer Eisenstange steht Cristo te ama.

Was es mit der Kurbel auf sich hat, sieht man erst später: Damit wird die Tür geschlossen. Das ist aber vorläufig nicht nötig, denn wir fahren immer mit offener Tür, der Junge Mann, der den Begleiter macht, steht vor der geöffneten Tür, hält sich mit einer Hand fest und hält das Handy in der anderen Hand. Er ist aber aufmerksam und hilfsbereit, vor allem den Älteren gegenüber, wenn die mit Bündeln oder Kindern auf dem Arm einsteigen. Genauso, wie er sich meinen Koffer geschnappt und im Kofferraum versteckt hat, sobald ich auftauchte. Er weiß auch immer ganz genau, wo wer aussteigt und wie viel jeder zu zahlen hat. Bei mir sind es nicht einmal 2 $.

Obwohl noch viele Plätze frei sind, setzt sich eine neu zugestiegene alte Frau neben mich in die erste Reihe. Es ist etwas eng, zumal ich meinen vollen Rucksack zwischen den Füßen habe. Die Frau ist über und über mit Warzen bestückt, Gesicht und Arme. Kann einem leidtun, aber man fühlt sich unwillkürlich etwas unwohl.

Es geht bergauf, und es kommen Berge in Sicht. Aus dem Nichts heraus erscheint links ein rot-weiß gestreifter Leuchtturm.

Immer wieder bitten Passagiere, an der oder der Ecke rausgelassen zu werden, und immer wird dem Wunsch entsprochen. Auch bei mir. Ich steige laut der Empfehlung der Vermieterin bei der Bakery Sugar & Spice aus. Von da an folge ich den sehr genauen Instruktionen der Vermieterin und biege bei Todo a Dollar, dem Vorbild unserer 1-Euro-Shops, ab und komme bald an meinem Ziel an, dem Topás, im Internet als Hotel ausgeschrieben. Ist aber eine Anlage mit kleinen Ferienapartments. Sieht ganz hübsch aus, mit bemalten Hauswänden und vielen Bäumen auf dem Grundstück. An einer Hauswand steht Dornröschen.  Ich habe mich schon gewundert, dass die Vermieterin mir auf Deutsch zurückgeschrieben hat.

Der Empfang durch die Frau, die hier die Sache verwaltet, ist nicht gerade freundlich. Keine Begrüßung, keine Frage, kein Willkommen. Das Zimmer sei noch nicht fertig. Ich solle in die Stadt gehen.

Das tue ich auch. Schon bei der Einfahrt in den Ort hat Boquete einen guten Eindruck gemacht, alles ist sehr adrett und hübsch angelegt. Trotzdem fragt man sich bei näherem Hinsehen, warum mit so viel Begeisterung davon gesprochen wird.

Ich gehe in die Bakery Sugar & Spice und bestelle mir einen Kaffee und einen Muffin. Alles Selbstbedienung. Der Laden ist krachend voll, und an allen Tischen wird Englisch gesprochen, außer an einem. Da wird Deutsch gesprochen.   

Ich gehe zum Parque Central rauf. Der ist einigermaßen ansehnlich, jedenfalls mehr als der von David. Zu der Weihnachtsdekoration à la Disney gehören hier auch Nussknacker.

Am Rande des Platzes eine Uhr mit vier Zifferblättern. Es wird aufgelistet, wer sich alles an der Finanzierung der Uhr beteiligt hat, darunter mehrere Stifter mit englischen Namen. Dennoch zeigt die Uhr zu allen Seiten die falsche Zeit an.

Wirklich schön ist der Laubengang. Wie auf allen anderen Plätzen ist er auch aus Drahtgestellen gemacht, aber hier ist jeder Bogen von links unten bis rechts unten mit Blumenkästen mit blühenden Blumen bestückt.

Am Rande des Platzes steht ein Eisenbahnwagen, und kurz dahinter ist die Touristeninformation. Die wissen nicht so recht, was sie mit mir anfangen sollen, bieten dann einen kurzen Gang über den Platz an.

Wir beginnen an dem Eisenbahnwaggon. Der wurde auf einer Strecke eingesetzt, die von hier unter anderem nach David führte und nach Barú, einem Ort, von dem hier immer im Zusammenhang mit einem Vulkan die Rede ist. Die Strecke diente zunächst nur dem Gütertransport, in erster Linie Bananen, später auch dem Personenverkehr. Die Bahnlinie wurde stillgelegt, als man in den 50er Jahren begann, Straßen zwischen den Orten anzulegen.

Wenn der Zug hier ankam, wurden die Wagen von den Jungen des Ortes, für die das ein Heidenspaß war, in das Gebäude geschoben, in dem heute der Markt untergebracht ist. Dahinter befanden sich Rangiergleise, aus denen die Wagen dann wieder in die andere Richtung geführt wurden.

Nach dem Niedergang der Bananenwirtschaft hat man versucht, hier eine Kaffeekultur aufzubauen. Davon zeugen in paar Pflanzen und Schilder am Rande des Parks. Im Januar findet die Feria del Café statt, die offensichtlich Besucher von Nah und Fern anlockt.

Die Touristeninformation befindet sich in dem ehemaligen Bahnhofsgebäude. Am dessen Kopf steht Ferrocarril Nacional de Chiriquí Boquete.

In dem alten Bahnhofsgebäude befindet sich neben der Tourismusinformation noch ein anderer Raum, vor dem ich vorher Leute Schlange stehen gesehen habe. Das ist die Post! Hier soll man tatsächlich Briefmarken für Post ins Ausland bekommen.  

Mir sind zahlreiche Frauen aufgefallen, die in selbstgemachten traditionellen Kleidern zu sehen sind. Ja, sagen die beiden Männer. Die gehörten zum Volk der Ngöbe-Buglé. Zu dem im Übrigen diese beiden Männer auch gehören. Die Indios der Ngöbe-Buglé leben in kleinen Gemeinden und ernähren sich durch den Anbau von Mais, Maniok, Pfirsichen und anderen Früchten. Während der Kaffeeernte sind viele der Männer als Wanderarbeiter unterwegs. Die Frauen sind für ihre Webkunst bekannt.

Da es für die Unterkunft immer noch etwas früh ist, gehe ich in ein Lokal, das Restaurante Bamboo. Hier gibt es ein breites Angebot auf der Speisekarte. Die Pizza ist auffällig billiger als alles andere. Die Erklärung findet sich, als die Pizza kommt. Sie ist klein. So eine kleine Pizza habe ich noch nie gesehen. Aber sie schmeckt ausgezeichnet. Dazu gibt es das erste panamaische Bier, Cristal, und dann gleich das zweite, Balboa. Das erste ist leichter, das zweite vollmundiger. Beide schmecken gut.

Dann geht es zurück zur Unterkunft. Die Frau ist kurz angebunden, zeigt mir mein Zimmer und will wieder verschwinden. Ich muss nach allem selbst fragen, und jedes Mal will sie sich wieder aus dem Staub machen: Schlüssel, WiFi, Küche, Schwimmbecken, Bushaltestelle, Reinigung.

Das Zimmer ist eine Enttäuschung. Kein Schrank, nicht einmal ein Stuhl. Keinerlei Komfort.

Ich gehe die Straße runter zur Reinigung. Der Weg führt über eine Brücke, und die führt über einen kleinen Fluss. Die Strömung ist stark, das Wasser rauscht, sieht schön aus.

Die Frau in der Reinigung begrüßt mich mit einem offenen Lächeln. Ja, klar, kann sie sich um meine Wäsche kümmern. Ist morgen in Ordnung? Ja, natürlich. Ob ich keinen Auftrag bekomme oder irgendeinen Zettel. Nein, meint sie, sei nicht nötig. An mein Gesicht werde sie sich schon erinnern. Ein zweischneidiges Kompliment. Aber wenn’s der Sache dient.  

31. Dezember (Dienstag)

In der Nacht hat es geregnet, und man hat den rauschenden Fluss gehört. Aber am Morgen setzt der Regen aus, und im Laufe des Tages kommt sogar mal die Sonne raus. Da ist es dann von einem Moment auf den anderen richtig warm.

Als ich am Morgen den Parque Central ansteuere, um irgendwo zu frühstücken, komme ich an einer Metzgerei vorbei, die Corte Argentino heißt.

Gleich in der Nähe der Súper Barú, ein Supermarkt, ganz auf touristische Bedürfnisse ausgerichtet. Hier gibt es Gouda und Mozzarella, und im Brotregal steht Westfälischer Pumpernickel!

Im Hintergrund laufen spanische Weihnachtslieder: „Belén, Belén, campanas de Belén / que los ángeles tocan / ¿qué nuevas me traéis?“ Ich muss mich beherrschen, um nicht laut mitzusingen.

Gegenüber dem Supermarkt ein Geschäft, das Tacoholics heißt.

Das Frühstück in einem einfachen Café am Parque Central lässt lange auf sich warten und fällt mickrig aus.

Ich sehe mir den Mercado Central an. Hier geht es ganz geordnet und ruhig zu. Ein ungewohntes Bild. Die Verkaufsstände sind fest in die Mauer eingelassen und durchnummeriert: Local No 27 verkauft Kleidung.

Auf dem Rückweg versuche ich mein Glück an einem Geldautomaten. Es dauert, und es gibt einiges Hin und Her, aber am Ende klappt es. Die Dollarnoten, die herauskommen, sind druckfrisch und sehen irgendwie unecht aus.

Als mir gerade durch den Kopf geht, dass man hier keine Bettler sieht, treffe ich auf eine Frau, die am Straßenrand sitzt und ihre Hand aufhält. Sie ist aber die einzige, die ich sehe. Auch in David war das schon so. Allerdings sah man dort viel mehr ärmliche, beinahe heruntergekommene Gestalten, mit abgetragener Kleidung.

Ein Mann kommt mir entgegen, der an einer Hand seine kleine Tochter führt, ein Mädchen mit einem ganz runden Kopf. Sie lernt zu laufen, noch etwas wackelig, aber mit der Sicherheit der Hand des Vaters. Als ich sie passiere, winkt sie mir mit der freien Hand zu.

Die Frau in der Reinigung ist wieder genauso freundlich wie gestern. Weiß sofort, wo meine Wäsche ist, obwohl der ganze Boden mit Tüten vollgestellt ist. Morgen ist zu, aber übermorgen hat sie geöffnet, und wenn ich ihr am Vormittag die Wäsche bringe, wird sie im Laufe des Tages noch fertig.

Als am Nachmittag die Sonne rauskommt, gehe ich kurzentschlossen ins Schwimmbecken. Das Wasser ist eiskalt, aber nach ein paar Bahnen hat man sich warmgeschwommen.

Das Wasser ist sauber, obwohl an der Oberfläche viele Blätter schwimmen.

Ein Vogel kommt und setzt sich aufs Geländer und sieht mir eine Zeitlang entspannt zu.

Am Rande des Beckens ein Baum, den man hier des Öfteren sieht, ein Baum mit zapfenähnlichen orangefarbigen Blüten. Sehr photogen.

Als ich später noch mal in den Ort gehe, habe ich eine ganze Zeit zwei junge Indiofrauen in den traditionellen Kleidern vor mir, die eine in Blau, die andere in Grün. Ich kriege gerade noch rechtzeitig den Dreh und bitte sie, ein Photo machen zu dürfen. Sie sind ganz scheu, sagen aber gerne zu. Das Photo wird richtig schön. Sie sprechen Spanisch miteinander, sprechen aber zu Hause mit der Familie das, was sie einen Dialekt nennen.   

Ich gehe wieder in dasselbe Lokal von gestern und bestelle diesmal Pasta. Auch die ausgezeichnet, die Nudeln genau richtig in der Festigkeit, die Soße ein Gedicht, sehr schmackhaft, mit einer leicht süßlichen Note.

Etwas abseits des Platzes, vor einer Polizeistation, weht die Flagge Panamas. Wieder die Farben Blau und Weiß der zentralamerikanischen Staaten, dazu, wie in Costa Rica, das Rot. Aber die Flagge hat ein anderes Design. Sie ist in vier Rechtecke eingeteilt, und in zwei Rechtecken erscheint ein Stern.

Ich gehe etwas stadtauswärts, über eine schöne Brücke mit hintereinander geschachtelten Bögen. Auf dem Gehweg Fliesen in schönen Farben, die Muster und Mosaike bilden,

Der Fluss hier ist genauso reißend wie meiner, aber größer. Ob es derselbe Fluss ist oder ein anderer, weiß ich nicht.

Beim Weitergehen sieht man links ganz tief runter in eine Art Gartenstadt, ein großes buntes Beet neben dem anderen. Sieht eher nach einer Gärtnerei als nach einem Park aus.

Hinter der Brücke gelangt man direkt in den Mercado Artesanal. Der hat allerdings von Kunsthandwerk reichlich wenig. Das meiste, was es hier zu kaufen gibt, sind ganz gewöhnliche Souvenirs. Die Ausnahme sind die gewebten Tücher der Indiofrauen. Auch gibt es ein paar schöne bestickte Blusen und Hemden. Es herrscht wenig Betrieb.

Ich komme mit einem Mann und einer Frau ins Gespräch, die in ihren angrenzenden Ständen beides im Angebot haben. Sie bieten mir die Sachen an, sind aber gar nicht aufdringlich.

Ob morgen auch geöffnet sei? Ja, natürlich, 365 Tage im Jahr. Urlaub kennen sie nicht. Sie müssten viel arbeiten, aber die Arbeit würde ihnen Spaß machen, man begegne so vielen unterschiedlichen Leuten.

Die Frau fragt mich, woher ich komme, und ich lasse sie raten. Kein Amerikaner, da ist sie sich ganz sicher. Auf jeden Fall Europäer. Deutscher? Bingo!

Ja, die meisten Touristen seien US-Amerikaner. Aber die kämen eher im Mai/Juni. Jetzt, um diese Zeit, kämen auch viele Deutsche. 

Zum Schluss gehe ich noch ein einem kleinen Lokal mit Holztischen draußen einen Kaffee trinken. Die Frau hinter der Theke, eine junge Indiofrau, hübsch gekleidet, ist sehr nett und etwas schüchtern. An einem der Tische sitzt eine Ausländerin. Sie wird wohl ihre Chefin sein, vom Akzent her Französin. Auch sie grüßt sehr freundlich. Und der Kaffee ist ausgezeichnet. Da kann man nicht meckern.

Silvester – Neujahr, viel Aufhebens. Die Bedeutung relativiert sich, wenn man bedenkt, für wie viele Menschen dies nicht der Beginn des neuen Jahres, sondern ein Tag wie jeder andere ist: Chinesen, Muslime, Hindus, Juden und viele andere. Da kommen schon ein paar Milliarden zusammen.

1. Januar (Mittwoch)

2025 – ein Heiliges Jahr, ein Jubeljahr. Die Tradition geht auf die mittelalterlichen Päpste zurück. Erst sollte das Jubeljahr alle 50, dann alle 33 und dann alle 25 Jahre stattfinden. Das Jubeljahr war aber keine Erfindung der mittelalterlichen Päpste, sondern eine Kopie des Jubeljahrs der alttestamentarischen Juden. Das Jubeljahr, mit Schuldenerlass, Rückgabe von verkauftem Boden, Freilassung von Sklaven, wurde eingeläutet mit dem Klang des Widderhorns, und das hieß auf Hebräisch yovel. Daher unser Wort Jubeljahr und unsere Redewendung alle Jubeljahre einmal.

Nach einer stürmischen Nacht hat sich die Sache beruhigt. Es gibt nur noch gelegentlich heftige Windstöße. Die Sonne versteckt sich hinter den Wolken.

