Madrid (2022)

28. Februar (Montag)

Madrid ist groß. Aber das für den Touristen interessante Gebiet ist ganz überschaubar. Es liegt zwischen dem Palacio Real im Westen und dem Parque del Retiro im Osten. Wenn man die Gran Via als quer verlaufende Trasse im Norden und die Ronda de Toledo als deren Pedant im Süden dazu nimmt, erhält man ein unregelmäßiges Rechteck, innerhalb dessen die meisten Sehenswürdigkeiten liegen. Mein Hotel, das Ganivet, liegt noch gerade innerhalb dieses Rechtecks, am linken unteren Rande, ganz in der Nähe der Puerta de Toledo. Die war gestern Abend bei meiner späten Ankunft angestrahlt und ein guter Orientierungspunkt.

Die Puerta de Toledo, aus grauem Granit errichtet, ist eher ein Triumphtor als ein Stadttor im herkömmlichen Sinne, so wie es ihre beiden Vorgänger waren. Das Tor hat drei Öffnungen, eine für Kutschen, zwei für Fußgänger. Bekrönt wird es von zwei Figurengruppen, von denen eine Spanien, die andere die Wissenschaften darstellt. Das Volk wird von einer Frau mit Kind dargestellt, die sich an Spanien wendet. Alle möglichen Zutaten ergänzen das Bild: eine Frucht, ein Farbpalette, ein Hammer, ein Kapitell und Bücher, Füllhorn, Kanonen, Trommeln.

Ich mache mir die zentrale Lage des Hotels zunutze und gehe zu Fuß die Calle de Toledo rauf Richtung Stadtmitte. Etwas unvermittelt steht zwischen den Wohnhäusern ein Monument für Fernando VII, der Inschrift zufolge „El Ansioso“, „Der Begehrte“. Das war er aber nur, solange er im Ausland war und man das Ende der Franzosenzeit erwartete. Als er dann kam, war die Enttäuschung umso größer. Er setzte die liberale Verfassung außer Kraft und stellte den Absolutismus, mit drastischen Mitteln, in so extremer Form wieder her, dass er sogar die Unterstützung der anderen europäischen Monarchen verlor.

Jetzt geht es aber erst mal zum Frühstück, in die Bar San Bruno auf der anderen Straßenseite. Die Tür steht offen. Drinnen sitzen an der langen Theke vereinzelt Gäste und trinken Kaffee. Ich bestelle einen Kaffee und Toast mit Marmelade. Das kostet hier gerade mal 2,50 €.

Die Calle Toledo führt Richtung Plaza Mayor. Die Häuser in diesem Viertel, drei- oder vierstöckig, mit den typischen schmiedeeisernen Gittern vor den schmalen Balkonen und Bauschmuck über den Fenstern, sind ausgesprochen schön. Und kommen in der hellen Morgensonne gut zur Geltung.

Auf einem kleinen Platz vor dem Zugang zur Plaza Mayor befindet sich das Außenministerium. In der Mitte des Platzes eine abgerundete Steinplatte mit einer Inschrift, in der an den Vertrag von Madrid von 1985 erinnert wird. Das ist der Vertrag, auf Grund dessen Spanien 1986 Mitglied der EG wurde. Alle Vertragsländer werden einzeln genannt.

Dann geht es auf die Plaza Mayor. Ein schöner Anblick, besonders jetzt unter dem tiefblauen Himmel und der hellen Sonne. So schön hatte ich den Platz nicht in Erinnerung.

In der Mitte des Platzes steht ein Reiterstandbild, das von Felipe III. Das Pferd hat die linke Vorderhand leicht erhoben, angewinkelt, die beiden Hinterhände sind versetzt, so dass der Eindruck von Bewegung entsteht. Felipe hält einen Marschallstab in einer Hand und trägt, trotz Uniform, die typisch habsburgische Halskrause. Dass er hier steht, ist nicht verwunderlich: Die Plaza Mayor wurde während seiner Herrschaft angelegt. Und er ist der erste spanische König, der in Madrid geboren wurde, nachdem sein Vater, Felipe II, Madrid zur Hauptstadt gemacht hatte.

Weiter geht es über die Calle Mayor zur Puerta del Sol. Was sofort auffällt: Es ist ruhiger geworden. Es gibt nur noch einen schmalen Fahrstreifen für Taxis, sonst ist der Platz den Fußgängern überlassen. Nur jetzt am Vormittag dürfen noch Waren angeliefert werden. Nach dem jahrzehntelangen Hickhack, nach all den halbherzigen Versuchen der beiden Parteien, den Verkehr in den Griff zu bekommen, hat eine parteiunabhängige Bürgermeisterin die Szene betreten und das Problem resolut angepackt: Schaffung von Fußgängerzonen, Einschränkung des Autoverkehrs, Einschränkung der Parkmöglichkeiten im Zentrum, Errichtung von Pollern, konsequentes Abschleppen zur Vermeidung des Parkens in zweiter Reihe, Schaffung einer Umweltzone, Benutzung von Parkhäusern nur von Autos mit sauberen Motoren. Der Effekt ist unübersehbar – und unüberhörbar.

Im Zentrum des Platzes eine weitere Reiterstatue. Diesmal ist es Carlos III. Die Statue sieht alt aus, gar nicht so anders als die von Felipe III. Sie ist aber ganz modern. Sie stammt von 1993! Mit ihr wollte die Stadt Madrid den König ehren, der hier einen besonders guten Ruf genießt, da er viel für die Stadt getan hat. Man nennt ihn „Madrids besten Bürgermeister“. Carlos III. erscheint in Zivil und mit Perücke, im Gegensatz zu dem barhäuptigen Felipe III. Er trägt das Goldene Vlies und den Orden, den er selbst gegründet hat.

Madrids Wahrzeichen, El Oso y el Madroño, ist gar nicht so auffällig. Es steht am Rande des Platzes und ist kleiner als viele meinen. Der Bär steht aufrecht, lehnt sich an den Baum und macht sich an dessen Früchten zu schaffen. Auch wenn es früher in Madrid oder in der Umgebung Bären gegeben haben mag, mit naturalistischen Erklärungen kommt man hier nicht weiter. Der Bär steht für das Sternbild, das bei uns Großer Wagen genannt wird, fachsprachlich Ursa Major. Dieses Sternbild steht einer alten Vorstellung zufolge in Verbindung mit der Gründung Madrids. Noch heute benutzt die Comunidad de Madrid sieben Sterne als ihr Emblem, wie man auf jedem Wagen der Metro sehen kann. Ähnlich ist es mit dem Baum, dem Madroño. Auch er ist hier weit und breit kaum zu finden. Ich bin nur einmal auf ihn gestoßen, ganz im Südwesten der Iberischen Halbinsel. Da scheint er öfter vertreten zu sein. Ich bin aber gar nicht dem Baum begegnet, sondern dem Schnaps, der aus seinen Früchten gewonnen wird. Die deutsche Übersetzung, Erdbeerbaum, ist auch nicht sehr hilfreich. Es handelt sich nicht um Erdbeeren. Auch hier ist die Erklärung wieder rein symbolischer Art. Es geht nur um die lautliche Ähnlichkeit von Madrid und Madroño, so wie es auch nur um die lautliche Ähnlichkeit von Bern und Bär oder Berlin und Bär geht. Die beiden Städte kamen zu ihrem Tier wie Madrid zu seinem Baum.

Hier an der Puerta del Sol steht einer der neu aufgestellten Kioske. Eine segensreiche Einrichtung, von der ich in den nächsten Tagen viel Gebrauch machen werde. Die Mädchen hinter dem Schalter sind freundlich und gut informiert, und man muss fast nie warten.

Von der Puerta del Sol geht es weiter auf die Calle de Alcalá. Hier fließt zwar noch Verkehr auf einigen Spuren, aber man hat die Bürgersteige verbreitert. Die Häuser sind hier anders, größer, verschiedenartiger, repräsentativer, teils leicht protzig, vor allem die der anderen Straßenseite. Es lohnt sich, nach oben zu sehen. Viele der Häuser haben Skulpturen auf dem Dach, darunter zwei benachbarte, die beide eine Quadriga tragen. Wie man die wohl dahinauf bekommen hat?

Auch in Spanien gibt es Personalmangel in der Gastronomie. An jeder zweiten Gaststätte hängt ein Schild, auf dem nach Personal gesucht wird: Se busca camarero/a.

Auf meiner Straßenseite ein eher unauffälliges Gebäude, in dem das spanische Gleichstellungsministerium untergebracht ist.

Dann kommt schon die Plaza de Cibeles mit dem berühmten Brunnen, einem der Wahrzeichen von Madrid. In einem von Löwen gezogenen Wagen sitzt die Göttin Kybele, eine der griechischen Göttinnen der Fruchtbarkeit.

