Funchal (2021)

16. Dezember (Donnerstag)

Reisen in Zeiten von Corona. Keine einfache Angelegenheit. Papierkram, Hochladen von Impfung und Test, Maske, Kontrollen. Trotzdem. In Portugal ist die Lage besser als zuhause, und mit etwas Glück kommt auch mal ein Sonnenstrahl raus.

Die DB tut das ihre, um die Sache kompliziert zu machen. Erst bleiben wir auf offener Strecke stehen – auf „unbestimmte Zeit“ – dann erreiche ich mit heraushängender Zunge den Anschlusszug, aber auch der hat Verspätung. Der einzige Zug, der pünktlich ist, ist der zum Flughafen, und der fährt mir vor der Nase weg. Am Ende bin ich viereinhalb Stunden unterwegs, als ich am Flughafen ankomme, und zwölf Stunden, als ich im Hotel ankomme.

Unterwegs ist also reichlich Zeit für Lektüre. Dabei erfahre ich, dass Eselsbrücke aus dem Lateinischen kommt, von pons asinorum. Das wurde schon in der mittelalterlichen Scholastik benutzt. Warum ist es dann wohl nicht in andere Sprachen eingegangen? Die Eselsbrücke war ursprünglich ganz wörtlich eine Brücke für Esel, mittels der sie auf die andere Seite des Flusses kommen konnten. Aber warum ausgerechnet die Esel? Das hat was mit der Störrigkeit, aber auch der Klugheit von Eseln zu tun. Esel durchquerten keine Wasserläufe, da sie nicht wissen konnten, wie tief das Wasser ist. Also mussten die Bauern Behelfsbrücken bauen, um an ihr Ziel zu kommen, die Eselsbrücken!

Dann geht es um Vogelnamen als Familiennamen. Da ist man einfach verblüfft angesichts der schieren Vielfalt: Adler, Falk(e), Finck/Finke, Geier, Habicht, Hahn, Kleiber, Meise, Nachtigall, Ra(a)be, Schwan, Spatz, Specht, Sperber, Star, Storch, Strauß, Taube(r), Zeisig, und natürlich Vogel. Und das sind nur die gängigsten. Auch mein alter Konrektor von der Volksschule gehört dazu, Spielvogel, und ebenso Gauck, denn das ist einfach ein anderer Name für den Kuckuck. Die Benennung hat unterschiedliche Gründe, sie kann was mit den Eigenschaften des Benannten zu tun haben oder mit seinem Beruf (Aufzucht von Vögeln oder Handel mit Vögel) oder aber mit Hausnamen, die dann auf den Bewohner übertragen wurden. Und dann sind einige gar keine eigentlichen Vogelnamen, sondern Verballhornungen von Rufnamen. So wurde aus Johann der Hahn und aus Burkhard wurde der Bussard!

Dann gibt es noch was Schönes zu dem Pronomen man. Das hat nämlich, im Gegensatz zu Mann, seine ursprüngliche Bedeutung behalten und bezieht sich auf Menschen ganz allgemein. Und es steckt noch in jemand und niemand und jedermann.

Und dann geht es noch um die Inflation und die Hürden bei der Berechnung der Inflationsrate. In die fließen zum Beispiel nicht die Kosten ein, die für die Aufrechterhaltung der eigenen Immobilie anfallen, wohl aber Mietkosten. Und was auch nicht berücksichtigt wird, ist Qualität. Also wenn man zum Beispiel für dasselbe Geld einen leistungsfähigeren Computer bekommt. Das müsste ja, wenn man es mitrechnet, zur Senkung der Inflation führen.

Dann sind wir endlich in Madeira. Am Flughafen ist alles bestens organisiert, auch bei der Überprüfung der Corona-Maßnahmen. Die Leute sind sehr freundlich, und man bekommt eine Art elektronischen Madeira-Stempel für die Dauer des Aufenthalts. Keine weiteren Maßnahmen nötig, nur muss man überall und immer die Maske tragen.

Schon bei der Fahrt vom Flughafen ins Zentrum, an der Küstenstraße entlang, sieht man, wie gebirgig es hier ist. Die Küste fällt steil zum Meer herab, auf der anderen Seite Berghänge mit tiefen Schluchten. An der Küstenstraße stehen Araukarien und Palmen.

Das Mädchen an der Hotelrezeption ist sehr freundlich und artikuliert so gut, dass ich jede Silbe verstehe. Das können die meisten gar nicht, und viele wollen es wohl auch nicht. Für die Ausländer ist Englisch reserviert. Mit ihr gelingt es mir anschließend sogar noch, meine Fragen zum Safe und zum Trinkwasser zu klären. Wasser aus dem Wasserhahn kann man unbedenklich trinken. Auch wo die Betonung des Namens des Hotels ist, Orquidea, ist, erfahre ich von ihr, nämlich anders als im Deutschen. Nur bei der Grammatikfrage eiert sie etwas herum. Wird Madeira mit oder ohne Artikel gebraucht, heißt es em Madeira oder na Madeira. So wie es em Portugal aber na Alemania heißt. Das wäre mal so, mal so, meint sie, käme drauf an, welche Sprechsituation vorliege.  Später stellt sich heraus, dass Madeira mit Artikel gebraucht wird. An der Fassade der Universität steht: Universidade da Madeira. Auch Funchal wird mit Artikel gebraucht, ist aber Maskulinum: Cámara Municipal do Funchal.

Nach dem Auspacken mache ich noch einen kleinen Spaziergang zum Hafen runter, über eine breite Straße mit einem Fluss in der Mitte, die direkt dahin führt. An der Uferpromenade findet Kirmes statt, mit greller Beleuchtung. Das Meer sieht, wie schon aus der Eingangshalle des Flughafens, grau aus und irgendwie uninspiriert. Es gibt Sonne und Regen und Wolken gleichzeitig, aber es ist ziemlich warm, der Anzeige an einer Apotheke zufolge sogar 19°.

Überall gibt es Weihnachtsbeleuchtung, teils etwas kitschig, teils aber auch ganz schön.

Auf dem Rückweg verliere ich mich in den engen Gassen etwas abseits der großen Straße. Das ist alles sehr heimelig. Vor einem Sportgeschäft bleibe ich stehen wegen einer Skulptur an der Fassade. In einem Ring sind gebrauchte Laufschuhe, alle weiß getüncht, angebracht, dicht nebeneinander oder übereinander. Als ich stehenbleibe, um ein Photo zu machen, bleiben auch andere stehen, offensichtlich Einheimische. Wahrscheinlich geht man an so etwas unachtsam vorbei, wenn es Alltag ist.

An verschiedenen Stellen wird Bolo do Caco angeboten. Scheint eine Spezialität von Madeira zu sein.

In einer kleinen gemütlichen Ecke komme ich an einer Bar vorbei, mit vielen kleinen Tischen. Ich bestelle ein Bierchen, und das hat seinen Diminutiv wahrlich verdient. Habe noch nie so eine kleine Flasche gesehen, weniger als 0,2. Dazu werden ganz selbstverständlich zwei kleine Schälchen mit Knabbereien serviert, Erdnüsse und etwas, das wie Mais aussieht, aber anders schmeckt. Ich frage den Kellner, was das ist: tremoço. Keine Ahnung. Aber er weiß, wie das auf Deutsch heißt: Lupinen. Und auf Englisch: yellow beans. So komme ich nicht nur dazu, was Neues zu probieren, sondern auch auf angenehme Art ein neues Wort zu lernen.

17. Dezember (Freitag)

Am frühen Morgen sieht man vom Hotelzimmer aus auf die dicht an dicht stehenden, hell erleuchteten Häuser des Berghangs gleich gegenüber. Und man hört das Rauschen des Flusses, der die breite, zum Meer hinunterführende Straße teilt.

Funchal, lese ich, kommt von funcho, ‚Fenchel‘. Es bedeutet so viel wie ‚voll von Fenchel‘. Das war der Eindruck, den die portugiesischen Seefahrer hatten, als sie zum ersten Mal hierher kamen.

Im Frühstücksraum liegen auf den Tischen laminierte Zettel mit Hinweisen. Vermutlich was zu Corona. Falsch vermutet. Es handelt sich um den Hinweis, dass die Speisen nur zum Verzehr im Frühstücksraum gedacht sind. Das hindert einen Mann vor mir nicht daran, zwei Bananen in seine Tasche zu stopfen. Die hätte er für einen Spottpreis bei einem der vielen Stände in der Innenstadt bekommen und damit die Händler unterstützt.

Heute gibt es mehr Sonne und weniger Wolken. Und es ist noch ein bisschen wärmer als gestern. Zumindest fühlt es sich so an. Vielleicht, weil der Wind nachgelassen hat.

Die Einheimischen tragen Jacken oder leichte Mäntel. Für sie ist es die kälteste Jahreszeit. Für uns reicht ein T-Shirt.

Der erste Rundgang durch die Stadt, eher aufs Geratewohl, und ich bin sofort eingenommen von Funchal. Viele Menschen unterwegs, Alt und Jung, aber keinerlei Hektik, kein Gedränge. An jeder zweiten Ecke eine Schlange vor den Testzentren, an den Straßeneinbiegungen der Seitengassen alte Frauen auf Hockern, die selbstgepflückte Heilpflanzen anbieten und gelegentlich auch Blumen.

Mir gefällt das Nebeneinander von eleganten Geschäften und Ramschläden, von altertümlich anmutenden, kleinen Einzelhandelsgeschäften und Reparaturbetrieben und modernen funktionalen Geschäften, mir gefallen die engen Gassen und die schönen Plätze, auf die man immer wieder unverhofft stößt, die unzähligen Cafés, Bars und Restaurants, alle mit Plätzen im Freien, die mit schönen Mustern gestalteten Bürgersteige, mir gefällt die Architektur der repräsentativen Gebäude. Bald erkennt man bei denen ein durchgängiges Muster: rechteckig, mit quadratischen, gedrungenen Türmen, verputzt in Ocker oder Weiß, mit wenigen architektonischen Verzierungen wie Pilastern.

In der Touristeninformation bekomme ich einen gut lesbaren Stadtplan und ein paar Broschüren. Die Frau hinter der Theke ist eher kurz angebunden und viel schwerer zu verstehen als die an der Rezeption im Hotel.

Ich komme zu einem kleinen gepflegten Park, mit Bänken zum Verweilen. Das ist der Stadtpark, der Jardim Municipal. Ich setze mich einen Moment und sehe die Broschüren aus der Touristeninformation durch. Vor dem Park warten die typischen gelben Taxis mit einem blauen horizontalen Streifen auf Kundschaft.

Dann gehe ich durch den Park. Aus einem Lautsprecher ertönt „I used to ramble through the park”, als ich genau das tue. Der Park hat exotische Bäume, darunter Palmen mit riesigen Blättern, Myrtenbäume, Jacaranda aus Brasilien, Sträucher, die bei uns Zimmerpflanzen sind, und dazwischen immer wieder die blühende  Paradiesvogelblume – estrelicia – die einen so passenden Namen hat und an den bunten Kopf eines exotischen Vogels denken lässt. Zwischen all den Pflanzen, halb versteckt, die Büste eines portugiesischen Schriftstellers und eines russischen Malers. Am zentralen Weg die Büste von Simón Bolívar, im (heutigen) Venezuela geboren, im (heutigen) Kolumbien gestorben, aber Namensgeber für Bolivien (und den Bolívar). An solchen Plätzen ist es nicht zu überhören, dass ich nicht der einzige Deutsche bin, der hier unterwegs ist, aber im allgemeinen Verkehr gehen wir unter. Man sieht nur europäische Touristen, und unter den Einheimischen fast keine Schwarze. Das ist  in den großen Städten auf dem Festland anders.

Die Touristeninforation liegt ganz in der Nähe der Kathedrale, und deren Türen stehen weit auf. Also nehme ich die Einladung an und gehe rein. Die Orgel spielt, und ein Küster zündet Kerzen an. Es wird wohl gleich eine Messe beginnen. Aber es ist noch Zeit, sich kurz hinzusetzen und einen ersten Eindruck zu bekommen: dreischiffig, mit hohen Seitenschiffen, kurzem Querschiff, barocke Altäre an den Seitenwänden, ganz hinten am Hochaltar farbige Bildtafeln in fünf Bahnen und ein komplett vergoldeter Altar im südlichen Seitenschiff. So wie in vielen portugiesischen Kirchen. Es ging darum, den im Amerika erworbenen Reichtum zur Schau zu stellen. Am schönsten sind die Decken, aus Zedernholz, mit Verzierungen in Weiß, im Mittelschiff etwas anders als in den Seitenschiffen. Wie in vielen anderen Kirchen in Portugal kontrastiert das opulente Innere mit dem nüchternen Äußeren.

Am Ausgang der Kathedrale wird, wie auch in einer der Broschüren der Touristeninformation, auf die Missa do Parto hingewiesen. Ich hab keine Ahnung, was das sein könnte. Es stellt sich heraus, dass das eine Besonderheit Madeiras ist. Sie wird an den letzten neun Tagen vor Weihnachten gefeiert, jeden Morgen, ganz früh, und von lokalen Chören gestaltet.

Später ist ein Treffen mit einem Vertreter der Reisegesellschaft vorgesehen, mit der ich unterwegs bin. In der Halle des Hotels. Ich warte. Außer mir keiner da. Dann taucht ein Mann auf. Mit einer Verspätung von einer Viertelstunde. Die ist ihm keine Entschuldigung wert. Er erklärt mir ein paar Dinge zum Rückflug und drückt mir ein Blatt mit überteuerten Tagesausflügen in die Hand. Auf meine Fragen hat er keine Antworten. Museen? Dafür sei Madeira nicht so bekannt. Er kennt nur das CR7-Museum. Er nimmt dann eine Broschüre und unterstreicht ein paar der darin aufgelisteten Museen. Ob es Stadtrundgänge gebe, frage ich. Daraufhin verweist er mich auf die touristischen Doppeldeckerbusse. Ich sage noch mal Stadtrundgänge. Ob seine Organisation Stadtrundgänge anbiete. Nein, das tut sie nicht. Ob sonst jemand Stadtrundgänge anbiete. Das weiß er nicht. Ich solle an der Rezeption fragen. Ich gebe auf und behalte meine Frage, wie man mit öffentlichen Bussen an andere Orte der Insel kommen kann, für mich.

Gleich in der Nähe des Hotels, in einem etwas hinter der Straßenfront gelegenen Innenhof, gibt es ein kleines Restaurant, das Ateneu. Warum in die Ferne schweifen? Auch hier kann man draußen sitzen, und das tun auch die meisten. Hier bin ich allein unter Einheimischen. Die in Rot und Schwarz gewandeten Kellnerinnen sind in ständiger Bewegung, von einem Tisch an den anderen, immer mit schnellen Schritten. Es gibt ein Tagesgericht, mit Paprika und Käse gefüllte Hähnchenbrust, etwas trocken, aber sehr schmackhaft. Dazu Reis und Salat. Und zum Nachtisch gibt es maça assada – Bratapfel. Schon als Kinder haben wir die nicht sonderlich gemocht, und auch heute finde ich nichts Aufregendes daran. Aber schlecht schmeckt er nicht. Auf der Rechnung erscheint er als Pudim. Das erinnert mich an die lange Geschichte des Wortes Pudding, das aus dem Französischen (und letztlich aus dem Lateinischen) ins Englische kam und von dort in alle möglichen europäischen Sprachen gelangte und dabei alle möglichen Veränderungen erfuhr, in Schreibweise und Aussprache. Mit Nachtisch oder Süßspeise hatte es ursprünglich nichts zu tun. Im Gegenteil. Es bezeichnete ursprünglich eine Wurst!

18. Dezember (Samstag)

Noch vor dem Frühstück geht es raus, durch die noch nächtlich wirkenden Straßen der Innenstadt zur Kathedrale. Eine ganz besondere Atmosphäre, die Ruhe, die erleuchteten Fassaden, die milde Luft.

Ich will zur Missa do Parto. Bin aber so früh dran, dass ich noch eine Runde um die Kathedrale drehen kann. Die nimmt zwei Seiten des Platzes ein und die gesamte Breite von zwei Straßen, ein größerer Komplex, in den auch ein anderes Gebäude, wahrscheinlich der Bischofspalast, integriert ist. Man bekommt sehr verschiedene Ansichten. Vor allem kommt ein Turm in Sicht, den man von dem Platz aus kaum sieht. Die Fassade ist weiß verputzt, aber Ecksteine, Portale und Fensterrahmungen sind aus Naturstein.

In einer der Straßen gibt es eine Kuriosität zu sehen. Da steht der Mülleimer der Kathedrale. Auf dem steht: . Das ist das portugiesische Wort für Kathedrale.

Die Kathedrale ist gut gefüllt, nicht bis auf den letzten Platz besetzt, aber fast. Im Gegensatz zu Spanien sind hier auch die Frauen schlecht gekleidet.

Der Blick in durch das erleuchtete Mittelschiff in den Chor hat etwas, trotz der barocken Pracht ist die Kathedrale nicht überladen.

Sie soll angeblich spätgotisch sein, aber davon ist nichts zu merken, außer vielleicht in den Chören, deren Gewölbe gotisch aussehen.

Es werden Zettel ausgefüllt mit den Wechselgesängen zwischen Chor und Gemeinde. Das ist wie eine Übung für den Konjunktiv: seja, faça, que nos alegremos, sejáis. Aber auch der Imperativ hat seinen Auftritt: vinde, vem, soccorei-nos, salvai-nos. Vater Unser heißt Pai Nosso, und der wird im Plural, mit vos, angeredet, genauso wie die Jungfrau: „Vos sois a mãe protetora da portuguesa nação- Ihr seid die schützende Mutter der portugiesischen Nation“.  Die damit angesprochene ist die Virgem do Parto, offensichtlich die Schutzpatronin der Kirche, und jetzt verstehe ich auch, wie sich die Missa do Parto versteht. Sie ist, wörtlich übersetzt, die ‚Jungfrau der Entbindung‘.