Ich mache mich auf die Suche nach einem kleinen, im Reiseführer wärmstens empfohlenen Café, ganz in der Nähe der Unterkunft, dem Café de Punto Encuentro, in einer umgebauten Garage untergebracht. Das hat aber heute geschlossen. Als Ersatz gehe ich in das Lokal, wo ich gestern so einen guten Kaffee bekommen habe. Dort gibt es Bapé. Das sind Hamburger, die keine sind. Das Prinzip ist das gleiche, aber sie sind viel flacher und deshalb besser zu essen, und das Brot ist viel leckerer.

Im Ort ist es heute merklich ruhiger, aber ein kleines Reisebüro hat geöffnet. Ich frage nach Touren. Sie haben eine ganze Menge im Angebot, aber für mich kommen nur die Kaffeetour und die Wanderung in Frage. Für die Wanderungen braucht man aber mindestens zwei Personen, die Kaffeetour wird immer angeboten. Kurzentschlossen buche ich die für morgen früh. Der einzige Vorbehalt, den ich habe: Keine Tour über eine Kaffeeplantage kann die von Filandia in Kolumbien übertreffen.  

Am Parque Central fällt es mir besonders auf: Die Indios bleiben unter sich. Meistens sind sie in kleinen Gruppen unterwegs oder sitzen irgendwo auf Bordsteinen. Fast nie sieht man eine gemischte Gruppe.

Als ich weitergehe, kommt mir eine voll beladene Frau entgegen, in der einen Hand ineinander gestapelte Kartons, in der anderen ein Bündel von festgeschnürten Körben. Ich frage, ob ich ihr helfen kann, und die drückt mir, ohne zu zögern, gleich beide Sachen in die Hand. Sie ist taubstumm und kann ich nur mit ein paar Gebärden und kaum verständlichen Lauten bemerkbar machen. Sie sieht, dass ich noch die Quittung von der Kaffeetour in der Hand habe, nimmt sie mir aus der Hand und steckt sie in die Brusttasche.

Wir gehen über zwei, drei Straßen des Zentrums, dann kommen wir auf die Landstraße. Allmählich wird das Tragen doch etwas mühsam. Meine Frage, ob es noch weit sei, kann sie nicht hören, und ich habe auch keine Hände frei, um mich mit Gesten zu verständigen. Wir biegen von der Landstraße ab und dann noch in eine andere Straße, und dann sind wir endlich da. In der Haustür steht eine Frau, die freundlich grüßt und sich bedankt.

Auf dem Weg zurück fällt mir eine Kirche ins Auge. Die habe ich noch gar nicht gesehen. Weiß, mit einer kleinen Doppelturmfassade. Daneben ist ein ausgesprochen hübsches, zweistöckiges Haus, das vielleicht vorher mal Pfarrheim gewesen sein könnte. Oben ein sehr schön geschmückter Balkon und Fenster mit roten Sprossen, unten ist wohl ein Geschäft, in dem es alles gibt, von Kleidern bis zu Brutkästen für Vögel.

Da, wo zwei Straßen zusammenlaufen, steht ein Denkmal, zwei Männer mit einem großen Vogel. Was das wohl sein mag? Es gibt eine Erklärung. Denkmal errichtet zur Feier des 200. Jahrestags der Unabhängigkeit Panamas von Spanien. Die beiden Männer lassen gemeinsam den Vogel frei. Über einem von ihnen weht ein Band mit den spanischen Farben, über dem anderen ein Band mit den panamaischen Farben. Das ist die reinste Geschichtsklitterung: Vor 200 Jahren gab es noch kein Panama. Die Unabhängigkeit erlangte Panama als Teil von Kolumbien. Und eine Flagge mit den Farben der heutigen panamaischen Flagge gab es noch nicht.

Der Barbier gegenüber, El Lasso, hat auch heute, am Neujahrstag, geöffnet.

Zufällig sehe ich von hier aus das Retrogusto, ein weiteres Lokal, das im Reiseführer empfohlen wird.

Dann gehe ich noch mal auf den Mercado Artesanal zu den netten Verkäufern von gestern. Es gibt lange Verhandlungen wegen Größe und Design, aber am Ende kaufe ich etwas, auch wenn es nicht das ist, was ich eigentlich wollte.

Immer wieder stoße ich hier, vor allem bei Eigennamen, auf das Trema der Ngöbe-Buglé, so bei einer Firma namens Mräga.

Am Abend gehe ich raus, als es schon stockdunkel ist. Man hat überhaupt keine Angst, überall sind noch Leute unterwegs. Nur beim Gehen über die schlecht oder gar nicht beleuchteten Straßen ohne Bürgersteig hat man kein gutes Gefühl.

Am Parque Central ist jetzt richtig viel Betrieb. Kinder spielen in dem Eisenbahnwaggon, ganze Familien flanieren oder sitzen auf den Bänken. Alles ist erleuchtet. Trotz aller Ablehnung der Dekoration als schrecklicher Kitsch: Das hat was.

Die Vögel machen sich jetzt am Abend ganz schön bemerkbar. In das Gezwitscher mischt sich immer der langgezogene Pfeifton eines Vogels. Das Konzert klingt anders als bei uns. Und die Vögel sind viel lauter!

Ich mache mich auf Richtung Retrogusto, dem Lokal, das ich heute Morgen in der Nähe der Kirche gesehen habe. Aber es scheint geschlossen zu sein. Man sieht durch das Fenster einen sehr gemütlich aussehenden Speiseraum, aber der gehört wohl zu einem anderen Lokal.

Also gehe ich wieder in mein Stammlokal, das Restaurante Bamboo. Hier kann man draußen sitzen. Obwohl es jetzt doch ein bisschen frisch ist.

Hier ist es jetzt am Abend rappelvoll. Statt einer Kellnerin sind vier Kellnerinnen unterwegs. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Viele Gäste machen hier nur eine Pause, um etwas zu trinken.

Wieder ist der Preis auf der Rechnung geringer als der auf der Speisekarte. Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Ich frage nach. Ja, ich habe einen Rabatt bekommen. Einen Rabatt? Welchen denn? Seniorenrabatt!!

Als ich mich nach der Rückkehr noch einen Moment lang nach draußen setze, hört man das Quaken der Frösche vom Fluss her.

In der Nacht ist es so stürmisch, dass man immer wieder mal wach wird. Aber der Wind vertreibt die Wolken, und man sieht einen sternenklaren Himmel. Da es praktisch keine Lichter gibt, kommen die Sterne vor dem pechschwarzen Himmel besonders zum Vorschein. Den Mond kann ich von hier aus leider nicht sehen.

2. Januar (Donnerstag)

Der Bus zur Kaffeeplantage, ein Kleinbus, von einem Mann namens Carlos gefahren, kommt pünktlich. Carlos hat ein zerfurchtes Gesicht, langes, fettiges Haar und trägt eine schreckliche Sonnenbrille. Wenn er eine Frau hätte – hat er nicht, er ist geschieden – würde die ihn sofort zum Friseur schicken.

Er erweist sich als guter Erzähler und als Kenner der Kaffeekultur. Und ist sehr sprachinteressiert. Spanisch in Deutschland, ob das nicht ungewöhnlich sei. Nicht mehr so wie früher, sage ich. Inzwischen sei Spanisch die Fremdsprache Nummer 2 an deutschen Schulen. In Deutschland werde viel Latein gelernt, hat er gehört. Ja, das stimmt, sage ich, ich hätte auch Latein als erste Fremdsprache gelernt. Aber das ist doch eine tote Sprache! Dafür hat er nur Kopfschütteln übrig.

Die übrigen Passagiere steigen erst später ein. Erstaunlich, wie viele von ihnen weit außerhalb wohnen. Neben mich nach vorne kommt eine US-Amerikanerin. Sie spricht fließend Spanisch, ohne auffälligen Akzent. Sie habe das von ihren Schülern gelernt, sagt sie. Sie ist Englischlehrerin, und ihre Schüler sind Einwandererkinder aus Mexiko und Guatemala. Mir kommt das etwas merkwürdig vor, so gute Sprachkenntnisse nur durch den Kontakt zu den Schülern. Dann stellt sich heraus, dass es eine viel engere Verbindung gibt. Ihr Schwiegervater, der auch mit von der Partie ist, ist Panamaer, und ihr Mann spricht auch fließend Spanisch.

Im Sommer geht sie mit ihrem Mann auf (verspätete) Hochzeitsreise. Nach Spanien. Nur Madrid und Barcelona. 10 Tage. Ihr Mann will unbedingt Atlético gegen Barça sehen. Ihr Mann sei schon viel gereist, in Deutschland ist er auch gewesen – Hamburg und Köln, erzählt er mir später – sie nicht. Als Lehrerin verdiene man nicht so gut. Das finde ich etwas verwunderlich, als US-Amerikanerin kann man sich doch sicher Reisen nach Lateinamerika leisten. Muss ja nicht gerade Costa Rica sein. Oder Uruguay.

Sie kommt aus Atlanta. Da sei es jetzt bitter kalt, sagt sie. Hier in Chiriquí sei das Wetter gerade richtig, in Panama ist es ihr zu warm.

Derweil macht Carlos ein paar interessante, aber nicht ganz plausible Aussagen über Sprachen. Aber er trägt sie mit großem Selbstbewusstsein vor. In Mexiko spreche man das „beste“ Spanisch, das sei die einzige Variante, in der /b/ und /v/ unterschieden würden. In Costa Rica spreche man das /r/ mit „englischer“ Aussprache aus. Und in Puerto Rico verwechsle man gerne /l/ und /r/: Puelto Rico. Damit könnte er Recht haben, die beiden anderen Behauptungen sind meines Erachtens falsch. Er macht später noch unsägliche Aussagen über die Verwandtschaft von Französisch, Englisch und Spanisch. Englisch und Französische seien näher mit einander verwandt. Das ist natürlich blühender Unsinn.

Die Fahrt dauert eine Weile, es geht ständig bergauf, durch eine richtig schöne Landschaft.

Gleich am Anfang passieren wir den Fluss. Der heißt Caldera, erklärt Carlos, und ist nicht identisch mit dem Bach vor meiner Unterkunft.

Als er eine Bemerkung zur bevorstehenden Feria del Café macht, geht mir ein Licht auf. Die vielen Beete, die ich dieser Tage unter der Brücke gesehen habe, sind Teil dieser Feria. Die heißt nämlich Feria del Café y de las Flores.

Wir fahren in Richtung des Barús, der Hausvulkans Boquetes. Oben angekommen sieht man ihn, leider teils verdeckt durch die Wirtschaftshäuser der Kaffeefarm. Um ihn zu besteigen, brauchen Ungeübte 7 Stunden, pro Weg. Carlos, der früher Läufer war, hat ihn einmal in 3 Stunden geschafft, beide Wege zusammen!

Wir gehen sofort in die Kaffeeplantage. Aber erst einmal geht es um Panama. Was verbindet man mit Panama? Den Kanal, den Hut, die Panama-Papers und, wie er hinzufügt, in Deutschland verbinde man Panama mit „Oh, wie schön ist Panama!“ Er hat ein Photo von der Tigerente und erzählt die Geschichte, lässt aber die Volte am Schluss weg, die den eigentlichen Charme des Märchens ausmacht.

Carlos selbst gehört auch zu dem Stamm der Ngöbe-Buglé und spricht zu Hause deren Sprache. Er berichtet auch von den für die Webkunst bekannten Frauen des Volkes. Die Muster, die sie für ihre Kleider benutzen, heißt Nagua. Viele Details haben symbolische Bedeutung. Die Dreiecke dieses Musters stehen zum Beispiel für die Berge der Region.

Die Kaffeefarm ist 126 Jahre alt, aber der Kaffee wird erst seit 25 Jahren systematisch angebaut und vertrieben. Carlos selbst ist als Kind, schon als Zehnjähriger, zusammen mit seinen älteren Geschwistern hierhergekommen, um Kaffee zu pflücken. Der diente aber damals nur dem häuslichen Konsum und wurde in kleinen Mengen an die Leute von Boquete verkauft.

Jetzt ist alles anders. Boquete, sagt er, habe sich gewaltig verändert in letzter Zeit, in erster Linie wegen der vielen zugezogenen Fremden.

Er habe in den letzten Jahren in diesem Zusammenhang drei neue Wörter gelernt, snowbirds, gated community und gentrification. Bei den snowbirds handelt es sich um die Ausländer, meist Kanadier, die für ein halbes Jahr „eingeflogen“ kommen und dann wieder in ihr Stammland zurückkehren. Die gated communities sind diese großen, bewachten Wohnanlagen, die sich hinter hohen Mauern und verschlossenen Toren verbergen. Diese Anlagen haben bis zu 30 Häuser. Alles ist streng geregelt, von der Farbe der Häuser bis zur Zahl der Hunde, die man halten darf. Es ist nicht schwer, rauszufinden, was Carlos von ihnen hält.

Und gentrification, das ist der Prozess, den Boquete in den letzten Jahrzehnten durchlaufen habe, durch den ständigen Zuzug von Ausländern, durch die Umwandlung von Kaffeeplantagen in Wohnbezirke. Die Immobilienpreise sind gestiegen und die Preise für den Konsum mit ihnen. Er selbst habe das erfahren anhand eines Hauses, das er gekauft hätte, wenn man ihm einen Kredit gegeben hätte. Das Haus kostete damals 25.000 $ und ist kürzlich für 300.000 $ verkauft worden. Der Stundenverdienst eines Panamaers liege bei 2,50 $, und ein Kaffee koste hier ohne weiteres 3 $.

Jetzt wenden wir uns dem Kaffee zu. Zwischendurch kommen allerdings immer wieder witzige, teils auch zotige Kommentare von Carlos. Seine liebsten Zielscheiben sind Frauen, Schwiegermütter und Franzosen, teils auch Italiener.

Vor 25 Jahren habe man hier angefangen, den Kaffeeanbau zu professionalisieren. Das sei so gut gelungen, dass man von einer Weltausstellung mit der Goldmedaille zurückgekehrt sei und heute den teuersten Kaffee der Welt produziere, den Kaffee der Sorte Geisha (2019 bei einer Versteigerung für 1029 $ pro Pfund verkauft). Das Wort Geisha hat nichts mit Japan zu tun, sondern ist von einem äthiopischen Ort abgeleitet. Äthiopien sei schließlich das Ursprungsland des Kaffees.

Der zweitteuerste Kaffee der Welt sei der in Sumatra, der erst durch den Verdauungstrakt von Katzen geht, gefolgt von einem aus Äthiopien, der erst durch den Verdauungstrakt von Elefanten geht. Carlos hält das alles für nichts als eine Werbemaßnahme. 

Die Länder, in denen der meiste Kaffee angebaut wird, sind Brasilien, Vietnam, Indonesien, Kolumbien, Äthiopien. Der meiste Kaffee getrunken wird in den skandinavischen Ländern, mit Finnland als Spitzenreiter.

Hier, in Chiriquí, wird 70% des panamaischen Kaffees angebaut, ausschließlich Arabica. Der Rest, außerhalb Chiriquís, sei ausschließlich Robusta. Der ist nicht so anspruchsvoll, braucht weniger Regen und weniger fruchtbare Böden und beginnt schon nach 2 Jahren Frucht zu tragen. Der Arabica braucht 5 Jahre. Er braucht viel Regen, und den bekommt er hier in den Bergen. Hier gebe es nur zwei Jahreszeiten: vormittags die Trockenzeit nachmittags die Regenzeit.

Der Boden hier in Chiriquí ist vulkanisch, und darauf wachse der Kaffee besonders gut.

Wir pflücken Kaffee von den hier ganz eng beieinander stehenden Sträuchern. Es gibt rote, gelbe und grüne Früchte. Bei Kaffee handelt es sich um eine Frucht. Die roten und gelben sind verschiedene Sorten, die grünen sind noch nicht reif.

