22. Februar (Samstag)
Die Reisenotizen zu Marbach beginnen mit einem Dementi: Nein, die englische Königin hat nicht nach Pferden gefragt, als sie hier zu Besuch war, sie ist nicht in das falsche Marbach gereist. Sie wollte hierher, sie wollte zu Schiller und nicht zu den Pferden. Die Geschichte ist einfach zu schön, um wahr zu sein. Schade.
Marbach geht, so steht es in einem alten Reiseführer, den ich im Antiquariat an Land gezogen habe, auf Markbach zurück. Aber was bedeutet das? Das wunderbare Buch für Ortsnamen, das sonst alle Wünsche erfüllt, kennt Marbach nicht. Und Marburg im Übrigen auch nicht. Meine Vermutung, dass es etwas mit ‘Grenze’ zu tun hat, wird in meinem anderen Buch für Ortsnamen wortreich zurückgewiesen. Das sei eine alte Geschichte, die jemand in die Welt gesetzt hätte, die aber schlichtweg falsch sei. Das Argument: Marbach komme einfach zu oft vor, um überall eine territoriale Grenze zu bezeichnen. Richtig sei: Marc bedeute ‘Sumpf’. Das Problem bei diesem Buch ist, dass es so gut wie alle Ortsnamen auf Sumpf zurückführt. Was ich bei der Recherche jedenfalls erfahren habe: Marburg hat einen Ortsteil, der Marbach heißt.
Plündernde Soldaten scheinen Marbach mehrmals im Laufe der Geschichte zugesetzt zu haben: spanische Truppen von Karl V. im Schmalkaldischen Krieg, die eine Strafexpedition gegen das protestantische Marbach durchführten, dann die mit dem württembergischen Herzog verbündeten Schweden und Franzosen im Dreißigjährigen Krieg, und dann Soldaten des französischen Generals Melac im Pfälzischen Erbfolgekrieg. Lauter Ausländer?! Seitdem herrscht aber Ruhe.
Wir brauchen geschlagene vier Stunden bis Marbach. Als wir von der Autobahn abfahren, sehen wir, dass das Fahrzeugkennzeichen der Gegend LB ist, Ludwigsburg. Vorher haben wir gerätselt was wohl RP sein könne. Später erfahren wir, dass es für Rhein-Pfalz-Kreis steht, dem ehemaligen Landkreis Ludwigshafen.
Die Stadt Marbach bietet in einem Parkhaus gleich neben der Innenstadt kostenloses Parken an, mit Parkscheibe und nicht unbegrenzt, aber kostenlos. Je höher die Etage, umso länger kann man bleiben.
Ob Marbach eine erhaltene Stadtmauer hat, darüber sind wir uns nicht einig. In meinem Reiseführer habe in ich davon nichts gelesen. Und es scheint auch keine zu geben. Trotzdem sieht es von hier aus so aus, als würde man durch ein Tor in einer alten Ummauerung gehen. Es sind nur ein paar Schritte, und wir stehen mitten in der Altstadt und vor unserer Pension. Wir sind untergebracht in dem Gasthaus Glocke. Deren Eigentümer heißt Glock. Frau Glock führt uns durch ein Wohnhaus auf einen Hinterhof. Hier befinden sich in niedrigen Gebäuden ein paar modern eingerichtete Zimmer.
Das Gasthaus Glocke ist leider bis Anfang März geschlossen. Schade. Hier hätte es Wild gegeben. Über dem Eingang hängt eine große goldenen Glocke als Hausmarke. Solche Hausmarken sehen wir in den nächsten Stunden immer wieder: ein Brezel an einer Bäckerei, eine Rasierschale an einem Friseursalon, einen Löwen an einer Apotheke. Eine Sonne hängt an einem Haus, einem alten Fachwerkhaus, das nicht mehr seine ursprüngliche Funktion hat. Hier gibt es jetzt Tätowierungen. Ähnlich ein Tabakladen mit einer Pfeife an der Fassade. Da gibt es jetzt einen Gebrauchtwarenladen. An den Gasthäusern sieht man immer noch häufig das Wort Fremdenzimmer.
Fachwerk bestimmt das Bild der Marktstraße, auf der wir uns befinden. Eine Ausnahme bildet das Rathaus. Das ist deutlich jünger. Ein rechteckiger Bau mit gleichmäßigen Geschossen. Noch 66 Jahre nach dem Brand hatten die Marbacher es nicht fertig gebracht, ein neues Rathaus zu bauen. Ein Besuch des Fürsten war dann der Auslöser, es endlich in die Hand zu nehmen.
Unten hat das Rathaus Arkaden. Die wurden bei einem späteren Umbau hinzugefügt. Ursprünglich hatte das Rathaus eine breite Durchfahrt, vermutlich für die Anlieferung von Waren. Hier befanden sich nämlich Verkaufsstände von Bäckern und Metzgern und ein Salzstand. Später befand sich hier eine Börse für Getreidehandel.
An der Fassade des Rathauses hängt das Wappen von Marbach. Dem begegnen wir auf unserem Spaziergang immer wieder. Es ist zweigeteilt. Links hat es drei Hirschstangen, ein Zeichen für die Herrschaft Württembergs, rechts hat es einen von Weinranken umschlungenen Turm, als Ausweis des wichtigsten Wirtschaftszweiges. Marbach war im Wesentlichen ein Ackerbürgerdorf.