Dann geht es los. Der unsichtbare Chor, oben auf der Empore untergebracht, singt sehr schön, mit hellen, klaren Stimmen, perfekt synchronisiert, und die begleitende Orgel passt sich dem gut an. Die Gemeinde singt nicht sehr kräftig mit, nur bei einem Refrain, der wohl der bekannteste ist. Der hat eine wunderschöne, wiegende Melodie und erinnert ein bisschen an die melancholischen Lieder der Fischer aus Galicien. Das ist sehr schön, die Melodie, die singende Gemeinde, das erleuchtete Gotteshaus, das ist alles sehr bewegend.

Der Priester artikuliert sehr klar, aber ich verstehe trotzdem so gut wie gar nichts, höchstens seine Bemerkung, dass die neun Tage der  Missa do Parto für die neun Monate der Schwangerschaft von Maria stehen. In der Predigt ist von Josef die Rede und von den Zweifeln, die ihn befallen, als er glauben soll, der Heilige Geist wäre für die Schwangerschaft verantwortlich.

Kniebänke gibt es keine, aber trotzdem knien einige Frauen bei der Wandlung  nieder. Die Kollekte wird wie früher bei uns abgehalten, mit Geldbeuteln, die an langen Stangen angebracht sind und bis zu dem letzten Platz der Reihe reichen.

Als die Messe vorbei ist, ist es hell. Der Hunger treibt mich zurück zum Hotel. Auf dem Weg kommt mir irgendwie noch in den Sinn, dass Dank sei Gott und Gott sei Dank zwei verschiedene Sachen sind.

Um diese Zeit ist der Frühstücksraum nicht so voll, aber nicht erspart bleiben einem die Frauen aus den deutschen Reisegruppen mit ihren Storchenbeinen, ihren asymmetrischen Frisuren, ihren Dreiviertelhosen und ihren banalen Kommentaren. Eine von ihnen muss zwingend Dorothee heißen: „Doro, bringst du mir noch einen Löffel mit?“

Nach dem Frühstück geht es Richtung Innenstadt. Mein Ziel ist das Madeira History Centre, ein etwas irreführender Name eines in Privathand befindlichen Museums zur Geschichte von Madeira.

Auf dem Weg dahin komme ich über den Largo do Phelps. Der Name war mir gestern schon aufgefallen. Später im Museum soll er wieder auftauchen.

Der Weg führt an der Markthalle vorbei. Da sind heute, Samstag, die Bauern aus der Umgebung und bieten Obst und Gemüse an. Und machen dabei vermutlich den angestammten Händelern Konkurrenz. Es herrscht dichtes Gedränge, Abstand halten ist hier eine Illusion. Man sieht ganz kleine Mandarinen, kurze, wie abgehackt aussehende Bananen, trichterförmige, kurze Möhren und überall batata – die Süßkartoffel, die keine Kartoffel ist. Dazu natürlich Auberginen, Papaya, Feigen, Avocado, die hier alles andere als exotisch sind. Nur selten stehen die Namen dran, aber einer taucht immer wieder auf: anona. Später finde ich die deutsche Entsprechung: Cherimoya. Auffällig ist, dass hier nicht jeder Apfel wie der andere ist, dass der eine größer, der andere kleiner ist, dass auch Äpfel mit Druckstellen oder braunen Flecken angeboten wird. Alles sieht „natürlicher“ aus als bei uns.

Kurz danach kommt das Museum schon in Sicht, etwas oberhalb der Uferpromenade gelegen. Man merkt sofort, dass es ein privat betriebenes Museum ist: der englische Name, das auffällige Schild, der Souvenirladen und das Lokal, die auch von dem Museum betrieben werden, und der Mann auf der Straße, der die Kunden reinlockt. Sollte eigentlich abschreckend sein. Aber das Museum gibt einen ganz guten Überblick über Madeira.

Der Auftakt findet unten in der Eingangshalle statt, mit ein paar Exemplaren von Basaltsteinen und Tuffsteinen und der Nachbildung einer Lavamasse. Madeira ist nämlich vulkanischen Ursprungs. Madeira ist nicht nur Madeira selbst, sondern umfasst weitere Inseln: Porto Santo, Selvagens und Desertas. Obwohl alle vulkanischen Ursprungs sind, stammen sie nicht aus der gleichen erdgeschichtlichen Etappe: Porto Santo ist neun Millionen Jahre älter als Madeira!

Oben unternimmt man, im wörtlichen Sinne, einen Rundgang durch die Geschichte Madeiras. In einem fensterlosen Raum sind Schautafeln, lebensechte Figuren und allerhand Objekte ausgestellt, alles chronologisch geordnet.

Es fängt mit Plinius an. Der wusste schon, dass es hier Inseln gab, und er  nannte sie Purpurinseln. Der Name bezieht sich vermutlich auf den Drachenbaum, der in Madeira so stark vertreten war. Aus dem wurde Farbstoff gewonnen.

Auch Ptolemäus listete diese Inseln auf. Sie erscheinen unter den 8.000 geographischen Namen, die er in seiner Geographie aufzählt. Die Schrift ging verloren, wurde aber in einer arabischen Übersetzung bewahrt und kam dann über eine Rückübersetzung ins Lateinische wieder ins Abendland!

Die ersten Europäer kamen im 15. Jahrhundert. Da waren die Mauren längst hier gewesen. Aber ob sie Spuren hinterlassen haben, erfährt man hier nicht. Die Europäer haben das definitiv. Die ersten Europäer kamen „zufällig“ hierher. João Gonçalves Zarco kam in diese Gegend, als er, an der afrikanischen Küste entlangsegelnd, durch einen Sturm hierher getrieben wurde (1418). Er kam in die Nähe einer Insel, und er in einer anderen Richtung  mysteriöse Nebel aufsteigen. Seine Besatzung, heißt es, bekam es mit der Angst zu tun. Sie glaubten, am Ende der Welt angekommen zu sein. Aber Zarco hatte eine andere Erklärung: Die Nebel konnten von einer benachbarten Insel kommen. Und so war es, wie er auf einer späteren Expedition feststellen konnte. Diese Insel war Madeira, die Insel, in deren Nähe Zarco getrieben worden war, war Porto Santo.

Hier sind nautische Geräte der Zeit ausgestellt wie der Sextant und das Astrolab, ein Globus aus der Zeit – noch ohne Amerika und mit einem breiten Afrika und ein weit in den Süden reichendes Asien – und Modelle von Segelschiffen der Zeit, einer Handelskogge und einer Karavelle. Auch als blutiger Laie kann man erkennen, wie unterschiedlich die sind.

Eine ganze Abteilung ist dem Zucker gewidmet, dem „weißen Gold“. Zu recht. Es wurde das wichtigste Handelsgut und veränderte Madeira von Grund auf. 1490 produzierten die Zuckermühlen Madeiras pro Jahr 100.000 Arrobas (1 Arroba = 15 kg). Der Zucker wurde nach ganz Europa exportiert. Hier sieht man Zuckersäcke und Zuckerhüte.

Auch Kolumbus kam nicht als Entdecker nach Madeira sondern als Geschäftsmann, schon vor seinen Entdeckungsfahrten (1482). Er war Vertreter einer Zuckerfirma aus Genua!

Die Besiedlung und die Ausbeutung von Madeira wurde später das Vorbild für die weitere portugiesische Expansion: die Azoren, die Kanarischen Inseln, São Tomé und Príncipe, die Kapverdischen Inseln.  

Funchal wurde 1493 zur Stadt und 1517 zum Bistum. Es war später das größte Bistum der Welt, da es auch für die portugiesischen Besitzungen in Afrika zuständig war.

Der Zuckerexport brachte Reichtum und lockte Geschäftsleute aus anderen Ländern an. Madeira wurde internationaler. Die reichen Zuckerbarone importierte Luxusgüter aus anderen Ländern, vor allem Tücher, Keramik und Möbel. Das wiederum lockte Piraten an, die den Handelsschiffen auflauerten, und das wiederum führte zu der Anlage der Festungen in Funchal.

Eine Abteilung des Museums ist den Levadas gewidmet. Das sind Bewässerungssysteme. Es ging darum, das Wasser aus dem feuchten Bergregionen des Nordens der Insel in den trockenen Süden umzuleiten. Mit dem Wasser wurden die Zuckermühlen und die Getreidemühlen angetrieben und die Terrassen der landwirtschaftlichen Betriebe bewässert.

Neben dem Zucker begann man jetzt, auch andere Waren zu exportieren: Zimt, Stockfisch, Mahagoni, Brandy. Die Bedeutung Madeiras nahm weiter zu.

Auch als Zwischenstation für Expeditionen wurde Madeira immer wichtiger, nicht nur für die Portugiesen. Die Briten errichteten hier ein Konsulat und übernahmen den Weinhandel. Der wurde nach dem Niedergang des Zuckers – Madeira konnte nicht mehr mit Billigländern wie Brasilien konkurrieren – immer wichtiger. James Cook machte mit seiner Endeavour hier Halt und nahm 3.300 Gallonen Wein an Bord! Ausgestellt ist hier ein Modell der Endeavour, die ein umgebautes – und umgetauftes – Kohlenschiff war. Seine Expedition gilt als erste richtig ausgerüstete wissenschaftliche Expedition. Er hatte vor allem Biologen an Bord, und die hatten die nötigen Ausstattung dabei.

1803 gab es in Funchal, nach mehreren Jahren der Dürre, heftige Regenfälle. Alle drei Flüsse traten über die Ufer, alle Brücken bis auf eine wurden zerstört. Viele Menschen fanden sich in den oberen Stockwerken ihrer Häuser gefangen, 600 kamen ums Leben. Als Konsequenz daraus wurden die Flüsse kanalisiert.

Von einem Erdbeben ist hier im Museum nicht die Rede, oder ich habe es übersehen. Jedenfalls scheint auch ein Erdbeben Funchal irgendwann heimgesucht zu haben – mit der unausweichlichen Folge, dass viele alte Gebäude zerstört wurden.

In einer Ecke sieht man die sitzende Figur einer jungen Frau mit Pinsel und Block in der Hand. Diese Figur stellt eine gewisse Isabella de França dar. Sie wurde bekannt durch ihr Tagebuch, in dem sie einfach alles festhielt, was ihr an Madeira auffiel: das Fischangebot auf dem Markt, die Eigenarten der Eidechsen, der Betrieb der Wassermühlen, die Auswirkungen des Schirokko. Sie hatte in London einen aus Madeira stammenden Händler geheiratet, und die beiden verbrachten hier ihre Hochzeitsreise. Sie bewegte sich auf alle erdenkliche Weise durch die Insel: auf Ochsenschlitten, auf dem Pferderücken, in Sänften und Hängematten und in dem berühmten Korbschlitten, von denen hier ein prächtiges Exemplar ausgestellt ist. Mit dem geht es die Berge runter, wie heute noch für Touristen, die Monte besuchen und ein unkonventionelles Verkehrsmittel für die Rückfahrt suchen.

Madeira als Kurort – das war der Beginn des Tourismus hier. Ärzte hatten das trockene Klima der Insel als Mittel zur Bekämpfung der Tuberkulose entdeckt, und die besser gestellten Europäer begannen, den Winter in Madeira zu verbringen. Dazu stellten ihnen die portugiesischen Landadeligen ihre Landsitze – die quintas – zur Verfügung. Im Gefolge der Kurgäste kamen dann auch Maler, Schauspieler, Politiker und Musiker.

Dann geht es um die Stickerei, bis heute ein wichtiges Kunstgewerbe in Madeira, und hier kommt eine weitere junge Frau ins Spiel, eine weitere Engländerin, und zwar Elizabeth Phelps. Die Straße, über die ich vorher gekommen bin, ist nach ihrem Vater benannt. Elizabeth Phelps begann, den Frauen von Madeira das Sticken beizubringen, und zwar aus der Not heraus, in Folge einer durch Mehltau, Kartoffelmissernte und menschlichen Epidemien ausgelösten Wirtschaftskrise mit hoher Arbeitslosigkeit. Zunächst verkaufte man die Stickereien nur privat, aber bald lenkten sie die Aufmerksamkeit von Händlern auf sich. Deutsche, syrische und libanesische Kaufleute widmeten sich dem Vertrieb der Stickereien, in die halbe Welt!

Die Arbeitslosigkeit brachte aus Auswanderungen im großen Stil mit sich. Meist zog es die Auswanderer, schon aus sprachlichen Gründen, in die portugiesischen Kolonien, aber auch die Briten brauchten nach der Abschaffung der Sklaverei dringend Arbeitskräfte in ihren Kolonien.

In den beiden Weltkriegen blieb Madeira von einer Besatzung verschont, aber in beiden gab es Engpässe, weil man von der Versorgung abgeschnitten war. Im 2. Weltkrieg blieb Portugal neutral, im 1. Weltkrieg war es auf Seiten der Alliierten. Deutschland erklärte Portugal den Krieg (1916), und deutsche U-Boote zerstörten bei einem Angriff auf Funchal Teile des Konvents Santa Clara, aber im großen Ganzen blieben die Inseln außen vor.

Zum Abschluss des Rundgangs gibt es noch Bilder von der Straßenpflasterung in der Altstadt von Funchal, mit ihren interessanten Motiven und Mustern. Man verwendet grauen Basalt und weißen Marmor dafür. Da werde ich in den nächsten Tagen immer wieder drauf stoßen.

Auf dem Rückweg zum Hotel mache ich an einem der vielen Stände Halt, wo es bolo do caco gibt. Ich wähle die einfache Variante, ohne Käse oder Schinken. Es handelt sich um eine Art Fladenbrot, das aber weicher und dicker ist als Fladenbrot. Es wird aus batata hergestellt, aufgewärmt und mit Knoblauchbutter bestrichen. Der Name bolo ist etwas irreführend, denn es handelt sich nicht um Gebäck, sondern um Brot. Der Wortzusatz caco bezeichnet den heißen Stein, auf dem es ursprünglich gebacken wurde.  

Ein Reisebüro, an dem ich vorbeikomme, bietet eine Reise nach Nova Iorque an, und Reisen zu den Weihnachtsmärkten auf dem Kontinent. Die billigste ist die nach Wien, gefolgt von Berlin, die teuerste die nach Tallinn.

Auf der Suche nach der kleinen Bar vom ersten Abend komme ich zur Praça do Municipio, dem Ratshausplatz. Eine Seite des Platzes wird komplett vom Rathaus eingenommen, eine andere vom Jesuitenkolleg, jetzt Universität. Am Eingang des Rathauses hängt eine Tafel, die in fünf Sprachen ankündigt, worum es sich hier handelt: Cámara Municipal, Ayuntamiento, City Hall, Hotel de Ville, Rathaus. In jeder Sprache anders.

In den Straßen um das Rathaus herum finde ich die dekorativen Straßenpflaster, von denen im Museum die Rede war: Schlangenlinien, die schwindlig machen können, Muster, die eine dritte Dimension vortäuschen, und Abbildungen von einem Schiff und einem Weinverkäufer.

Dann komme ich wieder zu der Bar. Die heißt, wie ich jetzt erst merke, Rei da Poncha, nach einem populären Getränk von Madeira, einem Drink. Für heute bleibe ich aber bei dem Bier, diesmal vom Fass. Der Kellner stellt mir aber noch eine Frage, die ich nicht verstehe. Er erklärt, was er meint und ich nehme die populärere Variante. Es geht wohl nur darum, was für ein Glas man haben will. Später frage ich nach den beiden Wörtern, die er gebracht hat: fino und balão. Also ungefähr ein dünnes Glas oder ein „aufgeblasenes“, wie ein Ballon.

Der Rei da Poncha liegt an der Kreuzung dreier Straßen, mit drei verschiedenen Wörter für ‚Straße‘: Rampa do Cidrão, Largo da Praça, Beco do Pimenta.

Auf der Speisekarte sehe ich, dass die Portugiesen, genauso wie die Spanier, Hot Dog übersetzen: cachorro quente, ‚heißer Hund‘.

19. Dezember (Sonntag)

Wolken, Regen, Sturm, die Wetteraussichten für die nächsten Tage. Portugal, wie es scheint, hat sich gegen mich verschworen. Eine würdige Fortsetzung der sechs Monate in Viavai.

Bei dem Wetter ist man in Funchal mit seinen Museen noch gut aufgehoben. Aber heute ist Sonntag. Und der Abgleich der Öffnungszeiten der Museen, in der Broschüre anders als im Reiseführer, ergibt: Sonntags sind alle geschlossen – außer dem Madeira History Centre, und da war ich gestern.

Ich mache einen Spaziergang durch den Regen, durch die langsam erwachende Stadt. Auf dem Weg nach Sao Pedro komme ich durch ein Viertel, das nicht so schön herausgeputzt ist wie die anderen, mit leerstehenden, teils verfallenden Häusern, morschen Türen, abblätternder Farbe. Einigen Häusers sieht man noch die einstige Pracht an. Als Photomotiv eignen sie sich vorzüglich. Ich photographiere eine alte, verschlossene Eingangstür zu einem verlassenen Wohnhaus mit einer steinernen Türeinfassung und ein verrostetes Gitter, hinter dem ein verwilderter Innenhof zu sehen ist. Das ist alles nur ein paar Minuten vom Hotel entfernt.