Wir probieren auch alle. Sie schmecken überhaupt nicht nach Kaffee und sind überhaupt nicht bitter. Die bittere Note komme erst durch das Rösten zustande.

Die Kaffeesträucher – oder sind das Bäume? – werden bis zu 6 Metern hoch, aber so hoch lässt man sie nicht wachsen, sondern stutzt sie, um das Pflücken zu erleichtern. Hier sind sie nur mannshoch.

Die Kaffeesträucher hier sind 20 Jahre alt, können aber auch 60 Jahre alt werden und immer noch Früchte tragen.

Zwischen den Kaffeesträuchern stehen hohe Bäume. Die haben ihre Funktion, denn sie locken Vögel an. Die Vögel fressen die Insekten, die dem Kaffee gefährlich werden können, fressen aber selbst keinen Kaffee. Die Bäume dienen außerdem als Schattenspender. Zu viel Sonne tut dem Kaffee nicht gut.

Der Kaffee hat tiefe Wurzeln, und die schützen den Boden vor Erosion.

In der Nähe wächst ein hochgiftiger Strauch. Zusammen mit den Österreichern und Schweizern versuchen wir, rauszufinden, wie der wohl auf Deutsch heißt. Das Wort hat irgendwas mit Rizinus zu tun. Dieses Gift wirkt nicht durch Berührung, nur durch Konsum. Wirkt mit Verzögerung, ist aber immer tödlich. Dieser Strauch dient hier auch als Insektenkiller.

Die Kaffeefrüchte müssen per Hand gepflückt werden, da nicht alle Früchte an einem Baum gleichzeitig reif sind. 

Dann nehmen wir die Kaffeefrüchte auseinander. Sie haben drei Schalen. Die äußere ist leicht zu entfernen, die mittlere ist wie die, die man manchmal in Erdnüssen hat. Die letzte ist so fein, dass man sie praktisch nicht lösen kann. Wenn man die Frucht dann aufbricht, glaubt man, eine Erdnuss in der Hand zu halten.

Kaffee, erklärt Carlos, werde ganz unterschiedlich konsumiert, in Vietnam mit Ei, in Kolumbien mit Zucker. In Kuba werde er so stark wie nur denkbar serviert, aber mit Zucker in rauen Mengen. Er selbst trinke seinen Kaffee schwarz.

Wie damals der Kaffeefarmer in Kolumbien empfiehlt auch er, den Kaffee nicht gemahlen zu kaufen. Er hebt ein Stück von einem Ast auf und sagt, so etwas komme in den gemahlenen Kaffee rein.

Ordentlich polemisiert er gegen Juan Valdez, Lavazza, Tchibo, Nescafé und viele andere. Bei Kennern gelte nescafé = no es café

Dann gehen wir rauf und kommen zum Prozess des Trocknens. In langen Kästen stehen auf einer Wiese die Trockenbeete, mit Kaffeefrüchten in Beige, Rötlich und Dunkel. Das sind die drei verschiedenen Prozesse:  geschält und gewaschen (washed), gewaschen, aber nicht geschält (honey), weder gewaschen noch geschält (natural). Die gängigste Methode ist washed.

Die Früchte brauchen zweieinhalb Monate zum Trocknen, dürfen aber nicht nass werden. Deshalb hängen an den Kästen Plastikplanen, mit denen man den Kaffee abdecken kann.

Es geht in eine Halle. Hier wird maschinell getrocknet, in Trommeln. Das geht schneller. Heute wird der Kaffee meist nur für eine kurze Zeit an der Luft getrocknet und kommt dann in die Trommel.

Das Rösten findet nicht hier auf der Kaffeefarm statt, aber es gibt einen Ofen, anhand dessen der Prozess illustriert wird. Als Brennmaterial werden die Schalen der Kaffeefrüchte benutzt! Und die Asche kommt dann wieder als Dünger auf die Plantage!

In einem großen Becken sehen wir, wie der Kaffee gewaschen wird. Zuerst kommt er in ein Wasserbecken. Was an der Oberfläche fließt, wird aussortiert.

Dann werden die Kaffeefrüchte nach Gewicht und Größe getrennt, unter anderem mit Hilfe eines Siebs. Was hat es damit auf sich? Wenn die Früchte unterschiedlich groß sind, werden sie nicht gleichmäßig geröstet.

Wir sehen noch bedruckte Säcke, in denen der Kaffee verschickt wird, für den Export. Das Standardgewicht ist 60 Kilo. Der Kaffee wird ungeröstet verschickt.   

Am Ende geht es dann in das Haus und den Verkaufsraum. Zum Probieren. Jeder bekommt 7 Tassen mit unterschiedlichen Sorten, nach Güte (bzw. Preis) angeordnet. Geisha kommt ganz zum Schluss.

Es gibt 4 Durchgänge: den trockenen Kaffee riechen, den Aufguss riechen, den Kaffee mit einem kleinen Löffel schlürfen und schließlich trinken. Man wünscht sich, bessere Geschmacksnerven und ein besseres Riechorgan zu haben. Die anderen machen lauter kluge Kommentare. Ich kann nur sagen, dass die beiden ersten, die „normalsten“, mir am besten schmecken. Was man wohl merkt, ist, dass die meisten Sorten von Probiergang zu Probiergang unterschiedlich werden. Mit dem Geisha kann ich nicht so viel anfangen, einige Kaffeesorten in der Mitte riechen nach gar nichts. Gekauft werden kann der Kaffee natürlich auch, und davon machen einige ordentlich Gebrauch.

Dann gibt es eine Runde Applaus für Carlos und wir machen uns wieder auf den Weg.  

Während die anderen ihren Kauf machen, bin ich noch ins Gespräch gekommen mit dem panamaischen Schwiegervater, der mir erzählt, dass er Mittelamerika gut kennt und durch alle Länder gereist ist, und mit einem jungen Deutschen aus Stuttgart, der auch alleine reist und von hier aus nach Kolumbien weiter will. Er will ganz in den Süden, nach Leticia, und dort mit einem Schiff über den Amazonas nach Peru fahren!

Wieder in Boquete versuche ich noch einmal mein Glück bei der Post, aber die Schlange ist mir zu lang. Stattdessen gehe ich ein Eis essen. 2 Kugeln. Ich habe 2 $ parat, aber es kostet 6 $!

Dann geht es nach Hause, eine Runde schwimmen, die Sonne ist gerade rausgekommen.

Anschließend versuche ich mein Glück beim Café de Punto Encuentro, dem winzigen Lokal gleich in der Nähe. Olga selbst nimmt mich in Empfang. Nein, leider nein, sie macht nur Frühstück, hat von 7 bis 11 geöffnet. Sie sagt mi amor zu mir, fragt nach meinem Namen, will wissen, woher in komme, umarmt mich zum Abschied und drückt mich wie einen alten Freund.

Also geht es wieder zurück ins Zentrum. Die Schlange bei der Post ist nicht mehr ganz so lang. Eine uniformierte Aufpasserin fragt mich, ob ich Rentner sei. Wahrheitswidrig sage ich nein. Was ich denn wolle. Briefmarken. “¿Sellos?”, sagt sie, mit verstörtem Blick. Damit kann sie nichts anfangen. Sie holt sich Hilfe. Ein Kollege kommt, ebenfalls uniformiert. “¿Sellos?”, sagt der, ebenso verständnislos. Wofür ich die denn bräuchte. Für Briefe, Ansichtskarten. Er versinkt in Gedanken, und ich frage, ob das denn hier nicht die Post sei. Nein, die Post sei da drüben. Ich habe immer vor dem falschen Laden gewartet.

In der Post ist überhaupt keine Schlange. Ich frage die Frau hinter dem Schalter, ob ich hier Briefmarken kaufen könne. Ja. Auch fürs Ausland? Ja. Dann hätte ich gerne Briefmarken für Ansichtskarten nach Europa. Nach Europa? Nein, die haben wir nicht. Nur Amerika. Sie holt eine handgeschriebene Liste mit den Ländern heraus, in die man Briefe verschicken kann. Nordamerika und Südamerika. Sonst nichts. Ich beschließe, das Projekt Ansichtskarten endgültig zu begraben. Und wieder wandern 20 in den Papierkorb.

Nicht weit von der Post entfernt ist das Retrogusto, das ich gestern gesehen habe und von dem auch Carlos gesprochen hat. Diesmal hat es geöffnet. Man sitzt draußen, nach hinten raus, auf einer sehr schönen Terrasse, mit nicht ganz so schönem Blick.

Ein junger, gewiefter Kellner, der mit todernstem Gesicht ironische Bemerkungen macht, bedient mich. Die reinste Freude. Er bringt mich dazu, mehr zu bestellen, als ich mir vorgenommen hatte. Aber das bereue ich nicht. Alles ist große Klasse. Schon das geröstete Brot mit hervorragendem Öl und Essig ist den Besuch wert. Dann gibt es gefüllte Champignons und dann Hähnchen mit gedünstetem Gemüse. Ein Gedicht!  Und ein schöner Ausklang meines Aufenthalts in Boquete.  

3.Januar (Freitag)

Schon vor Sonnenaufgang stehe ich am Straßenrand und warte auf den Bus. Es ist warm und es regnet nicht.

Der Bus lässt auch nicht lange auf sich warten. Und schon um 7.15 stehe ich in David in der Schlange am Fahrkartenschalter. Der nächste Bus nach Panama geht um 7.30, und die Frau vor mir in der Schlange ist zuversichtlich, dass wir den noch kriegen. Aber es tut sich nichts. Die Frau hinter dem einzigen Schalter kramt in der Kasse, verschwindet, telefoniert, und dann geht das Ganze wieder von vorne los. Die Frau in der Schlange vor mir gibt entnervt auf. Als der Verkauf endlich beginnt, ist der Bus längst weg, und wir müssen auf den nächsten warten.

Beim Kauf der Karte muss ich meinen Reisepass vorlegen, und später im Bus gibt es nochmals eine Passkontrolle.

In dem Wartesaal kaufe ich in dem winzigen Kabuff einen Kaffee. Ob das Mädchen neben ihr ihre Enkelin sei, frage ich die Frau hinter der Theke. Als ich später rausgehe, sagt sie: „Bye, te esperamos.“

Die Wartezeit verbringe ich neben einer Frau aus der Schlange. Bis der Bus kommt, kenne ich ihre halbe Lebensgeschichte. Sie hat zahlreiche Kinder, noch mehr Enkel und auch schon Urenkel. Sie wohnt in Panama, stammt aber aus dieser Gegend. In Panama habe sie ein Geschäft, un negocio. Inzwischen habe ich gelernt, dass das kein Geschäft im engeren Sinne, mit Ladenlokal, sein muss, und so ist es auch bei ihr. Sie vertreibt von zu Hause aus Speisen, die sie selbst zubereitet.

Sie will natürlich wissen, wie mir das panamaische Essen schmeckt. Pflichtschuldig sage ich ja, ohne allzu viel Enthusiasmus an den Tag zu legen.

Die Panamaer seien alle sehr freundlich, meint sie, vor allem die aus Chiriquí. Wie denn das Leben in Deutschland sei, doch wohl eher „ruhig“. Das bedeutet, wie ich ihren Kommentaren über Panama entnehme: keine Feste, keine Feiern, kein Frohsinn.

„Europa“, sagt sie, und denkt einen Moment nach. Und dann kommt: „Eurasien“. Sie habe eine Freundin in Dubai. Ob Deutschland da in der Nähe liege. Nicht direkt, sage ich, und muss jetzt doch lachen.

Als wir in der Schlange stehen, um unser Gepäck im Bus aufzugeben, geht ein Mann aus der anderen Richtung an uns vorbei. Ich halte ihn sofort an und frage, ob ich ein Photo machen könne. Er trägt ein BVB-Trikot. Er setzt eine feierliche Miene auf und lässt sich photographieren. Als ich ihn frage, wie er an das Trikot gekommen sei, sagt er: ein Geschenk.

Die Fahrt zieht sich in die Länge. Statt der kalkulierten 7 und der erhofften 6 Stunden, sind es am Ende 8 Stunden.

Von der Landschaft sieht man nicht viel, weil die Vorhänge zugezogen sind. Durch einen Spalt sieht man erst viel Grün direkt am Wegesrand, später eine offene Landschaft mit Tälern und Bergen. Noch bevor wir nach Panama kommen, fängt es an zu regnen.

Wir halten an einem großen, schäbigen Busbahnhof, am Stadtrand von Panama. Hier in der Gegend gibt es große Siedlungen, alles sieht etwas heruntergekommen aus. An diesem Busbahnhof steigen schon die meisten aus.

Bald darauf, schon kurz vor dem Ziel, geht plötzlich gar nichts mehr. Wir kommen keinen Meter voran, und man kann auch nicht sehen, was los ist. Die Fahrerkabine ist nach hinten hin abgeschlossen.

Als es endlich weiter geht, kommt die mit einem großen Bogen überspannte Puente de las Américas in Sicht. Sie ist Teil der Panamericana und war lange die einzige Straßenverbindung zwischen Nord- und Südamerika. Rechts das offene Meer, der Pazifik, links die Ausfahrt aus dem Panama-Kanal. Die Schleuse von Miraflores muss hier noch ein paar Kilometer entfernt liegen.

Der Busbahnhof von Panama ist riesig und modern, mit einer eigenen Ebene für die Ankunft. Ich schiebe meinen Koffer runter zum Taxistand. Der erste Taxifahrer will 10 $ haben. Ich schnappe mir meinen Koffer und biege um die Ecke. Der dort macht es für 5 $.

Er heißt Esmeraldo, macht auch Taxidienste für Touristen, 15 $ pro Stunde, man kann ihn für den ganzen Tag mieten und sich dann überall die Zeit nehmen, die man für die Besichtigungen braucht.

Oft fährt er Besucher aus Mexiko. Die kommen eigens zum Einkaufen nach Panama. Sie lassen sich nach Colón fahren, einer großen Freihandelszone, der größten der Welt nach Hongkong. Hier wird zollfrei importiert, gelagert, verkauft, neu verpackt und exportiert.

Esmeraldo erklärt mir, warum es bei der Einfahrt nach Panama so langsam ging. Abends werden drei Spuren stadtauswärts freigegeben, und es gibt nur eine Spur stadteinwärts.

Wir kommen in ein Wohnviertel, mit einer Reihe von großen, modernen Wohnblöcken. Hier hat es vor einigen Jahren einen Brand gegeben, dem die Holzhäuser der Gegend zum Opfer gefallen sind.

Obwohl die Vermieterin mir genaue Angaben gemacht hat, sucht Esmeraldo. Er muss er ein paar Mal um den Block fahren, bis wir vor dem richtigen Haus stehen. Dort steigt er mit mir zusammen aus, schleppt den Koffer zum Eingang hilft mir beim Öffnen der Tür. Mit Code aus Zahlen und Symbol. Mit seiner Hilfe komme ich beim dritten Versuch rein.

Dann geht es nach oben. Dort sieht es aus wie auf dem Flur eines Gefängnisses. Wieder stehe ich vor einer Tür, die ich mit einem Code öffnen muss. Beim dritten Versuch klappt es.

Ich öffne die Tür und stoße zuerst auf ein Paar Schuhe. Ein Mann erscheint. Ich entschuldige mich und sage, es müsse wohl ein Missverständnis gegeben haben. Er entschuldigt sich seinerseits. Er sei hier, um das Sofa zu reparieren, das die Mieter vor mir beschädigt haben. Er sei in ein paar Minuten fertig. Ist er auch. Er erklärt mir dann noch in aller Ruhe, wie das mit der Tür funktioniert und hilft mir, mich ins Netz einzuwählen. Dann verabschiedet er sich.