Nicht alle Häuser brauchten so lange für den Wiederaufbau wie das Rathaus. Eins hat sogar seinen Namen davon: Wiederaufbauhaus. Es stand laut Inschrift auf dem Portal schon 1694 wieder. Die Balken sind braun und die Flächen dazwischen ocker, eine besonders schöne Kombination. Das Haus steht auf einem Untergeschoss aus Stein. Vielleicht war das eine bauliche Veränderung, die man nach den Erfahrungen mit dem Brand einführte. Die oberen Geschosse kragen alle hervor, aber nur ein bisschen.
Am Ende der Marktstraße befindet sich die zur Buchhandlung umgebaute Wendelinkapelle. Hier ersteht Dede einen guten Stadtführer.
Das Ende der Marktstraße wird markiert von dem Oberen Burgturm, dem letzten von ursprünglich drei, der erhalten geblieben ist. Auch um ihn gab es eine Kontroverse, denn er war baufällig und sollte abgerissen werden, wurde am Ende aber gerettet und saniert. Er hat ein mächtiges, fast fensterloses quadratisches Untergeschoss und einen schönen, spitzen Aufbau. Auf der Landseite hat er eine Uhr und zwei große, farbige Wappen, deren Bedeutung uns nicht ganz klar wird.
Unter den Fachwerkhäusern der Marktstraße befindet sich auch das Schatzhaus. Dort wurde nach mehr als 600 Jahren in einer Decke ein mittelalterlicher Münzschatz gefunden. Man versucht, sich vorzustellen, was wohl den Besitzer dazu veranlasst hat, hier sein Geld zu verstecken. Und wie es in Vergessenheit geraten konnte.
Wir biegen vor dem Burgturm links ab. Über Kopfsteinpflaster geht es ziemlich steil hinunter. Eine Frau spricht uns an und fragt, ob wir zurechtkämen. Sie gibt ein paar Erklärungen zur Stadt und weist und den Weg zu Schillers Geburtshaus. Und sagt uns, wir sollten uns unbedingt die Holdergassen ansehen.
Schillers Geburtshaus sieht gar nicht so mickrig aus, aber wie beengt die Wohnverhältnisse waren, wird innen klar. Im Obergeschoss wohnte der Vermieter, die Küche im Untergeschoss teilte er sich mit den Schillers, und für die, Mutter, Tochter und Sohn, blieb nur ein Raum übrig. Was aus Schillers Vater wurde, das erfahren wir am Abend im Goldenen Löwen.
Schiller wohnte nur vier Jahre in Marbach und kehrte danach nie wieder hierher zurück. Warum wohl nicht? Hatte er düstere Erinnerungen an die Zeit hier?
Das Geburtshaus wurde bald danach von einem Bäcker übernommen. Der hatte ein Gästebuch bereit, denn bald nach Schillers Tod brachte die Schillerverehrung viele Besucher hierher.
Oben sind ein paar persönliche Gegenstände ausgestellt, die Schiller gehörten, darunter seine reich bestickte Taufmütze. Daneben das Taufregister. Es sind acht Paten verzeichnet. Es ging nach dem Motto „je mehr, umso besser“. Viele Paten bedeutete gesellschaftliche Achtung.
In einer anderen Vitrine sieht man ein Haar von Schiller als Reliquie und einen Petschaft. Das ist eine Art Siegel. Auf dem Boden ist das Wappen angebracht, das Schiller führte, als er, durch Vermittlung von Goethe und dem Herzog von Weimar, den Adelstitel bekam.
Was hier auch deutlich wird, ist der Niedergang Marbachs nach dem Brand von 1693. Zu den Zerstörungen kam die Konkurrenz des neu gegründeten Ludwigsburg. Was Marbach dann aus der Patsche half, war der bald einsetzende Schiller-Tourismus. Das hat sich bis heute nicht geändert.
Auf dem schräg abfallenden Platz vor dem Geburtshaus von Schiller befindet sich ein Brunnen. Die Brunnenfigur ist die des Wilden Mannes. Er hält eine Keule in der Hand und hat einen Kranz aus Weinblättern auf dem Kopf, und auch seine Haut scheint aus Weinblättern zu bestehen. Keule und Wein = Mars und Bacchus. Dede hat eine Intuition: Mars + Bacchus = Marbach. Die Intuition erweist sich als richtig. So erklärte sich das Volk den Ursprung des Namens Marbach!
Das Wasser des Brunnens wird benutzt für eine Wette. Was das ist, erklärt der Reiseführer: ein Feuerlösch- und ein Viehtränketeich.
Wir gehen durch die Obere und die Untere Holdergasse. Die Untere Holdergasse hat ein Witzbold auf einem Schild in Untere Stolpergasse umbenannt.
Der Haspelturm, etwas abseits der Gasse gelegen und von hier aus schwer einsehbar – man müsste noch mal von außen um die Stadt gehen – diente lange Zeit als Gefängnis und ist so benannt nach der Haspel, mittels derer man die Gefangenen in ihr Verlies herabließ.
Das Beginenhaus ist ein stattliches Haus, das bis zur Reformation Sitz der Beginen war. Mit der Reformation mussten sie ihren Orden aber abschaffen. Eine Zeitlang durften sie noch ein Spital betreiben, aber auch das wurde dann abgeschafft. Anstelle der Beginen zog hier die Lateinschule ein, und das Haus war auch Wohnhaus für den Präzeptor und den Schulmeister. Später kam neben der Lateinschule auch die Deutsche Schule in diesen Bau.