Dann kommt São Pedro. Die Kirche hat eine ganz ansehnliche Fassade und einen Turm, der oben gekachelt ist und einen Hahn trägt. Aber wenn man reingeht, will man sofort wieder raus. Selbst in der Dunkelheit kann man erkennen, dass man sich diese überladenen Altäre und die kitschige Ausstattung nicht näher ansehen will.

An der Ecke gehe ich die ganz steil ansteigende Calcada de Santa Catarina rauf. Da kommt man aus der Puste, und die Maske ist hier wirklich störend. Oben ist das Kloster Santa Catarina, aber seine Türen sind verschlossen.

Ich gehe zurück und bin bald wieder auf einer der gepflegten Straßen der Innenstadt, eine der wenigen von ganz Funchal, die ganz eben verlaufen.

Inzwischen bin ich an verschiedenen Museen vorbeigekommen und habe festgestellt, dass das Museu de Historia Natural wegen Renovierung geschlossen ist. Das Carlos Abreu hat ab Montag auf und hat auch geführte Besichtigungen. Das Federico de Freitas hat ab Dienstag auf. Beide sind in alten Palästen untergebracht, und in beiden kann man durch ein Gitter in einen schönen Innenhof sehen. Zum Museu Municipal zeigt ein Pfeil auf einem Schild unten auf der Straße, aber der führt in die Leere.

Plötzlich befinde ich mich wieder, wie vorgestern, im Jardim Municipal, diesmal von oben kommend. Jetzt sehe ich auch den Ententeich mit der Fontäne, von der im Reiseführer die Rede ist. Die Äste eines Baumes mit dicken Früchten, dem Coqueiro, senken sich zum Wasser hin. Es ist ein Kokosbaum! Dann gibt es einen Riesenfarn, einen feto arbóreo, dessen Blätter ein Dach bilden, unter dem man Schutz finden könnte. Hier muss man beim Namen aufpassen: feto bedeutet sowohl ‚Farn‘ als auch ‚Fötus‘. Unter den weiteren exotischen Bäumen befindet sich der Schraubenbaum aus Madagaskar (pândano) mit einem Bündel von Hölzern als Stamm und einer, der als Stamm eine einzige dicke Knolle hat. Von dem sollte ich später noch mehr erfahren.

Gleich neben dem Park befindet sich der Eingang zu Blandy’s, der Weinkellerei. Auch hier gibt es geführte Touren. Auch was für nächste Woche.

Plötzlich tut sich ein sehr schöner Blick auf, eine Allee hinunter, mit knorrigen, schiefen Bäumen bestanden, deren Kronen sich oben treffen. Diese Allee führt gleich zum Hafen hinunter.

Dort liegt ein Kreuzfahrtschiff, und ein weiteres fährt gerade ab. Hier kann ich ein sehr stimmungsvolles Photo machen, mit dem Blick aufs Meer hinaus auf den wolkenbedeckten Himmel, durch den ein paar Sonnenstrahlen dringen.

Am Ende komme ich wieder ins Zentrum und auf die João Tavira. Das ist die mit den vielen Darstellungen im Straßenpflaster. Ich entdecke ein paar, die mir gestern entgangen sind, darunter ein Ochsengespann, das ein Weinfass zieht. Auf dem Fass sitzt eine nicht zu identifizierende Figur, die entweder ein Horn an der Stirn hat oder eine Feder im Haar.  

Später gehe ich noch mal raus, zum Meer runter. Ich gehe die Uferpromenade entlang. Hier ist die Abfahrtstation für die Seilbahn nach Monte, und hier stehen allerlei rätselhafte Skulpturen herum, darunter eine Frau mit verbundenen Augen und entblößter Brust, in starrer Haltung, dem Meer zugewandt.

Das Meer tost, die Wellen brechen sich an den Wellenbrechern und die Gischt spritzt meterhoch in die Höhe. Hier kann man sich hinsetzen und sich die frische Luft um die Ohren wehen lassen.

Am Ende der Promenade steht die Fortaleza São Tiago, eine der drei Festungen, die gegen die Piratenangriffe errichtet wurden. Man kann in den Eingangsbereich rein, einen Innenhof, und von hier durch die Schießscharten auf das Meer blicken.

Hier, etwas versetzt von der Uferpromenade, hat man das Hotelviertel errichtet, und entsprechend trifft man hier auf zahllose Touristen und Lokale mit mehrsprachigen Speisekarten. Die kluge Entscheidung, die Hotels hier zu erbauen, hat dafür gesorgt, dass das Stadtzentrum erhalten blieb. Dort sind die meisten Gebäude älteren Datums, viele stammen aus dem 19. Jahrhundert, und es musste nichts abgerissen werden. Aus der Gründerzeit ist allerdings auch so gut wie gar nichts erhalten. Dafür haben Erdbeben und Überschwemmung gesorgt.

Von der Festung aus führt eine enge Gasse mit niedrigen Häuern, die Santa Maria, parallel zur Uferpromenade, aber höher gelegen, in die andere Richtung. Diese Gasse wurde durch eine Initiative vom Abriss bewahrt und ist jetzt das Zentrum des Vergnügungsviertels geworden. Die Türen und Fassaden der Häuser, alte Fischerhäuser vermutlich, sind von lokalen Künstlern einfallsreich bemalt worden.

Ich suche ein Lokal, das im Reiseführer empfohlen wird, das , aber das hat Betriebsferien. Schade, sieht gut aus, und unterscheidet sich von den Duzenden anderen Lokalen dieser Zone.

Durch Zufall lande ich dann, schon auf dem Rückweg zu m Hotel, in einem anderen, vermutlich neuen Lokal. Hier gibt es eine leckere Gemüsesuppe und dann, auf portugiesische Art, ein sehr fleischlastiges, nicht sonderlich gelungenes Gericht.

Vor dem Lokal steht eine Skulptur, und die erklärt eine der Figuren in der Straßenpflasterung, die mir gestern Rätsel aufgegeben hat, die von einem Mann, der auf einem Weinfass sitzt, das von Ochsen gezogen wird. Jetzt sieht man, hier in der Skulptur, dass die Ochsen einen Schlitten ziehen. Die Aufgabe des Mannes ist es, das Fass festzuhalten, damit es nicht vom Schlitten fällt. Und auf dem Kopf hat er keine Teufelshörnchen, sondern eine Kappe mit zwei kleinen Zipfeln.

Erst durch eine Frage von zuhause komme ich darauf, mir einmal Gedanken darüber zu machen, wie groß Madeira eigentlich ist. Die Antwort: etwa so groß wie Menorca, und deutlich kleiner als Mallorca. Madeira liegt ca. 1000 Kilometer von Portugal entfernt und 700 Kilometer von Marokko.  Es liegt ungefähr auf der Höhe von Casablanca. Die Kanarischen Inseln liegen weiter südlich, auf der Höhe der südlichen Grenze von Marokko.

20. Dezember (Montag)

Seit den frühen Morgenstunden regnet es, und jetzt hat sich der „ergiebige“ Regen in einen subtropischen Regenguss verwandelt.

Beim Frühstück Sprachenwechsel. Auf einmal sprechen alle Englisch. Das Hotel ist vermutlich Parkplatz für Reisegruppen für die zwei, drei Tage – höchstens – die sie in Funchal verbringen.

Als ich aus dem Haus gehe, tröpfelt es nur noch ein bisschen. Ich komme an einen Platz hinter der Kathedrale, am dem ich schon öfter vorbeigekommen bin, aber erst jetzt sehe ich die Statue von Zarco, den man wohl den „Gründer“ von Funchal nennen kann. Er steht ganz oben auf einem hohen Podest, und an dessen vier Seiten sind vier Figuren als Relief eingelassen, die für die Gründerzeit von Funchal von Bedeutung waren: ein Ritter, ein Priester, ein Bauer, ein Astronom (oder ganz allgemein ein Wissenschaftler).

Der Weg zum Museum führt in die andere Richtung, auf einen Platz, auf dem ich bisher noch nicht gewesen bin, die Praça do Colombo. Dort liegt in einem alten palastartigen Gebäude das Zuckermuseum. Da wollte ich dieser Tage als allererstes hin, aber es war geschlossen.

Der Eintritt ist umsonst. Alle Beschriftungen sind auf Portugiesisch, und nur auf Portugiesisch. Für eine andere Sprache muss man einen Hefter mit sich rumtragen.

Es geht mit zwei Exponaten los, die die Bedeutung des Zuckers für Funchal belegen, einem Stein und einem silbernen Tablett, die beide das Wappen Funchals zeigen. Auf dem sind fünf Zuckerhüte zu sehen.

Die Zuckerindustrie Madeiras gilt als die erste Unternehmung des internationalen Kapitalismus. Zucker war bis dahin ein Artikel für die Elite gewesen, jetzt wurde es breiten Schichten zugängig gemacht. Bald schalteten sich ausländische Händler ein, vor allem Italiener und Flamen, die am dem Vertrieb des Zuckers verdienten. Einer von ihnen war ein Flame namens Esmanant, der sich am Ende in Funchal niederließ, mehrere Immobilien erwarb und seinen Namen in Esmeraldo umwandelte. Heute noch ist eine Straße Funchals nach ihm benannt.

In der Ausstellung sind viele Keramikgefäße und Keramikteile zu sehen, alle in archäologischen Ausgrabungen gefunden. Man sieht, dass die Zuckerhüte ursprünglich oben eine Öffnung hatte. Die diente der Soldifizierung des Zuckers, und aus ihr wurde später die Flüssigkeit herausgelassen. Die Keramik wurde vom portugiesischen Festland importiert, da Madeira keine Keramik mit den passenden Eigenschaften hatte. Gutes Beispiel dafür, welche Dynamik so ein neuer Wirtschaftszweig entwickeln kann.

Ein anderer Nebeneffekt war, dass auch andere Produkte von Madeira jetzt Handelsgüter wurden, vor allem Wein, Holz und Urzela, die Felsenflechte, aus der man Farben gewann.

Die Krone verdiente gut an dem Zuckerhandel. Sie bekam den königlichen und den kirchliches Zehnten, verdiente also ein Fünftel bei jedem Handel. Als findige Zuckerhersteller auf die Idee kamen, sich in Marokko niederzulassen, wurde das per Dekret vom König verboten. Der sah seine Felle schwimmen.

Derselbe König, D. Manuel I., führte auch ein komplett neues Maßsystem ein, um dem Durcheinander ein Ende zu machen. Alle größeren Städte bekamen ein aus Bronze gegossenes Gefäß mit königlichem Wappen, das das Maß für zwei Arroba war. Die kleineren Städte bekamen ein kleineres Maß. Funchal gehörte zu den größeren. Solche Gefäße sind hier ausgestellt. Daneben gibt es kreisrunde, flache Gefäße, wie kleine Schalen, die ineinander gesetzt werden konnten, wie bei der russischen Matrjoschka. Sie dienten vermutlich auch den Messungen.

Dann gibt es noch Holzfiguren von Heiligen, Porzellangefäße und wunderbare Reisesekretäre, mit ziselierten Beschlägen oder mit Einlegearbeiten, aber man fragt sich, was das mit dem Zucker zu tun haben könnte.

Zum Schluss gibt es noch einen kurzen Film, der zeigt, wie aus dem Zuckerrohr nicht nur Zucker, sondern auch Honig gewonnen wird und das, was hier Cognac heißt, aber wohl Zuckerrohrschnaps ist.

Als ich wieder nach draußen komme, hat es aufgehört zu regnen, und die Sonne kommt sogar hervor. Die Kellnerinnen trocknen die Tische und Stühle der Straßencafés, und die ersten Gäste haben sich sogar schon wieder hingesetzt. Ich entscheide mich aber für oben. Dort, in der Loja do Chá, kann man sich auf einen winzigen Balkon setzen, mit Blick auf den Platz. Passend zum Museumsbesuch bestelle ich einen Honigkuchen nach der Art Madeiras. Erinnert tatsächlich ein bisschen an den Honigkuchen unserer Kindheit, wird aber mit Nüssen und Sahne serviert.

Die Uhr einer Uhrmacherei zeigt fünf vor neun, die elektronische Uhr einer Apotheke ein paar Schritte weiter zeigt 18.51. Tatsächlich ist es Viertel nach eins.

Am Stadtpark lese ich, dass der auf dem Grund des ehemaligen Klosters Sao Francisco liegt. Nach der Auflösung der Klöster gab es verschiedene Projekte, wie man den Bau umwidmen könnte, aber keins wurde verwirklicht, und der Bau zerfiel allmählich. Bis die Stadt entschied, einen Park anzulegen. Die ersten Pflanzen kamen aus Treibhäusern in Porto und Paris!

Am Abend kann ich bei einem Spaziergang die Weihnachtsbeleuchtung bewundern. In der gesamten Innenstadt gibt es kaum eine Stelle, wo sie nicht vertreten ist, an den Häuserfassaden, in den Parks und über den Straßen. An einigen Stellen ist sie dezent und schön, an anderen grell und kitschig. Vor der Kathedrale stehen zum Beispiel drei überdimensionierte Engel mit erhobenen Flügeln. Insgesamt scheint die Devise zu gelten: je mehr, umso besser.

Irgendwo im Zentrum finden in diesen Tagen Konzerte und Aufführungen zur Weihnachtszeit statt. Es muss wohl der zentrale Platz an der Arriaga sein, nahe der Touristeninformation. Heute steht um 18 Uhr ein grupo folklórico  auf dem Programm. An dem Platz ist tatsächlich eine Bühne aufgebaut, und man sieht, wie ein paar Musiker ihre Instrumente stimmen. Aber nach Folklore sehen weder sie noch ihre Instrumente aus. Ich warte noch eine Viertelstunde, aber es tut sich nichts.

Im Vorbeigehen sehe ich das Hotel Catedral. Das hatte ich mir eigentlich ausgeguckt, aber das Reisebüro meinte, das Hotel sei um diese Zeit geschlossen. Danach sieht es aber nicht aus. Alle Fenster sind hell erleuchtet. Das Hotel liegt wirklich direkt gegenüber der Kathedrale. Wäre eine gute Alternative gewesen.

Ich verliere mich in den Gassen und finde erst nach einiger Zeit den Rei da Poncha, aber da sind alle Plätze besetzt. Und zwei im Reiseführer beschriebene Lokale, die ein bisschen außerhalb des touristischen Zentrums liegen, kann ich nicht finden.

Auf dem Rückweg sehe ich an einem verlassenen Haus mit einer etwas verschmierten Fassade einen Ausspruch, irgendwie aufgedruckt auf den Putz: O vazio ocupa muito espaço – Die Leere nimmt viel Raum ein.

Am Ende lande ich, ganz in der Nähe des Hotels, in einer ruhigen Ecke, im Restaurante Tangerina. Der Name erinnert mich an ein Lied der Beatles. Auf dem Geschäftsschild ist eine Tangerine abgebildet. Wie und ob sie sich von der Mandarine unterscheidet, ist mir nicht klar, aber im Englischen wird das Wort öfter verwendet als im Deutschen. Später lese ich im Internet, dass das Wort von einer Stadt abgeleitet ist, von Tanger in Marokko.

Der hallenartige, große Innenraum ist nicht sehr einladend, aber die Speisekarte ist vielfältig. Ich bekomme vorweg bolo de caco, sehr schmackhaft, diesmal mit Schinken belegt, dann eine Brotsuppe mit Ei und dann ein saftiges, sehr leckeres Kotelett mit Salat und Pommes frites. Und als es zum Schluss noch ein Stück Kuchen auf Kosten des Hauses gibt, muss ich nach zwei Bissen passen. Das Essen ist gut, auch wenn die Pommes frites und der Salat nichts Besonderes sind. Und Salz fehlt an allen Ecken und Enden. Als ich danach frage, gibt es nur ein winziges Tütchen mit Salz statt einem Salzstreuer.

In der Suppe liegen ein paar Zweige eines Krauts, das ich nicht kenne. Die Kellnerin muss selbst einen Moment nachdenken: segurelha – Bohnenkraut.

Die Unterhaltung mit der Kellnerin findet auf Portugiesisch statt, aber zwischendurch verfällt sie immer wieder ins Englische, zum Beispiel, als sie mich fragt, wie groß das Bier sein soll. Und jedes Mal, wenn sie abräumt, fragt sie „Finished?“ Was geht da nur in den Leuten vor?  

An einigen Tischen sitzen Einheimische, aber die begnügen sich mit Kaffee, Bier und Wein. An einem Nebentisch sitzt ein deutsches Seniorenehepaar, vermutlich wohnhaft hier. Sie kennen Koch und Kellner und können etwas Portugiesisch, vor allem die Wörter auf der Speisekarte, aber der Mann eiert ziemlich herum, als er der Kellnerin sagen will, ihr Kaffee sei der beste der gesamten Insel. Der Mann sieht wie das blühende Leben aus, und er haut uch ordentlich rein. Auch für den Konsum der Flasche Wein für die beiden sorgt er fast alleine. Die Frau könnte fast seine Mutter sein, aber die beiden unterhalten sich lebhaft und haben offensichtlich viel Spaß. Sie haben es richtig gemacht, können ihre Zweisamkeit und den Ruhestand auf einer Insel genießen.

21. Dezember (Dienstag)

Am Morgen quäle ich mich die Calçada Santa Clara rauf, aber es lohnt sich, oben warten gleich zwei Museen. Nur dumm, dass ich am ersten, dem João Carlos Abreu, dem Universo de Memórias, gleich abgewiesen werde. Der Mann am Empfang sagt mir, dass mein elektronischer Corona-Pass nicht mehr gültig sei. Meine Argumente, ich sei bisher noch nirgendwo danach gefragt worden und bei der Einreise habe man gesagt, er gelte für die ganze Reise, überzeugen ihn nicht. Verständlicherweise. Er tut seine Pflicht. Aber ein bisschen freundlicher hätte es doch sein können.