Das Apartment ist kleiner, als es auf den Photos aussieht, aber modern und in allem auf dem neuesten Stand. Es gibt alles, was man braucht und fast alles, was man sich wünschen kann. Das Apartment erinnert mich an das erste der Reise. Da schließt sich also ein Kreis.

Als ich meine Sachen ausgepackt habe, merke ich, dass der Mann meine Fresstüten mitgenommen hat, sicher ein Versehen. Aber das bedeutet, dass ich noch mal raus muss. Zum Glück brauche ich nicht lange durch die dunklen Straßen zu gehen, gleich um die Ecke ist ein großer Supermarkt. Vor dem Schlafengehen gibt es dann noch ein eiskaltes Bier.

4. Januar (Samstag)

Unter der Dusche versuche ich vergeblich, warmes Wasser zu bekommen. Das kommt mir merkwürdig vor bei diesem modernen Apartment. Dann kommt mir in den Sinn, den Hebel der Dusche von Rot auf Blau zu schieben. Bei Blau gibt es warmes Wasser.

Es regnet es so heftig, dass an einen Spaziergang nicht zu denken ist. Ich sehe mir stattdessen die Metro an.

Zur Station, der 5 de Mayo, bringt mich ein Taxifahrer, der dafür nur 2 $ will. Als ich einsteige, sagt er, er behandle Ausländer genauso wie Einheimische. Ich sage, dass ich das richtig gut finde und erzähle von meinen Erfahrungen mit einigen seiner Kollegen.

Wir unterhalten uns angeregt. Er heißt Fran und stammt eigentlich aus Chiriquí, ist aber schon seit 30 Jahren hier in Panama. Normalerweise fährt er Schulkinder, aber da jetzt Ferien sind, arbeitet er in dieser Zeit als Taxifahrer.

Er meint, in Deutschland gehe doch alles ziemlich „stark“ zu. Da weiß ich nicht, was er meint. Ja, sagt er, mit der Verfassung und so. Na ja, sage ich, eine Verfassung gebe es ja in allen Ländern,  und die werde doch in den meisten Ländern respektiert.

Das Gespräch geht noch weiter, als wir schon angekommen sind. Er will wissen, ob ich die Länder hier in Mittelamerika als sehr unterschiedlich wahrgenommen habe. Nicht sehr, sage ich. Das ist nicht die Antwort, die er erhofft hat. Vielleicht kann man sagen, dass es zum Süden hin etwas „europäischer“ wird. In Costa Rica und Panama habe ich keine Tuk-Tuks mehr gesehen und keine Eselskarren oder Frauen, die ihre Lasten auf dem Kopf tragen.

In der U-Bahn muss man sich erst eine Karte kaufen und die dann aufladen. Statt mich an den Automaten zu stellen, frage ich eine junge Frau hinter dem Schalter. Sie kommt raus und hilft mir. Mit den 2 $ für die Karte kann man noch keine Fahrt machen, aber mit den 3 $, die man auflädt, kann man drei Fahrten machen.

Die U-Bahn ist modern und sauber, und alles ist hervorragend ausgeschildert. Sogar die Räume auf den Bahnsteigen sind gekennzeichnet, in denen ausgestiegen wird und in denen man wartet. 

Man hat offensichtlich von den Erfahrungen der U-Bahnbauer in Europa gelernt. Es gibt durchgehende Wagen, Sitzplätze gibt es nur längs des Wagens, und es gibt genug Haltegriffe. Natürlich sind alle Anzeigen elektronisch, im Zug und auf dem Bahnsteig.

In den Zügen keine Bänkelsänger, keine Bettler, keine Verkäufer, keine Prediger, nicht einmal ein Fetzchen Papier auf dem Boden. Es wirkt fast steril.

Ich fahre bis San Miguelito, einer großen Station, wo man in die andere Linie umsteigen kann. Unterwegs fallen mir die Namen der Stationen auf: 5 de Mayo und 12 de Octubre, Los Andes und Pan de Azúcar, Iglesia del Carmen und Santo Tomás und El Ingenio und Lotería.

Als ich mich umsehe, fällt mir auf, dass ich, mit der Ausnahme einer weit entfernt sitzenden blonden Frau, der einzige Weiße bin. Panama ist von jeher ein Schmelztiegel gewesen, und hier gibt es jede Menge Variation. Das Haar ist immer schwarz, die Augen sind immer braun, aber bei der Haut gibt es jede Menge Abstufungen.  

Mir gegenüber sitzt eine Frau mit einer Einkaufstüte mit folgendem Aufdruck: Hoy es día de Vino y Tapas. Sie erlaubt mir, ein Photo davon zu machen.    

Am Nachmittag, als der Regen nachgelassen hat, geht es in die Altstadt, ins Casco Viejo. Alle sprechen von Casco Viejo, aber auf den Schildern steht Casco Antiguo.

Meine Unterkunft ist gerade außerhalb des Casco Viejo, in der Nähe der Plaza Santa Ana. Das erste, was einem auffällt, sind die mächtigen Bäume mit ihren „Bärten“. Der Platz ist weder schön noch hässlich, aber er ist auf jeden Fall Teil des ganz normalen Lebens der Stadt. Menschen sitzen unter Bäumen, verkaufen Lose, scherzen miteinander, rufen Passanten etwas zu.

Im Casco Viejo ist das anders. Hier regiert der Tourismus, und die Flaneure sind fast ausschließlich Ausländer.

Bis zum Bau des Panamakanals war das Casco Viejo gleichbedeutend mit Panama. Mehr gab es nicht. Dann zogen die Wohlhabenderen weg, in neuere Stadtviertel. Das Casco Viejo wurde vernachlässigt und verkam immer mehr. Bis man es wiederentdeckte. Das Viertel wurde renoviert und letzten Endes sogar von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannt.

Die Straßen sind eng, aber die Häuser, obwohl meist nur zweistöckig, dafür ziemlich hoch. Nicht alle Häuser sind renoviert, an denen kann man noch gut sehen, wie das Viertel vorher ausgesehen hat.

Da die Altstadt erst nach der Aufgabe von Panama Viejo erbaut wurde, stammen die meisten Häuser aus dem 18. oder 19. Jahrhundert. Sie sieht deshalb anders aus die typischen Altstädte in Europa.

Unterwegs sehe ich zwei Frauen, die sich an einem Baum zu schaffen machen. Sie pflücken die gelben Blüten. Diese Blüten werden zur Herstellung von Parfüm verwandt. Erinnert mich an das Ylang-Ylang aus Honduras, aber die Frauen hier nennen die Blüten cananga.

Links kommt die Kirche La Merced in Sicht. Sie hat große hölzerne Türen mit schönen Eisenbeschlägen. Innen herrscht das Gold vor. Panama hat längst vor dem Kanal als Umschlagplatz für die Waren aus Peru nach Europa von seiner Lage profitiert. So ist denn auch eine der Figuren an den Seitenaltären eine Jungfrau mit einem Schiff in der Hand.

Vorne am Altar steht ein Korb, in dem man etwas für Bedürftige hinterlassen kann, kein Geld, sondern Dinge. Er ist gut gefüllt mit ganz einfachen Sachen wie Küchenpapier.

Bald kommt man auf die Plaza de la Independencia, dem Zentrum der Altstadt. Der heißt so, weil hier, im Cabildo (wohl so etwas wie der Sitz des Stadtrats) Panama 1821 seine Unabhängigkeit von Spanien erklärte. Heute steht hier ein italianisierendes klassizistisches Gebäude mit Balkonen, stockwerkübergreifenden Säulen und einer Inschrift auf Latein.

An der anderen Seite die Kathedrale, teils erbaut mit Materialien aus Panama Viejo, das man nach seiner Aufgabe als Steinbruch benutzte.

Die Kathedrale hat zwei weiße Türme, die man, obwohl nicht sonderlich hoch, auch aus anderen Teilen der Stadt sehen kann. Die Türme sind weiß, die Fassade ist steinsichtig, mit Apostelfiguren in den Nischen.

Die Kathedrale ist fünfschiffig, mit hohen Seitenschiffen und einem ganzen Wald von Pfeilern, 67 insgesamt, die immer wieder neue Perspektiven bieten.

Der andere Hingucker ist ein modernes Gemälde im nördlichen Seitenschiff. Es ist auffällig, aus blauem Leinenstoff gemacht. Auf den ersten Blick ziemlich verwirrend. Im Zentrum erkennt man eine Jungfrau mit indigenen Gesichtszügen und traditioneller Kleidung. Aber was bedeuten die anderen Figuren, die Menschen, die Boote, die Bäume, die Vögel, das Spruchband? Alles ist dicht an dicht gedrängt. Es stellt sich heraus, dass die Szene die Passage der Migranten des 21. Jahrhunderts durch den Darién darstellt, den Weg durch die Hölle, ein Weg durch den Dschungel mit gefährlichen Tieren, mit unerträglicher Schwüle, mit Moskitos und mit raubenden und tötenden Verbrecherbanden. Diesen Weg nehmen die Verzweifelten auf sich in der Hoffnung auf ein besseres Leben in den USA. Dabei werden sie erbarmungslos von Schleppern ausgenutzt, die sie in den Glauben versetzen, sicher durch den Darién von Kolumbien nach Panama zu kommen.

Der Künstler, Aristides, will die Tragödie sichtbar machen und der Toten gedenken, deren Zahl unbekannt ist, die kein Begräbnis bekommen, an die es keine Erinnerung gibt. Viele der Anspielungen in dem Bild versteht man nicht – Warum haben die Bootsleute Musikinstrumente? Was motiviert den glücklichen Ausdruck auf manchen Gesichtern? – aber eindringlich ist es auf jeden Fall, vor allem die Gruppe um die Frau unten links mit dem Kind auf dem Arm und den Kindern um sich herum, die sich ängstlich an sie klammern. Die Gesichter sind entindividualisiert, drücken Beklemmung, Angst, Hilflosigkeit aus. Nicht umsonst bleiben viele Besucher der Kirche lange vor dem Bild stehen.

Draußen auf dem Platz lässt ein Verkäufer Touristen sich an dem Eisklotz versuchen, der gehobelt werden muss, um raspado zuzubereiten.

Ein anderer Verkäufer versucht, mich zum Kauf eines Panama-Hutes zu bewegen. Er hat sie alle der Reihe nach an einem Zaun aufgehängt. Die Einsicht, dass der Panamahut aus Ecuador kommt, ist hier vermutlich nicht sehr populär. Die falsche Bezeichnung setzte sich endgültig durch, als Theodore Roosevelt beim Besuch des Panamakanals einen solchen Hut trug. Zu dem Zeitpunkt war der falsche Name aber schon im Umlauf, und zwar deshalb, weil die Waren aus Südamerika nicht aus den Ursprungsländern in die USA eingeführt werden durften. Sie wurden alle über Panama eingeführt und trugen den Zollstempel Panama.

Das ist den Panamaern aber egal, sie machen ihr Geschäft mit dem Panamahut. Hier hat man sogar eine Straße, wie sonst mit Regenschirmen, mit Panamahüten dekoriert.

Hier auf dem Platz befindet sich auch das Museo del Canal Interoceánico. Das widmet sich weniger dem Kanal als der Zeit vor dem Kanal.

Die ersten Menschen kamen vor ca. 10.000 Jahren nach Panama. Aber längst vorher war das entscheidendste Ereignis der Geschichte Panamas eingetreten. Das ist, so wird angenommen, drei Millionen Jahre her. Da trafen im Meer zwei Erdplatten aufeinander und formten das, was wir heute Mittelamerika nennen. Damit wurden die Meere getrennt, die Kontinente aber verbunden. Es entstand eine Brücke, über die Pflanzen, Tiere und später auch Menschen wanderten, in beide Richtungen. Die Trennung von Pazifik und Atlantik veränderte auch die Meeresströmungen und das Klima und hatte Auswirkungen bis nach Europa!

Von den frühen Menschen sind einige Artefakte ausgestellt, vor allem Keramik, darunter eine „Tasse“, deren Rand wie ein Gesicht geformt ist, mit Schlitzen für Augen und Mund und hervortretenden Backenknochen.

Sehr schön auch die Muscheln, aus denen man durch das simple Einfügen von Löchern Musikinstrumente gemacht hat.

Dann geht es schon bald um den Kanal. Die ersten Initiativen dafür gab es schon im 16. Jahrhundert! Carlos V. beauftragte eine Kommission, die Möglichkeiten für den Bau eines Kanals zu sondieren. Der Plan wurde dann unter seinem Sohn, Felipe II., aufgegeben. Mit der Begründung: Schon so locken wir viel zu viele Feinde an, das würde sich mit dem Bau eines Kanals noch verschlimmern.

Der nächste größere Versuch wurde von den USA gemacht. Hier war es U.S. Grant, Präsident und Bürgerkriegsheld, der gleich zwei Forschungsteams aussandte, um zu sehen, wie und wo der Kanal gebaut werden konnte. Das Resultat: Das Unterfangen wurde für unrealisierbar erklärt!

Sowohl von den Amerikanern als auch von den dann folgenden Franzosen gibt es Messinstrumente wie Geometer, Sextanten, Prismen, Maßbänder und ganz feine Pinzetten und Stifte zu sehen, alle, soweit man das sehen kann, von höchster Qualität. Die Sache wurde auf jeden Fall ernst genommen und mit Professionalität angegangen. Trotzdem wurde das Projekt der Franzosen zu einem Desaster.

Kurz gesagt, haben sie einfach die Schwierigkeiten unterschätzt. Und das, obwohl Lesseps, der Erbauer des Suezkanals, an führender Position beteiligt war. Aber beim Panamakanal war alles anders. Die entscheidenden Widersacher waren der Regen, die Moskitos, Malaria und Gelbfieber und vor allem – die Berge! Lesseps hätte auf Humboldt hören sollen.

So wurde das Projekt, 1880 begonnen, zu einem Fiasko, letzten Endes auch zu einem Fiasko finanzieller Art. Ausgestellt sind hier Obligationen und Lotterielose, die man – sehr erfolgreich – unters Volk brachte. Der Kanal hatte alleine 100.000 Aktionäre. Alles nutzte nichts. Die Kosten fielen höher aus, die Kanalgesellschaft ging Bankrott. 1889 war Schluss. Die Bilanz verzeichnete  20.000 Tote, darunter viele Selbstmörder, und einen handfesten Skandal: Bestechung und Veruntreuung von Geldern waren wohl schuld an dem Schiffbruch des Projekts.  

Ein interessantes Detail gibt es über die Abstimmung in der Kanalgesellschaft zu erzählen, der Abstimmung, bei der über die beste der vorgeschlagenen Optionen abgestimmt wurde: Es gab 74 Stimmen dafür, 8 dagegen, 16 Enthaltungen und 38 Abwesenheiten. Die meisten, die für den Plan stimmten, waren keine Ingenieure, und von den Ingenieuren, die dafür stimmten, war nur ein einziger jemals in Panama gewesen.

Lesseps großer Traum war geplatzt. Man sieht Karikaturen von ihm, wie er mit einem Korkenzieher in die Erde bohrt, wie er breitbeinig über der Landenge steht und wie er als alter Mann im Lehnstuhl zu Hause unter einer Decke liegt.

Das letzte Ausstellungsstück ist bezeichnenderweise ein riesiger, verrosteter  Eisenkessel, in dem der Aushub transportiert wurde. Er war in der Franzosenzeit in Gebrauch und wurde von den Amerikanern beim Bau des Kanals unter dem Schutt wiedergefunden.   