Dekanat und Spezialat sind Organismen der nachreformatorischen Kirchenordnung. Die Details ersparen wir uns. Jedenfalls sind beide repräsentative Fachwerkhäuser, ganz anders als die meisten Fachwerkhäuser dieses Viertels, wo die Bauern wohnten, die meist im Nebenberuf Winzer waren, teils auch nur für den eigenen Bedarf anbauten. Gegenüber ihren einfachen, kleinen Häusern befanden sich die Scheunen. Heute sieht man in diesem Viertel kleine Gartenparzellen, wie Schrebergärten, aber ohne Häuschen.
Schon vorher haben wir das Geburtshaus von Tobias Mayer gesehen, dem zweiten berühmten Sohn Marbachs. Wie Schiller hat er aber nur die ersten Jahre seines Lebens hier verbracht und ist auch nie mehr zurückgekehrt. Aber Marbach kann den Ruhm einstreichen. Sein Geburtshaus ist ein Fachwerkhaus, entstanden kurz nach dem großen Stadtbrand, errichtet von seinen Eltern. Hier war auch die Werkstatt des Vaters untergebracht, eines Wagners.
Jetzt stehen wir von einem brandneuen Gebäude. Hier ist das Tobias-Mayer-Museum untergebracht. Es bildet so etwas wie die Rückseite des Geburtshauses.
Ein freundlicher Mann am Eingang fragt, wie viel wir denn schon von Tobias Mayer wüssten. Die Antwort fällt leicht: Nichts. Aber wirklich gar nichts. Das ändert sich im Laufe der nächsten Stunde.
Tobias Mayer war ein ganz außergewöhnlicher Mann. Ein Autodidakt, der es zum Professor in Göttingen brachte, ohne jemals selbst auf einer Universität gewesen zu sein!
Er sagt von sich selbst, er habe seiner Mutter ständig bettelnd in den Ohren gelegen. Aber er wollte kein Brot, er wollte Feder, Tinte und Papier. Mit fünf konnte er bereits Schreiben, Lesen und Zeichnen.
Mayer, 1723 geboren, wurde nur 39 Jahre alt. Schiller hat er nicht mehr kennen gelernt. Der war erst 3, als Mayer starb. Als er 8 war, starb der Vater, als er 14 war, starb die Mutter. Durch einen Gönner erhielt er die Chance, die Schule zu besuchen, zuerst die Deutsche Schule, dann die Lateinschule.
Mit 16 erstellte er einen Stadtplan von Esslingen, wohin die Familie Jahre vorher umgezogen war. Das war sein Erstlingswerk. Danach folgten ein Mathematikatlas, eine Deutschlandkarte, ein Buch über die Geometrie, ein Buch über die Kriegsbaukunst und schließlich ein Mondglobus. Den konnte er nicht mehr vollenden. Es wäre der erste Mondglobus überhaupt gewesen.
Für den Laien verständlich wird Mayers Leistung anhand eines Schiffes, dessen Modell hier ausgestellt ist, eines britischen Schiffes, das 1707 zusammen mit anderen Schiffen der britischen Flotte vor den Scilly Isles Leck lief und unterging. Es gab 1.450 Tote. Und das war kein Einzelfall. Solche Katastrophen passierten immer wieder. Der Grund lag in der Berechnung der Längengrade. Die war schwierig. Ganz anders als die Berechnung der Breitengrade. Die hatte man im Griff. Mayer behob das Manko. Das britische Parlament schrieb als Folge des Schiffsunglücks einen Preis für die Berechnung von Längengraden aus. Nach langem Hin und Her bekam Mayer diesen Preis posthum verliehen. Seine Witwe kam in den Genuss eines großen Teils des Preisgeldes. Das belief sich auf
£ 20.000 – umgerechnet eine Million Euro!
Mayers besondere Qualität war die Präzision. Dazu entwickelte er auch Instrumente weiter oder erfand neue. Einige sind hier ausgestellt, darunter ein Repetitionskreis und ein Oktant, eine Weiterentwicklung des Sextanten.
Die Präzision sieht man auch an vielen Karten, die hier ausgestellt sind. Einige haben drei Konturen, zwei überlieferte und dann zum Vergleich die von Mayer neu entwickelten.
Aus der Zeit des Nationalsozialismus erhalten ist eine Kupferplatte mit einer von Mayers Karten. Man sieht, wie nach dem Krieg das Hakenkreuz auf der Platte wegpoliert wurde.
Als Pionier gewürdigt wurde Mayer nach seinem Tod von Euler, Gauß und Lichtenberg. In einem Briefwechsel mit Euler hatte er seine Theorie zur Vorhersage der Mondbewegungen entwickelt.
Mayer, heißt es am Ende der Ausstellung, habe sich ausgezeichnet durch eine Mischung aus Idealismus, Genauigkeit und Bodenständigkeit. Eine gute Mischung. Als wir das Museum verlassen, bemerkt Dede: “Der ist doch eigentlich viel wichtiger als Schiller!”