Beim zweiten, dem Federico de Freitas, dieselbe Diskussion, aber hier lässt man mich am Ende zähneknirschend rein. Beide Museen sind Privatsammlungen von (nicht gerade armen) Männern, die ein halbes Leben lang unermüdlich Dinge zusammengetragen haben. Hier, im Federico de Freitas, sind es „Mitbringsel“ von den vielen Reisen.

Das Museum ist in einer alten Villa untergebracht. Man kommt in einen schönen Innenhof mit einem bepflanzten Brunnen an der Mauer. Nur den sieht man von der Straße aus. Links liegt die Villa, gegenüber ein moderner Anbau. In den wird man zuerst geschickt. Hier sind azulejos ausgestellt, die berühmten Kacheln, vom 16. Jahrhundert bis heute, chronologisch angeordnet. Die Kacheln kommen aus Persien, aus dem Irak, aus Spanien und aus den Niederlanden. Auch von ganz nah her kommen einige: aus dem Kloster Santa Clara. Dafür brauchte der Herr Freitas dann nicht so weit reisen.

Die holländischen Fliesen, natürlich in Blau und Weiß, sind sofort als solche zu erkennen. Sie haben „bürgerliche“ Motive wie einen seilchenspringenden Jungen. Auch Landschaften sind vertreten, aber keine Windmühlen!

Bei den portugiesischen besonders schön eine große Fläche aus mehreren Kacheln, in Blau, Weiß und Gelb gehalten. Die waren typisch für eine bestimmte Epoche, das habe ich schon mal irgendwo gesehen.

Die echten Hingucker sind aber die aus dem Orient. Die typischen floralen und geometrischen Muster, aber auch Tiere sind vertreten, ein Elefant und ein Kakadu, und sogar reichlich Szenen mit Menschen: Zu zweit sitzen offensichtlich hochrangige Personen auf dem teppichbedeckten Boden, ein Reiter und sogar Liebespaare, die Köpfe aneinandergelegt, die Frau mit einer Leier in der Hand.

Leider gibt es keine Erklärungen und auch nur sehr knapp gehaltene Beschriftungen, und in der Villa fehlen die dann ganz und gar. Das Konzept ist wohl, dass alles so aussehen soll, als würde man hier leben, also haben die Räume auch entsprechende Namen wie Speisesaal, Schlafkammer oder Spielesalon. Eigentlich geht das ganz gut, aber bei einigen Exponaten bleibt eben offen, was das eigentlich ist. Darunter eine vergoldete, tiefe Schüssel mit einem vergoldeten Schöpflöffel, die zwischen zwei geflochtenen Bänken auf dem Boden steht. Das hab ich definitiv schon mal gesehen, aber ich weiß nicht mehr, was es ist. Auch neugierig macht mich eine größere Holzschatulle, in mehreren Exemplaren vertreten, mit einer schrägen Platte, in die Löcher eingelassen sind. Ob das ein Humidor für Zigarren ist?

Alles, Möbel und Einrichtungsgegenstände, sind vom Feinsten, aber Material und Provenienz kann man nur erahnen. Sehr schön ein lederner Reisekoffer mit Nägelbeschlägen, der im Salon steht, und ein gewölbter, runder Spiegel, der die Dinge im Salon verzerrt wiedergibt. Unter den Gemälden gefällt mir besonders eins vom Innenraum einer Kirche, der Beschriftung zufolge die Kirche des Hamilton Palace in England. Man sieht von Osten nach Westen, Priester und Messdiener sind gerade dabei, einzuziehen und stehen noch neben dem Chorgestühl. Der Blick nach Westen ist durch einen geöffneten Lettner ein bisschen beengt und man erahnt den Rest der Kirche eher, die in ein mysteriöses Licht getaucht ist. Auffällig ein Sekretär, in dessen Stirnseite Kacheln mit Darstellungen eingelassen sind. Man sieht einen starken Mann, der mit einem Eber kämpft und in einer anderen Kachel mit einem Löwen, und dann sieht man ihn, wie er Säulen auf den Schultern trägt. Ich zähle nach: 12 Kacheln – die Taten des Herkules! Unter einer gläsernen Glocke sieht man eine Kreuzabnahme, aus Holz. Die Darstellung zeigt, wie schwer die ganze Angelegenheit war. Zwei hohe Leitern sind an das Kreuz gelehnt, auf jeder steht ganz oben ein römischer Soldat. Der Leichnam wird mit Seilen nach unten gelassen, und auf halber Höhe der Leiter steht ein weiterer Soldat, auf dessen Schulter der Leichnam ruht. Sehr schön auch eine Doppelfigur, auch aus Holz, mit Maria (oder Anna) und Jesus. Anna hält ein Buch vor sich und weist mit ihrem Finger auf eine Stelle, Jesus, noch ein Kind, aber nicht mehr klein, weist mit seinem Finger auf eine andere Stelle. Selten gibt es Darstellungen von Jesus in diesem Alter, sonst ist er entweder Säugling oder erwachsen.

Im Schlafzimmer hängen alte Karten von Portugal und von der Iberischen Halbinsel an der Wand. Hier hat Portugal eine ganz andere Form als heute, es ist eher breit als lang und nimmt noch einen Teil des heutigen Nordspaniens ein, aber es endet ungefähr auf der Höhe des Douro. Das Territorium darunter ist noch Al-Andaluz.

In einem Innenhof ist eine Krippe aufgebaut, eine Felsenlandschaft mit Grotten und Bächen und wohl mehr als einhundert Figuren. Man sieht ein Pferdefuhrwerk, man sieht Musikanten mit verschiedenen Instrumenten, die eine Sänfte begleiten, man sieht auf dem Boden hockende Korbflechterinnen, man sieht ein Ochsengespann mit Säcken, man sieht einen Priester im Gespräch mit einem Amtsträger, man sieht aufflatternde Hühner, man sieht Jesus im Tempel im Gespräch mit den Schriftgelehrten und man sieht einen römischen Soldaten, der ein Neugeborenes an den Füßen mit dem Kopf nach unten hält und mit der anderen Hand mit einem Dolch ausholt. Die Krippe im Stall und den Zug der Heiligen Drei Könige sieht man ganz nebenbei auch noch.

Als ich aus dem Museum heraus und Richtung Innenstadt gehe, stoße ich endlich wieder auf den etwas verborgenen Eingang zu einer Buchhandlung, an der ich dieser Tage vorbeigekommen bin, der Livraria Esperança. Sie ist wirklich etwas Einmaliges, steht aber in keinem Reiseführer.

In dem labyrinthischen, mehrstöckigen Gebäude, eher einer Lagerhalle gleichend, sind alle Bücher an den Wänden oder in dicht beieinander stehenden Eisenregalen ausgestellt, wobei die meisten nicht liegen oder stehen, sondern hängen, mit einer Klammer an einem Haken befestigt. Es gibt von jedem Buch nur ein Exemplar, sobald eins verkauft ist, wird ein neues Exemplar bestellt. Man behauptet, dass jedes in Portugal oder in Brasilien veröffentlichte Buch vertreten ist. Es ist ein echtes Erlebnis, hier die engen Treppen rauf und zwischen den Regalen entlang zu gehen und die Atmosphäre auf sich wirken zu lassen. Es ist einfach alles vertreten. Die einzelnen Abteilungen sind zwar markiert – Chemie, Esoterik, Lyrik – aber wie man innerhalb der Abteilungen fündig wird, ist nicht klar. Bei den Romanen kann ich jedenfalls keine Regelmäßigkeit entdecken. Hier muss man sich wohl von dem Personal helfen lassen. Unter den vielen Büchern, die mir auffallen, befindet sich ein zweisprachiges – Latein und Portugiesisch – eines gewissen Nicolau de Cusa: O não-outro/De non aliud. Das war sicher nicht mein letzter Besuch hier.

Vor der Stadtführung, zu der ich mich im Internet angemeldet habe, gehe ich noch zum Rei da Poncha, und diesmal bestelle ich wirklich eine poncha. Sie wird in einem kleinen Glas serviert, so wie eine kleine Abart einer Sektschale. Der Kellner erklärt, woraus die poncha besteht: Zitrone, Orange, Honig, Schnaps. Schmeckt ausgezeichnet. Der Anteil des Schnaps scheint aber, gemessen an der Wirkung, eher hoch zu sein. Das Wort poncha kommt, wie unser Wort Punsch, aus Indien und bedeutet auf Hindi ‚fünf‘. Für das Getränk sind also fünf Zutaten nötig. Auf Madeira scheint eine von denen verloren gegangen zu sein.

Der Treffpunkt für die Stadtführung ist im Parque Santa Catarina, am Rande der Innenstadt. So weit bin ich bisher noch gar nicht gekommen. Ich gehe an der Uferpromenade entlang und frage irgendwann einen Kellner, der vor seine Lokal steht, um Gäste hinein zu locken, nach dem Weg. Er antwortet ohne Zögern auf Portugiesisch, spricht glasklar und zeigt mit am Ende noch den erhobenen Daumen für „Gut gemacht!“. Geht doch.

Das Wetter lässt weiterhin zu wünschen übrig, aber es ist nicht so schlecht wie in der Vorhersage und ändert sich ständig. Die Sonne bricht gelegentlich durch die Wolken, dann fängt es wieder so schnell zu regnen an, dass man den Schirm kaum so schnell aufkriegt.

Der Treffpunkt ist gut gewählt, abseits des Verkehrs und abseits des Gedränges. Der Park liegt etwas erhöht, und man läuft geradewegs auf eine weiße Kapelle zu, die man schon von unten sieht. Von hier oben hat man einen weiten Blick aufs Meer hinaus. An einer Seite des Platzes vor der Kapelle eine bronzene Statue: Cristovão Colombo.  Er hält eine Schriftrolle in der Hand und hat das Schwert aus der Scheide gezogen. Und sein Blick ist aufs Meer gerichtet. Nach Westen? Sieht nicht so aus.

Dann beginnt die Führung, auf die Minute pünktlich. Unsere Führerin, Lisa, eine junge Portugiesin, macht das ganz vortrefflich. Die Führung ist unterhaltsam und informativ, sie kann Fragen beantworten und spricht ausgezeichnetes Englisch.

Außer mir sind noch zwei junge Ehepaare aus Amerika bzw. Frankreich vertreten, beide mit ganz jungen Kindern, ein älteres englisches Ehepaar und eine Amerikanerin, die in Spanien Kindergartenkindern Englisch beigebracht hat, in Madrid, Logroño und Santander.

Es beginnt mit einem historischen Überblick. Schon vor den Portugiesen waren Seefahrer aus Genua hier, zumindest haben sie eine sehr genaue Karte der Insel hinterlassen. Aber sie konnten mit der unbewohnten Insel nichts anfangen. Deren Potential erkannte erst Zarco. Um die Insel zu nutzen, musste allerdings erst ordentlich gerodet werden, und dazu wurde ein ganzes Heer von Sklaven eingesetzt.

Zarco war, als er in den Sturm geriet, am 1. November auf die Nachbarinsel getrieben worden, wo er Unterschlupf fand. Deshalb nannte er die Insel, mit Bezug auf Allerheiligen, Porto Santo.

Lisa fragt nach dem Ursprung des Wortes Funchal und hilft mir aus der Patsche, als mir das englische Wort für Fenchel nicht einfällt: fennel. Die Amerikaner wissen nicht, was das ist, und es folgt eine umständliche Erklärung.

Wir gehen Richtung Zentrum und kommen an einen Platz mit einem Kreisverkehr, in dessen Zentrum eine Armillarsphäre aufgestellt ist. Am Rande des Platzes eine Büste von Heinrich dem Seefahrer, dem Mann, der fast nie zur See gefahren ist, aber mit seiner Initiative und dem Kreis von Wissenschaftlern, die er um sich sammelte, die portugiesischen Expeditionen ermöglichte. Er selbst kam nur bis Ceuta.

Bald sind wir schon am Stadtpark. Hier erfährt man, dass die Franziskaner, deren Kloster hier ursprünglich stand, die ersten Mönche auf Madeira waren. Es heißt, eine Schiffsbesatzung habe zwei ausgesetzte Franziskaner auf einer einsamen Insel aufgefunden und hierher gebracht.

Unter den exotischen Bäumen des Stadtparks ist einer, der mir schon früher aufgefallen ist, der mit dem knollenartigen Stamm, ein riesiger, blattloser Baum, mit hülsenartigen Früchten ganz oben in der Nähe des Wipfels. Was mag das nur sein? Irgendwie ist von Seide oder Baumwolle die Rede, aber richtig verstehe ich das nicht. Lisa kann aushelfen, sie kennt die deutsche Bezeichnung: Kapokbaum. Aus seinen Fasern wird Füllmaterial gewonnen, etwa für Matratzen, Rettungsringe und Schwimmwesten.

Gemütlich auf einer Parkbank sitzend erfahren wir etwas über den Madeirawein. Er entstand aus einem Versehen heraus. Eine Schiffsladung war in Hongkong nicht angenommen und der Wein zurückgesandt worden. Man wollte ihn wegwerfen, probierte aber vorher noch ein Glas und stellte fest, dass er viel besser geworden war. Danach schiffte man hundert Jahre lang den Wein durch die Weltmeere, weil man glaubte, der Qualitätssprung hätte etwas mit den Schaukelbewegungen des Schiffs zu tun. Dann stellt man fest, dass es einfach an der Temperatur lag, an der Wärme.

Wir erfahren, dass der Madeirawein in zwei Stücken von Shakespeare erwähnt wird, dass man auf die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung mit Madeirawein anstieß und das Washington täglich eine halbe Flasche trank. Auch Napoleon hatte Madeirawein im Exil, aber er rührte ihn nicht an, weil er fürchtete, vergiftet zu werden.

Auf dem Platz auf der gegenüberliegenden Seite steht das Denkmal von Zarco, von Francisco Franco geschaffen. So heißt wirklich ein Bildhauer aus Funchal, dem sogar ein Museum gewidmet ist. Lisa sagt, man müsse sich immer beeilen zu sagen, dass es sich nicht um den Francisco Franco handelt. Eine nach ihm benannte Straße ist gleich in der Nähe des Hotels. Um Missverständnisse erst gar nicht aufkommen zu lassen, heißt sie Rúa Francisco Franco Escultor.

Dann kommen wir zur Kathedrale. Hier wurde ursprünglich Zuckerrohr angebaut. Der heutige Kathedralplatz war der Endpunkt einer der Levadas. Als die Bevölkerung wuchs und eine größere Kirche erforderlich war, drängten sich eine arme und eine reiche Gemeinde darum, den Neubau zu bekommen. Der König vermittelte und gab als Kompromiss das Zuckerrohrfeld frei für den Bau einer Kathedrale.

Der Turm der Kathedrale, erfährt man noch, diente früher als Gefängnis, für Gefangene der kirchlichen Jurisdiktion. Und der rötliche Stein des Portals (den ich dieser Tage irrtümlicherweise für schwarz gehalten habe) stammt aus einem Steinbruch in Madeira.

Die anderen fragen nach der Weihnachtsbeleuchtung. Die Führerin erzählt, es gebe immer etwas Variation, von Jahr zu Jahr. Sie würde vor allem die Engel vom letzten Jahr vermissen, die vor der Kathedrale, denn die hätten damals Musikinstrumente gehabt, und bei den abendlichen Aufführungen, wenn Licht und Musik synchronisiert werden, habe es tatsächlich so ausgesehen, als ob die Engel musizierten.

Die Amerikanerin aus Spanien fragt, ob Weihnachten der wichtigste Feiertag dieser Zeit sei oder Dreikönige. Zu meiner und auch zu ihrer Überraschung sagt die Führerin, das sei Weihnachten. Wir kennen beide aus Spanien die Bedeutung von Reyes und haben dasselbe auch für Portugal angenommen. Vielleicht hat sich das in den letzten Jahren geändert. Unsere Führerin ist sehr jung.

Als wir da so stehen, weist die Führerin auf die Absperrgitter hinter uns. Dort hängen Plakate mit Weihnachtswünschen in verschiedenen Sprachen. So weit, so gut. Aber es gibt eine Besonderheit. Und ich bin der einzige, der lachen muss. Auf Deutsch steht dort: Frohe Weinnachten

Es geht in meine Richtung, die Straße hinauf. Ich habe Zeit, mit den Engländern zu sprechen. Sie kommen aus Nottingham. Ich wende mich an den Mann und frage: „Forest supporter?“- Und er antwortet prompt: „Yeah, all my life.“ Fußball funktioniert immer. Und er erzählt gleich begeistert, wie er damals zum Endspiel nach München gereist sei, als sie 1979 im Finale Malmö besiegten und den Europapokal gewannen.

Es geht die Calçada de Santa Clara hinauf. Kurz vorher bleiben wir noch vor einem verlassenen Grundstück stehen, das früher wohl mal was dargestellt haben muss. Es ist gerade verkauft worden, für schlappe vier Millionen Euro, und zwar von dem benachbarten Hotel, dem Castanheiro. Das will hier einen Erweiterungsbau errichten. Unsere Führerin erzählt, in dem Hotel könne man, auch ohne Gast zu sein, auf die Dachterrasse fahren. Von dort habe man einen schönen Blick auf Funchal.

Es geht weiter bergauf, für mich das zweite Mal heute aber für Lisa auch. Sie hat am Morgen die gleiche Tour schon einmal gemacht. Und zeigt keine Ermüdungserscheinungen.