Nach dem Museum geht es wieder in die immer belebter werdende Altstadt. Plätze gibt es hier wie Sand am Meer. Immer wieder stößt man auf einen, den man noch nicht gesehen hat. An einem steht das klassizistische Teatro Nacional, mit allegorischen Figuren und mit berühmten Autoren in Medaillons. Hier ist kein Mensch. Ganz anders als in den anderen Teilen des Casco Viejo.

Ganz an der Südspitze der Halbinsel, die das Casco Viejo bildet, liegt die Plaza de Francia. Hier wird der Rolle Frankreichs beim Bau des Kanals gedacht. Es gibt Büsten der Ingenieure und Politiker, die beteiligt waren, und oben auf einem Obelisk ein gallischer Hahn.

Von hier aus geht es auf eine nach oben führende Promenade am Meer entlang. Hier präsentiert sich die Skyline des Panamas mit den Wolkenkratzern, ganz so, wie man sich Panama vorstellt, wie eine Variante von Manhattan. Die meisten Türme sind schlank und quadratisch, aber man achtet kaum auf die Details. Das Ensemble zählt.

Die Altstadt wird umkreist von einem auffälligen, einen weiten Bogen schlagenden Viadukt, mit Fahrspuren, aber wohl auch einer Spur für Fußgänger. Der Viadukt ist Teil einer größeren Anlage, der Cinta Costera, ein dem Wasser abgerungener Streifen, gebaut mit dem Ziel, den Verkehrsfluss in der Stadt zu verbessern.  

Auf der Suche nach einer Touristeninformation lande ich bei der Touristenpolizei. Die sind personell gut ausgestattet und tragen schicke Uniformen. Aber Ahnung haben sie keine.

An der Plaza Santa Ana ein Banner, das den Protest der Einwohner gegen die Entwicklung des Casco Viejo ausdrückt: no a la gentrificación – stop gentrification.

5. Januar (Sonntag)

Der Jogurt, den ich gestern gekauft habe, mit Geschmack nach guanábana, schmeckt sehr gut. Die guanábana ist eine stachelige, grüne Frucht mit schwarzen Samen und gelblichem Fruchtfleisch. Als wenn das Auseinanderhalten der ganzen exotischen Früchte nicht schon schwer genug wäre, kann man auch noch guanábana mit guayábano verwechseln. Oder sollte das am Ende dasselbe sein?

Heute geht es nach Panama Viejo. Dort lag Panama, bis es nach einem britischen Piratenangriff aufgegeben und hierher verlegt wurde.

Der redselige Taxifahrer macht einen Rundumschlag, was das touristische Angebot Panamas angeht. Das Ausgrabungsgelände liegt ein ganzes Stück entfernt von der Innenstadt.

Hier wird wieder ordentlich abkassiert: 17 $ Eintritt für Ausländer! Wo das ganze Geld wohl hingeht? In den Armenvierteln scheint es nicht anzukommen.

Die Anlage ist weitläufig, und man wird mit einem Bähnchen zur Plaza Mayor gefahren. Unterwegs sieht man schon einige beachtliche Mauerreste. Erstaunlich, denn Panama Viejo wurde nicht nur von den Piraten zerstört, sondern später auch als Steinbruch benutzt. Große Teile der Kathedrale wurden mit Materialien von hier erbaut.

Der Hingucker auf der Plaza Mayor ist der Kirchturm, der komplett erhalten und soweit instand gesetzt worden ist, dass man ihn besteigen kann.

Beim Aufstieg liest man an den Wänden Zitate aus der alten Zeit über die Kathedrale: „Una torre bien alta de tres cuerpos … con sus campanas sagradas, que su sonido consuela en las tempestades.“

Oben gibt es einiges zu sehen. Zu einer Seite drei Inseln, die als Hafen für die Schiffe dienten, die mit allen Kostbarkeiten aus Peru hier ankamen. Panama war die erste spanische Stadt am Pazifik. Der Turm war Glockenturm, aber auch Wachturm.

Zu einer anderen Seite sieht man Santo Domingo und den Beginn des Camino Real. Der führte nach Portobelo, auf der anderen Seite, zum Atlantik.

Die Kathedrale wurde bei einem Brand zerstört, 1539. Dann folgte etwas, was ganz aktuell klang. Es wurde gestritten, ob man neu bauen oder reparieren sollte, ob der Neubau aus Holz oder aus Stein sein sollte. Man entschloss sich für Holz, aber der Bau zerfiel nach und nach. Wieder wurde notdürftig geflickt. Es dauerte bis 1619, bis man sich für einen Neubau entschied. Der wurde 1626 vollendet.

Eine Besonderheit der Kathedrale war ihre Ausrichtung, mit dem Chor zum Meer hin, nach Süden statt nach Osten. 

Die Plaza Mayor war umgeben vom Haus einer führenden Adelsfamilie und von Patrizierhäusern, vom Gefängnis und vom Cabildo. Zu drei Seiten gab es Laubengänge, die Schutz vor Sonne, vor allem aber vor Regen boten.

Bei den Ausgrabungen hat man in den Häusern der wohlhabenden Familien europäische Gefäße, Kacheln aus Sevilla, Glasperlen und bestickte Teppiche gefunden, aber auch Waffen von hoher Qualität. Eine Familie betrieb hier wohl eine Waffenschmiede. Davon zeugen Musketen, Armbrüste, Hellebarden und ein Degen für Linkshänder!

Bevor ich mir das Museum ansehe, mache ich eine kurze Pause bei einem Kaffee und einem süßen Gebäck, das  maicena heißt. Neues Wort, aber bekannter Geschmack: Es ist Lebkuchen!

Das Museum hat einige Überraschungen zu bieten. So wird zum Beispiel diskutiert, ob die Stadt 1671 wirklich von Henry Morgan und seinen Piraten in Brand gesetzt worden ist. Man hat zwar ein paar verkohlte Waffen gefunden, aber sonst keine Spuren von einem verheerenden Brand. Auch die Mauern draußen sehen nicht aus wie vom Feuer angegriffen. Vielleicht wurde die Stadt von den Spaniern selbst zerstört, um den Briten keine Bastion für den Aufbau eines Kolonialreiches in Mittelamerika zu hinterlassen. Und Pläne zur Verlegung der Stadt hatte es wohl auch schon vorher gegeben.

Was auf jeden Fall stimmt: Morgan griff die Stadt mit der größten Piratenflotte an, die es je gegeben hatte. Sie plünderten die Stadt, nahmen Geiseln und forderten Lösegeld und lebten einen Monat lang in Saus und Braus hier.

Wie waren sie überhaupt hierhergekommen? Sie landeten am Atlantik und segelten den Chagres runter, musssten dann aber einen strapaziösen neuntägigen Fußmarsch über den Isthmus hinter sich bringen, um hierher an den Pazifik zu kommen. Trotzdem besiegten sie die Spanier. Sie stießen sie auf eine völlig überforderte, schlecht ausgebildete und schlecht ausgerüstete spanische Verteidigung. In ihrer Not ließen die Spanier eine Herde Stiere auf die Gegner los, aber dieses Manöver war nicht von Erfolg gekrönt.   

Charles II. bat später seinen spanischen Gegenpart – das muss Carlos II. gewesen sein, seinen Namensvetter – um Entschuldigung und gab vor, von dem Angriff nichts gewusst zu haben. Morgan sollte zur Rechenschaft gezogen werden. Er wurde in Ketten nach England zurückgeschifft, aber dort geschah nichts. Morgan lebte unbelästigt die nächsten drei Jahre dort und kehrte später als Vizegouverneur von Jamaika in die Karibik zurück.  

An einem großen Modell im Museum sieht man, wie die Stadt, an zwei Seiten am Meer gelegen, ausgesehen hat. Es gab eine Vielzahl von Klöstern und Konventen, fast alle innerhalb der Stadt. Nur zwei lagen in der Vorstadt, wo die Armen wohnten.

Ein anderer Teil des Museums gilt den Indigenen vor der Ankunft der Europäer. Sie waren in cazicazcos organsiert, einer Vereinigung mehrerer Dörfer unter der Führung eines cazique, der in der Regel in einem eigenen Dorf, getrennt von seinen Untertanen, residierte. Von diesen cazicazcos gab es ca. 80. Sie trieben genauso gern Handel mit einander wie sie sich bekriegten.

Einige schöne Objekte sind ausgestellt, vor allem die Musikinstrumente gefallen mir, Flöten und Okarinas, aus den Knochen von Rindern gefertigt. Am schönsten aber eine Halskette aus Austernperlen, in Orange und Weiß, in bestimmten Intervallen abwechselnd angeordnet. Sie wurde als Grabbeigabe gefunden.

Die Grabfunde sind der Höhepunkt des Museums. Da sieht man ein weibliches Skelett, eine Frau, mit geöffnetem Mund, einem seitlich abstehenden und nach oben gezogenen Bein, den Armen rechts über den Brustkorb gelegt und den Kopf auf die Hände ausgerichtet. Ihr Körper wurde so positioniert, dass sie wie eine tanzende Sängerin ausgesehen hat. Das Ganze muss mit Bedacht geschehen sein. Sie muss in diese Position gebracht worden sein, bevor der rigor mortis einsetzte.   

Noch spektakulärer ein anderes Grab, wieder das einer Frau, einer etwa vierzigjährigen reifen Frau, etwa auf 1230-1300 zu datieren. Auch ihr Mund ist geöffnet, und sie hält eine Hand unter ihrem Becken und eine Hand drüber. Ihr Körper liegt auf 10 männlichen Schädeln, aber die sind viel älter als sie, in einem Fall ist der Schädel vermutlich 700 Jahre älter. Diese Schädel müssen also mit großer Sorgfalt über Generationen aufbewahrt und ihr als besonderes Hoheitszeichen mit ins Grab gegeben worden sein.

War eine gute Idee, sich Panama Viejo anzusehen. Zurück geht es mit dem Bus. Ein älteres Modell, das gleichzeitig brummt und pfeift. Er hat ein Drehkreuz für den Einstieg und für den Ausstieg. Wer hat sich das nur ausgedacht? Ist für alle lästig, vor allem für die, die Lasten schleppen.

Der Bus hat seine Endhaltestelle in Albrook, wo auch die Fernbusse ankommen. Hier gibt es auch eine Shopping Mall und einen offenen Markt, auf dem es lebendig zugeht. Vom Sonntag merkt man nichts.

Der Markt geht direkt über in die Fußgängerstraße. Hier werden die Verkaufsstände vom Morgen gerade abgebaut.

Irgendwo stoße ich auf einen Wagen, der mit Ananas beladen ist. Ich möchte eine mitnehmen. Was kostet die? 50 Cent! Ich gebe dem Verkäufer einen Dollar, und da will er mir gleich eine zweite mitgeben. Die Ananas ist ein Traum, saftig und süß. Ich esse jeden Morgen eine Scheibe davon und genieße es. Kann mich nicht erinnern, schon mal so eine leckere Ananas gegessen zu haben. 

Am Abend gehe ich ins Masa, einem italienischen Lokal an der Plaza Santa Ana. Die sieht am Abend mit der Beleuchtung richtig schön aus. Man sitzt mitten auf dem Platz, das Essen wird herübergetragen. Die Portion Pasta fällt allerdings ziemlich mickrig aus.

Dann, auf dem Rückweg, sehe ich endlich, was ich schon länger hätte sehen sollen, die Mondsichel, die hier, wie ich von verständiger Seite gehört habe, nicht vertikal, sondern horizontal am Himmel steht! Sieht ganz ungewöhnlich aus. Leider versteckt sich der Mond hinter einer Wolke genau in dem Moment, wo ich ein Photo machen will.

6. Januar (Montag)

Bevor ich Panama verlasse, ohne den Kanal gesehen zu haben, geht es heute nach Miraflores, zur Schleuse auf der Pazifikseite.

Der Uberfahrer polemisiert gegen die Taxifahrer. Die würden nur die Touristen ausnehmen, viel höhere Preise verlangen als von den Einheimischen. Man solle nie in ein Taxi einsteigen, da werde man überfallen und ausgeraubt.

Wir kommen am Hafen von Panama vorbei, dem Puerto de Balboa, an riesigen Hebekränen und kilometerlangen Reihen von übereinandergestapelten Containern. Hier löschen die Schiffe ihre Fracht, die nicht in den Kanal fahren.

Dann kommt ein großes Elektrizitätswerk. Das ist Strom, der von dem Kanal selbst erzeugt wird.

Leider habe ich mich auf eine Information verlassen, die ich im Internet gefunden habe. Danach ist die beste Zeit für die Besichtigung von Miraflores von 9-11, aber als ich um 9 Uhr ankomme, läuft schon gerade das letzte Schiff aus. Den ganzen Prozess des Hebens der Schiffe verpasse ich. Dass man die Schiffe überhaupt nur zu bestimmten Zeiten sieht, habe ich auch nicht gewusst. Ich dachte, die würden da Schlange stehen, um in die Schleuse zu kommen.

Tatsächlich laufen die Schiffe am Vormittag in diese Richtung aus, am Nachmittag kommen sie aus der anderen Richtung, vom Atlantik her.

Heutzutage ist der Kanal 24 Stunden am Tag in Betrieb, früher wurde nur bei Tageslicht gefahren.

Die Durchfahrt durch den Kanal dauert etwa 10-12 Stunden. Die Fahrt durch den Kanal erspart einen Umweg von 2-3 Wochen um die Südspitze Amerikas, kostet aber auch was. Das Schiff, was wir gerade auslaufen sehen haben, muss ca. 700.000 $ dafür berappen.

Inzwischen gibt es eine zweite, breitere Fahrrinne. Da sieht man hinten zwei Schiffe durchgleiten, ohne dass man das Wasser sieht. Vor uns hat sich derweil in aller Ruhe ein Pelikan am Wasser niedergelassen.

Das Wasser des Kanals ist Süßwasser. Es kommt nur vom Regen und vom Chagres, dem Fluss, der in den Kanal fließt.  

Warum gibt es überhaupt Schleusen? Und zwar nicht nur eine, sondern zwei oder sogar drei auf jeder Seite, hier am Pazifik mit einem Stausee, dem Lago de Miraflores, zwischen der Esclusa de Miraflores und der Esclusa de Pedro Miguel? Es liegt nicht an der Ungleichheit von Atlantik und Pazifik. Die liegen auf gleicher Höhe. Man entschied sich für die Schleusenlösung, um nicht noch mehr Erde ausheben zu müssen. Das war so schon aufwendig genug. Der Durchbruch durch die Corta Culebra dauerte allein sechs Jahre, der Kanalbau insgesamt zehn Jahre.

Das Wasser muss das ganze Jahr über geregelt werden, aber wie genau das geschieht, verstehe ich nicht. Auf jeden Fall sind die ungleiche Verteilung der Niederschläge im Laufe des Jahres und die ungleiche Menge von Wasser, die der Chagres mit sich führt, ein echtes Hindernis, man denke nur an die prononcierten Trocken- und Regenzeiten hier in den Tropen. Zu viel Wasser scheint nicht so sehr ein Problem zu sein wie zu wenig Wasser.

Die schwierigste Stelle bei der Durchfahrt ist die durch die Schleusen. Man hat zu beiden Seiten gerade mal einen Fuß Entfernung zwischen Kanalmauer und Schiff. Das bedeutet, dass das Schiff selbst die Durchfahrt nicht bestreiten kann. Um Schäden am Schiff oder am Kanal zu vermeiden, wird das Schiff von Zugbooten in die Schleuse gestupst und hier von einer schmalen Eisenbahn gesteuert, deren Schiene direkt parallel zum Kanal verläuft.

Pro Tag werden etwa 30-40 Schiffe durch den Kanal gesteuert, im Laufe eines Jahres sollen es 14.000 sein. Was transportieren die Schiffe? Vereinfacht gesagt: Autos, Baumaterialien, Nahrungsmittel.

