Visby (2020)

12. Juli (Sonntag)

Schon lange steht Gotland auf der Wunschliste der Reiseziele, und jetzt wird es endlich was damit. Aber es ist eine Reise mit Hindernissen. Ständige Änderungen der Flugdaten durch die Fluglinien bringen viel Ärger und zusätzliche Kosten. Auf denen man sitzen bleibt. Ohne Aussicht auf Entschädigung.

Dass Gotland, wie Göteborg, von den Goten abgeleitet ist, leuchtet ein. Aber wer hätte gedacht, dass sie auch Katalonien ihren Namen gegeben haben. Zusammen mit den Alanen.

Bei Visby ist der zweite Wortteil klar. Das ist by, auch im modernen Schwedisch noch das Wort für ‚Dorf‘, ‚Ort‘. Ein Wort, das die Skandinavier auch mit nach England gebracht haben: Denby, Derby, Rugby, Whitby. Der erste Wortbestandteil erschließt sich aus dem modernen Schwedisch nicht. Er deutet wohl auf eine alte, eine heidnische Kultstätte hin.

Am Flughafen in Luxemburg ist es geheimnisvoll still. Kaum Flüge, wenige Passagiere, alle Läden und Lokale geschlossen. Die Nachfrage nach Stockholm ist so begrenzt, dass eine kleine Propellermaschine für alle ausreicht. Es sind fast nur junge Leute um die 30 unterwegs. Ich bin der Senior auf dem Flug.

Unterwegs wird man ständig mit den immer gleichen Durchsagen zugedröhnt, die viersprachig durch scheppernde Lautsprecher kommen, darunter die vielsprachige Durchsage, wie vielsprachig die Crew ist.

In Stockholm ist es stark bewölkt und kalt. Es geht mit dem Arlanda Express ins Zentrum, zum Hauptbahnhof. Der Zug braucht für die 40 Kilometer nur 18 Minuten. Als ich aus dem Bahnhof rauskomme, fängt es an zu regnen. Also nehme ich die U-Bahn. Aber hier ist genauso schwierig, Information zu bekommen wie eine Fahrkarte zu bekommen. Irgendwann gelange ich dann doch an die richtige U-Bahn-Station, und von da aus laufe ich dann irrend durch Stockholms Regen, um in einem gesichtslosen Hotel eine völlig unnötige Nacht zu verbringen. Luxair sei Dank.

13. Juli (Montag)

Am nächsten Tag sieht die Welt schon anders aus. Die Sonne strahlt, und es geht über mehrere Brücken mit Wasser drunter und an mehreren Parks vorbei durch die erwachende Stadt Richtung Bahnhof.

In einer Apotheke wird munshytt angeboten. Da lernt man durch Corona ganz neues Vokabular. Schon gestern am Flughafen ist mir Virus aufgefallen. Das ist im Schwedischen Neutrum: Coronaviruset.

Mehrmals frage ich unterwegs nach dem Weg. Mit unterschiedlichen Ergebnissen. Perfekt ist die Auskunft eines großgewachsenen Mannes, etwa in meinem Alter: deutliche Aussprache, klare Diktion, kleine Pausen zwischen den Abschnitten, Gesten, die die Erklärungen begleiten, Orientierungspunkte. Am Ende kommt dann auch noch die geschätzte Zeit für den verbleibenden Weg. Perfekt! Ich verstehe (fast) jede Silbe. Was für ein Unterschied zu dem knötterigen Mann gestern in der U-Bahn, bei dem ich nichts verstanden habe, aber auch wirklich gar nichts!

Der freundliche Mann hier erwähnt als einen Orientierungspunkt das Konzerthaus, „ein blaues Gebäude“, und als ich daran vorbeikomme, erinnert mich eine Skulpturengruppe auf dem Platz vor dem Eingang, dass ich doch das Konzerthaus damals in Stockholm besichtigt habe. Das war 2011.

Es geht ein ganzes Stück den Sveavägen entlang. Die Svear, das ist das Volk, das Schweden seinen Namen gegeben hat, Sverige, das `Svear-Reich`, die nördlichen Nachbarn, Konkurrenten, Gegner der Goten im Süden. Noch heute ich Götaland die Bezeichnung für Südschweden.

Im Arlanda Express werden die Passagiere aufgefordert, Vorschläge für die Wahl des schönsten schwedischen Wortes zu machen. Es werden lagom und fika als Beispiele angeführt, aber die sind ihnen wohl zu klassisch. Man will was Besonderes. Und lagom und fika eignen sich vielleicht eher für die Kategorie „typisch Schwedisch“. Zu der gehört auch påtår, das Wort für die zusätzliche Tasse Kaffee, die man in vielen Cafés gratis bekommt. Kandidaten für das schönste Wort wären für mich bröllopsresa, `Hochzeitsreise`, hagelgevär, `Schrotflinte`, dörrknackningarna, `Befragungen“, gammel, `alt`, hastighetsbegränsingar, `Geschwindigkeitsbegrenzungen`, smultronställe, `Lieblingsstelle`(wörtlich `Walderdbeeerstelle`).

In einer anderen Nachricht heißt es, ein schwedischer Journalist habe argumentiert, mit lagom, dem typisch schwedischen Mittelweg, dem unauffälligen, Extreme meidenden Verhalten komme man in Corona-Zeiten nicht weiter.

Am Flughafen muss man alles selbst machen: An einem Automaten druckt man die Bordkarte aus. Der Automat gibt dann auch gleich die Banderole für den Koffer aus. Die muss man um den Griff des Koffers wickeln und verkleben, und ein kleines Etikett abtrennen und an der Seite des Koffers anbringen. Den Koffer bringt man dann selbst zu dem Transportband und checkt ihn ein, indem man den Code auf der Bordkarte einscannt. Der Koffer setzt sich dann von selbst in Bewegung. Das Personal besteht aus zwei Aufsehern. Deren Aufgabe ist es, einen daran zu hindern, den kritischen Bereich zu betreten, bevor man alle nötigen Schritte unternommen hat. Ich schiele nach links und rechts und sehe mit Verwunderung, mit welcher Selbstverständlichkeit alle anderen das hinbekommen, während es bei mir überall hakt.

Das Flugzeug ist groß und bis auf den letzten Platz besetzt. In den Durchsagen wird man dazu angehalten, Abstand zu halten. Niemand scheint wahrzunehmen, wie paradox das ist.

In Visby ist es kalt und der Himmel ist wolkenverhangen. Worauf habe ich mich da nur eingelassen?

Der Bus in die Innenstadt muss jeden Moment kommen, aber man kann keine Fahrkarten beim Busfahrer kaufen. Nur im Netzt. Also nehme ich ein Taxi, einen Transporter. Mir schwant nichts Böses, als der Fahrer mir sagt, ich müsse „hinten einsteigen“. Aber er meint wirklich „hinten“, durch die fünfte Tür, die Heckklappe. Man zwängt sich in gebückter Haltung zwischen die beiden Sitze der letzten Sitzreihe durch, die durch eine improvisierte Plastikwand von den vorderen Sitzen abgetrennt ist. Vor der sitzt man während der Fahrt.

Das Hotel ist eine Ferienanlage, die wie eine Mischung aus Kaserne und Jugenderholungsheim aussieht. Aber sie erfüllt ihren Zweck. Die Wohnung ist mit allem ausgestattet, was man braucht. Als nach einigem Hin und Her – im wörtlichen Sinne – auch der Zugang zum Netzt gesichert ist, geht es zu Fuß in die Innenstadt. Das hat alles seine Zeit gedauert, aber zum Glück ist inzwischen die Sonne rausgekommen.

Es sind knapp zwei Kilometer bis zum Zentrum. Auf dem Weg liegt links eine Pizzeria: Lilla Elefanten. Der ist nicht etwas lila, sondern klein.

Überall, auf Kanaldeckeln, auf Bannern und in Form von Skulpturen, nur in natura nicht, sieht man das Gotlandschaf, mit den charakteristischen schneckenförmig gedrehten Hörnern. Auch am Österport, meinem Eintritt in die Altstadt, steht so eine Skulptur. Später, auf dem Stora Torget, sehe ich eine moderne Version dieser Skulptur, eine ganze Schafherde, große und kleine, schwarze und weiße, aus einem glatten Stein gemacht. Sie dienen als Sitzgelegenheiten. Einige strecken den Kopf nach vorne, andere zur Seite, wieder andere haben sich zum Schlafen hingelegt. Und all das kann man erkennen, obwohl jede Skulptur nur aus zwei Quadern besteht, einem großen für den Körper, einem kleinen für den Kopf. Minimalistische Kunst.