Wir gehen noch ein bisschen weiter als ich heute Morgen, auf eine Aussichtsplattform. Hier oben befindet sich die Quinta das Cruzes, der letzte Wohnsitz von Zarco. Heute ist hier ein Museum untergebracht, und das hat geöffnet. Da habe ich dieser Tage im Internet was anderes gelesen.

Von der Aussichtsplattform sieht man einige der älteren Häuser von Funchal, die einen Turm haben, mit Fenstern auf unterschiedlicher Höhe. Das waren die Wohnhäuser der Händler. Die konnten von hier aus über die Stadtmauer hinweg auf das Meer blicken und sehen, ob ihre Schiffe ankamen. Das kommt mir bekannt vor, irgendwo in Spanien habe ich das schon mal gehört, vielleicht in Jerez.

Dann, als es wieder Richtung Innenstadt zurückgeht, stehen wir plötzlich in einem abgeschirmten Innenhof vor einem neoklassischen Gebäude: The English Church. Die Führerin sagt zu Recht: sieht nicht wie eine Kirche aus.  Jedenfalls nicht wie eine Kirche, wie ein portugiesischer Katholik sie sich vorstellt. Sieht eher wie ein antiker Tempel aus oder vielleicht noch wie ein Rathaus. Das ist mit Bedacht gemacht. Die Briten wollten keinesfalls, dass ihre Kirche, für deren Bau sie am Ende eine Genehmigung erhielten, in irgendeiner Weise wie eine Konkurrenz zu den hiesigen Kirchen aussah.

In diesem Zusammenhang spricht die Führerin von den traditionell guten Beziehungen zwischen Portugal und England. Davon hatte schon der Mann aus Nottingham unterwegs zu mir gesprochen, das „älteste bilaterale Bündnis der Welt“. Stellvertretend dafür steht Philippa of Lancaster, die Tochter von John of Gaunt, Frau von João I und Mutter von Heinrich dem Seefahrer. Ihre Büste hat man hier aufgestellt. Für mich bringt das die Erinnerung an Batalha zurück, wo sie begraben liegt, genauso wie ihr Mann und ihre Söhne. Batalha ist die wunderbare Kirche, die in Erinnerung an die Schlacht der Portugiesen und Engländer gegen die Spanier errichtet wurde, die ganz in der Nähe stattfand.

Wir kommen zu unserem Schlusspunkt, am Rande einer Straße der Innenstadt. Hier erfahren wir noch, dass der normale Straßenbelag in Funchal aus Basalt ist. Die Basaltsteine kamen vom Festland, als Lasten in den leer zurückkehrenden Schiffen.

Man merkt beim Abschied, dass alle sehr zufrieden sind mit der Führung, und es wird großzügiges Trinkgeld gegeben. Die Führung ist nämlich eigentlich kostenlos.

Ich begnüge mich am Abend mit einem Hamburger im Rei da Poncha, der außerordentlich gut schmeckt, ganz anders als die Hamburger in den Fastfood-Läden. Als ich gehe, lasse ich meinen Rucksack unter einem der Schemel stehen, aber der Kellner reagiert schnell und trägt ihn mir hinterher. Glück gehabt!

22. Dezember (Mittwoch)

Inzwischen habe ich mir einen ziemlich lästigen Schnupfen eingeholt. Die Klimaanlage im Hotelzimmer stellt sich immer wieder von selbst an.

Auf der Suche nach Papiertaschentüchern lande ich in einem mehrstöckigen Ramschgeschäft, in dem sich die Kunden nur so drängen und lange Schlangen vor den Kassen bilden. Es dauert eine Zeit, bis ich die Taschentücher im Untergeschoss finde. Die Verkäuferinnen antworten freundlich auf meine Fragen, einige auf Englisch, einige auf Portugiesisch.

Dann geht es zu einem Geldautomaten. Dort wird mir die Auszahlung ohne Nennung von Gründen verweigert. Mir wird etwas mulmig und ich überschlage, wie ich die restlichen Tage mit dem restlichen Bargeld überstehen kann. Dann gibt es aber ein Aufatmen, als ich an dem nächsten Automaten mein Geld bekomme. Allerdings dauert es unendlich lang, und als die Operation schon abgeschlossen ist, beginnt der Automat lange zu rattern, gibt aber das Geld nicht raus. Am Ende kommt es dann doch.

Bei Blandy’s, der Weinkellerei, die die Stadtführerin gestern empfohlen hat, ist im Moment alles ausgebucht, aber später am Tag sind noch Plätze frei. In der Zwischenzeit kaufe ich Postkarten. Praktischerweise gibt es in dem Souvenirladen auch gleich Briefmarken, wie fast immer in Portugal. Die Frau an der Kasse spricht Portugiesisch mit mir, ohne zu zögern. Vielleicht höre ich mich nach der Übung der letzten Tage jetzt einfach selbstbewusster an.

Dann spaziere ich durch den Regen, auf der Suche nach einem Frisörsalon, an dem ich vorher vorbeigekommen bin, in einer schmalen Straße gelegen. Einen Haarschnitt kann ich gut vertragen. In den letzten Tagen habe ich mich schon umgesehen, aber die Salons waren mir alle zu modern, zu sehr auf Beauty ausgerichtet. Als ich schon fast aufgeben will, sehe ich den Salon: Barbearia Turista – Men’s Hairdresser. Es ist ein kleiner, altmodischer Laden, nicht sonderlich einladend, aber ohne Schnickschnack, und mit schweren Stühlen auf Eisengestellen, wie es sie in meiner Kindheit gab.

Ich komme sofort dran. Bedient werde ich von einer Frau mittleren Alters, und die macht ihre Sache ganz ausgezeichnet, mit Schere und Rasiermesser und einem kleinen, sehr effektiven Gerät, das andere lästige Haare perfekt beseitigt. Wir unterhalten uns auch ein ganz klein bisschen. Von einer ihrer Fragen fühle ich mich auf den ersten Blick übertölpelt. Ob mit die Hüften gefielen, will sie wissen. Nach einem Moment der Verwirrung schalte ich dann um: Sie hat nach den cadeiras gefragt, und das sind die Stühle, und nicht, wie die spanischen caderas, die Hüften.

Abschließend werden die Haare auch noch gewaschen, und die ganze Operation kostet gerade einmal 13 €. Ein gutes Geschäft!

Vor der Führung bei Blandy’s ist noch Zeit für einen Kaffee, in einem unscheinbaren Café in der Fußgängerzone. Dabei fällt mein Blick auf die Tafel, auf der das heutige Tagesgericht angekündigt wird. Das merke ich mir für später.

An einer Ecke fällt mir die Statue einer auf dem Bürgersteig stehenden Statue auf, so lebensnah, dass man sie für echt halten könnte. Sie zeigt einen Mann mit Anzug und Fliege und adrett gestutztem Bart, ein Buch in der Hand. Leider ist nicht zu erfahren, was er hier zu suchen hat. Als ich ein Photo mache, fällt mir ein ovales Schild im ersten Stock auf: Eesti Vabariigi Aukonsul – das Konsulat von Estland.

Dann geht es zu Blandy’s. In der Gruppe sind außer mir nur Amerikaner. Die junge Frau, die uns führt, spricht gut Englisch, ist aber nicht immer gut zu verstehen. Die Führung ist kurz, aber informativ.

Sie beginnt auf einer Empore vor dem Eingang zu dem Gebäude. Hier sind die Werkzeuge der Fassbinder ausgestellt, der tanoeiros. Ich bin dieser Tage über die Rúa dos Tanoeiros gekommen und habe gedacht, das wären die Färber. Die heißen tintoreiros.

Das Gebäude war ursprünglich Kloster, dann Krankenhaus, dann Gefängnis, was man noch an den Gitterstäben der Fenster sehen kann. Es wurde dann von Blandy’s gekauft, vor 150 Jahren, und dient seitdem der Weinproduktion. Heute wird nur noch ein kleiner Teil hier produziert, die wichtigste Produktionsstätte liegt außerhalb, in einem industriellen Vorort Funchals.

Wir erfahren, dass der Wein im Fass reifen kann, solange er will. Er wird immer besser. Einmal abgefüllt, verändert es sich nicht mehr. Man kann die ungeöffnete Flasche jahrelang aufbewahren. Der Wein verändert seine Qualität nicht mehr. Einmal geöffnet, kann man den Wein immer noch ein ganzes Jahr aufbewahren, ohne Qualitätsverlust. Die Führerin sagt, man solle die Flasche aufrecht stehend aufbewahren. Ungewöhnlich, so ungewöhnlich, dass eine der Amerikanerinnen nachfragt. Die Flaschen werden, auch das ergibt sich auf Nachfrage, mit einem Korken verschlossen.

Dann geht es in einen verdunkelten Ausstellungsraum. Hier werden zuerst die Trauben vorgestellt, die für den Wein benutzt werden, sieben verschiedene, darunter eine unverwüstliche, die es in rauen Mengen gibt, Tinta Negra, und aus der mehr als 80% der Produktion stammt.  und jedes Jahr geerntet wird, zwei sehr empfindliche, die nur in kleinen Mengen geerntet werden, Terrantez und Bastardo, eine, Listrão, die aus der Nachbarinsel, Porto Santo, importiert wird. Die bekannteste Traube ist die Malvasia (engl. malmsey). Aus ihr wird der typische Dessertwein hergestellt.

Auf einer Karte von Madeira sehen wir, dass es um die ganze Insel herum Weinberge gibt, alle in Küstennähe. Blandy’s hat nur in Funchal und in einem weiteren Ort Weinberge, und nicht allzu große, der Rest wird aufgekauft, bei  über 400 Winzern.

Bei der Herstellung wird dem Wein nach ganz kurzer Zeit der Gärung Alkohol zugesetzt, um die Gärung zu stoppen. Das kommt mir bekannt vor, entweder beim Sherry oder beim Portwein ist es genauso. Der Unterschied zwischen Madeira und Portwein interessiert auch die anderen Besucher. Ganz verstehe ich die Erklärung nicht, aber das Wichtigste ist wohl, dass der Madeirawein nicht gekühlt wird, sondern gerade durch die Wärme reift.

Es gibt zwei Methoden, eine natürliche und eine künstliche. Die künstliche Methode beschleunigt den Prozess und kommt wohl eher bei weniger edlen Weinen zum Einsatz. Der Wein ist dann nach ca. 3-4 Jahren fertig. Bei den anderen gibt es Qualitätskontrollen, und je nach Zustand kann der Wein noch Jahre weiter reifen. Die ältesten der noch nicht abgefüllten Weine hier sind von 1950!

Bei den Blends kommen unterschiedliche Traubensorten in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen zum Einsatz. Auf dem Etikett werden sie nicht genannt. Bei den reinen Weinen wird die Traube auf dem Etikett genannt und das Alter. Allerdings ist es bei der Altersangabe so, dass nur das mittlere Alter angegeben wird. Alle Wein sind Mischungen aus verschiedenen Jahrgängen. Auch das kenne ich, und zwar von dem kubanischen Rum!

Dann geht es rauf in einen länglichen Raum mit riesigen Fässern zu beiden Seiten. Ihr Fassungsvermögen ist 9.000 Liter! Auf einer Skala außen am Fass sieht man, wie voll ein Fass ist. Nicht ganz bis zur Rand, denn ein Teil, etwa 10%m geht durch Verdunstung im Laufe der Zeit verloren.

Die Fässer sind aus amerikanischer Eiche und werden immer wieder neu verwendet. Dadurch müssen gar nicht so viele neue Fässer produziert werden. Heute beschäftigt Blandy’s nur sechs oder sieben Küfer. Die Fässer sind aus amerikanischer Eiche. Das Holz wird aus Amerika importiert, aber die Fässer werden hier vor Ort gebaut.

Dann geht es runter zur Verkostung. Es gibt einen helleren Wein, den mal als Aperitif trinkt, Rainwater (aus Tinta Negra) und einen dunkleren, den man als Dessertwein trinkt, Reserva (aus Malvasia). Mir schmeckt der erst besser, allen anderen der zweite. Ein Mann sagt, das wäre alles nichts für ihn, er bleibe lieber beim Bier.

Eins der amerikanischen Ehepaare ist per Schiff unterwegs, auf Kreuzfahrt. Die anderen fragen, wie lange sie denn für Funchal hätten. Nur einen Tag, um 15 Uhr müssten sie wieder auf dem Schiff sein. Einer der anderen will wissen, wo es denn als nächstes hingehe. Sie antworten nicht prompt, überlegen – und dann stellt sich heraus, dass sie es nicht wissen! 

Dann geht es zu dem Café zurück, O Americano, und da bekomme ich das bisher beste Essen der Reise. Als Vorspeise überbackene Pilze, und dann Schweinebacke, vom porco preto, ‚schwarzes Schwein‘, mit Süßkartoffeln serviert. Das Fleisch, mit Beeren und Kräutern gespickt, im Backofen zubereitet, ist butterzart, jeder Biss ein Leckerbissen. Der freundliche Kellner hilft mir, das portugiesische Wort für Schweinbacke, das inzwischen von der Tafel verschwunden ist, zu notieren. Er buchstabiert es mir geduldig in mein Notizbuch: bochecha.

23. Dezember (Donnerstag)

Ich gehe Richtung Uferpromenade zur Casa da Luz, dem Elektrizitätsmuseum. Unterwegs, an der Uferpromenade, fällt mir an einem Kiosk die unorthodoxe portugiesische Schreibweise von Kiosk auf: Quiosque.

Das Elektrizitätsmuseum liegt an der Praça da Autonomia. Dort steht, aufs Meer gerichtet, eine Statue, die man versteht, wenn man sie in Bezug zu dem Platz setzt. Am Ende einer langen Säule bricht eine Figur – auf den zweiten Blick als Frau zu erkennen – aus der Säule hervor, ihr Unterkörper ist noch mit der Säule verwachsen, aber das rechte Bein hat sie schon aus der Säule herausgezogen. Den linken Arm reckt sie kämpferisch empor, als Zeichen des Sieges. Sie repräsentiert also wohl die Unabhängigkeit. Welche Unabhängigkeit gemeint ist, weiß ich aber nicht. Die Portugals von Spanien?

An verschiedene Stellen hängen Plakate der CDU, mit politischen Parolen und mit Hammer und Sichel unter den Symbolen. Erinnert mich an Coimbra. Da hat mich der Name CDU, in Portugal ein Bündnis linker Parteien, immer verwirrt.

Hier, an der Praça da Autonomia, mündet einer der drei Flüsse, der RibeiraSanta Luzia. Das muss wohl der sein, der in der Nähe des Hotels, die 5 de Outubro, entlangfließt.

In der Casa da Luz ist der Empfang äußerst freundlich. Man bekommt eine gute kurze Erklärung zum Aufbau des Museums. Man fragt nach dem Corona-Nachweis und akzeptiert ihn sofort.

Unten steht man auf einer „Straße“ mit Straßenlaternen zu beiden Seiten, aus verschiedenen Epochen stammend, einige hängend, andere stehend. Einige sehen wie echte Kunstwerke aus.

Man erfährt, dass die ersten 3 Straßenlaternen 1846 aufgestellt wurden, auf Initiative eines Stadtrats, an zentralen Stellen. Ein Jahr später waren es dann schon 13.

Bis 1870 wurden die Laternen mit Fischöl, Olivenöl und Harzöl betrieben, dann erst kam Petroleum, und 1897 Elektrizität.

Auf alten Photos sieht man, wie dann später ganze Straßenzüge aufgerissen wurden. Ein Teil von Funchal hatte Wechselstrom, ein Teil Gleichstrom, und um das „gleichzuschalten“, mussten die Stromleitungen ausgetauscht werden. Erinnert daran, wie heute gebuddelt wird, um Glasfaser zu verlegen.

1939 wurde eine Kommission eingesetzt, die die Möglichkeiten zur Nutzung von Wasserkraft auf Madeira erkunden sollte. Ein Exemplar ihres Berichts, ein dickes, im wörtlichen Sinne gebundenes Buch, ist hier ausgestellt. Seither ist die Wasserkraft die treibende Kraft bei der Stromerzeugung.

Dann gibt es einen Raum voller Vitrinen mit Handwerkszeug, Messgeräten und Maschinenteilen an den Seiten. Sieht alles sehr solide aus, qualitätsvoll. Der Unterschied zu heute ist wohl die Größe. Im Zentrum stehen riesige Maschinen, alle in England hergestellt, die wohl der Generierung von Wechselstrom dienten.  

Dann kommt ein Kontrollraum, mit grauen Stahlwänden zu drei Seiten, mit Hebeln, Kurbeln und Anzeigen. Er war von 1957 bis 1992 im Einsatz. 

Auf dem Weg in die obere Etage wird das Thema der Ausstellung dort angekündigt: Energia: a importânçia de a ter. Kann man mit Spanischkenntnissen gut verstehen (und vermutlich auch ohne), aber die Stellung des Personalpronomens ist die Crux – wie immer im Portugiesischen.

An einer Schautafel werden Epochen der Menschheitsgeschichte und die damit verbundenen Quellen für Energie dargestellt: Feuer – Wind – Kohle – Petroleum – Dampf – Elektrizität – Kernenergie – Biomasse. Der größte zeitliche Abstand besteht zwischen Dampf und Elektrizität. Die anderen Energiequellen waren schon in der Antike bekannt.

Hier oben gibt es ein paar Geräte zum Ausprobieren, darunter ein Fahrrad, mit dem man Licht erzeugen kann. Ich schaffe acht Lampen, aber nach einer Minute ist Schicht.