Am Rande des Platzes das Museo de la América. Vor dem Eingang hängen die Fahnen aller lateinamerikanischen Länder. Es ist aber windstill und die Fahnen hängen triste am Fahnenmast hinunter.

Das Museum kann man leicht übersehen, denn der Platz wird dominiert von dem riesigen, weißen, im Zuckerbäckerstil errichteten Telegrafenamt. Es sieht aus wie eine Mischung aus Palast, Kirche und Luxushotel. Früher konnte man hier in der riesigen Eingangshalle an den altmodischen Schaltern tatsächlich Briefmarken kaufen.

Ich biege ab auf den Paseo del Prado und komme meinem Ziel näher. Der nächste Platz ist der mit dem Neptun-Brunnen, das Pendant zur Cibeles. Beide Plätze wurden, wie auch die Puerta de Alcalá, unter Carlos III angelegt. Auch das Museo del Prado wurde von ihm gegründet, aber noch nicht als Kunstmuseum, sondern als Naturwissenschaftliches Museum.

Das Museo del Prado ist das einzige Museum in Madrid, das montags geöffnet ist. Es schließt nur drei Tage im Jahr. Das ganze Areal wird bewacht von Polizisten (und Polizistinnen) mit Maschinengewehren. Die waren früher ein gängiges Bild vor jeder Bankfiliale. Sich daran zu gewöhnen, war nicht so leicht.

Vor dem Museum steht schon eine lange Schlange, eine Viertelstunde vor Öffnung. Gott sei Dank habe ich eine Eintrittskarte reserviert. Trotzdem dauert es genau eine halbe Stunde, bis ich die letzte Hürde, die Personenkontrolle, hinter mir habe. Man betritt das Museum jetzt durch den neu geschaffenen Hintereingang.

Ich will chronologisch vorgehen, werde aber am Ende einer Reihe von Sälen von einer Aufseherin gestoppt. Wo ich denn hin wolle? Ich sage ihr, was ich will, aber sie sagt, was Älteres als das hier gebe es nicht. Ich weiß, dass es nicht stimmt, aber lasse mich auf keine Diskussion ein. Später stellt sich heraus, dass verschiedene Säle, in denen das Mittelalter untergebracht ist, wegen Renovierung geschlossen sind.

Also geht es mit Fra Angelicos berühmter „Anunciación“ (1431) los. Sie steht auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Renaissance. Der Ausdruck in dem Gesicht des Engels ist noch ganz von mittelalterlicher Frömmigkeit geprägt, und der von Maria ebenfalls. Aber die ganze Szenerie, der architektonische Rahmen mit den antikisierenden Pfeilern, Kapitellen und Bögen, die Tiefenperspektive mit dem Blick durch einen Spalt in ein dahinterliegendes Zimmer, das Spiel von Licht und Schatten – das ist pure Renaissance. Links sieht man eine auf den ersten Blick nicht dazugehörende Szene, die Vertreibung aus dem Paradies. Auch der Malstil ist ganz anders hier, fast naiv. Die Blumen und Blüten des Gartens Eden sind mit großer Präzision gemalt, jede einzeln, so als wenn es sich um eine botanische Studie handelte. Die Verbindung zwischen den beiden Bildteilen ist ein Strahl, der vom Himmel des Gartens Eden direkt auf das Herz Marias zielt.

Dann kommt gleich eins meiner Lieblingsbilder, die „Santa Bárbara“ von Robert Campin (1438). Ohne den Titel würde man gar nicht darauf kommen, dass es sich um ein Heiligenbild handelt. Man sieht eine junge Frau, die in einem Raum von schlichter Eleganz auf einem dicken roten Kissen auf einer zu einer Kniebank umklappbaren Holzbank sitzt.  Sie trägt ein langes grünes Gewand und hat langes helles Haar. Und keinen Heiligenschein. Hinter ihr ein offenes Feuer in einem Kamin, auf dem Gesims und auf kleineren Möbelstücken stehen schön geformte Gefäße aus Metall, ein Wasserkrug, eine Blumenvase mit einer Lilie, ein Flakon. An der Wand hängt ein blütenreines weißes Tuch. Durch das offene Fenster sieht man auf einen mittelalterlichen Turm. Erst durch den Titel schöpft man Verdacht und beginnt, die Details anders zu interpretieren: Das Wasser, das weiße Tuch, die Lilie, all das sind Symbole der Unschuld, der Reinheit, und der Turm mit seinen drei Fenstern ist der Turm, in dem Barbara von ihrem Vater einsperrt wurde, bevor er sie enthaupten ließ. Vom maltechnischen Standpunkt fällt auf, dass die Perspektive bei dem Buch, das Barbara in der Hand hält, nicht gelungen ist. Es sieht so aus, als würde sie die Seite, die sie gerade liest, herausreißen wollen. Da fehlte dem Maler noch das technische Know-how oder die Kunstfertigkeit. Sehr schön aber die Raumperspektive mit den Bodenfliesen und der Holzdecke und der Blick nach draußen, vor allem das Spiel von Licht und Schatten durch die zwei unterschiedlichen Lichtquellen, das Tageslicht von draußen und das Feuer drinnen. Die Holzbank und der Kamin werfen unterschiedliche Schatten auf den Boden, das Flakon auf dem Gesims wird durch den Schatten fast verdoppelt, auch das Tuch und der Wasserkrug werfen feine Schatten. Und die Helligkeit der Holzdecke nimmt nach hinten hin zu.

Vor den Gemälden von Bosch stehen ganze Trauben von Menschen, aber nicht vor allen. Ich sehe mit eins an, für das sich keiner zu interessieren scheint, die „Epifanía“ (1494). Es handelt sich um ein Triptychon mit drei unterschiedlichen Szenen, aber die Landschaft im Hintergrund mit grünen Hügeln und der Silhouette einer Stadt vereint die drei Szenen des Vordergrunds. Die Stadt im Hintergrund ist ein imaginäres Jerusalem, in dem sich Zikkurats und orientalische Türme mit flandrischen Windmühlen verbinden. Interessant auch die Landschaft. Man muss schon genau hinsehen, um die Details überhaupt wahrzunehmen. Über einen der Hügel zieht ein Heer. Das muss das Heer des Herodes sein, das nach den Neugeborenen Ausschau hält. Die Tragödie bahnt sich an: In einem Flügel des Bildes flieht eine Frau vor einem Wolf, und ein verletzter Bär fällt über einen Mann her, während auf dem anderen Flügel Bauern fröhlich einen Tanz aufführen. Was für ein Bild! Im Mittelteil vorne die Heiligen Drei Könige, wie sie ihre Gaben darbieten. Auf den Gaben oder Gewändern werden Szenen aus dem Alten Testament dargestellt, die wohl eine Verbindung zu dieser Szene aus dem Neuen Testament haben sollen. Am interessantesten sind aber die Details der Szenerie: Die Hütte ist krumm und schief, das Dach verzogen und nur halb mit Stroh gedeckt. Verschiedene merkwürdige Figuren versuchen, von der Szene etwas mitzubekommen. Einer sieht durch ein Loch im Zaun, ein anderer ist auf das Dach geklettert. Und im linken Teil des Triptychons sieht man, ganz klein, den Heiligen Josef, der sich halb umwendet, um nichts zu verpassen. Er ist damit beschäftigt, an einem Feuer die gewaschenen Windeln zu trocknen!

Dürer ist mit einem seiner Selbstbildnisse vertreten (1498), ein ganz frühes Zeugnis der Veränderung der Stellung des Künstlers, der jetzt nicht mehr nur noch Handwerker ist, sondern auch wert, dargestellt zu werden. Dürer war in Nürnberg, obwohl seine soziale Stellung nicht leicht einzuordnen ist, in einen Kreis von Bürgern und Kaufleuten aufgenommen worden und damit sozial aufgestiegen. Das alles reflektiert das Gemälde. Seine Haltung gleicht der, die er zwei Jahre zuvor Friedrich dem Weisen gegeben hatte. Auch Fensterbrüstung, Landschaft im Hintergrund (hier vermutlich Innsbruck), die Architektur und die reiche Kleidung sind Elemente, die aus der Tradition solcher Bildnisse stammen. Dürers Gewand ist elegant, der Kopfputz passend dazu, eine zweifarbige Kordel spannt sich über die Brust, das lange Haar ist sorgsam gelockt. Meisterhaft sind die dünnen Handschuhe, durch die man die Finger fast zu sehen vermeint.