In der Altstadt ist es ziemlich voll, aber es herrscht kein Gedränge, und sobald man ein wenig von den ausgetretenen Wegen abweicht, ist es plötzlich ganz still.

Die Altstadt ist schön, aber anders, als man sie sich vorgestellt hat. Längst nicht alles ist mittelalterlich, es gibt auch Modernes und auf alt gemachtes Modernes, und eine ganze Reihe von barocken oder neobarocken Fassaden, ein ganz schönes Durcheinander.

Man hört fast nur Schwedisch. Visby ist ein Urlaubsziel für Schweden. Alles ist eindimensional auf den Tourismus ausgerichtet. Jedes zweite Gebäude beheimatet einen Laden oder ein Lokal. Viele Geschäfte, die auf alt machen, benutzen die antikisierende Schreibeweise Wisby. Ob das wirklich eine alte Schreibweise war? Vielleicht dem bedeutenden deutschen Einfluss im Mittelalter zu verdanken?

Namen von Straßen und Geschäften nehmen oft auch Bezug auf Russland. Die Verbindungen von Visby als Hansestadt gingen runter bis Lübeck und Soest und rüber bis Lettland und Nowgorod. Leider erfahre ich die ganze Zeit gar nichts von Visby als Hansestadt. Der einzige Hinweis findet sich in der Domkyrkan in Form eines alten Rettungsrings mit der Aufschrift Hansa Visby.

Eins der Charakteristika von Visby sind die Ruinen, Ruinen von Kirchen, die in einer langen Reihe von Kriegen mit Dänemark zerstört und dann wegen der Reformation nicht wieder aufgebaut wurden. Eine von denen sehe ich mir von innen an. S:ta Karin, eine dreischiffige gotische Kirche, hoch und nicht sehr breit, mit einer Nordwand, die einfacher ausfällt als die Südwand, weil, so heißt es, diese Seite früher auf eine enge Nebengasse hinausging. Heute liegt sie gleich am Stora Torget. Es ist erstaunlich, viel stehen geblieben über all die Jahrhunderte, auch die filigranen Streben der Gewölbe die Zeiten überstanden. Durch die hat man einen wunderbaren Blick auf den blauen, wolkenlosen Himmel. Auch vom östlichen Ende hat man einen schönen Blick, einen Blick auf den ganzen Innenraum mit den sich nach hinten scheinbar verjüngenden Jochen. Ideal für ein Photo.

Im Gegensatz zu den anderen Kirchen hat man die Domkyrkan wieder aufgebaut, und das sieht man ihr an. Dennoch ist sie von verschiedenen Seiten mit ihrem mächtigen Westturm und den doppelten Türmen im Osten ein echter Hingucker. Die hölzernen Turmabschlüsse sind nicht mittelalterlich, sondern eine barocke Zutat.

Innen gibt es einiges an Ausstattung. Könnte sein, dass man hier Stücke aus den zerstörten Kirchen zusammengetragen hat. Ich kaufe eine Karte von einem gewebten Tuch mit einem Christus, der ein Pergament in der Hand hält. Das trägt eins der tröstlichsten Zitate des Neuen Testaments: Har inte rädd! – Fürchtet euch nicht!

Hinter der Kirche führt eine Treppe hinauf zur Stadtmauer. Wenn das überhaupt die Stadtmauer ist. Eher ein Wall. Aber von hier aus hat man einen schönen Blick auf die Kirche und auf das Meer dahinter. Das sieht man von der Altstadt aus nicht.

Ich gehe zur Touristeninformation, in einem schönen alten Gebäude untergebracht, das aber neuer aussieht als die Häuser mit den Treppengiebeln in der Umgebung. Ich bekomme Auskunft und Ansichtskarten. Leider gibt es keine Rundfahrten über die Insel. Stadtführungen gibt es, täglich sogar, aber die sind gratis – und das macht mich skeptisch. Da lasse ich lieber die Finger davon.

In der Touristeninformation bestätigt man mir auch, dass meine alten Geldscheine, mit denen ich gestern in der U-Bahn meine Fahrkarte kaufen wollte, tatsächlich nicht mehr gültig sind. So eine unsinnige Regelung! Warum sollten Geldscheine plötzlich nichts mehr wert sein? Gibt es das bei uns auch? Leider vergesse ich, nach den Münzen zu fragen.

Komisch: Sowohl der Taxifahrer als auch die Mädels an der Rezeption als auch eine Postbote, den ich nach dem Weg frage, und jetzt auch noch die Mädels in der Touristeninformation sprechen Schwedisch mit mir! Völlig unverständlich. Was manchmal auch im wörtlichen Sinne stimmt.

Ich gehe noch zum Söderport und von dort zum Hafen runter und komme dann in einem großen Bogen wieder an meinen Ausgangspunkt zurück. Je weiter es Richtung Söderport geht, umso ruhiger wird es, während am Hafen wieder allerhand los ist. Obwohl es hier eigentlich nichts zu sehen gibt außer den Masten der Yachten und einem großen, weißen Schiff mit dem Namen Gotland. Hier, am Hafen, wollte ich eigentlich ankommen, standesgemäß mit der Fähre anreisen, um auf die Insel zu kommen, aber auch daraus hat Corona einen Strich gemacht. Die Fahrzeiten sind stark reduziert worden und passten hinten und vorne nicht zu meinen Flugzeiten.

Hier unten fallen mir die Straßennamen ins Auge: Neben Bredgatan und Södertorg, die sich von selbst verstehen, treten Namen wie Slottsbacken und Björngränd auf. Da muss ich nachschlagen: backe heißt Hügel und gränd heißt Gasse, also `Schlosshügel` und `Bärengasse. Während gränd `Gasse heißt, heißt gatan, etymologisch mit unserer Gasse verwandt, `Straße`. Ganz schönes Durcheinander.

Als ich gerade außerhalb der Altstadt, aber noch in der Fußgängerzone bin, fällt mir plötzlich eine lange Schlange auf, die sich in der Mitte der Straße gebildet hat. Wofür stehen die wohl an? Ich sehe mich um: Sytembolaget. Klar. Die wollen ihren Alkoholvorrat aufstocken.

Außerhalb der Innenstadt fällt mir an einem Kreisverkehr ein Richtungsschild auf: Roma. Hab ich mich verlaufen?

Als ich mit schweren Beinen wieder am Hotel ankomme, erfahre ich an der Rezeption, dass ich an dem einzigen Supermarkt weit und breit vorbeigelaufen bin. Der befindet sich ganz in der Nähe der Altstadt. Ich habe keine Lust mehr, zurückzulaufen, und will hier eine Flasche Wasser kaufen. Was gar nicht mal so einfach ist. Als ich mein Portemonnaie zücke, heißt es: „Keine Barbezahlung!“ Dabei wollte ich gerade mein frisch erworbenes Bargeld zum Einsatz bringen, gültige Geldscheine. Ich soll entweder mit Swish oder mit Karte bezahlen. Ich versuche es mit der Kreditkarte, aber es will und will nicht klappen. Am Ende sagen die Mädels mir, ich solle das Wasser mitnehmen und später bezahlen. Und schenken mir dazu einen Teebeutel. Ich wollte gleich die ganze Packung haben, aber der Tee ist nur zum Konsumieren hier an der Rezeption gedacht.

Aber der eine Teebeutel tut seine Dienste. Und macht zusammen mit dem Lunchpaket, an das ich unverhofft noch in Trier gekommen bin, eine vollwertige Mahlzeit aus. Dabei sinniere ich darüber nach, was es wohl mit Swish auf sich hat. Schon dreimal bin ich aufgefordert worden, damit zu bezahlen Es scheint hier in Schweden gängig zu sein und die altmodische Kreditkarte verdrängt zu haben.

14. Juli (Dienstag)

Als ich kurz wach werde, ist es schon hell. Komisch. Wie spät ist es denn? 3.30! Dabei ist der Sonnenaufgang „offiziell“ erst um 4.11. Sonnenuntergang: 21.33. Visby bei Nacht zu sehen, wie auf den schönen Ansichtskarten, wird nicht so einfach sein.

Es ist noch ganz still, als ich in die Altstadt komme. Wieder geht es durch das Österport in die Altstadt. Das Tor war früher viel höher und war bewohnt. Die Fassade sieht irgendwie durchlöchert aus. Die Erklärung: Die schmalen Schießscharten des Mittelalters wurden erweitert damit die Münder der Kanonen hindurch passten!