Auf einer Tafel werden die Verdienste unterschiedlicher Wissenschaftler bei der Erforschung der Elektrizität aufgelistet. Man ist erstaunt, wie viele der Namen man kennt, und sei es nur als Wörter, die physikalische Größen benennen oder aus anderen Zusammenhängen bekannt sind: Oersted, Ohm, Ampere, Faraday, Morse, Pacinotti, Gramme, Bell, Edison, Hertz, Marconi, Franklin, Watt, Volta. Morse sieht man auf einem Photo, wie er die erste Nachricht über eine längere Strecke verschickt, von Baltimore nach Washington. Die Nachricht war: „What hath God wrought?“, einem Zitat aus Numeri.

Die Grundlage für die Elektrizität wurde aber in der Antike gelegt, in Griechenland. Tales von Milet fand heraus, dass leichte Objekte wie eine Feder von Bernstein angezogen werden. Nach kurzer Zeit lässt die Anziehung wieder nach und die Feder fällt ab. Die Bedeutung dieser Entdeckung steckt heute noch in unserem Wort Elektrizität. Es ist ἤλεκτρον abgeleitet, dem griechischen Wort für ‚Bernstein‘. ´

Während ich mir das alles ansehe, werden im Hintergrund dezent Weihnachtslieder abgespielt, darunter „Oh Tannenbaum“, von einem portugiesischen Chor gesungen.

Dann geht es zur Seilbahnstation. Hier sind alle gleich unfreundlich, Kartenverkäufer wie Einweiser. Es gibt kein Gedränge, ich bekomme eine Gondel für mich alleine. Die Seilbahn ist hochmodern, von einer österreichischen Firma gebaut.

Erst sieht man die roten Dächer der Häuser in Ufernähe unter sich, dann die sich kreuzenden und in Serpentinen hochwindenden grauen Straßen, dann eine Autowerkstatt mit Lagerhalle, dann grüne Terrassen vor den dunklen Basaltfelsen – was hier angebaut wird, erkennt man nicht, später sieht man irgendwo Palmen – dann kommt ein Stück Zedernwald mit einem verlassenen Haus. Es wird immer diesiger, und unten liegt die Stadt am Meer in der Sonne. Oben sieht man von unten gar nichts mehr, alles liegt im Dunst.

Oben angekommen, merkt man vor allem eins: Es ist kälter. Der Höhenunterschied beträgt 600 Meter. Der macht sich bemerkbar.

Hier oben steht eine Wallfahrtskirche – in der der letzte Habsburger Kaiser begraben ist – und in der Nähe ist ein großer Park, über dessen Mauern die Wipfel exotischer Bäume hervorgucken.

Etwas versetzt von der Straße, von einem hohen Gitter abgetrennt, ein prächtiges Haus mit einer romantisierenden Fassade. Könnte ein Hotel sein. War aber der Wohnsitz eines britischen Konsuls, später Sitz einer Jesuitenschule. Heute leerstehend, verlassen.

Dann kommen die Korbschlittenfahrer. Dutzende von uniformierten Männern – weiße Hosen, blaue Jacken, Strohhut –  stehen herum und warten auf Kundschaft. Einige stehen bei den Schlitten, die in langen Reihen hier hochkant geparkt werden, aber viele stehen auch vor einem Café und beißen in ein Sandwich oder trinken an einem Kaffee. Die Nachfrage ist zu anderen Zeit hier wohl größer. Dann kommt aber doch ein Ehepaar mit Kindern, die sich fröhlich jauchzend in einen Korbschlitten setzen, und ab geht die Fahrt! Zwei Korbschlittenfahrer, mit Stöcken bewaffnet, kontrollieren die Fahrt. Sie können neben dem Schlitten herlaufen oder auf ein kleines Trittbrett hinten steigen. Die Korbschlitten sind heute eine reine Touristenattraktion, waren aber früher, wie ich ja schon im Madeira History Centre gesehen habe, ein normales Verkehrsmittel. Zum Beweis sind hier an verschiedenen Wänden alte Schwarz-Weiß-Photos aus der Zeit ausgestellt.  

Für mich geht es zu Fuß runter, ein beschwerlicher Abstieg. Die Straße ist so abschüssig, dass man nur ganz kleine Schritte machen kann, und bei jedem Schritt macht sich das Knie bemerkbar. Als die erste Bushaltestelle in Sicht kommt, muss ich mich zur Erholung einen Moment auf die Bank setzen.

Die Straße heißt Rúa do Comboio, nach dem „Zug“ benannt, der hier einst verkehrte, einer Zahnradbahn. An deren Stelle trat dann später die Seilbahn.

Es gibt nicht viel zu sehen entlang der Straße, außer einer Frau, die sich über die Brüstung ihres Balkons lehnt, Zigarette in der Hand. Dann kommt eine wunderbare Blumenpracht, eine exotische Pflanze mit hellroten Blüten, die sich an der Mauer entlangwindet. Und dann kommt noch eine merkwürdige Sportanlage in Sicht. Wenn es denn eine ist. Ein von einer hüfthohen Mauer umgrenztes Rechteck, durch eine weitere Mauer in zwei Quadrate aufgeteilt, mit abschüssigem Boden. Was spielt man auf so einem Platz? Pelota? Squash? Aber für beide scheinen mir die Mauern nicht hoch genug.

Je weiter man nach unten kommt, umso wärmer wird es. Als ich endlich die Innenstadt erreiche, schlottern mir die Knie. Auf unsicheren Beinen und mit schmerzenden Hüften erreiche ich die 5 Outubro, glücklicherweise genau auf der Höhe des Hotels. Vorher mache ich aber noch eine Kaffeepause in dem Café an der Ecke, das genau so heißt: O Café da Esquina. Es gibt Kaffee und ein Pastel de Nata, das erste dieser Reise. Das Kaffee ist gleichzeitig ein Tante-Emma-Laden, und ich kann mich noch mit Wasser und Keksen ausstatten. Während ich den Kaffee trinke, kommt ein Mann in den Laden und verpackt ein paar Dinge, die der Besitzer für ihn zurückgelegt hat. Von ihrem Gespräch verstehe ich nichts, keine Silbe. Sie hätten genauso gut Mongolisch sprechen können.

Bevor ich zum Hotel zurückgehe, merke ich noch auf der anderen Seite ein Lokal: Restaurante Velha Cabra. Durch die offene Tür sieht man, dass es rappelvoll ist. Lauter Portugiesen.

Nach einer Pause im Hotel gehe ich nochmals in die Buchhandlung, die Livaria Esperança. Ich frage die freundliche Verkäuferin nach einer Biograpihie von Mariza, der Fado-Sängerin. Ich habe das Buch dieser Tage hier gesehen, weiß aber nicht mehr genau, wo. Sie führt mich in eine Abteilung und fragt, ob es hier gewesen sei. Nein, sage ich, es war näher am Eingang. Sie sucht im PC und kann nichts finden. Ich bekräftige noch mal, dass ich das Buch hier gesehen habe. Sie sieht mich ungläubig an. Daraufhin mache ich mich selbst auf die Suche – und finde das Buch. Dann frage ich noch nach Saramago, Ensaio sobre a cegueira. Ich habe die deutsche Fassung, die, abweichend vom Original, Stadt der Blinden heißt. Sie schaut im PC nach. Haben wir nicht. Ob sie es bestellen könne. Uh, Senhor, sagt sie, wir sind eine Insel. Ich warte noch auf Lieferungen aus Bestellungen von August. Am Ende frage ich noch nach einem Tipp, eine einfache Lektüre, ein nicht so anspruchsvolles Buch, etwas für einen Ausländer. Ein älterer Mann nimmt mich mit in eine der Abteilungen und zeigt mir 5-6 Bücher, alle von demselben Autor: Júlio Dinis. Welches er denn empfehlen könne. Ganz egal, alle seien gleich gut. Ich nehme eins zur Hand und lese die erste Seite. Einfach ist anders, die erste Seite enthält eine wortreiche, detaillierte Landschaftsbeschreibung. Wie so oft sieht man, dass Muttersprachler keine guten Gewährsleute sind, wenn es darum geht, ob etwas schwer oder leicht ist in ihrer Sprache. Ich nehme das Buch trotzdem.

Dann gehe ich Richtung Innenstadt und treffe plötzlich auf Lisa, die Stadtführerin von gestern. Sie erkennt mich sofort. Sie kommt gerade wieder von einer Stadtführung zurück.

Ich gehe noch ein bisschen durch die Stadt und mache, wie alle Touristen, Bilder von der Weihnachtsbeleuchtung. Die schiere Menge und die Vielfalt sind schon bemerkenswert.

Da die Bücher teuer waren, gibt es zum Abendessen heute wieder nur einen Hamburger. Dass das Wetter besser wird, merkt man daran, dass vor dem Rei da Poncha jetzt mehr Tische stehen, auch „draußen“, also vor der Marquise. Als der erste Kellner kommt und ich mein bekanntes Sprüchlein aufsage, ich könne kein Englisch und er möge doch bitte Portugiesisch sprechen, höre ich Lachen vom Nebentisch. Ein Ehepaar hat den Dialog mit angehört. Ja, richtig, ich solle ruhig darauf bestehen.

Als ich nach der Rechnung frage, wiederholt sich dasselbe Spiel mit einem anderen Kellner. Er schaltet sofort auf Portugiesisch um. Er kann nicht sonderlich gut Englisch, sagt er, und sei froh, Portugiesisch sprechen zu können. Wir kommen ins Gespräch, und irgendwann fragt er mich, ob ich auch Spanische spreche. Es stellt sich heraus, dass er aus Venezuela ist. Und wie ist er dann in Portugal gelandet? Mutter ist Portugiesin.     

Auf den Straßen hört man jetzt überall Bom Natal!

24. Dezember (Freitag)

Hiobsbotschaften von der Corona-Front. Die Zahlen in Portugal und anderen europäischen Ländern steigen dramatisch, und Portugal ist zum Hochrisikogebiet erklärt worden. Vor der Hotelzimmertür finde ich ein mehrseitiges Schreiben mit Informationen zur aktuellen Lage und zur Rückreise. Bisher verändert sich für mich noch nicht so viel, außer, dass ich vor der Rückreise ein Formular ausfüllen und einreichen muss. In Deutschland sinken die Zahlen – noch. Aber man stellt sich überall auf die Omikron-Welle ein.

Hatte mir für heute das Museum für sakrale Kunst vorgenommen. Schien irgendwie zu passen. Aber der Bischof torpediert meine Pläne. Er hält die Tore des Museums geschlossen. Entgegen der Öffnungszeiten am Eingang. Für ihn fällt heute wohl unter „Feiertag“.

Ganz in der Nähe ist einer der Obststände, an denen ich schon so oft vorbeigekommen bin. Bei der Stadtführung wurde uns empfohlen, hier an den Ständen und nicht in der Markthalle zu kaufen. Da habe man die Preise inzwischen an das touristische Niveau angepasst.

Ich kaufe lauter exotische Früchte, wobei für mich exotisch alles ist, was über Äpfel und Birnen hinausgeht: 1 Apfelsine (laranja), 1 Papaya (mamão), 1 Drachenfrucht (pitahaya), 1 Avocado (abacate), 1 Tamarillo, auch Baumtomate (tamarilho), 1 Cherimoya, auch Zimtapfel (anona), 1 Mango (mango), 1 Passionsfrucht (maracuja), 1 Kaki (diospiro) und eine, die einfach fruta delicios regional heißt. Sie ist teuer, aber die teuerste ist die Drachenfrucht, und ich staune nicht schlecht, als ich am Ende zwanzig Euro hinblättern muss.

Jetzt geht es darum, sie auseinanderzuhalten und zu probieren. Als erstes ist die Kaki dran, denn die ist überreif. Sie ist nicht khakifarben, sondern rötlich und sieht aus wie eine übergroße Tomate. Ihre Schale ist etwas hart, wie die einer unreifen Birne, aber das Fruchtfleisch ist süß und saftig, ein echter Genuss. Im Portugiesischen gibt es zwei Varianten: diospiro und dióspiro.  Der Name bedeutet nicht, wie ich dachte, ‚Seufzer Gottes‘, sondern ‚Speise Gottes‘, wobei mit Gott wohl Zeus gemeint ist.

Weil der Bischof mich nicht will, gehe ich zu Franciso Franco. Dessen Museum ist nicht weit, aber auf der anderen Seite der Rúa 5 Outobro, in einem Viertel, wo ich bisher noch nicht war. Bevor man das Museum erreicht, kommt man schon an der Escola Secundária Francisco Franco vorbei, untergebracht in einem riesigen, vielstöckigen Gebäude, das etwas von den alten Palästen hat, aber wohl keiner ist. Es ist eine Privatschule. Am Eingangstor hängen Banner mit Aufschriften, auf denen für Lehrer und deren angemessene Bezahlung geworben wird. In dieser Schule, heißt es, seien Lehrer mit einem Arbeitsvertrag angestellt, so wie es sein sollte.

Kurz darauf kommt das Museum in Sicht, aber es ist ebenso verschlossen wie das Museum für sakrale Kunst. Also nehme ich mit einem Kaffee in einem winzigen Café vorlieb, in dem ich der einzige Gast bin. Die Kellnerin, eine ganz junge Frau, steht gelangweilt hinter der Theke und sieht einen Zeichentrickfilm im Fernsehen. Die Preise hier sind sehr moderat, und ich gehe die Speisekarte durch, um mich Wörter zu erinnern, die ich längst vergessen habe. Als es ans Bezahlen geht, werde ich auch an etwas von früher erinnert: Man gibt das Geld nicht der Kellnerin, sondern wirft die Münzen in eine Maschine.

Ich spaziere wieder in aller Ruhe in die andere Richtung und gehe noch mal in die Kathedrale. An einem Seitenaltar fällt mir ein Sao Miguel auf, mit einem langen Kreuz in einer und einer Waage mit zwei Waagschalen in der anderen Hand. Beide werfen Schatten an die Wand dahinter.

Das Bild von Johannes Paul II., der natürlich auch schon hier war, steht auf dem Seitenaltar, der der Jungfrau von Fátima gewidmet ist. Natürlich.

Die andere Jungfrau, die mit dem merkwürdigen Namen, die Virgen del Parto, kann ich nirgendwo entdecken. Höchstens die Figur im Zentrum des Hochaltars könnte sie sein, aber das kann man von hier aus nicht erkennen. Von den biblischen Szenen in hell leuchtenden Farben in den anderen Bahnen des Hochaltars kann man gerade mal eine Verkündigung und eine Kreuzabnahme erkennen, aber keine Details. 

Im Zentrum ist viel Betrieb, ganz das Gegenteil von dem Viertel, aus dem ich gerade komme. Vor dem Ritz fällt mir eine Reihe von in den Boden eingelassenen länglichen Steinen auf, die alle Namen und eine Jahreszahl tragen (von 1964 bis 2008), insgesamt sicher um die 30-40, alle im identischen Abstand zueinander. Ich kenne keinen einzigen der Namen und kann mir nicht vorstellen, was sie zu bedeuten haben, es sei denn, es seien illustre Gäste des Hotels, aber dann würde man doch den einen oder anderen Namen kennen.

In dem Café auf der Terrasse vor dem Hotel sitzen nur Touristen, und im Golden Gate etwas weiter ebenfalls. Das erinnert mich an eine Szene während der Stadtführung, als die Führerin fragte, ob jemand dort gegessen habe. Sie höre immer unterschiedliche Stimmen dazu. Sie selbst sei noch nie dort gewesen, das seien Preise, die sich Portugiesen nicht leisten könnten. Dass sie das mit leicht trauriger Intonation sagt – das kann man verstehen.

Ich gehe zurück Richtung Hotel und komme dann zur Velha Cabra. –auf dem Weg dahin fällt mein Blick zufällig in eine Gasse, die von der Rúa 5 Outubro abgeht und die so schmal ist, dass sie der Gasse irgendwo in England Konkurrenz machen kann, die sich „die engste der Welt“ nennt. Diese hier heißt ausgerechnet Beco da Princesa. Man muss wohl seitwärts gehen, um ans andere Ende zu kommen.

Auch nicht schlecht der Name der Straße, in der die Velha Cabra liegt: Rúa das Dificuldades. Wie wohl so ein Name zustande kommt?

Diesmal ist es überhaupt nicht voll in dem Lokal, ganz im Gegenteil, am Anfang bin ich der einzige Gast. Dann fällt es sich allmählich, wieder kommen nur Einheimische.

Es beginnt mit einer portugiesischen Unsitte, aber die ist das einzige Manko. Alles andere ist einfach nur gut. Die Unsitte besteht darin, dass man ungefragt etwas serviert bekommt, als Entrada, das aber nicht auf Kosten des Hauses geht, sondern bezahlt werden muss. In diesem Fall sind es Oliven und Brot. Aber das kann man in Kauf nehmen. Ich brauche Erklärungen für die ungewöhnlichen Namen auf der Speisekarte, aber die Kellnerin macht das gut. Ich wähle ein Gericht namens Zeca – ein Gedicht! Es ist ein dickes Steak, noch rosa, ganz zart, sehr pikant, das sich unter einer Scheibe Schinken und einem Spiegelei verbirgt. Die Soße ist so gut, dass damit sogar die stinknormalen Pommes frites bestens schmecken. Dazu gibt es Rotwein. Und das alles zu passablen Preisen.

An der Wand hängt ein Bild mit einer leeren Weinflasche, auf der steht: Toda garrafa vazia está cheia de histórias.

An der anderen Wand hängen gedruckte Schilder, bei denen ich erst an Gerichte denke. Aber es sind Sinnsprüche, in denen immer die velha cabra die alte Ziege vorkommt. Um die zu verstehen, muss man mehr von Portugal wissen.

Im Fernsehen sieht man, wie in Lissabon die Leute im Regen in der Schlange vor den Teststationen stehen, teils stundenlang, wie es heißt. Die Wetteraussichten für die nächsten Tage verheißen nichts Gutes: Regen und Sturm. Jedenfalls für das Festland.