Auch von Dürer „Adam und Eva“ im Garten Eden (1507), auf zwei Tafeln, beide nackt, bei beiden verdeckt das Blatt eines Zweiges die Schamteile. Beide haben blondes Haar, ihre Figuren sehen wie skulptiert aus. Erst auf den zweiten Blick sieht man die Schlange, die sich um einen Ast windet. Eva hält den Apfel in der Hand, Adam hält einen Zweig in der Hand, an dem der Apfel wächst. Auch nicht auf den ersten Blick sichtbar: Der Boden ist voller Kieselsteine, vielleicht ein Verweis auf den harten Weg, der ihnen bevorsteht. An dem Ast eines Baumes hängt ein Schild mit Dürers Monogramm.

Mit dem Porträt eines (nicht identifizierten) Kardinals ist Raffael vertreten (1510). Der rote Umhang und der rote Hut setzen sich von dem dunklen Hintergrund ab. Meisterhaft sind einige weißliche Streifen auf dem Umhang, die das Licht widerspiegeln, das von einer unsichtbaren Quelle auf den Porträtierten fällt. Aber das eigentlich Besondere ist der Gesichtsausdruck des Kardinals, schwer in Worte zu fassen. Der Kardinal wirkt entschlossen, eiskalt, auf jeden Fall alles andere als liebenswürdig. Eine echte Charakterstudie! Dazu trägt auch bei, dass die Pupillen nicht ganz in dieselbe Richtung weisen, so als ob der Kardinal zwei Szenen auf einmal sehen könnte.

Tizian ist mit vielen Bildern vertreten. Ich sehe mir das berühmte Bild von Carlos V bei der Schlacht von Mühlberg an (1548). Von Schlacht ist allerdings nichts zu sehen. Man sieht den Kaiser in voller Rüstung auf einem Pferd, aber sonst niemanden. Dominiert wird das Bild von der Landschaft, einer wunderbar melancholischen Landschaft im Morgengrauen, mit einem Himmel, der, symbolkräftig genug, zwischen helleren und dunkleren Wolken und Licht und Dunkelheit changiert. Es ist der Morgen der Schlacht gegen die Protestanten, gegen den Schmalkaldischen Bund, eine Schlacht, die Carlos gewinnen sollte (im Übrigen mit vielen Protestanten in seinem Heer), aber die nicht das Ende seiner Sorgen sein sollte. Die Religionskriege werden anhalten und in den Schrecken des Dreißigjährigen Kriegs enden. Das konnte Tizian noch nicht wissen, aber erahnen lässt das Bild mit seiner melancholischen Stimmung, dass die Zukunft nicht rosig aussieht. Carlos sollte der letzte Kaiser sein, der aktiv an einer Schlacht teilnahm. Sein Sohn zog sich in den Escorial zurück, Tage und Nächte über Akten gebeugt.  

Ein Bild, das auf den ersten Blick gar nicht so schlimm aussieht wie es ist, ist Breughels Bild auf den Triumph des Todes, „El Triunfo de la Muerte“ (1565). Je mehr Details man sieht, umso schrecklicher die Szene. Der Tod und seine Gefährten richten ein Massaker an. Der Tod reitet als Soldat auf einem roten Pferd durch die Menge und schwingt seine Sense, ohne Unterschiede, in alle Richtungen. Die Menschen versuchen zu flüchten, in einen eisernen, merkwürdig modern aussehenden Gang, stürzen dabei übereinander und fallen hin. Einer der Gefährten des Todes, als Skelett dargestellt, zieht auf einem weißen Pferd einen Karren, der mit Totenköpfen beladen ist. Auf dem Boden ein Sarg mit Rädern mit einem Toten darin, der einen Menschen überrollt. Im Hintergrund wird einer enthauptet, ein anderer gehenkt. Vorne ein Paar, das klimpert und singt und bei den Tönen der Laute eines Skeletts stirbt, ohne zu leiden, ohne die restliche Szene wahrzunehmen. Die bräunlichen Töne des Bildes, das Feuer im Hintergrund, die brennenden Häuser, die verdorrten Bäume und merkwürdige Stangen mit Rädern oben tragen zu dem düsteren Bild bei.

Dann fällt mir ein Porträt ins Auge (1565). Der Dargestellte, das sieht man von weitem, ist Felipe II, und ich glaube sofort, der Maler müsste Velázquez sein. Weit gefehlt: Sofonisba Anguissola, endlich mal eine Frau! Felipe trägt die typische dunkle Kleidung seiner Zeit, den hohen Hut und die Halskrause. Und er hat das unverkennbare vorstehende Kinn der Habsburger. Nur das erleuchtete Gesicht und die Halskrause heben sich von dem dunklen Hintergrund ab. Ein wichtiges Detail ist der Rosenkranz, den Felipe in einer Hand hält. Er steht für das Rosenkranzfest, das von Gregor XIII eingeführt worden war, um an die Schlacht von Lepanto und den Sieg über die Türken zu erinnern.

Bei Velázquez ist es wie bei Bosch. Ganze Trauben von Menschen stehen vor den großen Gemälden, aber nicht vor allen. Die beiden kleinformatigen Bilder aus Italien, vom Garten der Villa Medici (1630?), finden kaum Beachtung. Sie sehen unscheinbar aus, aber sie haben es in sich. In dem rechten fällt das Licht direkt von oben, in dem linken fällt es schräg ein, und als Betrachter hat man sofort den Eindruck, um welche Tageszeit es sich handelt, den frühen Abend. Man sieht wenig mehr als die äußere Umfassungsmauer der Villa Medici und hohe Zypressen dahinter. Rechts vor dem mit Brettern zugenagelten Eingangstor stehen zwei Männer, vielleicht Wächter, nur ganz skizzenhaft dargestellt. Das Bild ist von einer ungeheuren Modernität. Erstens hat Velázquez seine Staffelei tatsächlich draußen aufgestellt, im Freien gemalt, etwas bis dahin praktisch Unbekanntes. Zweitens wird nicht die Pracht der Villa Medici dargestellt, sondern eine Steinmauer mit Toren, die mit Brettern etwas provisorisch und nicht gerade perfekt verschlossen sind. Drittens ist hier die Landschaft keine Beigabe zu einer mythologischen oder historischen Szene, sondern wird um ihrer selbst willen dargestellt. Und schließlich ist die Maltechnik, mit ihren vagen Umrissen, ihren angedeuteten Formen, so modern, dass sie an Impressionisten denken lässt, die erst 200 Jahre später die Bühne betreten. Man braucht sich nur den Boden vor der Mauer, die Hecken oder die Statue in einer Nische in der Mauer anzusehen. Ein Meisterwerk.  

Ich lasse Las Meninas und Los Borrachos aus, die von keiner Führung ausgelassen werden und werfe nur einen kurzen Blick auf ein ganz ungewöhnliches Bild von Velázquez, das ganz einfach den Kopf eines Rehbocks zeigt, zeigt, den Kopf eines Sechsenders. Ein wirklich ungewöhnliches Motiv.

Eine Nische für sich selbst, am Treppenaufgang, hat der „Cristo Crucificado“ von Velázquez, ein wunderbares Bild, vielleicht das bewegendste, das ich auf meiner Tour durch den Prado sehe. Christus am Kreuz ist in seiner ganzen Würde dargestellt, die Wundmale sind nur angedeutet, nur ganz feine Spuren von Blut sind an einigen Stellen des Körpers zu sehen, und Christus scheint eher auf dem Kreuz zu stehen als an dem Kreuz zu hängen. Die beiden Füße sind übereinandergeschlagen, und nur ein Nagel ist durch sie geschlagen. Christus ist alleine, es sind keine römischen Soldaten zu sehen, kein Johannes, keine Maria. Der helle, fast schöne Körper hebt sich von dem dunklen Hintergrund ab. Der Kopf ist leicht geneigt, und die langen, dunklen Haare verdecken fast das ganze Gesicht, aber nur fast. Christus hat keinen „richtigen“ Heiligenschein, nur eine ganz leichte Aureole zieht sich um den Kopf herum, so als käme sie aus dem Kopf selbst. Das Bild strahlt Christus‘ Würde aus, auch im Moment des Todes.  

El Greco, mit dem ich mich immer etwas schwertue, ist immer sofort als El Greco zu erkennen, sowohl auf seinen Porträts der Caballeros seiner Zeit als auch auf den aus einer anderen Welt stammenden Heiligenszenen, oft stark bevölkert von in die Länge gezogenen, überschlangen Figuren und ihren langen Gewändern mit den hellen Farben, die irgendwie unwirklich scheinen, sonst bei keinem Maler zu finden sind. Diese Bilder strahlen eine starke Spiritualität aus. Ich sehe mir vier einzelne, aber wohl zusammengehörige Bilder an, die Christus, Santiago, Thomas und Paulus zeigen (ab 1608). Paulus hält ein Schriftstück in der Hand, ansonsten sind kaum Attribute zu sehen. Der Fokus liegt ganz auf der geistigen Haltung der Figuren. In der Beschriftung erfährt man etwas von dem Produktionsprozess. Alle vier Bilder stammen aus der Werkstatt El Grecos, aber das bedeutet nicht, dass er alles selbst gemalt hat. An Mitarbeiter und Lehrlinge erging schon mal der Auftrag, eine Hand oder einen Fuß oder den Hintergrund zu malen, während der Meister sich zentrale Motive wie das Gesicht vorbehielt. Hier gibt es Spekulationen darüber, welches Bild ganz auf El Greco zurückgeht, und es wird vermutet, dass es Santiago ist. Der hat tatsächlich eine besondere Ausstrahlung.