Zuerst gehe ich ein Stück an der Stadtmauer entlang und suche nach einem Einstieg, vergeblich. Man soll die ganze Stadtmauer entlang laufen können, und dazu wäre der frühe Morgen eine gute Zeit.

Ich komme zum Kajsartorn. Der diente eine Zeitlang als Gefängnis und beherbergt jetzt eine Ausstellung dazu. Aber er ist noch geschlossen.

Ganz in der Nähe gibt es einen Durchbruch durch die Stadtmauer. Der heißt Kajsarport. Hatte früher einen anderen Namen, den einer Bürgerin, für die er gemacht wurde. Sie reichte beim Rat der Stadt ein Gesuch ein. Sie wollte den Durchbruch, um schneller in ihren Gemüsegarten zu kommen. Dem Gesuch wurde stattgegeben. Ob da Vitamin B im Spiel war?

Ich komme zum Stora Torget, dem Zentrum und Touristenmagnet der Stadt. Der sieht älter aus als er ist. In der jetzigen Form geht er sogar auf einen Architekturwettbewerb zurück, der erst vor wenigen Jahren stattfand. Der Stora Torget war schon in der Steinzeit bewohnt, dann aber jahrhundertelang nicht. Im Mittelalter war er ein Handwerkerzentrum – Schumacher, Gerber, Kammmacher. Er war kleiner als jetzt und lag direkt am Meer!

Gleich dahinter liegt eine der Ruinen, Drotten. Das ist der volkstümliche Name der Kirche, die eigentlich der Dreifaltigkeit gewidmet ist. Das Wort drotten ist ein altes gotisches Wort für `Herrscher`.

Die Kirche ist ganz anders als die von gestern, gedrungener, weniger filigran. Aber die Atmosphäre am frühen Morgen ist auch hier ganz besonders. Man blickt durch die fensterlosen Öffnungen und über die nur bis zur halben Höhe erhaltene Chorwand auf die glitzernde Sonne, den blauen Himmel mit ein paar weißen Wolken und die Bäume davor.

Je länger man in der Ruine steht, umso mehr sieht man: Säulen, Kapitelle, Sockel, Dreipässe, Gewölberippen, alles nur in sehr rudimentärer Form erhalten.

Eine photographierende Vietnamesin spricht mich an. Sie ist auch auf Reisen und wohnt in Stockholm. Sie hat auch Deutschland schon besichtigt, u.a. Flensburg. Es ist ein echtes Spektakel, wie zwei radebrechende Ausländer sich über die Architektur einer schwedischen Kirchenruine verständigen. Oder es zumindest versuchen.

Gleich gegenüber liegt S:t Lars. Damit ist Lazarus gemeint! Für mich ist die Kirche ganz ähnlich wie Drotten, aber der Beschriftung zufolge ist sie ganz anders, byzantinisch orientiert. Sie wurde von Kaufleuten aus Nowgorod errichtet. Die Besonderheit dieser Kirche ist ein Treppengang, der sich in den Seitenwänden der Kirche verbirgt. Hier kann man auf halsbrecherische Art und Weise, auf grob behauenen Stufen, rauf und runter, die Kirche aus einer anderen Perspektive wahrnehmen.

Dann gelange ich unversehens in das Viertel mit den schönsten Gassen Visbys: niedrige Häuser, eng beieinander, meist verputzt aus Stein, vereinzelt aus Holz, mit roten Dachziegeln, eins anders als das andere. Alle sind zu verschiedenen Seiten mit üppigem Blumenschmuck ausgestattet, vor allem Rosen. Weiß, Gelb, Rosa, Rot. Aber auch Gladiolen, Fingerhüte und ein merkwürdig sich nach vorne und nach unten neigendes Gras mit rosafarbenen Blüten. Da die Gassen so eng sind, geht man zwischen den Rosenstöcken her wie durch ein Spalier. Passenderweise ist der Botanische Garten ganz in der Nähe.

Zu den schönsten Gassen zählen die parallel verlaufenden Skogränd, Fiskagränd und Specksgränd. In dem ganz Viertel gibt es nur einen einzigen Laden, ein Schuhgeschäft in der Skogränd! Und nur ein Haus wird geschäftlich genutzt, von jemandem, der sich um ögonsjukdomar kümmert. Eine Augenärztin.

Die Gassen führen direkt zum Kruttorn hin, dem `Pulverturm`. Hier wurde früher Schießpulver aufbewahrt. Es ist ein mächtiger, quadratischer Turm ohne Schnickschnack und fast ohne Fensteröffnungen. Er bewacht das Meer. Und das liegt dann plötzlich vor einem, wenn man durch das Tor geht. Es ist richtig idyllisch hier. Es gibt keinen Verkehr, keine Gastronomie, keinen Lärm. Man hört nur das Rauschen des Meeres. Zwischen den Bäumen hat man Parkbänke aufgestellt und Hängematten angebracht. Der perfekte Ort für eine Pause.

Von hier aus geht es auf die Strandgatan. Die verläuft von Ost nach West mitten durch die befestigte Altstadt. Der Name dürfte ein Hinweis darauf sein, dass sie früher direkt am Meer lag. Mir fällt die Parallele zum Strand in London auf. Der lag früher an der Themse.

Die Gamla Apoteket, die in allen Reiseführern steht, kann man leicht übersehen. Nicht, weil einem das Haus nicht auffallen würde, sondern weil sie keine Apotheke ist. Nur eine kleine Inschrift in einem Medaillon über dem Eingang deutet darauf hin, dass sie es früher war. Heute sieht das Haus unbewohnt auf. Das Haus hat einen Treppengiebel und könnte genauso gut in Lübeck stehen.

Gegenüber hat man in die Fassade eines alten Hauses einen Doppelbogen mit Säulchen aus noch einem älteren Haus integriert, einfach so, ohne Bezug zu dem Haus.

Die Strandgatan führt direkt zum Donnersplats mit der Touristeninformation. Dort erfahre ich, dass man gar nicht über die Stadtmauer gehen kann. Das muss neu sein. In dem Reiseführer und im Internet gibt es noch überall die Empfehlung, sich das nicht entgehen zu lassen.

Diesmal frage ich auch nach den Münzen. Von denen sind noch einige gültig, andere nicht. Die kleinen goldenen sind gültig, die großen silbernen nicht mehr. Die ungültig gewordenen Geldscheine, die ich hatte, mit einem Wert von 20 Kronen, hatten Selma Lagerlöf zum Motiv. Die musste jetzt Astrid Lindgren weichen. Die höheren Geldscheine haben Evert Taube, Greta Garbo und Ingmar Bergmann als Motiv.

Das Mädchen in der Touristeninformation zeigt mir auch den Weg zum Wallérs Plats, im Reiseführer wegen seines Panoramablicks empfohlen. Es lohnt sich wirklich. Von hier oben hat man einen schönen Blick über die roten Dächer der Stadt auf das Meer. Es geht allerdings ziemlich steil rauf. Bisher war mir noch gar nicht aufgefallen, wie viel Gefälle es hier in der Altstadt gibt.

Unterwegs sehe ich irgendwo ein Schild mit der Aufschrift Konst & Konsthandverk. Schwedisch scheint gar nicht so schwer zu sein.

Unversehens lande ich wieder am Söderport, aber dann, auf der Suche nach einem Café, komme ich wieder ins Zentrum. Es gibt unzählig viele Restaurants, aber wenige Cafés. Barzahlung gibt es auch hier nicht. Ich zahle mit der Kreditkarte und muss, statt die PIN einzugeben, mit dem Finger auf dem Display der Kellnerin unterschreiben. Die Rechnung kommt per Mail an meine Adresse!

Wo ich schon im Zentrum bin, gehe ich noch mal in die Domkyrkan, um mir die Ausstattung etwas genauer anzusehen. Sie hat eine schön geschnitzte Kanzel mit Schalldeckel, alles ohne figürliche Darstellung mit der Ausnahme von Köpfen, die die Säulen tragen. Sie haben die Backen dick aufgeblasen und sehen wie eine Mischung aus Engel und Gallionsfigur aus.

Ich überlege mir, warum die Kanzel immer links ist, also im Norden, jedenfalls in der Regel. Soll die Sonne aus den Fenstern im Süden das Gesicht des Predigers erhellen? Oder liegt es daran, dass der rechte Pfeiler in der Regel schon von einer Muttergottes besetzt war?

An der nördlichen Seitenwand steht ein merkwürdiges Möbelstück. Es sieht wie eine Truhe aus. Sie ist aus Holz und fein verziert. Die Truhe steht auf und darin befindet sich eine Bank. Laut Inschrift – auf Deutsch – ist das ein von einem deutschen Kaufmann gestifteter Beichtstuhl.