25. Dezember (Samstag)

Die ganze Nacht über hat es heftig geregnet, so heftig, dass ich immer wieder aufgewacht bin. Und noch am frühen Morgen sehe ich einzelne Spaziergänger mit dem Schirm durch die dunklen Straßen gehen.

Heute probiere ich die Papaya, die ich wild wachsend aus Kuba kenne, wo sie aber nicht papaya heißt, weil das als unschicklich gilt. Schmeckt gut, aber man hat am Ende durch die dicke Schale und die unzähligen Samen eine Menge Abfall.   

In der Biographie von Mariza gelesen: Der Fado war, als eins der drei F – Fado, Fußball, Fatima – in Portugal nach der Nelkenrevolution verpönt. Er wurde mit Salazar und dem Estado Novo assoziiert, der geschickt den Fado und vor allem seine exponierteste Sängerin, Amália Rodrigues, für seine politischen Inhalte und sein Bild von Portugal instrumentalisiert hatte. Jetzt galt der Fado als ein Teil der Vergangenheit, als aussterbendes Genre. Portugal sollte sich der Zukunft zuwenden und sich dem Fortschritt verschreiben.

Am Radio gehört: Aufgabe des Generalsekretärs einer Partei in der Öffentlichkeit ist es, möglichst nichts zu sagen. Beispiel: Generalsekretär wird gefragt, was für ein Wochentag heute ist. Antwort: „Es gibt verschiedene Wochentage, sieben verschiedene, jeder ist anders, jeder hat seine Besonderheiten, und wir sollten uns bemühen, an jedem das Beste für unser Land zu erreichen.“

Als ich aus dem Haus gehe, bescheint die Sonne, über dem Meer stehend, die regennassen Straßen. Sieht verheißungsvoll aus, aber sobald ich am Stadtrand bin, verzieht sich die Sonne wieder und es fängt an zu nieseln.

Mein Ziel ist Cámara de Lobos. Darauf haben mich die Engländer von der Stadtbesichtigung gebracht. Als ich sie fragte, wie sie denn dahingekommen seien, sagten sie „We just walked.“ Kann man sich ein Beispiel dran nehmen.

Die Strecke bis zu dem Platz mit Heinrich dem Seefahrer ist inzwischen vertraut, aber dann geht es immer weiter stadtauswärts. Hier war ich noch nie.

Unterwegs sehe ich ein Plakat mit Werbung für ein ethnographisches Museum, in einem anderen Ort. Auf dem Plakat sieht man die niedrigen Häuser mit dem weit heruntergezogenen Satteldach, die typisch für Madeira sein sollen.

Jetzt, wo ich ihn nicht mehr brauche, stoße ich auch auf einen Briefkasten. Die Briefkästen hier ähneln den englischen.

Direkt am Stadtrand beginnt das eigentliche Hotelviertel. Dagegen ist das, was ich dieser Tage am östlichen Stadtrand gesehen habe, gar nichts. Hier stehen riesige Bauklötze in der Gegend herum, zu beiden Seiten der breiten Straße, und zwischendurch auch immer mal, hinter einem gepflegten Garten, ein Luxushotel. Kein Wunder, dass der Reiseführer vermeldet, von insgesamt 35.000 Hotelbetten Madeiras befänden sich zwei Drittel in Funchal.

Hier gibt es Eisdielen und Pizzerien, Pubs und Bäckereien mit englischen Namen, Reisebüros und Autovermietungen – und Engländer in kurzen Hosen. Wer hier seinen Urlaub verbringt, muss ein merkwürdiges Stück Portugal mit nach Hause nehmen.

Auf der Höhe des Pestana, eines edlen Hotels, sehe ich etwas entfernt liegend einen großen modernen Bau, ganz in Weiß, mit Betonrippen auf allen Seiten. Es kommt mir wie ein Velodrom vor, aber falscher konnte ich gar nicht liegen: Es ist das Casino von Funchal, von Niemeyer erbaut, schon in den sechziger Jahren!

Die Hotels nehmen gar kein Ende mehr, und nach mehr als einer Stunde habe ich immer noch nicht das Ende des Hotelbezirks erreicht. Dann kommt endlich Grün in Sicht. Eine Augenweide. Allerdings ist die Gegend, wie immer in Portugal, ganz schön zersiedelt.

Das letzte Stück geht es direkt an der Küste entlang. Es ist sehr windig, das Meer rauscht, die Wellen rollen auf das schwarze Gestein zu, die Gischt spritzt in die Höhe. Und dann zeichnet sich über der Bucht plötzlich ein riesengroßer Regenbogen ab.

Dann kommt Cámara de Lobos. Größer als ich dachte. Meiner Vorstellung von einem „Fischerdorf“ entspricht es nicht unbedingt.

Der Name Cámara de Lobos bedeutet nicht das, was er zu bedeuten scheint, hat weder was mit Wölfen noch mit einer Kammer zu tun, sondern bezieht sich auf Robben, die hier in einer Höhle Unterschlupf fanden.

Cámara de Lobos hat einen gewissen Bekanntheitsgrad erhalten, weil Churchill hier irgendwann seinen Urlaub verbrachte und die Landschaft malte. Bis eine plötzliche Parlamentswahl ihn unerwartet wieder nach England zurückrief.

Die Cafés am Hafen haben alle geöffnet. In einem, unter den Sonnenschirmen sitzend, die die Regentropfen abhalten, bekomme ich einen ausgezeichneten Milchkaffee und dazu ein leckeres Stück Kuchen. Die Kellnerin muss seinen Namen dreimal nennen, bis ich ihn verstehe: Pudim Maracujá. Geschrieben keine Schwierigkeit.

Auf dem Rückweg merke ich, dass ich ein ganzes Stück länger an der Küste entlang laufen kann. Aber die Strafe folgt auf dem Fuß: Irgendwann ist der Weg zu Ende, und es beginnt der Aufstieg zur Hauptstraße.

Hier ist jetzt allerhand Volks unterwegs, die Engländer sind aus ihren Betten gekrochen. Je näher ich Funchal komme, umso wärmer wird es. Und umso müder werden meine Beine. Am Ende ist es aber geschafft. Nach fünf Stunden lande ich wieder im heimatlichen Hafen.

26. Dezember (Sonntag)

Bei Frühstück wird am Nebentisch Ukrainisch gesprochen. In der Innenstadt sieht man gelegentlich russische Reisegruppen. Französisch hört man nur ganz vereinzelt, und Chinesen, Japaner und Koreaner sieht man gar nicht. Ob es an Covid liegt? Oder haben sie Madeira noch nicht entdeckt?

Das mit den Straßenschildern in Portugal ist ein Ärgernis, schon immer, aber heute bekomme ich es doppelt und dreifach zu spüren. Die Straßennamen sind, wenn man Glück hat, an den Außenmauern der Häuser angebracht, aber meistens hat man kein Glück. Die meisten Schilder existieren einfach nicht.

Ich will zur Quinta de Boa Vista, hoch über Funchal gelegen, aber gar nicht so weit. Ich unternehme einen Anlauf nach dem anderen. Die Tatsache, dass die Karte des Reiseführers nicht mit dem des Touristenbüros übereinstimmen und keine von beiden mit der Wirklichkeit macht es nicht leichter. Verschiedene Male lande ich an einem Platz, von dem verschiedene Straßen abgehen, alle nach oben, aber keine davon ist die, die ich brauche. Mehrmals begegne ich verloren aussehenden Ehepaaren mit einem Stadtplan in der Hand. Sie suchen vermutlich dasselbe.

Irgendwann bin ich dann aber doch richtig, aber zufällig. Und ich merke es nicht an dem Straßenschild, sondern an dem Namen des Cafés, das seinen Namen von der Straße hat: Café do Conde Carvalhal. Es geht immer weiter steil aufwärts, und schließlich gelangt man zu der Quinta.

Bei der Quinta handelt es sich um ein Landgut (in englischem Privatbesitz) mit einem überwiegend verwilderten Park. Hier wächst alles, so wie es kommt. Man sieht irgendwo auch Gewächshäuser, aber es ist nicht so recht klar, ob da in den letzten Monaten noch mal jemand drin gewesen ist. Und das einzige Haus, das man weit und breit sieht, und das durchaus einen gewissen Charme hat, sieht verlassen aus. Der Zugang zur Orchideenzucht, lange vorher angekündigt, ist mit zwei Brettern provisorisch versperrt, und von der Gartenterrasse und dem Café mit Ausblick, von denen im Reiseführer die Rede ist, ist weit und breit nichts zu sehen.

Unverrichteter Dinge trete ich den Rückweg an und mache Halt für einen Kaffee im Café do Conde Carvalhal. Für einen Milchkaffee und ein Glas Wasser berechnet man hier einen Euro. Da weiß man gar nicht, wie viel Trinkgeld man hinterlassen soll. Alles ist irgendwie zu wenig oder zu viel.

Dann mache ich mich auf die Suche nach einem ebenfalls im Reiseführer empfohlenen Lokal in der Rúa da Praia. Ich mache fast ein Dutzend Versuche, immer wieder helfen mir Leute, indem sie ihr Handy zücken, aber immer wieder führt der Weg in die Leere. Manche versuchen es auch ohne Handy, aber sie haben offensichtlich keine Ahnung, wo die Straße ist, beschreiben den Weg aber ohne jedes Zögern. Komisch, dass eine so zentral gelegene Straße so unbekannt ist. Als Orientierungspunkte habe ich die Kathedrale und das Zuckermuseum, aber alle Straßen in dieser Gegend haben andere Namen oder gar keinen.

Am Ende, als es schon fast zu spät ist, was zum Essen zu bekommen, lande ich in einer einfachen Bar, in der es einfach etwas gegen den elementarsten Hunger gibt. 

Kein sehr gelungener Urlaubstag, aber einer, an dem die Wolken das Nachsehen haben und die Sonne endlich mal so richtig zu ihrem Recht kommt.

27. Dezember (Montag)

Ein feuerroter Himmel über dem Meer, vom Frühstücksraum aus zu sehen. Nach ein paar Minuten hat der Himmel sich völlig verändert. Dicke schwarze Wolken mit ein paar Lücken zu einer Seite, zur anderen weiße, blaue und schwarze Streifen.

Das Museum Francisco Franco hat nicht nur geöffnet, der Eintritt ist sogar gratis. Es ist eigentlich ein Museum für das Brüderpaar Franco, der eine, Henrique, Maler, der andere, Francisco, Bildhauer. Das Museum ist in einem Rundbau untergebracht, mit einer Säulenreihe vor dem halbrunden Eingang.

Die Bilder von Henrique Franco (1883-1961) sind drei Gattungen zuzuordnen: Stillleben, Landschaften, Porträts. Alle gefallen mir außerordentlich gut. In einer Zeittafel sieht man, dass er auch eine Zeitlang über Malerei publiziert hat, aber alle Aktivitäten enden um 1940. Da hatte er noch zwanzig Jahre zu leben. Auf einem Photo sieht man ihn im Kollegium der Schule, die heute den Namen seines Bruders trägt.

Die Stillleben, vom Jahrhundertbeginn, wirken sehr modern: grobe Pinselstriche, wenige Objekte, keine klaren Konturen, dunkle Farben, kleine Formate. Die Landschaften, meist Aquarelle, sind heller, wenn auch Pastellfarben überwiegen, aber immer gibt es irgendwo auch einen roten Farbtupfer. Das Thema ist immer Madeira. Es gibt keine spektakulären Ansichten, kein wildes Meer, keine Schluchten, sondern Alltagsansichten. Die Häuser und die Felder wirken leicht kubistisch. Es geht nicht um die Details, sondern um die Form. Und um die Atmosphäre. Die wird perfekt eingefangen. Menschen sind gar nicht abgebildet. Die Porträts, Frauen wie Männer, zeigen ernste Gesichter, bei den Frauen auch manchmal eine verborgene Traurigkeit. Es gibt auch zwei Selbstporträts. Auf denen sieht er eher wie ein Gelehrter als wie ein Künstler aus. Der Gesichtsausdruck ist nachdenklich.

Alles ist auf einer Ebene ausgestellt, in vier, fünf unterschiedlich zugeschnittenen Räumen. Die Wände sind in dunklem Rot und dunklem Grün gehalten, und die Bilder kommen vor diesem Hintergrund gut zur Wirkung. Im Hintergrund läuft ganz leise Klaviermusik von Beethoven. Die stört aber nicht.

Von Francisco Franco (1885-1955) sind vor allem Büsten dargestellt. Er hat auch große Standbilder geschaffen, aber die haben ihren Platz draußen geschaffen, auf Plätzen und in Parks. Ein Teil der Ausstellung widmet sich der Zarco-Statue hier in Funchal. Auf Photos sieht man den Fortgang der Arbeiten im Atelier und die Errichtung der Statue. Daneben ist eine Vorarbeit in Gips ausgestellt. Da sieht man mehr Details als draußen, zum Beispiel die Haltung der Hände. Die eine Hand klammert eine Waffe oder ein Instrument vor der Brust fest, die andere stützt sich auf einen Baumstumpf oder Ähnliches. Auch die Details der mehrschichtigen Kleidung kann man erkennen.

Die Büsten sind aus Bronze, dunkel, glatt. Beim näheren Hinsehen entdeckt man, wie genau sie gearbeitet sind, wie bei der Büste eines Universitätsprofessors: das wallende Haar, die kleine Mulde am Kinn, die nicht ganz gerade Nase, die Falten auf der Stirn und um die Mundwinkel, der halb geöffnete Mund.

Auf der Zeittafel sieht man, dass Francisco Franco, genauso wie sein Bruder, Stipendien bekommen und außerhalb von Madeira studiert und gearbeitet hat, der eine in Madrid und Paris, der andere in Lissabon und Paris. Francisco Franco war auch auf verschiedenen internationalen Ausstellungen vertreten.

Zu den Porträtierten gehört auch Salazar. Er ist einmal als Gipsstatue vertreten, in vollem Ornat, nicht als Politiker, sondern als Gelehrter. Und mit einer Bronzebüste. Bei beiden fällt der etwas zusammengekniffene Mund auf. Welches Verhältnis der Künstler zu Salazar hatte, kann man hier nicht herausfinden.

Interessant ist ein Flachrelief in Gips, das die ganze Breite einer Wand einnimmt. Es stellt die zwölf Apostel dar, mit Jesus in der Mitte. Man kann alle möglichen Insignien erkennen: Schlüssel, Kreuz, Buch, Schwert,  Muschel, Säge. Alle haben längliche Gesichter und einen sehr nachdenklichen Gesichtsausdruck. Das Relief ist eine Vorstudie für das Portal einer Kirche in Lissabon. Müsste man sich mal vor Ort ansehen.

Während der ganzen Zeit bin ich in dem Museum der einzige Besucher gewesen. Schade, das Museum hätte mehr Aufmerksamkeit verdient.

In einem kleinen Café mache ich eine Pause bei einer Tasse Kaffee. Ich frage nach etwas Süßem dazu, will wissen, ob die queijada de casa zum Kaffee passt und süß ist. Die Kellnerin zögert, na ja, so süß nicht, passt aber zum Kaffee. Es stellt sich dann heraus, dass sie wirklich sehr, sehr süß ist. Unsere Begriffe von dem, was süß ist, scheinen sich zu unterscheiden.

Dann geht es noch einmal zu ein paar Besorgungen in den Ramschladen, O Bazar do Povo. Die Preise sind hier wirklich sensationell günstig.

In der Touristeninformation erfahre ich, dass man Busfahrkarten immer im Bus kauft. Und ich erfahre, wie ich zum Nini Andrade Silva komme, dem Design-Museum, einer modernen portugiesischen Designerin. Die Frau warnt mich aber: Montags seien alle Museen geschlossen. Davon lasse ich mich nicht beeindrucken, denn ich komme ja gerade von einem geöffneten Museum.

Das Nini Andrade Silva liegt gar nicht im Zentrum, wie ich dachte, sondern weit draußen am Stadtrand, am Hafen, auf der anderen Seite der Bucht, an  der westlichsten der drei Festungen, genau gesagt, darauf. Ein schwarzer moderner Kubus hoch oben auf der Festungsmauer.

Als ich auf das Gelände komme, habe ich das Gefühl, hier stimmt was nicht, ich komme in eine völlig verlassene Zone, mit Schranken und einem Verbot des Durchgangs für Fußgänger. Ich drehe um und irre an der Festungsmauer entlang, ohne rauszubekommen, wie ich zu dem Museum raufkommen kann. Am Ende passiere ich ein Gitter und stehe vor dem fest verriegelten Eingang. Dem Schild an dem Gitter zufolge ist das Museum täglich ab 11 Uhr geöffnet.

Es geht zurück in die Stadt und wieder auf die Suche nach der Rúa da Praia. Wieder viel Rätselraten, ein paar halbherzige Auskünfte, nichts Brauchbares. Dann frage ich einen uniformierten Mann in einer Art Kaserne. Der Grüßt militärisch, indem er die Hand an die Mütze hebt. Er ist sehr höflich, spricht klar und deutlich, weiß genau Bescheid und gibt eindeutige Instruktionen. Am Ende fragt er noch, was ich denn da suche: Das Restaurante O Avô. Ja, das sei da, auf der linken Seite. 