Am Abend gehen wir in den Goldenen Löwen, von Dede ausgesucht. Eine gute Wahl. Das Haus war schon zu Schillers Zeiten Gasthaus. Es gehörte dem Vater seiner Mutter, dem Bäcker Georg Friedrich Kodweiß. Schillers Mutter wurde hier geboren. Kodweiß war nicht nur Bäcker, sondern auch herrschaftlicher Floßverwalter. Es ging ihm gut, und er kaufte dieses Anwesen und errichtete bald danach einen größeren Neubau. Hier eröffnete er den Gasthof, und zwar einen, der nicht ständig geöffnet war, sondern sich besonders an die Flößer als Kundschaft wandte, denn er hatte das Vorrecht, sie zu bewirten. Kluger Schachzug. Aber das ging dann alles den Bach hinunter. Durch eine Überschwemmung und durch Spekulation.
Als es noch gut ging, tauchte hier eines Abends Schillers Vater als Gast auf. Es war spät, und er wurde nicht mehr in die Stadt hineingelassen. Also kam er hier unter, denn der Goldene Löwe befand sich gerade außerhalb der Stadtmauern. Hier lernte er die Tochter des Hauses kennen. Und die heiratete er wenig später. Schillers Vater war das, was man damals „Chirurg“ nannte, ein Wundarzt, ein Arzt ohne medizinische Ausbildung, eine Art Feldscher. Er erhoffte sich durch die Heirat mit der Tochter des wohlhabenden Wirts wirtschaftliches Wohlergehen, aber als dann alles den Bach hinunterging, verließ er Marbach und ließ seine Frau mit den beiden Kindern zurück. Er folgte seinem Landesherrn auf dessen Reisen und Feldzügen. Es war wohl eine Mischung aus Scham und Not, die ihn dazu bewegte, Marbach zu verlassen.
Jedenfalls ist es Schillers Großvater zu verdanken, dass wir heute Abend das Vergnügen haben, hier zu essen. Das Lokal ist gemütlich, mit niedrigen Decken und schönen Bauernschränken. An der Wand hängen Schieber für Backöfen. Aber das Lokal hat nichts Verstaubtes. Und das Essen ist zum Niederknien: Flädlesuppe, Schweinebacke mit Spätzle und Crème Brûlée mit Obstsalat. Dede kann jedes Kraut identifizieren und auch die Senfkörner in der Soße zu der Schweinebacke.
Auf dem Rückweg sehen wir, in unmittelbarer Nähe der Pension, zwei benachbarte, sehr unterschiedliche Fachwerkhäuser, die ein besonders schönes Ensemble darstellen. Das eine, der Heinlinsche Hof, ist das einzige Haus innerhalb der Stadtmauern, das den Brand von 1693 überstanden hat. Durch dendrochronologische Untersuchungen hat man herausgefunden, dass die Balken von den Häusern vor dem Brand aus Eiche waren, bei denen nach dem Brand aus Fichte.
Das andere, oben spitz zulaufend und mit schönen Mustern aus Fachwerk, war das Physikat, der Dienstsitz des amtlichen Arztes, des Arztes, der das Pendant zu Schillers Vater war und eine medizinische Ausbildung hatte.
Die Luft ist noch erstaunlich mild, und die beiden Häuser kommen am Abend genauso gut zur Geltung wie am Tag.
23. Februar (Sonntag)
Über Nacht hat es heftig geregnet, aber am Morgen hat der Regen aufgehört. Es ist aber kalt und dicht bewölkt.
Die Altstadt ist wie ausgestorben, aber Dede hat eine Bäckerei ausfindig gemacht, Bäckerando, die ein paar Schritte außerhalb liegt. Dort bekommen wir ein wunderbares Frühstück von einer sehr freundlichen Bedienung serviert. Während des Frühstücks erinnern wir uns an Werbeslogans unserer Kindheit: “Wer wird denn gleich in die Luft gehen?”, “Von höchster Reinheit”, “Der Duft der großen weiten Welt”, “Viel Rauch, wenig Asche”, “Ich gehe meilenweit für eine Camel”, “Viel zu fein für Männerhände”, “Feuer – Pfeife – Stanwell”, “Ein Mann – ein Wort – Batavia”.
Dede macht mich aufmerksam auf die Bedeutung von bit in dem Lied, das in der Bitburger-Werbung zum Einsatz kommt: “Stay a little bit longer”. Darauf kommen wir auf die Werbekampagnen von Karlsberg (“Ein Ur mittags”, “All”, “Ur-Knall”) und die von Früh Kölsch (“Kein bisschen Alt”, “Heilig am Abend”, “Fließend Kölsch”).
Zu der Bäckerei sind wir durch das Obere Burgtor gekommen. In dem ist innen eine Nische eingelassen. Dort deponierte man in früheren Zeiten das Wegegeld. Man musste die Stadt passieren, wenn man unterwegs war, und der Durchgang war kostenpflichtig. Heute gibt es subtilere Methoden, Besuchern das Geld aus der Tasche zu ziehen.
Hier, am Burgtor, wurde ebenfalls Brot gewogen. Wenn auswärtige Bäcker ihr Brot in Marbach verkaufen wollten, wurden ihre Waren vorher gewogen, vermutlich, um Betrügereien zu vermeiden.