Die Schleusentore wurden in Italien gefertigt und dann mit einem Schiff hierhergebracht, das extra für diesen Zweck gebaut wurde. Vier mal vier Schleusentore kamen im Laufe von acht Monaten hier an.

1914 durchlief das erste Schiff den Kanal, ein Dampfer, die S.S. Ancon. Von diesem Schiff ist hier ein Modell ausgestellt, genauso wie von der Lokomotive, von der es gezogen wurde.

In einem Film sieht man Jimmy Carter, der einen Kommentar zur Eröffnung des Kanals macht, gut 20 Jahre, nachdem er den entsprechenden Vertrag ausgehandelt und unterschrieben hatte, gegen den erbitterten Widerstand der Republikaner, wie er sagt. Die endgültige Übergabe erfolgte am 1. Januar 2000. Gut für Panama, gut für die USA, sagt Carter.

Die Befürchtungen, dass Panama mit dem Kanal überfordert sein würde, technisch und administrativ, erwiesen sich als unbegründet. Es hat seitdem keinen einzigen Unfall gegeben, und die Zahl der Durchfahrten – und damit vermutlich auch die Höhe der Erlöse – hat sich verfünffacht!

Wo geht das ganze Geld hin? 60% der Erträge gehen in den Erhalt des Kanals und die Gehälter der 9.000 Angestellten. Und der Rest? Der Mann, der die Erklärungen abgibt, schaltet das Mikrophon aus und sagt, diese Gelder verschwänden in unsichtbaren Kanälen.

In einem dreidimensionalen Film mit beeindruckenden Bildern, der im IMAX-Kino gezeigt wird, feiert der Kanal sich selbst und Panama. Vor allem wegen der Bewahrung der Natur um den Kanal herum. Da kommen einem natürlich Zweifel. Das beste Mittel, die Natur zu erhalten, ist es, erst gar keinen Kanal zu bauen und erst recht keine Erweiterung. Dazu kommt, dass Panama seit Jahrzehnten Regenwald opfert, um Weiden für die Viehwirtschaft zu schaffen. Und die Bewahrung der Natur um den Kanal herum, die wirklich beeindruckend ist, dient in erster Linie dem Erhalt des Kanals. Ohne Natur kein Fluss, ohne Fluss kein Regen, ohne Regen kein Kanal.  

Die Rückfahrt in die Stadt führt an Häusern der damaligen US-Soldaten vorbei, die, zusammen mit vielen Zivilisten, den Streifen entlang des Panamakanals bewohnten. Noch heute verläuft hier ein schnurgerader Zaun. Die Amerikaner lebten in der Kanalzone, jeweils 15 Meilen rechts und links des Kanals, wie in den USA, mit ihren eigenen Schulen, Geschäften, Golfplätzen, Kasinos. Faktisch, aber nicht rechtlich, war dies ein Teil der USA.

Zu einem ersten Zusammenstoß kam es, als amerikanische Schüler, rechtswidrig, die Flagge der USA in der Kanalzone hissten. Studenten aus Panama reagierten und hissten die Flagge Panamas. Es kam zu Schlägereien, dann zu Schießereien, die Gewalt eskalierte, 22 Panamaer kamen ums Leben. Die Situation beruhigte sich wieder, aber es war endgültig klar geworden, dass die Panamaer sich nicht mehr mit der Herrschaft der USA über den Kanal abfinden wollten. Am Ende stand die Übergabe des Kanals an Panama.

Ohnehin waren die Amerikaner nur mit einem ziemlich üblen politischen Manöver an den Kanal gekommen. Sie wollten das gescheiterte französische Projekt wiederaufnehmen und erfolgreich zu Ende führen, um sich die Einkünfte aus dem Kanal zu sichern. Und zusätzlich Geld zu sparen durch die verkürzte Fahrt von der amerikanischen Ostküste an die Westküste. Das stieß in Kolumbien auf keine Gegenliebe. Also machten die Amerikaner das, was Amerikaner am liebsten machen: Zwietracht säen. Sie unterstützten eine panamaische Untergrundorganisation. Es kam zum Umsturz, die USA ließen sich die Rechte an dem Kanal als Dank für ihre Unterstützung geben und förderten die Loslösung Panamas von Kolumbien. Die kolumbianische Regierung setzte sich zur Wehr, musste aber nachgeben, als die USA Kriegsschiffe zu beiden Seiten des Kanals auffuhren. Der lukrative Kanal wurde vollendet und spülte Geld in die Kassen der USA. Kolumbien guckte in die Röhre. Und Panama auch.

Die Fahrt mit dem Taxi geht weiter zur Küste, zur Calzada del Amador. Unterwegs gibt es eine Abzweigung in einen Stadtteil, der Diablo heißt.

Die Calzada de Amador ist ein kilometerlanger Damm, der verschiedene kleine Inseln mit dem Festland verbindet. Er wurde beim Bau des Panamakanals aus dem Abraum aufgeschüttet. Zunächst diente er als Verbindungsstraße für das Militär. Heute ist der gepflasterte breite Weg entlang  der schmalen Dammstraße ein Paradies für Skater, Jogger, Spaziergänger und vor allem für Radfahrer. Es gibt  verschiedene Leihstellen für Fahrräder, die erste ist gleich neben dem Biomuseum, das man schon von weitem sieht. Es ist untergebracht in einem sensationellen modernen Gebäude mit einem bunten Zeltdach in knalligen Farben.

Der Fahrradverleih kassiert ordentlich ab, aber so eine Gelegenheit darf man sich einfach nicht entgehen lassen. Herrlicher Sonnenschein, wunderbares blaues Wasser zu beiden Seiten des Wegs, fantastische Fahrwege, breit und flach, und immer wieder Aussichtspunkte, von denen man aufs Meer gucken kann. Boote, Jachten, Frachtschiffe. Ein Vergnügen.

An dem steinigen Ufer sehe ich an einer Stelle eine ganze Kolonie von Geiern. Einige sitzen ganz friedlich auf den Steinen, andere balgen sich um etwas, dann fliegen alle wie auf Kommando weg. Zwei aber bleiben Seite an Seite auf einem alten Laternenpfahl sitzen und bieten mir ein phantastisches Photomotiv.

Ein anderes Photomotiv bietet ein verrostetes altes Boot, das hier verlassen im Wasser liegt.

An einem dieser Aussichtspunkte entdecke ich auf einmal die Puente de las Américas hinter mir, nachdem ich sie die ganze Zeit vor mir gesucht habe.

Auf dem Rückweg will ich bis an sie ran fahren, aber das klappt nicht, der Weg endet kurz davor. Ohnehin zieht der Himmel sich zu. Zeit, nach Hause zu fahren und sich um den Sonnenbrand zu kümmern.   

7. Januar (Dienstag)

Heute geht es nach Portobelo, an die andere Seite, an den Atlantik.

Die Fahrt führt über die Autobahn und den Río Chagres. Dann biegen wir auf eine schöne, schmale Landstraße ab.

Rechts eine Jugendstrafanstalt, dann kommt eine Ort in Sicht, in dem es zuzugehen scheint wie in Colón, der großen Freihandelszone weiter östlich. Überall riesige Läden, die wie Großhändel aussehen.

Dann kommt das Meer in Sicht, wunderbar blau das Wasser. Es geht mehrere Kilometer lang am Wasser entlang, mit kleinen Unterbrechungen. Am Wegesrand die typischen Bäume mit den großen Blättern, die man hier immer wieder sieht, meist grüne Blätter, aber immer ein paar rote dazwischen.

Kurz vor Portobelo kommt man an ein paar Bootsanlegestellen und Pensionen vorbei, dann kommen wir in die Stadt.

Der Taxifahrer antwortet auf die Frage, was man hier machen könne: Oh, alles, hier könne man essen … und einkaufen … und im Oktober gebe es ein großes Fest.

Der Ort hat eine karibische Atmosphäre. Woran das liegt, weiß ich nicht. Die Menschen vom Volk der Congo, das hier lebt, tragen wahrscheinlich auf unmerkliche Weise dazu bei, vielleicht durch ihre Art, zu sprechen oder ihre Art, sich zu bewegen.

Die Stadt ist jedenfalls sehr authentisch, viele Einheimische unterwegs, es ist eher ruhig, kaum Touristen. 

Die Kirche, San Felipe, ist meine erste Anlaufstation. Sie  ist groß und ganz einfach, mit einer Holzdecke und wenig wertvollem Schmuck. Ganz anders als in Panama.  

An der Seite eine Krippe mit riesigen Figuren für die Heilige Familie und die Könige. Die ganze Landschaft ist aber bevölkert von unzähligen kleinen Figuren, Hirten,  Waschfrauen, Eselskarren, Frauen mit Lasten auf dem Kopf, Fischverkäufer, Reiter, Mägde, das ganze Panorama.

Der eigentliche Schatz der Kirche ist der Cristo Negro, ein kreuztragender schwarzer Christus, in einer Vitrine vor dem Chor untergebracht. Er gilt als der Christus der Salsa-Sänger und taucht auch in ihren Liedern auf. Seinetwegen findet das Fest im Oktober statt, von dem der Taxifahrer gesprochen hat.

Sein Ursprung ist unbekannt und es gibt, wie man später in der Ausstellung in der Aduana sieht, verschiedene Legenden zu seiner Herkunft. Nach einer dieser Legenden sollen die Leute von Portobelo die Figur eines San Felipe bestellt haben, aber als die am Hafen ankam, konnten sie die Kiste nicht öffnen. Also nahmen sie die Figur aus der anderen Kiste, und das war der Cristo Negro. Als Entschädigung gaben sie den Leuten des Nachbarortes die andere Kiste, und die enthielt den San Felipe.

Die Aduana, das große, zweistöckige Gebäude etwas weiter, ist die ehemalige Zollstation. Portobelo war lange der wichtigste Hafen in der Karibik der Kolonialzeit, und die schweren Festungen schützten die teuren Waren, die von hier nach Spanien verschifft wurden und den ursprünglich alle zwei Jahre stattfindende Markt. Dieser Markt konnte bis zu zwei Monaten dauern und war ein lebendiger und farbiger Austausch von Waren und ein bedeutender Treffpunkt, der Käufer, Händler und Piraten aus allen Richtungen anlockte, genauso wie Menschen, die was erleben wollten oder das Abenteuer suchten.

Die Aduana war das Epizentrum dieses Marktes. Unten wurden Waren gelagert, angeboten, verpackt und verzollt, oben waren Amtsstuben untergebracht, in denen das Geschäftliche geregelt wurde.

Der britische Vizeadmiral Edward Vernon attackierte Portobelo 1939 und zerstörte Teile der Festungsanlagen, aber die Aduana kam ungeschoren davon. Nicht aber bei einem späteren Angriff unter der Leitung des Kommandeurs William Kingshill. Der gab innerhalb eines einzigen Tages 5.000 Schüsse auf Portobelo ab und zerstörte die meisten Häuser und die Aduana. Als seine Flotte nach England zurückkehrte, erlitt sie Schiffbruch. Die gesamte Besatzung kam ums Leben.

Das Fest des Cristo Negro wird bis heute mit karibischer Lebenslust gefeiert, mit sinnlichen Tänzen und geschwärzten Gesichtern. Dabei verfolgen die Congo, bei feurigen Rhythmen, einen als Teufel verkleideten Mann und versuchen, ihn rituell zur Strecke zu bringen. Die Männer tragen ihre Kleidung falsch herum, die Frauen tragen Kleider aus alten Stofffetzen. Das ist der Kirche ein Dorn im Auge. Es gibt einen Zeitungsausschnitt zu sehen, in dem die Diözese ankündigt, keine Priester zur Feier des Cristo Negro zu entsenden.

In der Ausstellung gibt es etwas über die Sklavenhaltung in der Karibik zu erfahren. Hier geht es in erster Linie darum, wie Sklaven ihre Freiheit erlangen konnten. Dazu gab es drei Wege: Man konnte sich freikaufen, man konnte freigelassen werden und man konnte fliehen. Die Freiheit bedeutete nicht immer, am Ziel angelangt zu sein, denn man war sozial und finanziell in einer schwierigen Situation, musste sich durchkämpfen. Die entflohenen Sklaven wurden zunächst natürlich verfolgt, aber irgendwann müssen die Sklavenhalter eingesehen haben, dass das letztlich zu nichts führte. Man erlaubte ihnen, ihre eigenen Dorfgemeinschaften zu gründen und beschützte sie sogar. Da war bestimmt politisches Kalkül im Spiel. Aber immerhin, es wird von einigen entflohenen Sklaven und auch von freigelassenen berichtet, die später den Weg ihren Weg in der kolonialen Gesellschaft machten.

In einem Vergleich zwischen den Ländern sieht man, dass die erste Sklavenbefreiung in Amerika in Haiti stattfand, die letzte in Brasilien.

Danach geht es in die Festungen. Es gab insgesamt drei davon, ich komme in zwei direkt nebeneinander liegende. Man sieht Mauerreste, Kanonen und kleine Wachtürme und kann von dort wunderbar auf das Meer blicken. Die Anlagen haben den Charme des Verfallenen.

Die Vögel, schwarz mit weißen Streifen, die hier so elegant und lautlos durch die Luft schweben, sind Möwen. Ganz anders als die Möwen bei uns.

Entlang der Landstraße mache ich mich auf den Weg zu den Bootsanlegestellen, die ich vorher vom Bus aus gesehen habe. Gleich an der ersten mache ich Halt und erkundige mich. Man kann mit einem Boot auf eine Insel übersetzen. Da bin ich sofort dabei. In der Wartezeit wird mir eine Kokosnuss serviert.

In das Boot zu kommen, ist eine wacklige Angelegenheit, und die beiden Puerto-Ricaner, die mit mir übersetzen, Brenda und Howard, machen das viel eleganter als ich.

Sie erweisen sich als sehr gesprächig. Sie hätten einen deutschen Freund. Den haben sie hier bei der Fahrt mit dem Katamaran nach Taboga kennengelernt. Er sei so was wie Freizeitcoach, veranstalte Touren und Kurse und Partys. Woher er ist, wissen sie nicht, aber sie haben einen Link zu seiner Website. Leipzig. Ob das bei mir in der Nähe sei. Sie wundern sich, als ich ihnen erkläre, was sein Nachname bedeutet. Er heißt Friedhof.

Howard erklärt mir, sein Onkel sei fünf Jahre lang in Deutschland gewesen, in Frankfurt. Was er denn da gemacht habe, will ich wissen. Er war in der Armee. In der Armee, in Deutschland, als Puerto-Ricaner? Nein, als Amerikaner. Sie sind völlig verdutzt, als sie feststellen müssen, dass ich nicht weiß, dass Puerto-Ricaner die amerikanische Staatsbürgerschaft haben. Alle. Aber Puerto Rico gehört doch nicht zu den USA. Nein, es habe einen Sonderstatus, es sei ein territory. Vielleicht würden sie demnächst zum 51. Bundesstaat der USA. Im Moment sei die Stimmung noch ziemlich geteilt, 60:40. Eine knappe Mehrheit ist gegen die Eingliederung in die USA.

Jetzt kommen wir auf die Insel zu. Schon die Fahrt mit dem Motorboot ist ein Genuss, und der Strand, auf den wir zufahren, lässt keine Wünsche offen: eine kleine Bucht, dicht von Bäumen bestanden, Sandstrand, zwei einfache Kioske, ein paar Sonnenschirme, nur Einheimische am Strand, eine gelöste, unaufgeregte Atmosphäre. Und das Wasser ist nicht so warm, wie man befürchten konnte. Die Temperatur ist ideal. Die Bucht liegt geschützt, es gibt kaum einen Wellengang, und man kann richtig schwimmen.