Am Ende des nördlichen Seitenschiffs eine vergoldete Madonna mit Zepter und Krone und strengem Blick. Auch das Jesuskind auf ihrem Schoß blickt streng nach vorn. Zu ihren Füßen zwei rote Fabelwesen. Eins davon sieht aus wie ein Drache mit Entenschnabel.

Diese Madonna ist schwer zu datieren, genauso wie der Taufstein davor. Informationen zur Kirche gibt es so gut wie keine. Der Taufstein ist aus rötlichem Marmor, aus marmoriertem Marmor sozusagen. Er ist gewölbt, so wie man das vielleicht im Barock gemacht hat. Das Taufbecken selbst ist mit Blei ausgeschlagen. Komisch, wie Taufbecken die ritualisierte Form der Taufe repräsentieren: Von der Ganzkörpertaufe im Fluss über die Ganzkörpertaufe im Taufbecken und das Eintauchen des Kopfes im Taufbecken bis zu dem bisschen Wasser, was heute dem Kind auf den Kopf gesprenkelt wird.

Der Chor wird von einer einfachen Chorschranke vom Gemeinderaum abgetrennt. Darauf eine hölzerne Christusstatue. Der Christus ist nur mit einem Tuch bekleidet und breitet die Arme einladend nach vorne aus.

Über den ganzen Kirchenboden verteilt sind Epitaphien mit Inschriften, die meisten davon schwer zu lesen. Auf mehreren sieht man, in Variationen, ein geheimnisvolles Zeichen, sehr einfach, aus Strichen erstellt. Die meisten Inschriften sind auf Schwedisch, aber es gibt auch welche auf Deutsch und ein paar auf Latein. Unter den Berufen der Verstorbenen befinden sich ein Apotheker und ein „Gesundmacher“. Das Wort Graf in den Inschriften bedeutet nicht `Graf`, sondern `Grab`. In Visby sind keine Adeligen begraben!

Wieder draußen fällt mir an einer Ecke an einem Haus ein merkwürdiges Gebilde auf, eine Art Kunstwerk aus Schrott. Die verschiedenen Schrottteile sind so zusammengesetzt, dass sie auf einen Kellereingang hinweisen. Dort gibt es eine Stelle für die Entgegennahme von recycelbaren Teilen. Früher hätte man gesagt, eine Schrotthandlung.

Auf der Adelsgatan, der wichtigsten Einkaufsstraße Visbys, die sich aber im Charakter nicht wesentlich von den anderen der Altstadt unterscheidet, liegt die Uggla, die ΄Eule`, eine Buchhandlung. Man rühmt sich hier der Tradition, aber am Ende bekomme ich von den Büchern auf meiner Wunschliste nur zwei. Man bemüht sich auch nicht sonderlich, meine Bücher zu finden. Gustafsson? Haben wir nicht. Könnte auch schwer zu bestellen sein. Gustafsson? Schwer zu bestellen? Ja, in was für einem Schweden bin ich denn hier gelandet! Die beiden Bücher, mit denen ich mich am Ende zufriedengeben muss, könnten unterschiedlicher nicht sein, und doch erzählen beide auf ihre Art etwas von Schweden: Selma Lagerlöfs Nils Holgerssons underbara resa genom Sverige und Zlatan Ibrahimovics Jag är Zlatan.

Dass ich den Supermarkt gestern nicht gesehen hab, ist kein Wunder. Er befindet sich in einem Einkaufszentrum, eins von denen, aus denen man möglichst schnell wieder raus will. Es heißt natürlich Galleria. In dem Supermarkt ist alles auf „vernünftig“ und „gesund“ getrimmt, wie immer in Schweden, und mit den typisch schwedischen Widersprüchen: Es gibt Energy Drinks und Obstsäfte mit einer Mischung aus Roibos und Erdbeere, aber kein normales Bier. Selbst das lättöl ist unter all den alkoholfreien Varianten und denen mit Geschmackszutaten kaum zu finden. Es gibt Joghurt mit Kakaogeschmack, aber normale Milch ist neben der fettarmen und der laktosefreien kaum zu finden. Alles, was normal ist, wird an den Rand gedrängt.

An einem der Pfeiler des Supermarkts unvermittelt ein kleines schwedisches Wortspiel, das ich in einer erweiterten Form kenne: Får får får? Bekommen Schafe Schafe?

Schweden ist ein teures Pflaster: Kaffee und Kuchen in einem einfachen Café (allerding mit Bedienung) kostet über 7 €, die beiden Bücher kosten über 30 €, und das Porto für die Ansichtskarten kostet über 2 €!

15. Juli (Mittwoch)

Der Himmel ist grau und wolkenverhangen. Die Atmosphäre ist völlig verändert. Was gestern noch schön war, ist heute trist. Selbst das Geschrei der Möwen hört sich schriller an. Immerhin fällt dabei ein schönes Photo der dunklen Türme der Domkyrka vor dem grauen Himmel ab.

Der erste Programmpunkt ist die Suche nach einem Labyrinth, einem Steinlabyrinth, das sich außerhalb der Stadtmauern am Norderport befinden soll. Es geht ein ganzes Stück an der Stadtmauer entlang, wieder an rosengeschmückten Häuschen vorbei. Die Tore stehen hier in kurzen Abständen. Das Dalmanstorn ist besonders hoch und diente auch als Orientierungspunkt für die Schifffahrt. Dann kommt das Norderport, auch heute noch, wie im Mittelalter, das wichtigste Einfallstor in die Stadt, auch für Fahrzeuge. Nur sind es heute keine Pferdekutschen, sondern Autos, die sich durch das Tor drängen.

Außerhalb des Tores liegt ein großes Krankenhaus, ein größerer Komplex, aus mehreren Gebäuden bestehend, ausgestattet mit Hubschrauberlandeplatz. Es geht an dem Krankenhaus vorbei, aber auf das Labyrinth gibt es keinerlei Hinweise, und es kommt auch nichts in Sicht. Eine Passantin, die ich frage, weiß auch nichts davon, aber sie deutet auf eine ganz in der Nähe liegende Ruine. Immer ein guter Ausweg in Visby. Das ist die Ruine von S:t Göran. Das Gelände um die Kirche herum sieht auch wirklich so aus, als könne hier das Labyrinth sein. Ist es aber nicht. Dafür gibt es eine Schautafel an der Ruine, und die erklärt den Zusammenhang mit dem Krankenhaus: Göran – das ist Georg – war der Schutzheilige gegen die Pest, und das Krankenhaus wurde zeitgleich mit der Kirche gebaut – außerhalb der Stadtmauern! Es ging darum, die Pestkranken zu isolieren. Das neue Krankenhaus steht an derselben Stelle, an der das alte gestanden hat.

Ohne Labyrinth gehe ich am grauen Meer entlang in die Altstadt zurück, ins Museum, Gotlands Fornsal. Das liegt in der Strandgatan. Hier geht es mit einem Paukenschlag los. Gleich in dem ersten Saal sind die teils mannshohen Bildsteine ausgestellt. Sie stammen aus der Zeit vom 5. bis zum 14. Jahrhundert, dem Beginn der Wikingerzeit, und standen meist einfach in der Gegend herum. Die meisten sind rein bildlich, einige der späteren haben Inschriften in Runen. Die hat man meist entziffern können. In der Regel sagen sie nur, wer diesen Stein aus welchem Anlass aufgestellt hat, etwa in einem Fall ein Ehepaar für seinen Sohn, der gewaltsam ums Leben gekommen ist.

Die Motive sind rätselhaft, stammen wohl aus der nordischen Mythologie, aber das erschließt sich dem Laien nicht. Sie könnten eigentlich überall auftauchen, wie das, was für mich aussieht wie ein Windrad in Bewegung. Das taucht immer wieder auf. Und ist sehr kunstvoll gemacht. Das gilt auch für die verschlungenen Linien auf anderen Steinen. In einem Fall ergibt sich ein Symbol, das von der modernen Tourismusindustrie benutzt wird, als Hinweis auf eine historische Sehenswürdigkeit.

Ansonsten sieht man Schiffe mit rudernden Männern auf den Steinen, wilde Tiere, Reiter mit geschwungenen Lanzen, ein „Weltenbaum“, der wie eine Kinderzeichnung aussieht, und, sehr auffällig, eine Frau, auf dem Boden sitzend, mit einer Schlange in jeder Hand, ganz in grellem Rot. Die Linien und Farben scheinen mir manchmal ein bisschen zu perfekt für Bildsteine, die Jahrhunderte im Freien herumgestanden haben, und es gibt eine Installation, die andeutet, dass die Restauratoren da wohl ein wenig nachgeholfen haben.