Rechts des Burgtors ist ein Gedenken an die toten Soldaten des 1. Weltkriegs angebracht. Die Namen der gefallenen Soldaten aus Marbach sind in die Mauer eingemeißelt. Es sind erstaunlich viele. Die Gedenktafel stammt aus der Zeit des Nationalsozialismus und hat ein Schiller-Zitat, das einen grausen lässt, eine Zelebrierung des Heldentods für das Vaterland, so als hätte er es eigens für die Nazis verfasst. Man müsste mal nachsehen, in welchem Kontext das gesagt worden ist.
Auf dem Weg zur Bäckerei kommen wir an der Schnippstelle vorbei, einem Friseursalon, und am Sehblick, einem Optiker.
Nach dem Frühstück geht es auf die Schillerhöhe, erst ein Stück die Hauptstraße entlang, dann über einen schönen Fußweg. Genau an der Abbiegung steht ein blauer Briefkasten mit dem Werbeslogan “Blau ist das neue Gelb”. Es scheint eine Post von Baden-Württemberg zu sein. Wir spekulieren darüber, wie das wohl funktioniert.
Von Karneval ist in dieser Gegend wenig zu sehen, aber jetzt sehen wir an der Kreuzung einen Mann mit einem langen, weiten Faltenrock. Der ist vermutlich auf dem Weg nach Hause von der Karnevalsfeier.
An einem Laternenpfahl hängt ein Plakat, in dem für die Carnevalsfreunde und für das Kinderfasching geworben wird. Karneval oder Fasching? Dede bestätigt, dass es in Trier Fastnacht heißt. Das habe ich in 23 Jahren nicht gemerkt.
Nach einem kurzen Spaziergang erreichen wir die Schillerhöhe mit der etwas futuristisch aussehenden Stadthalle. Im Zentrum des Platzes, auf einer Rasenfläche, steht Schiller, hoch auf einem Sockel, Feder in der einen, Papierrolle in der anderen Hand. Er trägt einen Gehrock und Schnallenschuhe und hat einen Fuß leicht nach vorne gestellt. Er trägt keine Kopfbedeckung, und das lange Haar fällt lose auf seine Schultern.
Vor uns liegt ein altes Museumsgebäude, an der Seite ein modernes, strahlend weißes, mit Arkaden. Dahin kommen wir aber später unterirdisch, von dem alten Museum aus.
Sieht so aus, als wären wir die ersten Besucher, und so richtig ist man noch gar nicht auf Besuch eingestellt. Ob wir an einer Führung teilnehmen wollten, werden wir gefragt. Ja, gerne. Aber es ist noch gar nicht klar, ob die Führung überhaupt stattfindet. Und das Eintrittsgeld? Ach, wir sollten jetzt erst mal in das Museum gehen, das mit dem Eintritt lasse sich später regeln. Dabei bleibt es dann. Wir kommen umsonst rein und bekommen dann später auch eine Führung, allerdings eine sehr subjektive, wenig strukturierte. Die Frau verbringt viel Zeit damit, über ihre Erkältung zu sprechen und über die ausgefallenen Kolleginnen und sagt immer wieder, was sie uns nicht sagen will. Und spricht viel über Ausstellungsstücke, die nicht vorhanden sind.
Die gesamte Schiller-Ausstellung wird umgebaut und neu konzipiert, und einige Exponate sind schon entfernt worden. Der Abbau beginnt in wenigen Tagen, Anfang März.
Es gibt verschiedene Räume, jeder mit seinem eigenen Thema. Los geht es mit persönlichen Gegenständen. Davon haben sie eine ganze Menge zusammenbekommen. Man fragt sich, wie das alles nach Marbach gekommen ist.
Man erfährt, dass Schiller ein Modenarr war. Seine farbenfrohe Kleidung war legendär. Ausgestellt sind unter anderem Strümpfe mit den damals modischen Längsstreifen. Daneben eine Schärpe, die Humboldt ihm aus Brasilien mitgebracht hatte. Der Knopf eines Schlafrocks trägt das Bild der Hygieia – schließlich war Schiller Arzt. Und der Knauf eines Spazierstocks zeigt eine Spirale – ein klassisches Unendlichkeitssymbol.
In dem nächsten Raum sind Bücher ausgestellt, die Schiller gehörten oder die ihn beeinflusst haben: Wieland, Goethe, Lessing, Rousseau, Vergil, aber auch viele, deren Namen uns nicht geläufig sind. Unter den Büchern befindet sich das Exemplar des Werther von Schillers Tochter.
Den größten Einfluss auf Schiller, heißt es, übten Kant und Klopstock aus. Der war der eigentliche Dichterfürst seiner Zeit, heute verschwindet er hinter Goethe und Schiller. Sein Verdienst war es, die Dichtung “befreit” zu haben, von den Fesseln des Reims, des Metrums, der Handlung. Das, was zählte, waren einzig Eindrücke.
Dann gibt es schriftliche Dokumente von Schiller selbst: Manuskripte, Notizzettel, Papierstreifen. Schillers Schrift war schön und ziemlich rechtslastig, aber kaum leserlich. Offensichtlich hat er gelegentlich Blätter in ihre Einzelteile zerschnitten und dann wieder neu zusammengefügt. Man sieht viele Streichungen, Korrekturen, Umstellungen. An einer Stelle wird bei einem Gedicht deutlich, dass er zugunsten der Verständlichkeit das Metrum “opferte”.