Es wird immer voller im Museum, und meine Aufmerksamkeit schwindet, der Rücken fängt an zu schmerzen. Zum Abschluss sehe ich mir noch einen Sorolla an, eine gänzlich andere Geschichte (1909). Es zeigt drei Jungen am Meer. Sie sind nackt, liegen auf dem Bauch auf dem Sand an der Stelle, wo so gerade das Wasser hinreicht. Schon beim Zugucken fühlt man sich wohl, man glaubt, das Wasser auf der eigenen Haut zu spüren. Alle drei haben eine leicht unterschiedliche Position: Der Junge im Vordergrund hebt den Oberkörper leicht nach oben, der nächste dreht sich auf die Seite, der dritte, der am meisten im Wasser liegt, liegt ganz flach auf dem Bauch. Es ist ein wunderbares Bild, nicht wegen der drei Jungen, sondern wegen der Maltechnik. Man sieht förmlich, wie das Wasser sich bewegt, man sieht, wie die Oberfläche des Wassers die Körper der Jungen in unterschiedlichen Formen und unterschiedlichen Helligkeitsstufen widerspiegelt. Das Bild gibt die Atmosphäre perfekt wieder.

Als ich aus dem Museum komme, ist es draußen richtig warm geworden, und die Sonne scheint ohne Unterlass. Ich sehe mich ein bisschen in der Gegend um. Gleich hinter dem Museum steht, etwas erhöht, San Jerónimo. Einen Turm der Kirche konnte man von einem modernen Saal des Museums aus sehen. Die Kirche ist das einzige Überbleibsel des ehemaligen Klosters, Los Jerónimos. Die Kirche ist gotisch, außen mit einer Mischung aus Backstein, Mörtel und Steinquadern. Keine Schönheit auf den ersten Blick, aber wenn man sie von der Seite sieht, gewinnt sie. Innen etwas überladen, mit einigen schönen Details wie dem Gewölbe des Mittelschiffs, dem Gewölbe unter der Empore, der Brüstung der Empore und den Fenstern im Triforium, bestimmt später eingebaut.

Gleich neben der Kirche, auf einem von einem Gitter abgeschlossenen Grundstück mit einem Garten, befindet sich die Real Academia de la Lengua, die Hüterin der spanischen Sprache. Sie hat 46 Mitglieder, für jeden Buchstaben eins, und zwar jeweils getrennt für den Großbuchstaben und den Kleinbuchstaben. Es gibt aber Ausnahmen. Das ñ gibt es nur als Kleinbuchstaben.

Dann geht es den Paseo del Prado hinunter, Richtung Atocha. Hier verlaufen mehrspurige Straßen, aber man kann auf den breiten Promenaden dazwischen problemlos flanieren. Auch hier scheint es ruhiger als früher zu sein. Am Paseo del Prado stehen zwei sich zwei der renommiertesten Hotels von Madrid gegenüber, das Palace und das Ritz.

Von hier aus sieht man auf die Hauptfassade des Museums, die gerade eingerüstet ist. Der Mittelteil mit dem alten Haupteingang ist aber schon fertig. Davor steht ein Denkmal für Velázquez. Für wen sonst? Velázquez wird sitzend dargestellt, mir Palette und Pinsel in der Hand, aber in ruhender Pose. Man wird unwillkürlich an die „Meninas“ erinnert.

Als ich Richtung Atocha komme, spricht mich ein Mann an und fragt, wo es hier einen Kiosk gebe. Er wolle Geld wechseln. Ich sage, ich hätte keine Ahnung, aber am Ende der Promenade gebe es bestimmt einen und sonst könne er es ja im Bahnhof versuchen. Dann fragt er mich, ob ich nicht wechseln könne. Er hält mehrere Ein-Euro-Münzen wie abgezählt in der Hand. Mir schwant nichts Gutes. Der will an mein Portemonnaie. Ich sehe gleich rechts eine Bar und sage ihm, da könne er doch wechseln. Das muss er akzeptieren. Er wendet sich nach rechts, so als ob er in die Bar gehen wollte, wartet ein Weile, sieht, dass ich weiter gegangen bin und kehrt dahin zurück, wo er mich angesprochen hat.

In Atocha frage ich nach den Fahrkarten für Aranjuez für morgen. Man kann sie erst kurz vor Antritt der Fahrt lösen, was ich ein bisschen blöd finde. Aber jetzt weiß ich wenigstens, wie es geht. Wie es mit der Metro funktioniert, habe ich gestern am Flughafen erfahren. Es gibt keine Einzelfahrkarten mehr, es gibt gar keine Fahrkarten im engeren Sinne mehr. Man erwirbt eine Art Scheckkarte, auf die man einen Betrag auflädt und den man dann peu à peu abfährt. Das ist ganz praktisch. Nur braucht man leider für Aranjuez eine andere Karte als für die Metro.

Die alte Abfahrtshalle mit ihrem Glasdach hat man erhalten und in einen tropischen Garten verwandelt. Die Pflanzen ranken sich hoch auf und stehen dicht nebeneinander, und es riecht nach Tropen. Die Gänge zwischen den Pflanzen sind aber abgesperrt, wohl wegen Corona. Schade.

Am Rande des Gartens eine Bar, in der eine bekannte Biermarke mit einem weit hergeholten Wortspiel auf sich aufmerksam macht: Mahoudrid.

Auf dem Platz, an dem der Bahnhof liegt, stoße ich auf einen ungewöhnlichen Straßennamen: María de la Cabeza – Maria vom Kopf. Der rätselhafte Name wird sich im Laufe der Tage noch klären.

Ein ganz klein wenig abseits des Platzes stoße ich auf ein hochmodernes Museum aus Glas und Stahl. Es ist das Reina Sofía, eins der drei großen Kunstmuseen Madrids, aber es ist die Hinteransicht. Deshalb habe ich es nicht erkannt.

Ich lasse das Museum rechts liegen und komme nach Lavapiés, einem bunten, etwas schrillen, aber doch irgendwie auch ganz normalen Wohnviertel, nur ein Steinwurf vom Paseo del Prado entfernt. Der Unterschied könnte größer nicht sein. Hier gibt es experimentelles Graffiti mit exotischen Motiven in knalligen Farben, Regenbogenfahnen, Häuserfassaden mit abblätternder Farbe, ungewöhnliche Spielplätze und viel Volks, vor allem Zuwanderer. Lavapiés gilt nicht als das sicherste Viertel Madrids, aber um diese Tageszeit ist hier alles in Ordnung.

Was es mit dem ungewöhnlichen Namen des Viertels auf sich hat, ist nicht ganz geklärt. Aber es scheint tatsächlich etwas mit ‚Fußwaschung‘ zu tun zu haben, wie es die wörtliche Bedeutung nahelegt. War es ein Quartier für Weltenbummler, die aus Toledo oder Südspanien hierher kamen und sich die Füße wuschen? Wahrscheinlicher ist eine rituelle Fußwaschung, entweder auf den altchristlichen Gebrauch der Osterzeit und damit auf eine entsprechende Einrichtung bei der Kirche San Lorenzo anspielend, oder es stammt aus der entsprechenden arabischen Tradition. Oder aber aus der hebräischen, denn hier befand sich einst ein Judenviertel. In diesem Falle könnte der Name von hebr. abapuest abgeleitet sein, was ‚hebräischer Platz‘ bedeutet. 

Eingangs des Viertels an einer Apotheke eine aktuelle Temperaturanzeige: 21°. Vielleicht ein bisschen hochgegriffen, aber es fühlt sich auf jeden Fall warm an.

Auf dem Weg ins Zentrum des Viertels komme ich an einer Bar mit dem Namen Mayrit vorbei. Das ist der alte, der arabische Name von Madrid. Madrid begann seine Geschichte als arabische Festung, schon mit einer ersten Stadtmauer umgeben, eine Festung gegen die von Norden ankommenden christlichen Heere und gegen die Rebellen in Toledo.