Im nächsten Raum geht es dann zeitlich zurück in die Vorgeschichte. Hier sind mehrere Gräber ausgestellt, zwischen 11000 bis 3000 Jahre alt. In dem ältesten Grab liegt ein Mann in schlafender Stellung, mit angezogenen Beinen, dann kommen breitbeinig bestattete Frauen und dann welche, die ganz gerade liegen. Bei den älteren gibt es keine Grabbeigaben, bei den jüngeren wohl. In einem Fall sind es die Stachel eines Igels – man vermutet, dass die Frau eine Kappe aus Igelhaaren trug – in einem anderen eine Vielzahl winziger Pfeifen oder Flöten, und im letzten Fall sehr schön gearbeiteter Schmuck.

In der Vitrine an der Seite der Skelette sind dann Urnen ausgestellt. Die haben die Form von Häusern. Dem Toten wird eine Wohnstatt geboten. Es scheint in allen Kulturen diesen Wechsel von Körperbestattung und Urnenbestattung zu geben. Was wohl solche Veränderungen auslösen mag?

Vor der Vitrine stehend, werde ich von einer jungen Chinesin angesprochen. Wir machen uns gegenseitig auf Exponate aufmerksam, die uns ins Auge gefallen sind. Sie studiert in Nyköping, verständigt sich wohl weitgehend auf Englisch. Natürlich will sie wissen, ob ich schon mal in China war. Ja, war ich. Als ich das erste Mal in China war, war sie vermutlich noch gar nicht geboren.

In dieser Vitrine fällt mir besonders ein Brettspiel auf. Erinnert ein bisschen an Dame. Die halbkugelförmigen Spielsteine sind aus den Knochen und Zähnen von Pferden gemacht. Und Würfel gibt es auch. Die sind aus den Enkelknochen von Schafen gemacht. Und haben tatsächlich sechs Seiten. Aber die Wahrscheinlichkeit, mit der der Würfel auf eine Seite fällt, ist vermutlich nicht ganz gleich.

Im nächsten Raum kommt frühe christliche Kunst, romanisch, sehr schön. Neben großen hölzernen Madonnenfiguren fällt mir vor allem ein Kreuz auf, farbig gefasst, bemalt, mit Löwen an den Kreuzenden. Der Christus, kaum verwundet, mit gedrechseltem Bart und geflochtenen Zöpfen, steht auf dem Kreuzbalken und blickt traurig nach unten.

Das Christentum kam durch die Fahrten der Kaufleute nach Gotland. Und bestand lange, zweihundert Jahre lang, Seite an Seite mit der heidnischen Religion, der Asen-Religion, mit vielen Mischformen. Man erklärt die starke Stellung Marias im männerdominierten Christentum damit, dass in der Asen-Religion Göttinnen ebenfalls eine starke Stellung hatte. Maria trat dann ausgerechnet die Nachfolge von Freia an!

Angesichts eines Taufsteins wird erklärt, warum der in der Regel am Kircheneingang stand: Das Kind galt als unrein, und man wollte es vor der Taufe nicht in die Kirche lassen, weil es böse Geister mit sich bringen könnte!

Von den Dingen des täglichen Lebens sind Schlösser und Schlüssel ausgestellt und auch zwei Schuhe, beides Einzelexemplare. Eine Zunge scheinen sie nicht zu haben, aber eine einfache Vorrichtung zum Zuschnüren wohl. Die Sohlen sehen sehr dünn aus.

Es gibt eine Liste mit ausgewählten Namen von Personen, die tatsächlich im Mittelalter in Visby gelebt haben. Darunter befinden sich Thomas und Hinricus und Margareta und Martin, aber auch Gangwid und Heghwat und Rune und Botwid und Botulf und Botree und Botward. Da hätte sich J.K. Rowlings für ihre Figuren bedienen können.

Von den reicheren Schichten sind Goldringe, Bergkristalle, Medaillons ausgestellt und eine sehr schöne hölzerne Schatulle, die aussieht, als wenn sie aus Metall wäre und tatsächlich metallene Beschläge hat.

Danach mache ich eine Pause im dem Café der Bibliothek von Visby. Auch hier, trotz Selbstbedienung, astronomische Preise. Und keine Barbezahlung. Ich nehme ein Stück Kuchen. Laut Auskunft der Bedienung ist es Himbeerkuchen, aber die Himbeeren sehen nicht wie Himbeeren aus und schmecken auch nicht so. Entweder ist es ein Verständigungsproblem oder die schwedischen Himbeeren sind anders als die deutschen. Aber das Wörterbuch bestätigt: hallon = Himbeere. Im Schwedischen gibt es einerseits blåbär, ‚Heidelbeere‘, und vinbär ‚Johannisbeere‘, und björnbär, ‚Brombeere‘ (wörtlich ‚Bärenbeere‘), aber andererseits smultron, ‚Walderdbeere‘, lingon, ‚Preiselbeere‘ und hallon, ‚Himbeere‘, und dann aber auch jordgubbe, ‚Erdbeere‘ (wörtlich ‚Erdmännchen‘). Da soll man nicht durcheinanderkommen. `

Am Ausgang der Bibliothek hängt ein Schwarzes Brett. Da wird unter anderem Sommaryoga angeboten. Unter dem Titel Hästkrafta wird auf eine Photographieausstellung hingewiesen, unter dem Titel Gröner Omstart wirbt eine politische Partei, und unter dem Titel Kom Hjärtans Frojd! weisen zwei alternde, stark geschminkte Schlagerstars auf ein Konzert hin. Unten hängen Hinweise zu Corona, auf Englisch, Arabisch und in einer dritten Sprache, die ich nicht identifizieren kann, die aber auch arabische Buchstaben benutzt. Farsi? Leben in Schweden so viele Iraner?

In der Touristeninformation lasse ich mir auf der Karte die Position des Labyrinths ganz genau einzeichnen und mache mich wieder auf den Weg dorthin. Es stellt sich heraus, dass ich heute Morgen auf dem richtigen Weg war, mich aber von der Frau mit der Ruine von dem richtigen Weg habe abbringen lassen.

Am Ziel angekommen erfahre ich auf einer Schautafel etwas über die Gegend. Es handelt sich um ein Naturschutzgebiet, obwohl wir noch ganz in der Nähe der Stadtmitte sind. Es wird auch auf einen Galgen hingewiesen, aber das Labyrinth wird nur ganz nebenbei erwähnt. Da der Galgen ausgeschildert ist, mache ich mich dorthin auf den Weg. Es ist ein mühseliger Aufstieg. Man kann sogar sehen, wie sich die Vegetation verändert, obwohl der Höhenunterschied gar nicht so groß sein kann. Man ist etwa auf der Höhe der Türme der Domkyrkan, die man in der Ferne sieht. Wenn man die vorletzte Hürde genommen hat – eine in einen Stein gehauene Stufe – kommt ein weites Plateau in Sicht und man sieht – einen Sendemast! Vom Galgen nichts zu sehen.

Aber der kommt nach der nächsten Stufe in Sicht. Und ist ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt habe. Statt zwei nebeneinander stehender Holzpfähle sieht man drei weit auseinander stehende mächtige Steinpfeiler. Die waren durch hölzerne Streben verbunden. Es war Platz für alle da.

Wer sich in moderner Naivität vorgestellt hat, die Hinrichtungsstätte wäre hier oben gewesen, um dem Volk das Spektakel zu ersparen, sieht sich getäuscht: Im Gegenteil: Sowohl von der Stadt als auch vom Meer aus konnte man die Toten am Galgen baumeln sehen. Zu den Hinrichtungen kam das Volk aus der Stadt hier rauf. So ein Spektakel ließ man sich nicht entgehen. Die Leichen ließ man immer ein paar Tage hängen. Dem Prinzip Abschreckung gehorchend. Sie wurden dann, soweit sie noch nicht den Vögeln zum Fraß geworden waren, hier verscharrt. Bestattungen auf Friedhöfen waren nicht zugelassen.

Die letzte Hinrichtung fand hier 1845 statt. Der letzte Verurteilte war ein Hutmacher, eines Mordes schuldig. 1972 wurde die Todesstrafe in Schweden abgeschafft. Auch wenn uns das alles fremd ist, eins muss man anerkennen: Es gab ein verlässliches, stabiles Rechtssystem. Und die Strafen müssen den meisten Menschen damals angemessen vorgekommen sein.