Unter den Briefen Schillers befindet sich ein in dramatischer Sprache gehaltener Brief an seine Eltern, in dem er um ein Treffen bittet, bevor er Mannheim “auf ewig” verlässt. Seine Eltern siezt er. Charlotte von Beulwitz, die Schwester seiner späteren Frau, spricht er mit Ihr an, einen Freund in einem Brief mit du.
Eine unendliche lange Rechnung aus dem Goldenen Ochsen, wo er mit einem Freund war, listet unter anderem Wein, Schinken, Salat, Brot und Pfeifen auf.
Aus der Zeit des Medizinstudiums stammt eine detaillierte Beschreibung einer von einem Mitstudenten durchgeführten Obduktion. Vermutlich waren Obduktionen zu der Zeit noch nicht an der Tagesordnung.
Im abschließenden Raum gibt es, dicht nebeneinander gehängt, Darstellungen von Schiller, darunter eine ganze Menge Gemälde. Ein Typus ist beherrschend: Schiller, den Kopf auf die Hand gestützt, gedankenschwer in die Ferne blickend. Oft ruht eine Hand auf einer Tabakdose. Das, erfährt man, ist ein Symbol der Reinigung. Die Sache wird klarer, wenn man weiß, dass es sich um Schnupftabak handelt. In den meisten Bildern trägt Schiller einen offenen Kragen und trägt das Haar lose. Beides steht für seinen Drang nach Freiheit.
Auf einem Gemälde sieht man ihn bei der Arbeit, still am Schreibtisch sitzend. Das entspricht kaum seiner favorisierten Arbeitsweise. Er lief in der Regel laut deklamierend und sich ereifernd im Zimmer auf und ab.
Von der Schiller-Ausstellung werden wir weitergeleitet in das Literaturmuseum der Moderne – unterirdisch. Den modernen Bau selbst mit seinen filigranen, weißen Stützen sehen wir daher nur von Weitem.
In dem Museum stehen Vitrinen, alle mit einer bestimmten Jahreszahl versehen, alle in einem großen Raum, rechteckig, zweistöckig, von allen vier Seiten einzusehen. In den Vitrinen liegen, vom Notizzettel bis zum fertigen Manuskript, alle möglichen Zeugnisse der deutschsprachigen Literatur der letzten hundert Jahre, von den verschiedensten Autoren.
Als erstes fällt unser Blick, eher zufällig, auf einige Bögen mit Kurzschrift. Das ist Kästners Emil und die Detektive. Kästner war Journalist und dadurch vermutlich mit Kurzschrift vertraut.
In der Nähe ein großes Blatt, auf denen ganz unregelmäßig Ortsnamen vermerkt sind, maschinengeschrieben: Cuxhaven, Dinslaken, Kanada, Trier, Philippinen, Hamm in Westfalen. Es ist eine Liste für die Verfertigung von Limericks, von einer Mascha Kaléko. An einer Stelle sieht man, wie der Ortsname den ersten Schritt tut, um zum Gedicht zu werden: Neckar reimt auf Wecker.
Ein Entwurf von Celans Todesfuge trägt hier noch den Namen Todestango. Interessante Abänderung.
Ein Leserbrief an Kästner, in riesigen Buchstaben auf säuberlichen, selbst gezogenen Linien, ist in Sütterlin geschrieben.
In dem Manuskript zu Berlin Alexanderplatz sind zwischen den Passagen in Döblins Handschrift Zeitungsausschnitte eingeklebt. Man bekommt einen kleinen Einblick in die Arbeitsweise des Schriftstellers. Das nennt man, wie man hier erfährt, Regenwurmtechnik.
Morgenstern Galgenlieder erscheinen auf einer aus Papierstreifen und einem Stab zusammengebastelten Axt.
Kesslers Tagebuch hat Einträge links und Photos und andere Zugaben rechts. Er macht es genau umgekehrt wie ich.
Überraschend, wie häufig Photos und Zeichnungen Teil der Manuskripte sind. Die Zeichnungen stammen in der Regel von den Autoren selbst. Von Hesse sieht man eine wunderbar minimalistische, sehr expressive Darstellung eines Sturms. Zwei Bäume und ein Mann beugen sich unter der Gewalt des Sturms. Die Hände des Mannes sind wie die Äste der Bäume.
Else Lasker-Schülers Gedicht “Tibetteppich” ist in großen Lettern mit viel Zwischenraum mit Tinte auf große Bögen geschrieben. Mit der Schreibmaschine geht sie ebenso großzügig mit dem Platz um. Das Gegenmodell dazu ist das Tagebuch eines gewissen Konrad Merz, ganz kleine Schrift fast ohne Platz an den Rändern und zwischen den Zeilen.
Ein auffälliges Erscheinungsbild bietet Handtkes Publikumsbeschimpfung: säuberlich mit Schreibmaschine in Zeilen geschrieben, mit schwarzen Buchstaben, auf der rechten Seite des Blattes: Ihr Fratzen, Ihr Milchgesichter, Ihr Katzenbuckler usw. Auf der linken Seite des Blattes die Korrekturen einzelner Wörter, mit roten Buchstaben. Die ersetzten Wörter im Text sind säuberlich gestrichen, mit einem schwarzen Balken, so dass man nicht erkennen kann, wie der ursprüngliche Text lautete. Schade.