Ich komme zur Plaza de Lavapiés, einem dreieckigen Platz mit vielen Sitzbänken und viel Getümmel. Bei der Suche nach einem Lokal gehe ich eine Straße rauf, aber ich bin hier wohl im indischen Viertel gelandet. Spanische Lokale gibt es breit und weit nicht, schon eher ein libanesisches oder ein griechisches. Ich gehe die Straße wieder runter, und da werde ich fündig: Porto Marín. Warum das Lokal hier so weit von der Küste diesen Namen trägt, weiß man nicht, aber das ist mir jetzt auch egal. Hauptsache, es gibt was zu essen. Und das gibt es: Caldo Gallego (lauwarm, nicht sehr schmackhaft), Estofado (ausgezeichnet) und Tarta de Santiago (sehr lecker). Dazu gibt es ausgezeichnetes Bier. Leider kann ich den Kellner nicht verstehen, als er mir die Marke nennt.  

Die meisten Kunden scheinen hier Stammgäste zu sein. Viele kennt der Kellner persönlich und spricht sie mit Namen an. Auffällig, dass hier nur Spanier sind, keine Ausländer. Man bleibt unter sich.

Gegenüber eine Frau mit ihrer Enkelin. Die Dame ist in die Jahre gekommen, aber hat sich gut gehalten und ist schick gekleidet. Die beiden unterhalten sich angeregt und scheinen sich gut zu verstehen.

An den meisten anderen Tischen wird Wein getrunken. Man bekommt die ganze Flasche und bezahlt dann anteilig, wenn man sie nicht ganz leert.

Auf dem Rückweg zum Hotel komme ich durch eine schmale Straße des Viertels, in dem die Bäume schon in Blühte stehen. Sie sehen rosa aus, aber wenn man näher hinguckt, sind sie weiß. Könnten Kirschblüten sein.

Auf der Straße höre ich, wie ein junger Mann in sein Handy spricht: „Me levantaba a las siete, y luego me he duchado …“ Ein Gebrauch der Zeiten, der allem widerspricht, was in den Grammatiken und Lehrbüchern steht. Was lernt man daraus? Die Sprecher richten sich nicht nach den Regeln, die Regeln müssen sich nach den Sprechern richten.

Dann komme ich durch das andere Ende von Lavapiés wieder zur Puerta de Toledo. Der Kreis schließt sich. An dem großen, runden Platz mit radial einkommenden Straßen fällt mir ein modernes Gebäude ins Auge: Universidad Carlos III. Die dritte der großen Universitäten Madrids und die jüngste, nach der Complutense und der Autónoma. Ich dachte immer, die Carlos III wäre viel weiter außerhalb.

Jetzt bin ich gerade mal einen Tag hier, aber es hat sich so gefügt, dass ich schon einiges gesehen habe, mehr als eigentlich geplant. Angekommen bin ich am Vorabend mit dem Flugzeug. Direkt von Luxemburg. Der Flughafen Barajas, nicht mehr wiederzuerkennen, trägt jetzt den Namen Adolfo Suárez. Eine Ehre für den Politiker. Vielleicht zu viel der Ehre? Suárez war ein kluger, bedächtig handelnder Politiker, und er hatte große Verdienste bei dem Übergang von dem Franco-Regime zu einem offenen, demokratischen Spanien nach westlichem Muster. Aber er war auch Mitglied der alten Garde gewesen, Teil der Nomenklatur, kein Rebell, kein Emigrant, nicht einmal ein Unbeteiligter. Man kann ihn sehen als jemanden, der die Zeichen der Zeit erkannte und sich mutig für Veränderung einsetzte, man kann ihn auch sehen als jemand, der sein Fähnchen nach dem Wind richtet.

Am Abend lese ich ein Zitat von Wolfgang Herrndorf, dem Autor von Tschick. Als er wusste, dass er den Kampf gegen den Krebs verlieren würde, schrieb er: „Man muss auch mal das Positive sehen: Nie wieder Steuererklärung, nie wieder Rentenversicherung, nie wieder Zahnarzt.“

1. März (Dienstag)

Für drei Stationen zweimal umsteigen – ist mir zu kompliziert, also geht es wieder zu Fuß nach Atocha. Wieder strahlt die Sonne, wieder ist kaum ein Wölkchen am Himmel. Aber es ist so kalt, dass mir fast nach Handschuhen zumute ist.

Am Ende der Ronda de Toledo bliebe ich irgendwo mit dem Fuß hängen, stolpere und falle ganz blöd auf den Bürgersteig. Sofort steht eine Familie um mich herum, fragt, wie es mir gehe, sieht ganz besorgt aus und fragt dann noch, als ich sage, es gehe schon wieder, ob mir schwindlig sei. Tolle Aktion! Der freundliche Umgang macht die Schrammen an Händen und Knien erträglicher.

Atocha, den ich von früher noch als Sackbahnhof kenne, ist jetzt ein riesiger, hochmoderner Bahnhof, der sich hinter der alten Eingangshalle verbirgt, in der jetzt der tropische Garten untergebracht ist. Die Abfahrtshallen befinden sich auf verschiedenen Ebenen, teils unterirdisch, und Nahverkehr und Fernverkehr sind voneinander getrennt. Es ist alles großzügig geplant, und man kommt sich nicht mit anderen Fahrgästen in die Quere, obwohl zu dieser Zeit, mit dem Berufsverkehr, mächtig Betrieb ist. Der Fahrkartenkauf am Automaten funktioniert reibungslos, und nach zwei Minuten fährt der Zug nach Aranjuez ein.

Es geht durch ein Industrieviertel – eine Haltestelle heißt sogar San Cristóbal Industrial – und dann kommt völlig ausgetrocknete, fast steppenartige Landschaft. Einziger Lichtblick: Einige Laubbäume tragen schon Blätter.

Dann, kurz vor Aranjuez, wird es etwas besser, grüner. Wir überqueren einen Fluss, den Jarama. Der mündet hier, in Aranjuez, in den Tajo. Den bekomme ich aber nicht zu sehen. Der Jarama ist eine Erinnerung an die Lektüre von früher. Er war der Titel eines Romans, noch aus der Franco-Zeit, der eine Art Aufbruch ankündigte. Seine Helden waren Jugendliche, sinnsuchende Jugendliche in einer repressiven Gesellschaft, Madrilenen, die einen Tag am Jarama verbringen und ihre Konflikte austragen. Es passiert nichts Dramatisches. Der Tag verläuft mit Vergnügungen und Gesprächen. Der eigentliche Held des Romans ist die Sprache der Jugendlichen.

In Aranjuez geht es stracks einen geraden Weg entlang zum Palacio Real. Er liegt an einem riesigen, zu drei Seiten offenen Platz, der Plaza de Parejas, dem Ort von Feierlichkeiten, Aufmärschen und Reiterspielen aus der Zeit der Könige. Der Name spielt auf eine Formation bei einer Art Tanz zu Pferde an, bei dem sich die 48 Reiter in 4 Reihen aufteilten und unter der Leitung eines der Söhne des Königs sich immer wieder paarweise begegneten.

Auf einer Seite wird der Platz flankiert von einem Nebengebäude des Palasts, der Casa de Caballeros y Oficios, mit einem schönen, sich lang hinziehenden Arkadengang. Die Sonne wirft die Schatten der Bögen auf den Boden. Hier finde ich schließlich auch ein Café, wo ich mich vor der Besichtigung stärken kann. Die Putzfrau, mit der ich kurz ins Gespräch komme, ist Marokkanerin.

Dann geht es in den Palast, zu der Führung. Man erfährt, dass die Könige und ihre Familien in der Regel drei, vier Monate hier verbrachten, im Frühling. Den Sommer verbrachte man eher in Segovia, den Rest des Jahres in Madrid oder im Escorial, je nach Vorliebe. So war es jedenfalls im 18. Jahrhundert, der Zeit, aus der der heutige Palast im Wesentlichen stammt. Innen brachte jeder Monarch seine eigenen Veränderungen an. Das heutige Aussehen ist stark bestimmt von den Veränderungen, die Isabel II vornahm. Danach verloren die Paläste an Attraktion. Man ging zur Erholung lieber an die Bäder am Atlantik im Norden Spaniens.

Die Führung ist ausgesprochen uninspiriert. Die Führerin nennt unendlich viele Zahlen und Namen, aber gibt keinen richtigen Einblick in die Baugeschichte und erst recht nicht in die täglichen oder die offiziellen Abläufe des Lebens im Palast. Die beiden Wörter bonito und importante genügen ihr, um zu charakterisieren, was wir zu sehen bekommen.