Jetzt geht es wieder runter. Die Suche nach dem Labyrinth wird fortgesetzt. Erfolglos. Ich habe mich schon verlaufen, bevor ich überhaupt in das Labyrinth gelangt bin! Es gibt eine wie eine Baustelle eingezäunte Stelle, an der der ganze Boden mit Kieselsteinen bedeckt ist. Ob das Labyrinth darunter liegt? Und die Kieselsteine das Labyrinth einstweilen schützen, bevor es saniert wird? Könnte sein, aber ich habe mir das Labyrinth größer vorgestellt. Auf jeden Fall hätte man das in der Touristeninformation wissen können.

Auf müden Beinen gehe ich noch zum Busbahnhof. Mit Erfolg. Und in eine weitere Buchhandlung. Ohne Erfolg.

16. Juli (Donnerstag)

Fahrräder kann man an verschiedenen Stationen ausleihen, auch hier bei uns an der Rezeption, aber die Nachfrage ist groß, und es ist gar nicht so einfach, an eins zu kommen. Ich habe aber am Ende Glück, und bis schon um 9 Uhr am Hafen, um das bestellte Rad abzuholen.

Alles klappt problemlos, und kurz darauf bin ich schon unterwegs. Das Rad ist für diese Zwecke genau richtig: breite Reifen, hoher Lenker, einfaches Schloss, kein Schnickschnack.

Die ersten fünf, sechs Kilometer sind wunderbar: auf einem abgetrennten Radweg immer am Meer entlang. Besser geht‘s nicht. Dann ist plötzlich Schluss. Es geht steil bergauf und dann die 149 entlang, eine stark befahrene Schnellstraße. Kilometerweit. Keine Aussicht, wieder nach unten ans Meer zu kommen.

Links und rechts der Fahrbahn wilde Gräser und Blumen, hochgewachsen, durcheinander, farbenfroh. Sie lassen sich von den Abgasen nicht beeindrucken.

Links und rechts der Strecke Wald, Kiefernwald, auch wenn die Kiefern eher wie mediterrane Pinien aussehen. Auch hier gibt es immer wieder verdorrte Bäume, eine ganze Menge, aber sie stehen immer nur vereinzelt zwischen den gesunden.

Die Verkehrsschilder, die bei uns Rot-Weiß sind, sind hier Rot-Gelb, und die Begrenzungspfähle am Straßenrand sind, wie es sich gehört, Blau-Gelb.

In einer Einfahrt steht der Lieferwagen einer Baufirma mit einem (leicht zu durchschauenden) Wortspiel im Namen: Visbyggd.

Ich mache Pause in Lummelunda. Schon wegen des Namens. Streng genommen ist es noch gar nicht Lummelunda, sondern Lummelundagrottan. Auf die Grotte, die man hier besichtigen kann, wird schon auf der 149 hingewiesen. Mit dem Symbol von den Bildsteinen aus dem Museum gestern.

Statt Grotte gibt es für mich einen Kaffee. Die Mädels, die hier bedienen, sind alle hellblond, so wie es dem (ehemaligen) Schwedenklischee entspricht.

Von dem kleinen Platz aus führen fünf Wege in unterschiedliche Richtungen. Bei dem fünften komme ich tatsächlich ans Meer. Aber hier gibt es keinen Weg, nur einen Strand. Ich muss wieder zur 149 rauf.

Von dort geht es dann immer wieder mal zum Wasser runter und anschließend wieder zur 149 rauf. Es scheint hier unten keinen Weg zu geben, auch wenn es auf der Karte so aussieht. Die hat auch noch einen weiteren Weg zwischen der Straße und dem Strand, aber auch den kann ich nicht finden. Das Handy schickt mich auch immer wieder auf die 149 zurück. Der Weg ist zwar mit einem roten Schild Gotlandsleden gekennzeichnet, aber von Ausschilderung kann keine Rede sein. Man weiß nie, wo man ist und wohin man fährt, und wenn das rote Schild mal wieder auftaucht, kann es einen auch in eine Sackgasse führen, nämlich zum Meer hinunter.

Unterwegs komme ich an den typische schwedischen sommmarstugarna vorbei, den Häusern mit den roten Holzplanken. Hin und wieder führt der Weg zu einem Badestrand. Oder an einem Café mit Blick aufs Meer vorbei. Auf einer Landstraße überholt mich ein pechschwarzer Käfer, mit brummendem Motor und fast über den Boden schleifendem Heck.

Erst auf den letzten Kilometern vor Visby geht es dann wieder an der Küste entlang. Die Möwen sind überall: auf den Felsen, im Gras, in der Luft, sogar auf den Bäumen!

Als ich in Visby ankomme, fahre ich noch ein Stück in die andere Richtung, an den großen Fährschiffen und den großen Gascontainern des Hafens vorbei, aber dann kommt plötzlich ein „Naturreservat“. Auch wenn die Bezeichnung etwas übertrieben wirkt: Es lohnt sich. Man kommt durch eine flache Heidelandschaft, mit Kieswegen, von denen man auf das Meer in der Distanz hinunter sehen kann. Gelegentlich gibt es Aussichtspunkte, von denen man die Küste mir ihren steilen Felsen entlang sehen kann. Erst Durst und Hunger treiben mich zurück in die Wohnung.

Nachdem ich das Rad wieder abgeben habe, komme ich auf dem Weg in die Innenstadt an einem in eine Mauer eingelassenen Kreuz vorbei. Daneben eine Schautafel, die erklärt, worum es sich handelt. Bis hierher sei das Blut geflossen, heißt es, an jenem ominösen 27. Juli 1361. Es floss der Legende nach durch die Straßen Visbys, nachdem die kampferprobten, gepanzerten Soldaten des Dänenkönigs Waldemar Atterdag Visby erobert und ein Blutbad angerichtet hatten. Dieser Tag war der Beginn einer dreihundertjährigen Herrschaft der Dänen in Gotland. Wie immer, sind die anderen die Bösen und die Überlegenen, man selbst ist das Opfer. Die historische Situation war eher so, dass die Einwohner Visbys untätig waren und die Bauern der Umgebung in ihrem Kampf gegen die Dänen alleine ließen. Schweden, mit dem Gotland nur lose verbunden war, hielt sich raus. Und die Dänen taten das, was machtpolitisch von Interesse war. Visby war reich und strategisch interessant, da nahm man mit, was man bekommen konnte. Nichts Neues unter der Sonne.

In der Zwischenzeit habe ich eine Empfehlung bekommen, was ich mit meinen ungültig gewordenen Scheinen und Münzen machen kann: in den Opferstock. Die Kirche werde schon Möglichkeiten finden, das Geld zu tauschen. Dazu gehe ich zur Domkyrkan, und kann für das Geld sogar noch die eine oder andere Kerze anzünden.

Heute ist der bisher wärmste Tag in Visby. Auf der Radtour war das kaum zu spüren, aber hier im Zentrum wohl.

Außerhalb der Stadtmauern steht wieder eine Schlange vor dem Systembolaget, noch länger als dieser Tage. Eine Schwedin, die sieht, wie ich unauffällig ein Photo von der Schlange machen will, kann sich das Lachen nicht verkneifen.

Auf dem Rückweg mache ich Halt am Lilla Elefanten, um eine Pizza zu essen. Ich kann meine Neugier nicht bezwingen und frage die Kellner nach ihrer Herkunft: Türkei. Es ist also eine von Türken betriebene Pizza in Schweden, in der ein deutscher Gast auftaucht. Nicht schlecht! Die Türken sind schon seit über dreißig Jahren hier.

Es gibt hier sogar ganz normales Bier, starköl. Hier in Visby gebraut: Wisby Pils. Schmeckt gut. Es gibt also starköl in Gaststätten? Ja, sagt der Kellner, das sei immer so gewesen, nur in Geschäften nicht. Das hatte ich falsch in Erinnerung. Die Kontrolle wird hier, statt über ein Verbot, über den Preis ausgeübt: Die Flasche Pils ist fast so teuer wie die Pizza!

17. Juli (Freitag)

Nils Holgerssons Reise beginnt in Skåne im Süden und geht dann in nördlicher Richtung über den Osten Schwedens, um dann über den Westen wieder nach Skåne zurückzukehren. Selma Lagerlöf arbeitete am Ende unter großem Druck an dem Manuskript, mit dem Resultat, dass eine Region ganz unter den Tisch fiel: Halland. Zu den Vorbildern für ihr Buch gehörten neben Gullivers Travels und The Djungelbook ein schwedischer Autor, bei dem ein Junge auf einem Schwan durch Schweden reist! Der Illustrator, den sie für das Buch gewinnen wollte, lehnte ab. Er interessierte sich nicht für so ein Buch. In der populären Vorstellung fliegt Nils mit einer Wildgans, Akka, aber diese Vorstellung ist von der Verfilmung geprägt. Im Buch fliegt er die meiste Zeit mit einer zahmen Ente, Mårten. Auch die Vorstellung, dass Nils Holgersson rothaarig ist, stammt aus der Verfilmung. Im Buch ist er blond. Das erfahre ich alles in dem Nachwort der Ausgabe, die ich gekauft habe, leider kein Original, sondern eine Bearbeitung für Kinder.