Als ich schon ein bisschen draußen bin, sehe ich, wie Brenda und Howard ins Wasser kommen, beide mit einer Dose Bier bewaffnet.

Langweilig wird es einem hier nicht. Man kann immer mal kurz ins Wasser und dann wieder an den Strand gehen und die Kinder beim Spielen beobachten. Sie haben einen Baum, dessen größter Ast sich dem Wasser zuneigt, als Sprungbrett entdeckt. Vom Ende des Astes springen sie ins Wasser, einige sogar mit Kopfsprung. Ich sehe, wie Howard es ihnen nachtut. Das will ich auch, aber ich komme kaum auf den Baum rauf und habe dann keine Traute, bis zum Ende zu balancieren. Da beobachte ich neidisch die Kinder, für die das im wahrsten Sinne ein Kinderspiel ist.

Wir werden rechtzeitig abgeholt, damit ich einen Bus nach Panama erwische. Heimlich hoffe ich, dass die beiden mir anbieten, mich mitzunehmen, aber sie geben kein entsprechendes Signal ab. Als ich schon am Straßenrand stehe, fragen sie dann plötzlich doch, ob sie mich mitnehmen können. Glück gehabt.

Sie haben einen Mietwagen genommen. Das sei am besten für die Fortbewegung hier. Da muss ich ihnen Recht geben, wenn ich höre, wo sie überall im Laufe der letzten Woche gewesen sind. Sie haben scheinbar keinen Strand in Panama ausgelassen und empfehlen außerdem den Cerro Ancón und den Parque Metropolitano. Ich erfahre, dass sie Geschäftsleute sind. Es mangelt ihnen offensichtlich nicht an Kleingeld. Am Jahresbeginn machen sie immer so eine Fahrt, irgendwo in der Gegend, mal in die USA, mal nach Costa Rica, mal nach Jamaika. Demnächst wollen sie mal nach Kolumbien.

Als wir nach Panama reinkommen, erwähnen sie noch ein paar witzige Straßennamen, auf die sie gestoßen sind wie Pedro Deprimido. Und sie fragen mich, ob ich La Tuerca gesehen hätte, einen Wolkenkratzer, der sich wie eine Schraube nach oben dreht. Nein, habe ich nicht. Und dann taucht er direkt vor uns auf.

Sie fahren zu ihrem Hotel, im Wolkenkratzerviertel gelegen. Dort übergeben sie den Autoschlüssel an den Portier, damit der das Auto in die Garage fährt. Zu meiner Überraschung nehmen sie mein Angebot an, mich an den Spritkosten zu beteiligen.

Als ich aussteige, winkt mir ein Taxifahrer zu. Muss eine Verwechslung sein. Denke ich. Ist es aber nicht. Er habe mich in Colón gesehen, er sei am selben Strand gewesen, habe Gäste dorthin gebracht. Wir müssen sogar kurz miteinander gesprochen haben, als es um eine Verwechslung von Taschen ging. Er ist ganz begeistert, mich nach Hause fahren zu dürfen.

Der Hunger treibt mich noch mal raus. Es gibt ein ordentliches, sättigendes Essen in einem Lokal, das den unpassenden Namen Café Coca-Cola trägt.  

Am Abend lese ich, dass Panama, gemessen an der Ausdehnung, die längste Küstenlinie aller Länder hat.

8. Januar (Mittwoch)

Heute steht eine Bootsfahrt über den Kanal auf dem Programm. Eine teure Angelegenheit, und, was mich am meisten ärgert, ist, dass man erst nach der Reservierung erfährt, dass man weitere 20 $ abdrücken muss, für den „Eintritt“ in den Dschungel, und zwar in bar. Da hat man immer das Gefühl, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht.

Fernando, unser Fahrer und Führer, ist sehr aufmerksam, achtet immer darauf, dass jeder zu seinem Recht kommt, und erklärt gut, aber viel zu wenig, zumindest zum Kanal. Andererseits: Er beantwortet alle Fragen.

Wir sind eine ziemlich internationale Gruppe: zwei Schweizerinnen, ein kanadisches Paar, zwei Spanierinnen, eine Deutsche aus Dortmund, eine Argentinierin und noch zwei oder drei, deren Nationalität ich nicht mitbekomme.

Die Dortmunderin kann ich mit meinem Photo von dem Mann mit dem BVB-Emblem auf dem T-Shirt nicht beeindrucken, sie hält zu Bochum.

Sie spricht gut Spanisch, hat ihr Spanisch in Argentinien gelernt, in Córdoba. Da hat sie ein halbes Jahr gearbeitet und dann ist sie noch wochenlang durch Argentinien gereist, hat das ganze Land kennengelernt.

Als sie ihren Freunden in Deutschland sagte, sie wolle nach Panama, hätten alle gesagt: Warum denn nicht nach Costa Rica? Bestätigt meinen Eindruck.

Die Spanierinnen sind aus Sevilla bzw. aus Salamanca. „Salamanca!“ Sie ist ganz überrascht von meinem begeisterten Ausruf.

Wir fahren zum Río Chagres, um uns einzuschiffen. Unterwegs sehe ich ganz kurz die Brücke, die ich bei der Ankunft in Panama aus der Ferne gesehen habe. Fernando hilft, meine Verwirrung zu erklären: Es sind zwei Brücken! Die Puente Centenario, weiter vor der Stadt, und die Puente de las Américas, am Stadtrand. Die eine ist weiß und ihre Streben bilden ein Dreieck, die andere ist silbern und geschwungen. Beide schön.  

Es geht erst ganz langsam los mit dem Boot, dann wird zwischendurch immer wieder Fahrt aufgenommen. Der Übergang vom Chagres zum Lago de Gatún ist unmerklich. Man hat hier wirklich nicht den Eindruck, auf einem Kanal zu sein. Und doch kommt uns schon bald ein Lastschiff entgegen. Das transportiert Gas. Man sieht an der roten Linie am Bug, dass das Schiff nicht voll beladen ist. Fernando sagt, im Schnitt bezahle man etwa 500.000 $ für die Durchfahrt. Das dürfte auch für dieses Schiff gelten. Später sehen wir noch ein Schiff, das Autos an Bord hat und ein weiteres mit unbekannter Ladung.

Der Kapitän des Schiffs muss vor den Einfahrt in den Kanal an den Panamakanalkapitän abgeben. Nur der hat hier das Sagen. Und zwar ganz wörtlich. Nur er spricht, die Kapitäne der Begleitboote und die Leute an Land sprechen nicht, damit es kein Durcheinander gibt.

Fernando erklärt: Der Río Chagres floss früher ganz „normal“ in den Atlantik. Er wurde dann aufgestaut und bildet nun den Lago de Gatún. Der hat eine Wassertiefe von 15 Metern.

Man sieht immer nur grün zu allen Seiten, dichte Vegetation, am Ufer und auf den unzähligen Inseln. Wir fahren in ein paar Seitenarme des Sees. Hier ist das Wasser nicht tief genug für die Lastschiffe.

Zuerst sehen wir Kapuzineraffen auf einer Insel, mit ihren braunen Köpfen und dem schwarzen Fell. Sie fressen Früchte und kleine Schlangen und Leguane.

Man darf sie keinesfalls füttern, wohl aber photographieren. Am Abend bringt ein Boot ein bisschen Futter mit, damit sie sich für die Boote interessieren. Mehrere Monate pro Jahr verkehren hier gar keine Touristenboote. Die Affen sind dann wieder auf sich allein gestellt. Es wird behauptet, man tue das den Affen zuliebe, aber vielleicht ist es eher so, dass in der Regenzeit keine Nachfrage ist.

Auf der nächsten Insel sehen wir Brüllaffen. Die sind viel scheuer und schwer zu photographieren. Dafür bieten sie uns ein Konzert, als wir näher kommen. Wie auf Kommando fangen sie an, das zu tun, was sie ihrem Namen nach tun sollen: Sie fangen an zu brüllen. Ein tolles Erlebnis! Die Brüllaffen fressen nur Blätter, am liebsten die ganz jungen Triebe.

Auf der dritten Insel sehen wir die putzigen  Tamarine, kleine Affen, die wohl entfernt verwandt sind mit den Totenkopfaffen. Sie fressen Früchte und Insekten.

Als wir wieder auf den Chagres kommen, sehen wir auf einem Baumstamm faul ein Krokodil liegen. Vor ihm in aller Seelenruhe eine Schildkröte. Die Krokodile warten auf die ñeques, große Nagetiere, die bald zum Trinken ans Wasser kommen. Als wir wieder losfahren, sehen wir einige von ihnen zwischen unbewohnten Häusern herumhoppeln. Sie haben unzählige unterschiedliche Namen, je nach Region. Auf Deutsch finde ich Agutis für sie.

Wir fahren ein einfaches Lokal an. Dort werden empanadas und hojaldre serviert sowie Ananas und Papaya. Beim hojaldre handelt es sich um ein einfaches, leckeres Gebäck aus Blätterteig. Fernando zufolge das klassische Gebäck zum Frühstück in Panama.

Ich frage die Schweizerinnen und die Kanadier, ob sie sich an ihrem Akzent erkennen. Ja, auf Anhieb. In beide Richtungen. Für die Schweizer ist es schwerer, die Kanadier zu verstehen als umgekehrt.

Die Argentinierin sagt auto, wenn sie Auto meint, gebraucht dann aber auch coche. Wenn ich das richtig verstehe, ist damit ein Taxi oder ein Mietauto gemeint.

Es folgt noch eine kurze Wanderung durch den Dschungel. Etwas enttäuschend, Fernando lässt uns allein, um uns am anderen Ende wieder einzufangen. Er führt uns aber noch zu einem Baum mit einem beeindruckenden Stützwerk unten am Stamm. Das ist der Baum, der dem Land seinen Namen gegeben hat, sagt er. Die Indios haben Panama nur für diesen Baum benutzt, die Spanier haben es auf das ganze Land bezogen.

Auf dem Rückweg fahren wir an unbewohnten Häusern vorbei, die aber gut in Schuss zu sein scheinen. Es sind die ehemaligen Wohnhäuser der US-Soldaten. Warum sie leer stehen – was eine Schande ist – verstehe ich nicht so richtig,  eventuell sind sie von dem naheliegenden Luxushotel aufgekauft worden, an dem wir noch eine Photopause einlegen.

In der Stadt setzt mich Fernando direkt an einem Geldautomaten ab. Er gibt sich echt Mühe, einen zu finden.

Auf dem Weg nach Hause komme ich an einem Haus vorbei mit einem Ausspruch an der Wand, der mir seit Tagen schon als Anhaltspunkt dient, um den Weg zu finden: Una vida no puede ser larga pero ancha y profunda.

Am Abend geht es auf die Costa Cintera, den Streifen Land am Meer entlang. Sowohl die Wolkenkratzer als auch die alten Häuser der Innenstadt und der Viadukt sind beleuchtet.

Es herrscht eine absolut friedliche, familiäre Atmosphäre. Auf der ganzen Promenade ist viel Volks unterwegs, bunt gemischt. Alles ist vertreten: Flaneure, Radfahrer, Jogger, Skater, Familien mit Hunden und Kindern, Souvenirverkäufer und Imbissverkäufer. Obwohl es schon stockdunkel ist, ist es noch früh. Oder umgekehrt.

Ich folge zuerst der Spur eines der erleuchteten Türme. Der ist mir in den letzten Tagen immer wieder von weitem aufgefallen. Er gehört zu San Franciso de Asís. Was man erleuchtet sieht, sind die großen Klangarkaden und dazu noch eine Laterne ganz oben auf dem Turm. Die Kirche selbst sieht überhaupt nicht spanisch aus. Sie könnte genauso gut in Venedig stehen.

Ganz ruhig ist es, anders als am Tag, an der Plaza de Francia. Hier bin ich fast alleine. Was der Reiseführer sagt, dass man von hier aus die Schiffe sehen könne, die vor der Puente de las Américas auf die Einfahrt in den Kanal warten, stellt sich als Unsinn heraus. Man sieht kein Schiff, und die Brücke kann man nur ganz in der Ferne schemenhaft erkennen.

Ganz am Anfang der Promenade befindet sich der Mercado de Mariscos. Ein irreführender Name. Es handelt um keinen Markt, sondern um eine unendliche Reihe von Lokalen mit Schwerpunkt Fisch und Meerestieren. Laute Musik und bunte Beleuchtung überall.

Ich finde aber einen Platz, wo man es aushalten kann. Als ich gerade die Bestellung aufgegeben habe, höre ich hinter mir eine Stimme, die etwas auf Deutsch sagt. Ein Mann erscheint. Wie bitte? Er wiederholt seine Frage: „Du bist aus Trier?“ Ich bin völlig verwirrt. Sieht man mir das an? Dann macht er mich darauf aufmerksam, dass ich das T-Shirt vom Lauftreff trage. Der Mann hat in Trier studiert und kennt Olewig vom Weinfest.

9. Januar (Donnerstag)

Der Name des Landes wird in Panama ordentlich für die Bildung neuer Wörter ausgeschlachtet: Pananfoto, Panagás, Panacredit, Panapass.

Zuerst geht es am Morgen in den Supermarkt. Ich besorge mir nur die Stofftüten mit Aufdruck, die sie hier als Tragetüten verkaufen. An der Kasse muss ich angesichts der tropischen Gelassenheit, mit der die Kassiererin die Waren über den Scanner schiebt, meine deutsche Ungeduld zügeln. Am Ausgang werden die gekauften Waren mit der Quittung abgeglichen. Die sollte man tunlichst zur Hand haben.

Heute geht es auf den Cerro Ancón. Der Taxifahrer, sehr redefreudig, fragt, ob ich Wasser dabei hätte. Da oben sei es warm, „hace mucha calor“, sagt er, mit calor im Femininum. Er betont auch, wie andere schon vorher in der Stadt, dass der Aufstieg gratis sei. Und die Toilettenbenutzung ebenfalls.

Wie schon vom Taxifahrer angekündigt, geht es abwechselnd rauf, Straße – Treppe – Straße – Treppe. Die Straße ist autofrei und hat eine wilde Vegetation zu beiden Seiten, über die man sich wundern würde, wenn man hier sie nicht schon so oft gesehen hätte.

Es sind fast nur Einheimische unterwegs. Einige machen den Aufstieg als Familienausflug, andere als sportliche Herausforderung, andere als Training für ihre Hunde.

Zwischendurch gibt der Wald schon mal den Blick nach unten frei, und oben gibt es gleich mehrere Aussichtspunkte. Im Wesentlichen sind es zwei. Der erst auf den Casco Viejo mit dem Viadukt und den Wolkenkratzern und dem auffälligen bunten Zeltdach des Biomuseums. Ganz am Rand kann man so gerade die Puente de las Américas erkennen. Auf der anderen Seite der Hafen und der Kanal. Auf beiden Seiten große Lastschiffe und viele kleine.

Ich versuche, die verschiedenen Türme des Casco Viejo zu identifizieren. Man sieht die Türme der Kathedrale, wenn man länger sucht, und einen Turm ganz am Ende der Halbinsel. Vielleicht ist das gar kein Turm, sondern der Obelisk. Der auffälligste Turm, der, den man gestern Abend auch von der Calzada de Amador sehen konnte, ist der von San Francisco. 

Ganz oben steht ein Denkmal für Amelia Denis de Icaza, der ersten panamaischen Dichterin. Eine sitzende Figur, angetan mit einem langen Kleid. Am Sockel werden Verse aus einem Gedicht zitiert, in dem sie den Verlust des Cerro Ancón ihrer Kindheit betrauert: „Ya no guardo las huellas de mis pasos / ya no eres mío, idolatrado Ancón.“

In dem Begleittext ist davon die Rede, dass der Kanal von den Amerikanern „entführt“ worden sei. Von der Beteiligung der panamaischen Rebellen an der Aktion ist nicht die Rede.