Ins erste Obergeschoss gelangt man über eine monumentale Marmortreppe, an deren Ende in einer Nische eine Büste steht. Wer kann das sein? Ludwig XIV. Was hat der hier verloren? Ganz einfach. Er war der Großvater von Felipe V, dem Erbauer des Palasts in der heutigen Form, wenn man von späteren Anbauten absieht. Felipe V war der erste Bourbone auf dem spanischen Thron und ist der Monarch mit der längsten Regierungszeit in der Geschichte Spaniens, mit über 45 Jahren.

Oben auf dem Treppenabsatz ganz rechts eine Tür. Hinter der verbirgt sich eine weitere Treppe, eine ganz einfache. Die stammt aus dem Vorgängerbau und wurde von den Habsburgern benutzt. Von deren Palast ist nur wenig übriggeblieben. Das meist wurde durch Brände zerstört.

Unter den unzähligen Sälen, die wir zu sehen bekommen, stechen zwei durch ihre besondere Gestaltung hervor, das Raucherzimmer und der Porzellansaal. Das Raucherzimmer ist ganz nach arabischer Art gestaltet, mit einer abgestuften Kuppel und vielen Stuckarbeiten und dem typischen arabischen Dekor mit geometrischen Mustern und Schriftzeichen. Das ist allerdings zu bunt geraten und wirkt etwas kitschig. Das Porzellanzimmer, ganz nach chinesischer Art gestaltet, ist ganz mit Figuren aus Porzellan dekoriert, an den Wänden und an der Decke. Das Porzellan stammt aus der königlichen Manufaktur im Retiro. Man sieht Figuren mit Sonnenschirmen und Figuren mit spitzen Hüten und spitzen Bärten. Auch hier alles sehr bunt. Dieses Zimmer stammt aus der Zeit von Carlos III.

Einige Räume haben eine schöne Deckengestaltung im Rokoko-Stil, leicht und licht, mit exotischen Vögeln und stilisierten Pflanzen und einer ganzen Galerie von Mischwesen, halb Mensch, halb Tier, oder Mischwesen aus verschiedenen Tieren.

In einem Raum sind acht gleichgroße, eher kleinformatige Bilder ausgestellt, die detailreich und phantasievoll die acht Weltwunder darstellen. Acht? Ja, man hat hier zur Aufrundung neben dem Koloss von Rhodos, dem Leuchtturm von Pharos, der Statue des Zeus von Olympia und den anderen – ganz unbescheiden – den Escorial als achtes Weltwunder hinzugezählt.

Das meiste, was man sieht, geht aber unter. Es ist einfach zu viel der Gemälde, Büsten, Möbel, Tapisserien, Lampen und Uhren. Ich bin nicht böse, als die Führung  vorbei ist.

Der eigentliche Grund für meinen Besuch in Aranjuez ist sowieso nicht der Palast. Auch nicht andere Sehenswürdigkeiten. Der eigentliche Grund für meinen Besuch sind meine englischen Freunde, die Spanien treu geblieben sind und sich von Madrid hierher nach Aranjuez zurückgezogen haben.

Auf dem Weg zu unserem Treffpunkt komme ich an einer Bar vorbei, der von Antonio Rodilla. Auf dem Geschäftsschild steht El Sandwich más famoso del mundo – Das bekannteste Sandwich der Welt. Das erinnert mich an den Witz über die Straße mit den drei Schuhmachern. Beim ersten steht El mejor zapatero de Madrid – Der beste Schuhmacher von Madrid, beim zweiten El mejor zapatero de España – Der beste Schuhmacher von Spanien und bei dem dritten El mejor zapatero de esta calle – Der beste Schuhmacher dieser Straße.

Als ich gerade einen Passanten nach unserem Treffpunkt gefragt habe, spricht mich eine Frau an. Ob wir nicht verabredet seien? Sie nimmt die Sonnenbrille ab. Es ist Hilary. Und ihr Mann, Nigel, ist schon im Anmarsch, mit Doris, ihrer neuesten Erwerbung. Sie nimmt sofort Körperkontakt mit mir auf und schnuppert an mir herum. Offensichtlich ist sie zufrieden mit dem Ergebnis, denn sie fängt jetzt an, an mir hochzuspringen.

Wir gehen auf die Plaza, setzen uns in die Sonne und trinken ein Bier. Hilary zeigt auf den Himmel: Guck mal, das ist unser Winterhimmel. So blau ist er nur in dieser Jahreszeit.

Dann gehen wir zu ihnen nach Hause, die Wohnung ist nur ein paar Schritte vom Zentrum entfernt. Die Räume sind großzügiger zugeschnitten als in der klassischen spanischen Wohnung und anders verteilt. Parallelität der Ereignisse: Auch sie haben eine Maisonettenwohnung. Wir trinken noch ein Bier und sind dann bereit zum Essen.

Sie führen mich aus ins Tomate de Aranjuez, ein modernes Lokal mit ausgezeichneter Küche. Das Lokal wird seinem Namen gerecht. Wir essen alle einen Teller Tomate als Vorspeise, mit verschiedenen Zutaten. Dann gibt es Fleisch, Schwein, Ochse, Lamm, alles sehr schmackhaft. Und dann noch einen opulenten Nachtisch mit viel Mango und viel Mascarpone. Dazu einen hervorragenden Wein vom Duero.

Die beiden sind zufrieden in Aranjuez. Es ist eine eher ruhige Kleinstadt, sehr spanisch. Es kommen zwar viele Touristen, aber das sind fast ausschließlich Tagestouristen. Madrid ist mit dem Zug gerade mal 45 Minuten entfernt, und dennoch haben Pendler Aranjuez noch nicht für sich entdeckt, obwohl diejenigen, die im Norden Madrids wohnen, in den vornehmeren Viertel, genauso lange zur Arbeit unterwegs sind. Wir sprechen über die alten Zeiten, aber auch über unsere Gemütsverfassung angesichts des Älterwerdens, der Pandemie, der Kriegsgefahr. Pläne haben wir alle drei noch, jeder auf seine Art und Weise. Von früher haben wir unterschiedliche Dinge in Erinnerung. Sie erzählen von einem früheren Schüler, einem steinreichen, etwas zwielichtigen Geschäftsmann, der einen Intensivkurs bei uns belegte, einen ganz auf ihn zugeschnittenen. Der sei, erzählen sie, später Opfer eines Attentats geworden. Ich kann mich nicht an ihn erinnern, aber beide sind sich sicher, dass ich ihn unterrichtet habe. Ich hätte damals die Art und Weise kommentiert, wie dieser Mann mit dem Geld um sich warf.

Als das Mittagessen zu Ende ist, ist es fünf Uhr. In bin in Spanien angekommen. Die beiden bringen mich noch zum Bahnhof und dann verabschieden wir uns mit dem festen Vorsatz, uns bald wiederzusehen.

Als ich wieder in Atocha ankomme, sehe ich mir noch das Monument für die Opfer des
11-M an, der Attentate von 2014 auf Züge und Bahnhöfe in Madrid. Eine der Bomben explodierte hier in Atocha. Insgesamt gab es 192 Tote und Tausend Verletzte.

Man betritt eine abgedunkelte, blaue Halle mit einer mächtigen Kuppel, durch die Licht in den leeren Rau strömt. An den Wangen der Kuppel werden mit Laserstrahlen Botschaften in verschiedenen Sprachen projiziert, die Spanien nach dem Attentat erreichten.

Am Abend im Hotel lese ich, dass Stalin, Churchill und Roosevelt sich in Teheran trafen, weil Stalin Flugangst hatte und sich überhaupt nicht für lange von Moskau entfernen wollte. Es gab keine Tagesordnung, man sprach mal dies, mal das Thema an, oft im Plauderton und beim Essen oder beim Rauchen. Entgegen der allgemeinen Erwartung gab es keine Koalition des Westens gegen Stalin, sondern eher eine Verbindung von Roosevelt und Stalin, die die gleichen strategischen Vorstellungen hatten. Gleichzeitig verstand sich Churchill mit Stalin so gut, dass er sagte, alle Probleme der Welt könnten gelöst werden, wenn er sich einmal im Monat mit Stalin treffe.

2. März (Mittwoch)

Wieder geht es am Morgen zu Fuß los, Richtung Zentrum, wie vorgestern. Das erste Viertel, das man erreicht, ist La Latina. Es ist benannt nach Beatriz Galindo, einer Vertrauten der Katholischen Königin. Sie bekam ihren Beinmanen, La Latina, weil sie schon als Kind Latein konnte und mit der Königin Latein sprach oder ihre Kinder in Latein unterrichtete. Genau weiß man das nicht. Auf jeden Fall war sie eine einflussreiche Frau am Hof und unterstützte Isabel auch in ihrem (nicht ganz unumstrittenen) Anspruch auf die Krone Kastiliens. Wäre die Geschichte Spaniens vielleicht anders verlaufen, wenn Isabel nicht Königin geworden wäre?