Ich finde es sofort, aber es ist natürlich geschlossen. Öffnungszeiten nicht angegeben. Es ist ein niedriges, hübsches Häuschen mit viel Dekoration an der Fassade und den Fenstern, darunter eine Schnitzfigur von Oma und Opa, drei Weinfässer und Sticker von Chelsea, Hansa Rostock, vom HSV und von 1860. In einer zweisprachigen Mitteilung heißt es, der Besitzer sei leidenschaftlicher Sammler von Fußballschals, aber er sei gerade erst wieder beim Neuaufbau, da die alte Sammlung fast völlig einem Unwetter zum Opfer fiel. Den Namen des Lokals, unscheinbar in Schiefer auf Schiefer angebracht, kann man angesichts all der Dekoration leicht übersehen. So muss es mir gestern ergangen sein. Ich bin hier mehr als einmal vorbeigekommen, ohne das Lokal zu sehen. Jetzt gehe ich noch einmal die schmale Gasse auf und ab, und tatsächlich: Die Straße hat keinen Namen, oder zumindest kein Schild, das den Namen trägt.

Als ich weitergehe, sinniere ich noch über den Namen des Lokals nach. Er bedeutet ‚Der Großvater‘, am Artikel leicht zu erkennen. Ohne Artikel ist die Sache komplizierter: avô und avó, ‚Großvater‘ und ‚Großmutter‘, unterscheiden sich nur minimal, in Schreibweise und Aussprache.

Ich versuche mein Glück bei Londres auch ein Tipp aus dem Reiseführer.  Auch hier habe ich schon zweimal vor verschlossenen Türen gestanden. Heute ist es aber geöffnet. Ein länglicher Raum, ohne ästhetische Ambitionen, rappelvoll, lauter Einheimische. Ich habe Glück, noch einen Platz zu ergattern. Kurz danach bildet sich eine Warteschlange vor dem Lokal.

Die Kellner sind, bis auf die Kellnerin, die mich in Empfang nimmt, nicht sonderlich freundlich, aber sehr effizient. Wasser, Wein, Oliven und Bohnen – kalte, eingelegte fabas – stehen auf dem Tisch, kaum, dass ich mich gesetzt habe. Die Bohnen sind phantastisch. Dann gibt es einen Fleischspieß. Der wird an einer eisernen Vorrichtung hängend serviert. Darunter steht ein Teller, der den herunterlaufenden Saft des Fleischs aufnimmt. Mit Reis und Salat ist das eine üppige Mahlzeit. Den Salat muss man auch hier selbst anmachen. Dazu bekommt man kleine Tütchen mit Öl und Essig und ein winziges Tütchen Salz. Das scheint hier in Madeira keine Ausnahme zu sein.

Später lese ich in der Biographie von Mariza, dass sie ihren Namen bekam, weil er dem Vater gefiel und obwohl die Mutter von dieser Wahl nicht sonderlich begeistert war. Sie wusste, wie sie später mit einem süffisanten Lächeln anerkannte, dass er in Brasilien die Sängerin Marisa Gata Mansa kennengelernt hatte und ein großer Bewunderer von ihr war. Ins Geburtsregister in Mosambik wurde der Name Mariza eingetragen, aber nach der Auswanderung nach Portugal musste die Schreibweise in Marisa abgeändert werden. Die portugiesischen Behörden akzeptierten Mariza nicht. Als dann ihre Karriere als Fado-Sängerin begann, kehrte sie zu der alten Schreibweise zurück und wurde als Mariza bekannt.

28. Dezember (Dienstag)

Erst heute erinnere ich mich daran, dass ich gestern, auf der Suche nach dem Nini Andrade Silva, weit draußen am Hafen, zum ersten Mal an dem Museum CR7 vorbeigekommen bin. Es gilt auf den einschlägigen Foren im Internet als das beste Museum Funchals, obwohl auch die Enthusiasten sagen, dass es hier nicht viel mehr als Pokale zu sehen gibt.

In einem brasilianischen Kinderbuch lese ich, wie der Zézé, der Protagonist, ein kleiner Junge aus einer armen, kinderreichen Familie in Kontakt kommt zu einem älteren, aus Portugal stammenden Mann. Sie machen gemeinsame Unternehmungen und werden immer vertrauter miteinander. Irgendwann hat Zézé etwas auf dem Herzen, aber so richtig will er nicht mit der Sprache heraus. Aber der Mann, den er Portuga nennt, ermuntert ihn und schließlich fasst Zézé sich Mut. Er fragt, ob er zu Portuga você sagen dürfe. Bisher hat er, wegen des Altersunterschieds und der gesellschaftlichen Stellung Portugas, senhor gesagt, was im Portugiesischen auch eine Form der Anrede ist. Portuga ist sofort einverstanden und sagt ihm, er könne auch tu sagen. Das ist die Form, die er selbst Zézé gegenüber gebraucht. Das will Zézé aber nicht. Das ist ihm zu vertraulich. Später erzählt er seiner geliebten Lehrerin davon, und die sagt ihm, das sei eine gute Entscheidung gewesen, denn um tu zu gebrauchen, müsse man „ganz viel Grammatik“ kennen. Das erklärt sie nicht weiter, aber was sie damit meint, ist klar: Wenn man senhor oder você gebraucht, ändert sich an den Formen nichts. Man gebraucht in beiden Fällen die 3. Person, sowohl bei den Verben als auch bei den Pronomen. Für jedes Verb müsste man also in jeder Zeit eine neue Form lernen, denn die 2. Person ist in Brasilien praktisch unbekannt. Sie existiert sozusagen gar nicht. In Portugal ist das anders. Da wird die 2. Person in der vertrauten Anrede gebraucht, zumindest im Singular, genauso wie im Deutschen. Portuga ist damit vertraut, weil er aus Portugal stammt.

Heute soll es nach Curral das Freiras gehen, mit einem ganz normalen Linienbus, der 81. Die fährt unten an der Uferpromenade ab. Ich gehe noch im Morgengrauen los, als der Bus abfährt, um halb neun, ist es Tag geworden.

Neben mir ist anfangs nur ein Passagier in dem großen Bus vertreten, im Laufe der Fahrt kommen vereinzelt noch welche dazu. Der Bus ist alt und laut und fährt mit Diesel – im Unterschied zu einigen sehr modernen, elektrobetriebenen des Zentrums. Der Motor heult bei jeder Beschleunigung laut auf. Es geht bergauf, beständig, immer und immer weiter bergauf, und der Fahrer gibt ordentlich Gas. Nur die Schwellen an den Fußgängerübergängen bremsen ihn gelegentlich ab.

Es geht ein Stück Richtung Cámara de Lobos. Auffallend auch hier die Sauberkeit. Schon jetzt sind wieder Arbeiter unterwegs, die jedes weggeworfenen Papierschnitzel und jedes heruntergefallene Blatt auflesen.

Dann biegen wir rechts ab. Erst geht es durch Wohnviertel, auf schmalen, geraden Straßen, dann, außerhalb der Stadt, winden sich die Straßen zwischen den Bergen immer weiter nach oben. Hier gibt es kaum noch Gegenverkehr. Aber die Bebauung lässt nicht nach: auf den Gipfeln, in den Tälern, an den Berghängen, überall stehen Häuser. Wie haben die Portugiesen es nur geschafft, ihr Land so zu zersiedeln?

Dann verschwindet die Bebauung doch für eine Zeit. Es geht durch einen Wald, mit Bäumen zu beiden Seiten der Straße, sehr gemischt, Eukalyptus und Kastanien und Palmen und Pinien und noch viel mehr.

Dann kommen wir in Curral das Freiras an. Hier ist es merklich kälter. Es ist noch nicht viel los. Der erste Eindruck ist eher enttäuschend. Es gibt zwar ein paar wirklich schöne Blicke auf die hohen Berge rauf und ins tiefe Tal runter, aber als „Gesamtkunstwerk“ der Natur geht das nicht durch. Der Ort selbst ist nicht sonderlich schön, wohl aber mit Gastronomie und Souvenirgeschäften auf Touristen eingestellt.

Ich gehe erst einmal in einem schäbigen Café einen Kaffee trinken, denn das Frühstück ist heute ausgefallen. Eine vernünftige Entscheidung. Hier läuft der Fernseher, und in den Nachrichten ist von Chaos an den Teststationen am Flughafen die Rede.

Curral das Freiras ist der ‚Nonnenpferch‘. Es hat seinen Namen von den Nonnen, die sich hier, jenseits von Gut und Böse, niederließen. Es war ein Ort, in dem sich der Anbau von Zucker und Bananen nicht lohnte, weil die Transportwege so schlecht waren. Die Nonnen verlegten sich auf die Anpflanzung von Obstbäumen und Nussbäumen. Aus den Produkten machten sie Kuchen und Likör. Das gibt es jetzt alles hier in den Souvenirläden.

Der Charme von Curral das Freiras lag wohl besonders in seiner Abgeschiedenheit. Erst seit 1962 gibt es hier Strom, und erst seit 1985 Fernsehen.  

Ich gehe ein bisschen durch den Ort und sehe mir kurz die Kirche und den Friedhof an. Zwischen all den etwas heruntergekommenen Häusern des Dorfes steht eine erstaunlich moderne Bücherei.

Die Schulkinder haben auf Brettern Zeichnungen mit Weihnachtsmotiven angefertigt, mit Wünschen in verschiedenen Sprachen, darunter God Jul!

Ich gehe die Landstraße runter, in der Funchal entgegengesetzten Richtung. Es geht steil bergab. Der eine Berghang liegt in der Sonne, der andere im Schatten. Dann kommt ein Wanderweg, aber ich merke bald, dass man dafür besser ausgerüstet sein muss. Also gehe ich die Landstraße runter bis zum nächsten Dorf. Man blickt auf die schwarzen Schlangenlinien der Straße runter, auf der der Bus sich hochgequält hat. Auch hier Häuser soweit man blickt, in jeder Richtung. Am Straßenrand hat jemand an einem Bergabhang seine Waschmaschine entsorgt. Dann kommt der mühsame Rückweg ins Dorf.

Der Bus für den Rückweg ist noch älter als der von vorher. Auch die Strecke ist eine andere, und es stellt sich heraus, dass der Rückweg das eigentliche Highlight des Ausflugs ist. Völlig unerwartet. Diesmal hat man den Eindruck, in einer richtigen Gebirgslandschaft zu sein. Man hat während der kurvenreichen Fahrt spektakuläre Blicke auf die schroffen Felsen hinauf und in die tiefen Täler hinein, die manchmal sogar unter den Wolken verschwinden. Es geht mehrmals durch kurze Tunnel, und immer wieder tun sich neue Ausblicke auf. Bis nach Eira do Serrado, wo es einen Aussichtspunkt gibt, auf mehr als 1.000 Meter Höhe gelegen, geht es bergauf, dann schwindelerregend runter. Manchmal möchte man hinsehen und traut sich kaum. Allerbestes Sightseeing, und das für 3,35 €! Eher zufällig hat sich der Ausflug doch noch gelohnt.

Später habe ich noch die Gelegenheit, mir das Design-Museum anzusehen. Nini Andrade Silva ist eine renommierte Designerin, aber das „Museum“ ist nur eine Ansammlung von Einzelstücken, deren wichtigster Zweck es ist, die Leute hier rauf und ins Restaurant zu locken.

Einige der Objekte sind wirklich formschön, aber die große Kreativität kann ich darin nicht entdecken, und an den praktischen Nutzen mag man schon gar nicht denken. Immer wieder kommen rundliche Formen vor, zum Beispiel bei einem steinernen Sofa, das die Form einer Düne aufnimmt. Ganz wichtig ist der Kieselstein als Motiv. Er kommt als Tisch wie als Stuhl vor. Auffallend eine portugiesische Gitarre, in Schwarz und Weiß, zusammen mit den Gitarristen entworfen.

Man kann hier oben einmal außen herumgehen und blickt hinten aufs offene Meer, an der anderen Seiten in den Hafen mit den Kreuzfahrtschiffen, darüber der Felsen mit den ganz oben thronenden Casino und zur Seite die Berghänge mit den Vororten Funchals.

Der eigentliche Clou aber ist das Gebäude, und das sieht man am besten von der Uferpromenade aus. Der obere Teil der Festungsmauer ist nur halb erhalten und wird ergänzt mit einer modernen Betonwand, auf der der Name des Museums steht. Noch weiter drüber das Restaurant mit Glas und schwarzen Stahlstreben. Und dahinter der schwarze Kubus. Das sieht toll aus.

Auf dem Rückweg sehe ich an der Strandpromenade eine moderne Skulptur, das Denkmal für den madeirischen Auswanderer. Er liegt auf dem Rücken und stemmt einen Globus in die Höhe.

Daneben eine Palme mit unzähligen, kleinen Früchten, immerzu einer Art Paket zusammengeschnürt.

Vor der Zarco-Statue eine Blaskapelle in Aktion. Klingt gut, wie eine Mischung aus Swing und Volksmusik. Dann kommt „Hey Jude“ und dann „Eres tú“ und dann noch mal ein portugiesisches Stück. Vor allem im Finale, wenn alle Instrumente gleichzeitig zum Einsatz kommen, ist die Wirkung toll.

Die Musiker tragen eine dunkelblaue Uniform mit einem Wappen auf dem Revers. Trotz der fast völligen Abwesenheit der Sonne trägt die Hälfte eine Sonnenbrille. Die jungen, meist weiblichen Musiker spielen Klarinette oder Fagott oder Trompete, die älteren, meist Männer, sind für Tuba, Posaune und Perkussion zuständig. Ein Saxophonist versucht sich am Multitasking, indem er während einer Spielpause für ihn sein Handy betätigt und gleichzeitig singt. Es klappt aber nicht. Er kommt mit dem Singen nicht mehr nach.

Am Abend lande ich in der Taberna da Sé in einer schmalen Gasse in der Nähe der Kathedrale, angelockt von der Ankündigung auf einer Tafel, es gebe Kaninchen. Das gibt es dann aber gar nicht. Ich bleibe trotzdem. Das Essen ist mittelmäßig und teuer, aber der Wein ist gut (Paço do Conde aus dem Alentejo), der Nachtisch ausgezeichnet (ein Kuchen mit einer Zimtschicht oben drauf) und der Kellner sehr freundlich.

Aus der stillen Gasse komme ich auf den belebten Platz mit der Zarco-Statue. Hier ist irgendwas los. Dann sehe ich, dass zu beiden Seiten der Arriaga Zuschauer stehen und klatschen. Es findet ein Volkslauf statt. Ich stelle mich dazu und klatsche auch. Und nehme mir vor, beim nächsten Mal unter den Läufern und nicht unter den Zuschauern zu sein.

29. Dezember (Mittwoch)

Beim Verlassen des Museums fällt mir das Schild am Ausgang auf: Apenas saída. Das würde im Spanischen keinen Sinn ergeben.

Ich gehe noch in die Jesuitenkirche. Außen nicht nüchtern, aber auch nicht überladen, klar gegliedert, mit den typischen Elementen, die man bei einer Jesuitenkirche erwartet: drei Geschosse, fünf Bahnen, zwei Türme, die nicht höher als die Fassade sind, im Zentrum das Emblem der Jesuiten und in den Nischen die klassischen Heiligen der Jesuiten, darunter Franz Xaver, mit erhobener rechter Hand, der Zeigefinger auf ihn weisend. Laut Lisa, der Reiseführerin, ist das die älteste Abbildung eines Selfies.

Drinnen werden alle Erwartungen (oder Befürchtungen) übertroffen: Kein Quadratmeter ohne Dekoration, alles mit Fresken, Gemälden, Fliesen, Kanzeln, Pfeilern und Altären – und überall Gold.

Was mir gefällt ist das Deckengemälde, in Trompe-l’oeil-Technik auf das Tonnengewölbe aufgetragen. Eine architektonische Malerei, die Kuppeln, Nischen, Fenster, einen Säulengang vortäuscht, so als wenn es ein dreidimensionaler Raum wäre.

Immer wieder stolpere ich über bifana und prego und frage mich, was der Unterschied ist. Die beste Antwort im Internet lautet: bifana wird mit Schweinefleisch gemacht, prego mit Rindfleisch. Beide werden zwischen Toastscheiben serviert. Die bifana ist in Portugal so beliebt, dass McDonalds hier einen McBifana lanciert hat. Im Übrigen merke ich jetzt, dass ich hier während der ganzen Zeit keine einzige der einschlägigen amerikanischen Imbissbuden gesehen habe. 

Noch schwerer ist es, den Unterschied zwischen torrada und tosta herauszufinden. Es gibt alle möglichen Erklärungen, darunter die, dass die beiden Wörter austauschbar seien. Aber warum sieht man dann auf Speisekarten manchmal tostada und tosta nebeneinander? In dem kleinen Café, in dem ich am Mittag lande, gibt es beides. Hier ist die torrada süß, wird mit Honig, Banane oder Butter serviert, die tosta mit Tomate, Käse oder Thunfisch.

Hier bekomme ich eine gehaltvolle Gemüsesuppe, mit Möhren, Kartoffeln, Bohnen, Speck und wohl auch den altbekannten grelos, die mich in Viavai so verfolgt haben. Außerdem sind noch süßlich schmeckende, gelbe Stücke in der Suppe, und auf Anfrage erfahre ich von der Kellnerin, was das ist: Süßkartoffel. Hätte ich nicht identifiziert.

Am Nachbartisch bestellt ein altes deutsches Ehepaar seine Kaffee auf Portugiesisch: einen Milchkaffee, galão, für sie, für sie, einen chinesa für ihn. Da muss ich erst nachgucken, was das ist. Wohl eine Art portugiesischer Cappuccino.

Ich gehe noch einmal zur Uferpromenade runter. Funchal hat es im letzten Moment gut mit mir gemeint und schickt mich mit ein paar Sonnenstrahlen nach Hause. Und zu Hause sind die Temperaturen gestiegen, der Kälteschock wird sich also in Grenzen halten.