Heißenbüttels Gedicht “Möwen und Tauben” hat eine experimentelle Form. Die Wörter erscheinen in Spalten, die einzelnen Zeilen weisen teils Lücken auf. Dadurch erscheinen sich wiederholende Wörter in ein und derselben Spalte: kommen, Möwen, und. Konkrete Poesie. Auffällig die unorthodoxe Schreibweise von Möven.
Ein Buch von Gumbrecht heißt 1926. Ein Jahr am Rande der Zeit. Erinnert an Florian Illies’ 1913. Der Sommer des Jahrhunderts. Ob der das Buch von Gumbrecht kannte?
Ein dicht gefüllter Zettelkasten stammt von Peter Rühmkorf. Alle Zettel sind handgefertigt und maschinengeschrieben. Sie enthalten nur kurze Notizen oder Sentenzen: “Gegerbtes Gefühl”, “Meine tätowierte Seele”, “Gefühle sind nicht lange haltbar”, “Die Gemütsbewegungen im Zettelkasten”.
Hannah Arendts Denktagebuch besteht aus einer ganzen Reihe dünner Kladden, kleinformatig, gleichförmig. Schöner Titel zur Unterscheidung von dem klassischen Tagebuch.
“Südlicher Morgen” ist der Titel eines Gedichts von Borges, von ihm selbst geschrieben und unterschrieben. Konnte Borges Deutsch? So gut, dass er Gedichte auf Deutsch schreiben konnte?
Das Gedicht von Borges ist in Druckschrift geschrieben, ganz säuberlich, aber übertroffen wird es in der äußeren Form von Stefan Georges “Teppich des Lebens”. Die Zeilen und die Strophen sind gleich lang, und jeder Buchstabe kunstvoll gemalt. Das ist reine Kalligraphie.
Das nächste Spiel ist immer das schwerste, eine ironische Betrachtung des Fußballs von Ror Wolf – von diesem Buch habe ich mal ein Exemplar besessen. Ob es sich noch auf irgendeinem Regal versteckt? Eine Seite ist hier ausgestellt. In schwarzer Schrift erscheinen Zitate, in roter Schrift die Quelle. Kein Wort des Autors. Ist das ganze Buch so? Weiß ich nicht mehr. Aber die Wirksamkeit der Methode zeigt sich hier an einem Zitat von Helmut Kremers: “Ich schieße immer in die linke Ecke. Natürlich weiß ich, dass das inzwischen jeder weiß, aber er kann ja auch denken, dass ich endlich einmal in die rechte Ecke schieße, nachdem ich bisher immer in die linke Ecke geschossen habe. ” Das ist pure Philosophie.
Von Reich-Ranicki ist ein Brief an Hans-Werner Richter ausgestellt: polemisch, angriffslustig, wie man es gewöhnt ist. Die Anrede lautet “Mein Führer”.
W. G. Sebald verwendet in Die Ausgewanderten eine Visitenkarte. Die gehört seinem Protagonisten. In Druckschrift auf der Visitenkarten die Daten des Protagonisten, darunter ein handschriftlicher Gruß. Diese Visitenkarte sieht man hier. Daneben ein Blatt, auf dem der Autor die Handschrift seines Protagonisten ausprobiert!
In einem Brief an Milena eliminiert Kafka sich selbst: Erst ist Franz durchgestrichen, dann F, dann Dein.
Hesse besaß eine Schreibmaschine, die besondere Funktionen hatte, darunter Kursivschrift und verschiedene Farbbänder. Auch ein paar Symbole wie Kreise. Das alles macht er sich in einem Geburtstagsbrief an seinen Vater zunutze, einem schön gestalteten Brief. Ein kleiner Vorläufer dessen, was heute der Computer leistet. Hesse selbst nennt das den “Übergang von der Hacke zum Pflug”.
Die Besichtigung des Museums ist anstrengend, man muss viel Stehen und Lesen, und wir sind froh, dass wir auf dem kurzen Weg zurück in die Innenstadt ein bisschen frische Luft bekommen.
Vorher, vom Foyer des Museums aus, bekommen wir endlich den Neckar zu sehen. Der windet sich gleich unterhalb des Museums durch die Landschaft. Nicht gerade ein reißender Strom.
Mitten in der Altstadt, in einer der Holdergassen, gibt es eine alte Ölmühle. Wir haben Glück. Man kann sie nur einmal im Monat besichtigen, am letzten Sonntag des Monats. Heute. Passt.
In dem länglichen Raum drängen sich schon viele Besucher. Man sieht ein verschlungenes Miteinander von Rädern, Motoren, Trichtern, Kolben, Kurbeln, Walzen und Transportbändern.
Ein Mann, der selbst als Kind von seinen Eltern noch hierher geschickt wurde, um Speiseöl zu holen, erklärt uns die Mühle. Er spricht mit einem markantem schwäbischen Akzent, aber man versteht ohne Weiteres, wenn er von den Drähbewägungen spricht oder sagt, dass sich etwas net ghalte hat, oder dass etwas aa kan Probläm isch.
Das Herzstück der Ölmühle ist ein elektrischer Motor, von 1906. Erst kurz zuvor war Marbach elektrifiziert worden. Und das machte den Unterschied. Bis dahin waren die dampfbetriebenen Ölmühlen draußen vor der Stadt gewesen, jetzt konnte die neue Ölmühle gleich hier in der Altstadt entstehen. Der Verkauf an Privatleute erfolgte durch ein kleines Seitenfenster. Wenn die Mühle in Betrieb war, ließ man niemanden herein. Sicher ist sicher.