Hier im Viertel, einem weiteren ganz normalen Wohnviertel, ein paar Schritte von der Plaza Mayor entfernt, wird der Name Latina natürlich ordentlich ausgeschlachtet, alles ist vertreten vom Teatro La Latina bis zum Restaurante La Latina. Hier gibt es auch noch viele kleine Geschäfte, Familienbetriebe, einen Uhrmacher, ein Korsettgeschäft, ein Kerzengeschäft, ein Schuhgeschäft. In dem gibt es, laut Schaufensterinschrift, nicht nur Schuhe und alle möglichen Sandalen zu kaufen (alpargatas, espadrilles) zu kaufen, sondern auch pisamierdas, wörtlich ‚Scheißetreter‘. Alle Geschäfte hier haben noch die alten schweren Gitter vor den Schaufenstern, genauso wie eine Apotheke, die schon seit dem 19. Jahrhundert hier ihren Platz hat.

Ich gehe zum Frühstück ins Canalejas, einer typischen Bar mit einer langen Theke, an der die Gäste auf Barhockern sitzen. Ich leiste mir diesmal neben Kaffee und Toast auch einen frisch gepressten Orangensaft. Hier wirft man noch nach alter Sitte alles auf den Boden. Der Unrat wird dann in regelmäßigen Abständen weggekehrt. Nicht mehr auf dem Boden landen allerdings Zigarettenkippen. Das Rauchen im öffentlichen Raum findet in Spanien so gut wie gar nicht mehr statt.

Der Name der Bar, Canalejas, bezieht sich auf einen liberalen Politiker, der Anfang des 20. Jahrhunderts einem Attentat zum Opfer fiel, ganz hier in der Nähe, auf der Plaza Mayor. Die Parallele zu den Attentaten dieser Zeit bei uns in Deutschland, Erzberger, Rathenau, drängt sich auf. Die Umstände des Attentats erinnern allerdings eher an das auf Olof Palme. Canalejas stand seelenruhig vor einer Buchhandlung und sah sich deren Schaufenster an.

Weiter geht’s zur Plaza Mayor. Ich gehe einmal ganz herum (hab ich auch noch nie gemacht). Es gibt insgesamt neun Zugänge, alle durch Torbögen, unregelmäßig verteilt. Auffallend ist das unterschiedliche Bodenniveau. Von meiner Seite aus, von Süden, geht es steil bergan zum Platz, im Norden ist es eben. Man muss hier den Grund erst nivelliert haben, bevor man den Platz anlegte.

Auch hier gibt es noch ein paar kleine, traditionelle Geschäfte, darunter einen Hutladen und ein Briefmarkengeschäft.

Zum ersten Mal sehe ich mir auch die bunten Wandmalereien an der Nordseite an, an der Casa de la Panadería, die die Mitte dieser Seite einnimmt. Hier waren ursprünglich allegorische Darstellungen von Lebensaltern angebracht, aber, nachdem die Bilder fast ganz verwittert waren, übermalte man die. Jetzt gibt es allerhand, meist halbnackte, muskulöse Gestalten aus der Mythologie zu sehen, die man im weitesten Sinne mit der Geschichte Madrids in Verbindung bringt.

Außerhalb der Plaza, schon auf der Calle Mayor, sehe ich einen Laden mit dem Namen La Hija de Caín. Der Laden ist noch geschlossen, so dass ich nicht herausfinden kann, worauf sich die merkwürdige Benennung bezieht. Ich wusste noch nicht einmal, dass Kain eine Tochter hatte.

Auf der anderen Straßenseite an einer Ecke ein altes Juweliergeschäft. Oben über dem Schaufenster ist eine einfache Zeichnung angebracht und ein lateinischer Spruch, der drei Metalle zu den Triumviris Monetalis erklärt: Gold, Silber und Erz.

Das nächste Ziel ist die Puerta del Sol. An dem Gebäude, in dem heute die Comunidad de Madrid ihren Sitz hat, benennt eine Plakette die Höhe, auf der Madrid liegt; 650,7 Meter über dem Meeresspiegel. Madrid dürfte die höchstgelegene Hauptstadt Europas sein. Das Gebäude wird heute noch von älteren Madrilenen gemieden, weil hier früher der Sitz von Francos Geheimdienst war.

Gleich vor dem Gebäude, im Pflaster des Bürgersteigs, der Stein, der den Kilometer Null bezeichnet, die Stelle, von der alle Entfernungen in Spanien gemessen werden. Ursprünglich waren es, wie man an einem in den Boden eingelassenen Mosaik mit einer Karte von Spanien sehen kann, die sechs radial verlaufenden Nationalstraßen, die in sechs verschiedene Richtungen verliefen, nach Irún, Barcelona, Valencia, Cádiz, Badajoz und La Coruña. Man sieht, dass Madrid ziemlich genau, wenn auch nicht ganz genau, im Zentrum Spaniens liegt. Zu der Zeit, als die Messung eingeführt wurde, handelte es sich noch um Nationalstraßen. Autobahnen gab es so gut wie keine. Heute hat Spanien das größte Autobahnnetz der EU.

Von hier aus nehme ich die Calle Arenal. Sie ist jetzt komplett fußläufig. Wunderbar. Hier sind eher elegante Geschäfte zu finden, auch internationale Ketten. Auch Starbucks fehlt hier nicht. Ursprünglich handelte es sich bei der Arenal, wie der Name heute noch verrät, um einen Sandweg.

Die Namen der Seitenstraßen, Calle de Bordadores und Calle de las Hileras, die der Stickerinnen und die der Spinnerinnen, zeugen noch davon, dass hier früher das Viertel der Tuchmacher war.

Links liegt San Ginés. Es soll sich um eine der ältesten Kirchen Madrids handeln, aber davon ist nicht mehr viel zu sehen. Es soll hier ein Gemälde von El Greco geben, aber das kann ich nicht finden. Später lese ich auf der Website, dass das Gemälde nur zu ganz bestimmten Zeiten an wenigen Wochentagen gezeigt wird. In einer der kitschigen Seitenkapellen treffe ich wieder auf María de la Cabeza, deren Namen mir immer noch Kopfschmerzen verursacht.

Die Arenal führt direkt zum Teatro Real. Auf dem Platz davor kleinere Gruppen von Touristen, die durch Madrid geführt werden. In der Mitte des Platzes steht die Statue von Isabel II.

Von hier ist es nicht mehr weit bis zum Palacio Real unseligen Angedenkens. Mein Bruder stöhnt heute noch unter der Last, die er – ganz wörtlich – bei der Besichtigung damals zu tragen hatte.

Das breite, gräuliche Gebäude im klassizistischen Stil, ist, wie mir jetzt erst auffällt, asymmetrisch. Rechts fehlt ein Flügel, das Pendant zu dem auf der linken Seite.  

Auf dem weiten Platz vor dem Palast noch eine Reiterstatue, schon die dritte des Zentrums, nach der auf der Plaza Mayor und der auf der Puerta del Sol. Auf dem Sockel steht an zwei Seiten, dass die Statue von Isabel II gestiftet worden ist, aber wer da auf dem Pferd sitzt, erfährt man nicht. Isabel ist es jedenfalls nicht. Sieht schwer nach Felipe IV aus. Und er ist es auch, wie auf einer neuen, etwas entfernt stehenden Tafel zu lesen ist. Das Pferd wird hier in einer anderen Position dargestellt. Es bäumt sich auf, beide Vorderhände schweben in der Luft. Felipe hält die Zügel in der linken und einen Stab in der erhobenen rechten Hand. Ganz genau dargestellt sind die Verzierungen auf seiner Uniform sowie der gezwirbelte Schnurrbart, die geflochtene Mähne des Pferds, die kleinen Furchen im unteren Teil der Stiefel.

Wieder ist es nur ein kurzes Stück bis zur Plaza de España, einem Platz, mit dem man sich immer etwas schwertut. Aber auch hier ist es ruhiger geworden, auch wenn oben die Gran Vía entlang braust. Auf diesem Platz stehen Spaniens erste Wolkenkratzer, noch in der Franco-Zeit entstanden, als Ausweis des Fortschritts. Eins, zweifarbig gefasst, mit getreppten Seitenteilen an der Stirn des Platzes, das andere, turmartig, mit abgerundeten Balkonen, an der Seite. Keine Schönheiten, aber ich bin nicht mehr ganz so kritisch wie früher.