Heute geht es mit dem Linienbus an die nördliche Spitze der Insel, Tipp von der Touristeninformation.

Der Bus fährt mit Biogas. Der Fahrerbereich ist abgetrennt, aber eine Maske trägt niemand. Eine junge Frau, die am richtigen Platz sitzt, hilft denjenigen von uns, die es nicht schaffen, ihre Fahrkarten zu entwerten. Ich bin nicht der einzige.

Es sind nur gut fünfzig Kilometer bis zum Ziel, aber der Bus nimmt nicht den direkten Weg, und die Fahrt zieht sich in die Länge.

Die Gegend ist flach und nicht besonders reizvoll. Ein Hingucker sind breite Streifen von Malven und Mohn auf den Wiesen am Wegesrand. Und dann kommt ein einziges, rotes Mohnfeld, so groß wie ein Fußballplatz.

Es ist sehr einsam hier, kaum kommt mal ein Haus in Sicht, und ein Ort schon gar nicht. Das ändert sich, als das Meer auftaucht, in Slite. Wir sind an der Ostküste. Hier, in Slite, gibt es eine Zementfabrik – Heidelberg Cement – und einen riesigen Steinbruch.

Im nächsten Ort, Lärbro, fällt der achteckige Turm der Ortskirche auf, der einzige seiner Art in Gotland. Soll norwegischer Einfluss sein.

Dann plötzlich eine Autoschlange, unendlich. Alle wollen auf die `Schafinsel`, nach Fårö, der der Nordspitze Gotlands vorgelagerten Insel. Der Bus darf an der Schlange vorbeifahren und lässt uns gleich vor der Fähre aussteigen. Ich sehe mich um, in welchem der kleinen Häuschen man hier Fahrkarten kaufen kann, finde aber nichts. Dann frage ich eine Frau, die auch auf die Fähre wartet, und bekomme die erstaunlichste aller Antworten: Es ist gratis! Da lasse ich mir die Gelegenheit nicht entgehen, ein urschwedisches Jaha? anzubringen.

Auf der anderen Seite wartet aber schon die Enttäuschung: Es gibt keine Fahrräder. Alle ausgebucht. Das einzige, was der Mann zu bieten hat, ist ein Kaffee in einem Plastikbecher, mit Selbstbedienung, für 25 Kronen. Und nicht einmal Zucker gibt es!

Es nutzt alles nichts. Ich muss wieder zurückfahren. Der Weg zu Fuß nach Fårö, den Hauptort der Insel, ist zu weit. Dort auf dem Kirchhof liegt Ingmar Bergmann begraben, der aus Farö stammte. Und noch weiter ist es bis zur Westküste, wo es die bekannten Kalksteinsäulen gibt, die raukar. Ich muss ohne raukar in die Heimat zurückkehren.

Dafür geht es jetzt in umgekehrter Richtung zu Fuß weiter, über die staubige Straße, ohne Fußgängerstreifen, die Autoschlange in umgekehrter Richtung abschreitend. Bis ich nach Bunge komme.

Unterwegs sehe ich ein Plakat mit der passenden Aufschrift Where do we go? Und einen Basketballkorb, der in luftiger Höhe angebracht ist, am Ende einer Stange, auf die eine Stufenleiter hoch führt. Für den Fall, das wirklich mal jemand trifft.

In Bunge gibt es zwei Dinge zu sehen: eine Kirche und ein Freilichtmuseum. Die Kirche ist leider verschlossen, das Freilichtmuseum sehe ich mir an.

Gleich hinter dem Eingang gibt es eine Schiffssetzung zu sehen. Nicht in situ, aber immerhin. Schiffssetzungen sind frühneuzeitliche Grabmale, bei denen mit Steinen die äußere Form eines Schiffs nachgezeichnet wird, eher die eines Bootes, eines länglichen, an beiden Enden spitz zulaufenden Bootes. Sie sind typisch für Gotland. Bei den Ausgrabungen hat man zwischen den Steinen Reste kremierter Menschen gefunden. Die Schiffsform ist einerseits ein Reflex der schifffahrenden Gesellschaft Gotlands, wird aber auch mit dem Gedanken an die Reise in das Totenreich verbunden. Neben der Schiffssetzung sieht man eine andere Steinsetzung, aus jüngerer Zeit. Sie hat die Form eines Sonnenrads.

Über das ganze Gelände verteilt sind Mühlen in verschiedenen Formen, Windmühlen und Wassermühlen, darunter eine ganz kleine, in der gerade mal ein Mensch stehen kann. Sie hat auch eine Handmühle zum Kartoffelzerkleinern!

Gutshöfe aus verschiedenen Zeiten illustrieren den wachsenden Wohlstand. Einer aus dem 18. Jahrhundert besteht aus mehreren Gebäuden, mit einer klaren Trennung von Wohnbereich und Arbeitsbereich. Die einzelnen Gebäude bestehen aus mehr als einem Raum, das Dach ist mit Schindeln gedeckt, die Fenster sind größer, und die Fenstersprossen sind bunt bemalt. Es gibt sogar ein eigenes Gebäude für den Altenteil, für die Eltern, wenn der Sohn den Hof übernommen hatte. Auffällig für uns sind die niedrigen Decken in allen Häusern. Jemand, der ein bisschen größer ist als ich, kann hier schon nicht mehr aufrecht stehen.

Unauffällig, aber sozialgeschichtlich interessant ist ein ganz einfaches Haus, aus einem einzigen Raum bestehend. Es ist das Haus eines Bootsmannes. Man könnte fragen, was der hier, mitten auf dem Land, macht. Das Haus ist das Resultat einer Regelung, die mit der größer werdenden Flotte Schwedens in Kraft trat: Jeweils eine Gemeinschaft von Höfen, eine Rote, musste für einen Bootsmann aufkommen. Unter anderem musste ihm ein Haus gestellt werden. Allerdings nur, wenn der Bootsmann verheiratet war. Wenn er Junggeselle war, durfte man ihn auch anderweitig unterbringen. Die Rote musste auch für den Sold des Bootsmannes aufkommen und ihm ein Stück Land für eine Wiese und eine Kuh zur Verfügung stellen.

Bunge ist ein merkwürdiger Ort, eigentlich gar keiner. Trotz der großen Kirche gibt es weit und breit keine Häuser. Vielleicht sieht man den Ort auch einfach nicht, weil er abseits der Kirche liegt. Die Bushaltestelle heißt tatsächlich Bunge Kyrkan. Dort muss ich jetzt eine Stunde auf den Bus warten.

Im Bus lese ich weiter in der Autobiographie von Zlatan Ibrahimovic. Dabei gibt es ein schönes Missverständnis: Immer wieder taucht das Wort polare auf, wenn von einem seiner Mitspieler die Rede ist. Aber das heißt einfach `Kumpel`. Hat mit Polen nichts zu tun. Zlatan hat das Buch nicht selbst geschrieben, sondern schreiben lassen. Der Ghostwriter hat gute Arbeit geleistet. Er schreibt so, wie Zlatan schreiben würde, wenn er schreiben könnte. Manchmal hört man ihn förmlich selbst „sprechen“.

Bei der Einfahrt nach Visby hat man vom Bus aus einen schönen Blick von außen auf die Stadtmauer mit ihren Toren und Türmen.

18. Juli (Samstag)

Gleich nach dem Frühstück geht es in den Botanischen Garten. Trotz der frühen Stunde bin ich hier nicht alleine. Jogger sind unterwegs, aber auch Ruhesuchende und ganz normale Besucher wie ich.

Hinter dem Eingang eine hölzerne Statue von Linné, aus dem Stamm einer Ulme gefertigt. Linné erscheint mit einer großen Nase und großen Augen. Vielleicht ist das metaphorisch gemeint. Auf seiner langen Reise durch Schweden, immer auf der Suche nach Pflanzen, war er 1741 hier in Gotland.