Man kaufte für den Privathaushalt das Öl in kleinen Mengen, eine Kanne voll. Mehr nicht. Denn das Öl wurde ranzig, wenn man es länger aufbewahrte. Das änderte sich erst mit neueren Raffinierieverfahren.
Zuerst wurde Öl aus Raps hergestellt. Der wuchs hier überall, wie heute wieder. Allerdings konnte man daraus kein Speiseöl machen. Meistens war es Maschinenöl.
Dann kam Leinöl. Das wurde aus Flachs hergestellt. Auch der wuchs hier vor Ort. Und wurde angebaut, um Leinen für Kleider herzustellen. Der Flachs war eine Art Abfallprodukt, das sowieso da war. Das Leinöl wurde zunächst für Farben und Pharmazeutika verwendet. Erst später wurde es zum Speiseöl. Als das Leinen von der Baumwolle verdrängt wurde, ging es auch dem Leinöl an den Kragen. Bis es jetzt von Gesundheitsbewussten und Esoterikern wiederentdeckt wurde. Dede hat dazu eine eindeutige Meinung: “Schmeckt nicht.”
Systematisch wurde Speiseöl dann aus Mohn hergestellt. Wieder eine einheimische, in großen Mengen vorhandene Pflanze. Die Sache lief gut, aber dann geriet der Mohn als Lieferant von Opium unter Generalverdacht. Allerdings sind die Samen, aus denen das Öl gemacht wurde, völlig ungefährlich. Man kann sich höchstens den Magen verderben, wenn man zu viel davon isst. Das Opium wird aus den Kapseln gewonnen. In Deutschland wurde die Herstellung von Mohnöl ungesetzlich. Im Gegensatz zu Österreich, wo es immer erlaubt blieb.
Es folgt die Erklärung der einzelnen Teile der Anlage, und einige der Besucher stellen fachkundige Fragen. Aber unser Führer kann sie alle beantworten.
Dann werden wir hinter ein Absperrband in Sicherheit gebracht und die Mühle wird geräuschvoll in Gang gesetzt. Ein echtes Schauspiel: “Alles dräht sisch.”
Wir sind froh, diese Kulturgeschichte im Kleinen erlebt zu haben und wagen uns noch auf die andere Seite, dort, wo, etwas erhöht, die Alexanderkirche steht, eine spätgotische Kirche, die von dem Brand wohl nicht betroffen war, weil sie außerhalb der Stadtmauern lag. Diese Ecke von Marbach, durch eine Umgehungsstraße von der Altstadt getrennt, hat auch ihre Reize, aber es weht ein kalter Wind, und bald nehmen wir Zuflucht zur Wärme im Ochsen, dem wir heute den Vorzug vor dem Löwen geben. Wieder ein angenehmes Lokal mit freundlicher Bedienung und schmackhaftem Essen, auch wenn das nicht ganz so exquisit ausfällt wie gestern.
24. Februar (Rosenmontag)
Heute bekommen wir ein Frühstück in einem Café, das wir gestern auf dem Weg zur Schillerhöhe gesehen haben. Auch hier sind alle sehr freundlich, und das Frühstück ist reichhaltig.
Bei der Gelegenheit erfahre ich, was eine Teufelsgeige ist, ein Musikinstrument, das oft in Eigenarbeit entsteht und bei Karnevalszügen zum Einsatz kommt. Es handelt sich im Wesentlichen um einen Stab, an dem alle möglichen Dinge angebracht sind, die Lärm machen.
Ebenfalls erfahre ich, was Schillerlocken sind. Nicht nur das, ich bekomme auch gleich zwei geschenkt als Reiseproviant.
Auf dem Rückweg in die Innenstadt fällt unser Blick auf die großen Wappen, die am Burgtor angebracht sind. Eins davon, das Wappen derer von Thurn und Taxis, soll einen Dachs haben. Wir stehen wirklich davor und sehen den Dachs vor lauter Löwen nicht. Dann fällt bei Dede der Groschen: Der Dachs ist mitten in dem Wappen, eigentlich nicht zu übersehen. Warum ist der Dachs so wichtig? Er macht das Wappen zu einem sprechenden Wappen: Das italienische Wort für ‘Dachs’ ist tasso, und davon leitet sich Taxis ab!
Wir stöbern noch ein bisschen in der Buchhandlung in der Wendelinskapelle herum und werden fündig, bei Karten und bei Büchern. Dede kauft ein Buch mit Gedichten von Ulla Hahn. Auf dem Klappentext steht der Name Klaus von Dohnanyi. Ich mache überflüssigerweise die Bemerkung, der sei ihr Ehemann. Das bekommt der Buchhändler mit und bestreitet das. Er nennt sogar den Namen des “richtigen” Ehemanns. Dann stellt sich aber heraus, dass es ein Missverständnis ist. Er meint nicht Ulla Hahn, sondern Anna Katharina Hahn, eine andere Schriftstellerin.
Als wir zum Parkhaus gehen, bekommen wir die ersten Tropfen ab, und während der Fahrt hört es kaum mal auf zu regnen. Nicht so angenehm fürs Fahren, aber besser jetzt als vorher. Das Wetter ist zwar nur passabel gewesen, aber weit besser als befürchtet. Und Marbach hat gehalten, was wir uns von ihm versprochen haben.