Noch höher, leider durch ein Gitter getrennt, die panamaische Flagge, ein Mammutexemplar, heute auf Halbmast. Heute ist der Día de los Mártires. Der 9. Januar ist der Tag, als die panamaischen Studenten 1964 die Fahne des Landes im amerikanischen Korridor entlang des Kanals hissten, der Auftakt der Auseinandersetzung mit den Amerikanern über den Panamakanal.  

Auf dem Rückweg folge ich den Lauten, die von unten bis hier nach oben reichen. Das sind die Stimmen der Festtagsredner, die mit großer Emphase und Lautstärke ihre Parolen vortragen.

Unterwegs treffe ich einen Brasilianer aus Rio, der nach dem Mercado de Mariscos fragt. Da war ich zwar gestern, aber den Weg dorthin weiß ich nicht. Ich verlege mich auf die Antwort, die hier sowieso die gängigste ist: Am besten ein Taxi nehmen.  

Unten komme ich an einem Gebäude an, das mir in den letzten Tagen immer wieder aufgefallen ist. Es ist das Verwaltungsgebäude des Kanals. Heute ist es mit Wimpeln und Fahnen geschmückt. Wegen des Jahrestags des Aufstands, aber auch wegen der Rückgabe des Kanals vor fast auf den Tag genau 25 Jahren.

Es gibt zwei Demonstrationen, die eine scheint mehr gewerkschaftlich, die andere mehr patriotisch orientiert zu sein. Diese findet an einem offenen weltlichen Tempel statt, in dem die Ewige Flamme brennt, für die Märtyrer. Daneben ein Häufchen Asche. Das sind die Reste der US-amerikanischen Flagge, die hier heute Morgen verbrannt wurde.

Der Taxifahrer auf dem Rückweg lässt nicht locker. Er will mir, als er erfährt, was ich noch nicht gesehen habe, eine Stadtrundfahrt andrehen. Am Ende gebe ich nach.

Unser erstes Ziel ist der Aussichtspunkt für die Puente de las Américas. Hier erfährt man, dass die Brücke von den Chinesen erbaut wurde! Und zwar zum 125. Jahrestags der Ankunft der ersten Chinesen in Panama. Die Brücke wurde 2007 fertiggestellt.

Der Taxifahrer erklärt mir, inzwischen gebe es einen Plan für eine neue, breitere Brücke. Die soll parallel zur jetzigen verlaufen, etwas näher an der Kanalzone dran.

Dann geht es zurück und an einem Denkmal für Arias Madrid vorbei. Er war dreimal Präsident von Panama, aber immer nur für kurze Zeit. Jede Amtszeit wurde durch einen Staatsstreich beendet. Arias Madrid gilt als Reformer, als Modernisierer, als Politiker, der für den demokratischen Fortschritt steht und den Kampf gegen die Übermacht des Militärs. In der Skulptur wird er als größer und ruhiger als alle anderen dargestellt, als überlegen. Er reicht dem Volk über die Köpfe der anderen hinweg das Buch, das ihnen Freiheit und Rechte gewährt.

Das dürfte eine ziemliche Beschönigung der Wirklichkeit sein, aber auf jeden Fall scheint er in Panama etwas zu gelten. Seine Witwe, Mireya Moscoso, wurde später selbst Präsidentin, die erste Panamas. Als ihre Beziehung begann, war er 53, sie 15.

Wir fahren runter zum Meer und sehen uns jetzt die Brücke von ganz unten an, aus unmittelbarer Nähe. Wir sehen auf den Pazifik hinaus, hinter uns liegt Miraflores. Vom Meer her sieht man ein Lastschiff ankommen, beladen mit Containern von Hapag-Lloyd. Zwei gelbe Schleppboote fahren ihm entgegen und nehmen es kurz vor der Brücke in Empfang. Sie werden mit Seilen an dem Bug des Schiffes befestigt und verändern ganz sanft den Kurs durch Anziehen der Seile, wenn das entsprechende Kommando von dem Kapitän kommt. Das Schiff fährt langsam, nicht, weil es nicht schneller fahren kann, sondern damit es keinen großen Wellengang erzeugt. Ganz oben sieht man jetzt drei Flaggen, die von Panama, die des Landes, unter dessen Flagge das Schiff fährt und eine, die die Art der Ladung anzeigt. Langsam fährt das Schiff an uns vorbei. Es ist so groß, dass es durch die neue Fahrrinne durch den Kanal fährt.

Unten an der winzigen Anlegestelle ist inzwischen ein Fischerboot angekommen. Die drei Fischer laden aus. Sie haben Langusten gefangen. Oben machen sie sich daran, sie zu sortieren, die großen von den kleinen zu trennen. Eine Frau wartet schon auf sie. Diese Frau ist die Käuferin des gesamten Fangs. Sie tut mir den Gefallen, zwei der Langusten hochzuhalten, so dass ich sie photographieren kann. Ganz langsam bewegen sie ihre langen Antennen und ihre dünnen Beine, in vier Paaren angeordnet. Sie sind nicht so auffällig gefärbt, wie ich mir sie vorgestellt habe.

Die Fischer scheinen keinerlei Ausrüstung zu haben. Dem Taxifahrer zufolge müssen sie tauchen, um die Langusten zu fangen.

Wir machen uns auf den Weg und fahren noch durch das Viertel, in dem damals der US-amerikanische Angriff zum Sturz von General Noriega erfolgte, ein Bombenangriff, mittendrin in der Stadt. Das ganze Viertel, durch das wir fahren, stand in Flammen, ein großer Teil wurde zerstört. Die USA führten den Angriff im Namen der „Wiederherstellung“ der Demokratie durch. Sie nahmen einfach für sich in Anspruch, das Recht darauf zu haben. Der Tod eines US-Soldaten genügte als Anlass für eine Invasion mit 20.000 Mann. Es war die größte Luftlandeoperation seit dem 2. Weltkrieg. Innerhalb weniger Tage war Panama besiegt. Die Zahl der Toten wird auf 3.000-4.000 geschätzt.  

Noriega was eine zwielichtige Gestalt. Er arbeitete mit der CIA zusammen und half, die Drogenkartelle in Kolumbien zu bekämpfen. Dabei wurde er von den USA kräftig unterstützt. Er beteiligte sich aber selbst gewinnbringend am Drogenhandel und war am Drogenimport in die USA beteiligt. Er unterstützte die USA auch bei dem Kampf gegen die demokratisch gewählte Regierung Nicaraguas, kooperierte aber gleichzeitig mit Fidel Castro, von dem er sich Waffen liefern ließ.

Noriega entging der Festnahme und flüchtete sich in die Botschaft des Vatikans. Dort wurde er von den USA durch die Beschallung mit Musik – mit Liedern mit beziehungsreichen Texten – zur Aufgabe gezwungen.

Der Taxifahrer setzt mich im Casco Viejo ab. Dort findet er einen Geldautomaten, an dem es auch am Feiertag Geld gibt.

Inzwischen ist die Sonne herausgekommen und es ist richtig heiß geworden, nachdem es den ganzen Tag über bedeckt war.

Ich mache ein Photo von der Fassade der Kathedrale, die mir jetzt schöner erscheint als dieser Tage. Vor allem der farbige Wechsel der Steine, Gelb, Braun, Grau, Ocker – der hat was.

Im Casco Viejo sieht man auch einige  Kirchenruinen. Die eindrucksvollste ist die ehemalige Jesuitenkirche. Ganz kann ich die Geschichte nicht nachvollziehen, aber hier befand sich auf jeden Fall eine Universität, die älteste des Isthmus, von 1749. Sie war in Betrieb bis 1767, als die Jesuiten ausgewiesen wurden. Was man heute sieht, sind die Reste einer Kirche, die wohl durch Brand und Erdbeben Schaden genommen hat.  

Auf dem Weg zur Unterkunft sehe ich, wie heruntergekommen das unmittelbar außerhalb des Casco Viejo gelegene Viertel ist. Einige Häuser sind baufällig und unbewohnt, einige sind reine Ruinen, einige bereits abgerissen. Sie hinterlassen Grundstücke, auf denen das Gras kniehoch wächst. Einige der Häuser, die bewohnt sind, haben sogar einen gewissen Charme, den Charme des leicht Dekadenten, aber ob es die reinste Freude ist, dort zu wohnen, kann man bezweifeln. Die Türen und Balkone sind auf jeden Fall, auch wenn nicht im besten Zustand, richtig schön – oder waren es mal. 

Am Abend steht ein Spaziergang durch das erleuchtete Casco Viejo an. Auf einer Schautafel ist von der Befestigung der Stadt in der Kolonialzeit die Rede. Es gab eine Mauer am Meer  und eine auf dem Land. Die trennte ciudad und arrabal, die Stadt der Eliten und die Vorstadt der Masse der Bevölkerung. Die Stadtmauer ließ die Plaza Santa Ana gerade vor den Toren. Diese Trennlinie spürt man heute noch!

Vor einem großen Hotel merke ich, dass um einen Baum herum etwas durch die Luft flattert. Aber man hört keinen Laut. Warum sind die Vögel so still? Ganz einfach: Es sind keine. Es sind Fledermäuse. Sie fliegen wild und scheinbar ziellos durch die Gegend, streifen einem dabei manchmal am Kopf entlang.

Für das leibliche Wohl sorgt zum Abschluss des Tages das Café Coca-Cola, mit ganz wenigen Gästen am Abend. 

10. Januar (Freitag)

Statt des Hahns hört man hier am Morgen einen Vogel mit einem lang anhaltenden dreifachen Pfiff, in regelmäßigen Intervallen wiederholt.

Was Fernando uns bei der Bootsfahrt nicht erzählt hat: Die heutige Eisenbahn entlang des Kanals ist nicht die ursprüngliche. Die fiel dem Bau des Kanals zum Opfer. Sie war von den Amerikanern gebaut worden, längst vor dem Bau des Kanals. Sie hatte aber ihre Bedeutung für die Amerikaner verloren, nachdem die erste Ost-West-Eisenbahn in den USA vollendet war. Aber später diente sie den Franzosen für den Transport von Arbeitern und Materialien beim Bau des Kanals.

In einem Handyshop besorge ich mir zur Sicherheit noch einen weiteren Adapter. Das Mädchen hinter der Theke macht das gut, holt den Adapter aus der Packung und zeigt mir die verschiedenen Funktionen. Und erklärt stolz, das sei ein Universaladapter, den könne man in jedem Land der Welt benutzen.

Ich frage, ob ich mit einem Hunderter bezahlen kann. Ja, sagt sie, nimmt meinen Schein entgegen und besprüht ihn mit einer Flüssigkeit. Wenn er sich schwarz verfärbt, ist er gefälscht. Das tut er aber nicht. Gott sei Dank. Ihre Vorsicht rührt vermutlich daher, dass dieser Hunderter anders aussieht als die herkömmlichen, vermutlich eine neue Ausgabe.

Mit dem Taxi geht es zum Parque Metropolitano. Der liegt in der Stadt, aber weiter außerhalb, als ich dachte.

Hier wird man sehr zuvorkommend in Empfang genommen. Der Mann an der Rezeption erklärt, welche verschiedenen Wege es gibt und was man, wenn man Glück hat, sehen kann.

Auf dem Weg nach oben hat man zu kämpfen, aber man hat ordentlich Schatten. Auch hier ist die Vegetation wieder unglaublich üppig.

Ein wunderbarer Anblick sind die Ameisen, die hier auf der schmalen Holzlatte am Wegesrand hoch und runter laufen, mit einem Blatt bergauf, ohne Lasten bergab. Sie kennen keine Rast, laufen wie die Wilden hin und her und stoßen dabei immer wieder aneinander, ohne sich davon aufhalten zu lassen. Irgendwann verlassen sie den Holzweg und verschwinden im Wald. Man steht fragend davor: Wohin schleppen sie die Blätter? Ist das Vorrat? Warum fressen sie die Blätter nicht gleich da, wo sie sie finden? Was treibt sie an, so geschäftig zu sein, wie kann es sein, dass sie nicht ermüden?

Auf einmal kommt ein Tier einen Weg hinuntergehoppelt, und dann erscheinen mehrere aus dem Busch. Könnten Waschbären sein, aber sie haben dunkles Fell, ein spitzes Maul und einen auffallend langen Schwanz, der steil nach oben zeigt. Ich bekomme mit, wie eine Besucherin der anderen erklärt, dass die Männchen einzeln auftreten, die Weibchen in Gruppen mit ihren Kleinen.

Einige der Bäume sind mit Erklärungen versehen, darunter einer mit dem kuriosen Namen Indio Desnudo. Das ist ein Baum, bei dem die Rinde abblättert, aber nicht ganz. Das Harz des Baumes wird als Weihrauch benutzt. Es dient auch als Insektenschutzmittel und als Klebestoff und zur Herstellung von Papier, Lack, Möbeln und Spielzeugen!

Oben angekommen gibt es Ausblicke in verschiedene Richtungen. Unten sieht man die Schleuse von Miraflores, aber man muss genau hingucken, denn zu beiden Seiten wird sie von Grün begrenzt.

Dann kommt, allerdings ganz in der Ferne, auch mal die Puente Centenario ins Blickfeld.

Zur anderen Seite hin sieht man die Wolkenkratzer, darunter die „Schraube“.

Auf dem Rückweg zeigt mir ein Inder, wie er Photo von zwei Faultieren gemacht hat, sehr schön, eins bewegt seine Pfoten, das andere kratzt sich am Bauch. Aber ich finde sie wieder nicht.

Unten sieht man an einem Tümpel Schildkröten, einige im Wasser, einige an Land, andere auf einem Baumstamm auf dem Wasser. Sie bewegen sich fast gar nicht, man könnte den Eindruck haben, dass sie gar nicht echt sind.

Wieder unten angekommen, verschwitzt, trotz des Schattens, stelle ich mich an den Straßenrand und halte ein Taxi an. Im Radio läuft Marco Antonio Solis: „No hay nada más difícil que vivir sin ti.”

Der Fahrer sucht das Museo Afroantillado, vergeblich. Er gibt sich redlich Mühe, aber es klappt nicht. Daraufhin sage ich ihm einfach, er solle mich im Zentrum rauslassen.

Auf gut Glück drehe ich eine Runde im Viertel und stoße tatsächlich auf einen Friseursalon. Der ist klein, aber rappelvoll. Ein Mann wird gerade auf dem Frisierstuhl rasiert.

Sobald ich reinkomme, steht ein älterer Herr auf und bietet mir seinen Platz an. Ich danke, aber nehme das natürlich nicht an. Will nur wissen, ob sie alle in der Schlange stehen. Nee, kein einziger, sie sind nur aus Geselligkeit hier. Sofort wird ein zweiter Frisierstuhl frei, und ich bin an der Reihe.

Der Friseur sagt, offensichtlich zufrieden mit dem, was ich will, das sei ein corte natural. Und er macht sich über die jungen Friseure von heute lustig, die gar nicht mehr mit der Schere schneiden können.

Die Wände sind voll mit Schmuck, Urkunden, Verzierungen, Karikaturen, Uhren. Die Frisiergeräte, die vorne liegen, sehen aus, als wenn sie zu einer Schlosserei gehörten. Und die Kästen vorne sind mit schweren eisernen Schlössern verschlossen.

Der Frisör macht seine Sache ausgezeichnet, mit Schere und Rasiermesser. Alles sehr gründlich. Für 5 $.

Am Ende macht einer der Besucher ein Photo von mir und dem stolz dahinter posierenden Friseur.

Kein schlechter, aus dem Alltag gegriffener Abschluss einer Reise, die gezeigt hat, dass Panama mehr als der Kanal ist.