Der Park ist sehr gepflegt und schön angelegt, mit Blumenbeeten und Bienenkästen, mit Weihern und Brücken und einem japanisch anmutenden Pavillon. An einer Seite des Parks verläuft die Stadtmauer, und die gewährt hier an verschiedenen Stellen den Durchblick aufs Meer.

Mir gefallen besonders die großen Bäume, darunter eine japanische Zelkova, ein Laubbaum, der sich schon kurz nach dem Stammansatz in starke, individuelle Äste verzweigt, die fast wie Stämme sind.

Aus Zentralchina stammt der Kejsarträd, ein Baum mit riesigen, herzförmigen Blättern. Sie ist auch nach Nordamerika ausgewandert, und gilt in einigen Staaten der USA als invasiv.

Auch aus China stammt die Sekvoia, mit stark gerilltem Stamm und vielen kleinen Blättern, die fast wie Tannennadeln aussehen, aber viel weicher sind. Sie galt als lebendes Fossil, bis sie 1941 in China in der Natur entdeckt wurde.

Gleich daneben ein Mammutbaum. Von dem erfährt man hier, dass er nicht zu verwechseln ist mit dem Redwood Tree, obwohl auch der Mammutbaum eine rötliche Rinde hat. Der Mammutbaum ist einer der größten Organismen überhaupt. Es gibt zwar ein paar Bäume, die noch höher werden können, aber keine, die seinen Durchmesser erreichen. Auch die anderen Zahlen sind beeindruckend: Er kann bis zu 3500 Jahre alt werden und in 25 Jahren 50 Meter wachsen.

Ganz am Rande des Gartens ein Baum, aus dessen Stamm Pilze wachsen, flache, große, gelbliche Pilze in dichten Lagen übereinander. Es ist die Fagus Silvatica. Was es mit dem Pilzbefall auf sich hat, wird nicht erklärt, aber es scheint eine Krankheit zu sein. Der eigentlich gar nicht unschöne Anblick täuscht vermutlich.

Dann kommt eine Platane, die ich nicht als solche erkenne, weil sie einen ganz breiten, unregelmäßigen Stamm hat. Die Platanen, die man in Spanien in den Städten sieht, sind meist schlank und kerzengerade. Vielleicht liegt es daran, dass dies Platane hier so alt ist. Sie wurde schon 1855 gepflanzt. Was aber typisch ist, ist der scheckige Stamm. Die Platane wirft ihre Rinde in kleineren Schuppen ab. Die europäische Platane, erfährt man, ist ein Hybrid aus Ost und West, eine Kreuzung von Platanus Orientalis und Platanus Occidentalis.

Die Morus Nigra ist ein Baum, der statt in die Höhe in die Breite wächst. Die Äste stützen sich auf dem Boden auf und bilden an ihrem Ende dann wieder Äste, die nach oben gehen, neue Stämme sozusagen.

Und dann kommt noch der Gingko mit seinen zweigeteilten Blättern, die Goethe zu seinem Gedicht inspiriert haben.

Nach einer kleinen Pause auf einer Bank am Meer gehe ich weiter zum Kajsartorn. Auf dem Weg sehe ich zufällig vor einer Ruine eine Statue inmitten eines Blumenbeets, die ich dieser Tage nur durch einen Schlitz in der Kirchenmauer von hinten gesehen habe. Ich habe, vielleicht wegen der Ruine, vielleicht wegen des Umhangs, an einen Geistlichen gedacht, aber das ist er ganz und gar nicht. Er war Techniker und Wissenschaftler: Christopher Polhem. Je mehr ich lese, umso vertrauter wird mir die ganze Geschichte. Wahrscheinlich bin ich in Uppsala mal auf ihn gestoßen, in seiner Heimatstadt. Er hat wesentlich zur industriellen Entwicklung Schwedens beigetragen. Seiner eigenen Darstellung zufolge fing die ganze Sache damit an, dass es ihm gelang, eine mechanische mittelalterliche Uhr zu reparieren. Man kann sich gut vorstellen, wie motivierend das gewesen sein muss. Außerdem war das sein Eintrittsbillett für die Universität Uppsala.

Der Kajsartorn diente eine Zeitlang als Gefängnis und beherbergt heute eine Ausstellung dazu. Die Öffnungszeiten sind knapp gehalten. Und schon zweimal habe ich vor dem verschlossenen Turm gestanden. Aber diesmal klappt es.

Der Kajsartorn wurde zum Gefängnis, nachdem das Schloss von Visby von den abziehenden Dänen 1679 gesprengt wurde. Er sollte ein Provisorium sein. Und blieb es bis 1859.

Die Ausstellung erstreckt sich über zwei Stockwerke. Dass der Aufenthalt im Gefängnis kein Zuckerschlecken war, sieht man an dem Raum im ersten Stockwerk. Der ist klein und diente sechs Gefangenen gleichzeitig als Gefängnis. Und man muss sich ihn die meiste Zeit des Jahres auch als dunkel vorstellen. Der strahlende Sonnenschein heute täuscht da vermutlich. Persönliche Gegenstände waren nicht erlaubt.

Als Einrichtung gibt es nur eine Holzpritsche, die die ganze Längswand des Raums einnimmt. Darauf sechs dünne Strohsäcke.. An der Seite ist ein Brief der Gefängnisinsassen abgedruckt, den sie mit Hilfe des Geistlichen abgefasst haben und in dem sie über den Schweiß, die Hygiene und den Schimmel klagen.

Noch schlimmer erging es denen, die in dem Verlies eingekerkert waren, in das man durch ein Gitter in dem Boden sieht. Das war der Fall bei einer Frau, die der Hexerei angeklagt war und hier gefoltert wurde, bis sie zu Tode kam.

Im Obergeschoss ist eine Ausstellung untergebracht, die ganz unterschiedliche Aspekte des Strafvollzugs aufgreift. Ausgestellt ist u.a. ein Henkersbeil. Hingerichtet zu werden galt als die „höherwertige“ Vollziehung der Todesstrafe, so wie es im Mittelalter „besser“ war, mit dem Schwert als mit dem Beil getötet zu werden. Henker zu sein war sozial sehr verpönt. Zum Tode Verurteilte konnten ihre Strafe teils umwandeln lassen, wenn sie sich bereit erklärten, Henker zu werden.

Die Zahl der Delikte, für die es die Todesstrafe geben konnte, nahm im 17. Jahrhundert immer mehr zu, ab dem 19. Jahrhundert wurde dann die Verwandlung der Todesstrafe in lebenslange Strafarbeit zur Regel.

Auch ausgestellt ist hier oben ein einfaches Gedenkkreuz in T-Form, mit einer Inschrift im Querbalken. Das Kreuz erinnert an den Tod eines alten Mannes. Dieser alte Mann wurde dem Bauern lästig, der zusammen mit seiner Frau die Aufgabe hatte, sich seiner anzunehmen. Er beauftragte einen Schuster und dessen Gesellen, den alten Mann zu töten. Der Mord kam ans Licht, und alle vier wurden zum Tod verurteilt und hier im Kajsartorn gefangen gehalten. Drei von ihnen wurden tatsächlich hingerichtet. Nur der Schuster entkam der Todesstrafe. Er brach aus dem Gefängnis aus und verschwand.

Auch ausgestellt ist ein „Schemel des Wüstlings“. Auf dem musste ein Ehebrecher während der Messe vorne in der Kirche knien und seine Sünden öffentlich bereuen.

In einer Vitrine ausgestellt ist „Hagströmskas Klädningen“, nicht etwa die Kleidung eines Verbrechers namens Hagström, sondern dessen Fesseln. Die waren bei ihm wegen der Fluchtgefahr besonders heftig. Sie wogen 10 Kilogramm! Erst im 19. Jahrhundert wurden die Daumenschrauben abgeschafft und die Hand- und Fußfesseln von innen mit Leder verkleidet.

So belehrt über die gute alte Zeit gehe ich nach Hause, um die Koffer zu packen. Am nächsten Tag, Luxair sei Dank, wartet ein achtstündiger Aufenthalt auf dem Flughafen in Stockholm auf mich.

Am Nachmittag mache ich Photos von der Stadtmauer und von ein paar Schildern mit schwedischen Aufschriften, wie dem Hyr här, lämna där einer Autoverleihfirma.

Am Ende lande ich im Gula Huset, einem kleinen alten Haus, das in seinem ebenso kleinen Garten ein Café betreibt. Dort bekomme ich den besten (und teuersten) Kuchen der ganzen Woche: ein Nusskuchen mit Safran, serviert mit Heidelbeeren und Schlagsahne und einer Kirsche und einer Erdbeere. Und dann geht eine Woche Visby zu Ende.