In der Mitte des Platzes steht das etwas uninspirierte Cervantes-Denkmal. Der Dichter sitzt auf halber Höhe und blickt auf seine bronzenen Figuren herab, Don Quijote auf dem Pferd, Sancho Pansa auf dem Esel. Cervantes hält zwei Bücher in der Hand, und das ist wichtig. Es ist ein Verweis auf die zwei Bände des Quijote, der von 1605 und der von 1615. Der zweite Band enthält nämlich Anspielungen auf die inzwischen erschienen Fortsetzungen des Romans von anderen Autoren und macht sich über die lustig. Das seien doch alles nur Erfindungen, das habe doch nichts mit dem wirklichen Don Quijote zu tun. Ein ironisches und sehr modernes Spiel mit der verschwommenen Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Genauso, wie wir sie heute wieder bei den modernen Medien erfahren.

An den Seiten des Monuments sind Szenen aus den Werken von Cervantes dargestellt. Auf dem Obelisk eine Weltkugel, die von fünf Figuren gehalten wird, die für die fünf Kontinente stehen. Sie stehen genauso für den Ruhm von Cervantes wie die Wappen der lateinamerikanischen Länder, die an dem Brunnen angebracht sind.

Ich will zur Ermita San Antonio de la Florida und frage eine Frau, die aussieht, als wenn sie das wüsste, nach dem Weg. Und sie weiß ihn. Ihre Erklärung ist glasklar. Sie fragt noch schnell, ob ich das zu Fuß machen wolle. Das sei ziemlich weit. Das sagen Spanier zwar immer, aber in diesem Fall hat sie recht. Es ist wirklich ein ganzes Stück, am Nordbahnhof vorbei, an einem verkehrsreichen Kreisverkehr vorbei und durch ein Gewerbegebiet. Dort frage ich noch ein zweites Mal. Der Mann hört gar nicht mehr auf mit seinen Erklärungen, beginnt von seinen Eltern zu erzählen und wie die zum Tanzen gingen auf die verbena, das Fest dieses Viertels, das in ganz Madrid bekannt war. Und er erzählt von der Bar Mingo, gleich bei der Ermita, seinerzeit berühmt wegen ihrer cidra und ihrer Hähnchen. Dort ging man, wenn das Geld reichte, sonntags zum Essen hin. Und bekam so einmal in der Woche Fleisch. Das sei keine Selbstverständlichkeit gewesen. Er erzählt mir auch noch etwas über den Kopf von Goya, bevor ich mich losreißen kann.

San Antonio de la Florida gibt es gleich im Doppelpack. Zwei fast identische Kapellen, in geringer Entfernung zueinander, etwas versetzt vom Straßenrand. Die eine Kapelle ist aber 200 Jahre jünger als die andere. Das kam so: Die ursprüngliche Kapelle wurde von Goya ausgemalt. Der Ansturm auf die Kapelle wurde danach so groß, dass man keine Gottesdienste mehr in Ruhe abhalten konnte. Alle wollten nur noch die Bilder sehen. Daraufhin entschloss man sich 1928, eine Zwillingskapelle für die kirchliche Liturgie zu bauen und die alte Kapelle zum Museum zu machen.

Die Arbeit von Goya hier ist genau dokumentiert: Er arbeitete an 120 Tagen 4 Stunden täglich. Das Deckengemälde zeigt das Wunder Antonios: Sein Vater war des Totschlags angeklagt, aber unschuldig. Der Sohn versuchte vergeblich, den Richter von der Unschuld des Vaters zu überzeugen. Es gelang ihm aber, den Richter zu überzeugen, den Leichnam des Opfers herbeischaffen zu lassen. Dann geschah das Wunder: Der Tote erwachte und bestätigte die Unschuld des Vaters. In der Kuppel wird genau dieser Moment dargestellt. Das Besondere ist aber nicht die Darstellung des Wunders, sondern die der Zuschauer. Das sind ganz gewöhnliche Madrilenen aus dem Volk. Sie lehnen an einer Brüstung, die rund um die Kuppel geht und täuschend echt aussieht. Einige der Zuschauer flüstern, andere gucken neugierig oder gespannt hin, andere weisen mit dem Finger auf die Szene, wieder andere scheinen von dem Geschehen kaum etwas mitzubekommen. Die Kuppel öffnet sich nach oben in eine Landschaft mit Bäumen und Himmel. Außerhalb der Kuppel, im Gewölbe, hat Goya alle möglichen engelhaften Figuren angebracht, von kleinen, drallen, unbekleideten Putten bis zu mädchenhaften Figuren mit langen weißen Gewändern. Die dominierende Farbe des Gemäldes ist hellblau, und die Technik ist eine Mischung aus al fresco und al seco. Zuerst werden die Formen auf den feuchten Putz aufgetragen, so dass die Farben ihre Frische bewahrten, dann wurden in aller Ruhe die Details gemalt.

Vor dem Altar ruhen die Gebeine Goyas, nachdem sie aus Bordeaux hierher überführt worden waren. Die Sache hat aber einen Haken: Es fehlt der Kopf. Warum, weiß keiner. Oder kaum einer. Ich weiß es jetzt, denn der Mann auf der Straße, der mir von seiner Kindheit erzählt hat, hat es mir anvertraut: Goyas Kopf liegt in der Bar Mingo, versteckt im Keller. Das sei erwiesen. Leider hat die Bar Mingo noch geschlossen und ich kann es nicht überprüfen.

Stattdessen gehe ich über eine schmale Eisenbrücke hinter den Kapellen. Man läuft auf ein Denkmal für Goya zu. Es besteht aus vier hohen Steinen, die etwas versetzt zueinander und etwas erhöht, in dieser unwirtlichen Gegend, in die sich kaum jemand verläuft, herumstehen. Sie tragen die Buchstaben G – O – Y – A. Gut, dass er nicht Zurbarán heiß oder Velázquez.

Hinter den Steinen befindet sich der Friedhof, auf dem die Opfer des Aufstands vom 3. Mai 1802 begraben liegen, aber der Friedhof ist geschlossen. Man kann nur durch das Eisengitter am Eingang blicken und sieht eine Nachbildung des berühmten Gemäldes von Goya in Keramik.

Ich gehe wieder zurück zur Straße. Dort unten, gegenüber der Kapelle, steht ein Goya-Denkmal, eine Bronzeskulptur. Goya wird sitzend dargestellt, in zeitgenössischer Tracht, auf einem Stuhl im Empire-Stil. Er hält Pinsel und Palette in einer Hand und legt eine Ruhepause ein. Unten am Stuhl angelehnt ein paar Bögen, die vermutlich fertige Bilder darstellen sollen.

Vorher, in San Ginés, hat ein Schild mich daran erinnert, dass heute Aschermittwoch ist. Jetzt erinnert mich ein weiteres Schild daran, ein buntes Plakat zum Entierro de la Sardina. Am Aschermittwoch wird traditionell eine große Sardine aus Pappmasche begraben. Das erinnert an eine frühere Schiffsladung Sardinen, die an einem Aschermittwoch ankam und durch einen verlängerten Seeweg verdorben war. Man musste sie wegkippen, „begraben“.

Ich gehe zurück und stelle fest: Es ist 12 Uhr. Erst 12 Uhr. Dafür habe ich schon ganz schön viel Programm absolviert. Zeit für eine Pause. An der langgezogenen Straße liegt eine moderne Bar, ganz in Blau und Weiß eingerichtet und mit einer breiten Fensterfront. Hier wird nichts auf den Boden geschmissen. Ich bestelle ein Bier und ein Stück Tortilla. Die Preise sind auch anders als in den traditionellen Bars.

Hier gibt es auch ein paar elegante Restaurants, darunter eins, das El Urogallo heißt. Das Emblem des Lokals hilft beim Verstehen: Der Auerhahn.

Ebenso modern ein Friseursalon ganz in der Nähe. Der spielt mit den Preisen. Haarschnitt (kurz) 15,47 €, Haarschnitt (mittel): 16,61 €, Haarschnitt (lang): 19,45 €, Färben: 24,70 €, Färben ohne Ammoniak: 28,94 €, Sonderangebot (das ganze Programm) mittwochs und donnerstags: 53,24 €.

Auch mit Zahlen spielt ein Plakat, das auf Gefahren hinweist, die im Internet lauern. Da es dabei um Zahlen geht, werden in dem Text Zahlen an Stelle von Buchstaben eingesetzt:
vas a v3r má5 núm3ro5 qu3 en l4 contr4señ4 d3l w1fi. Kann man erstaunlich gut lesen.

Ich bin genug gelaufen und nehme die Metro. Von Príncipe Pío geht es zurück nah La Latina. Und dort in die Markthalle, Mercado de la Cebada. Der hat nichts von Schickimicki, er ist ein ganz normaler Markt für die Menschen des Viertels. Ganz normal doch nicht. Denn hier kann man nicht nur Obst und Gemüse und Fisch und Fleisch kaufen. Hier kann man auch Uhren und Lampen reparieren, Kleidung ausbessern, Scheren und Messer schleifen, Schlüssel nachmachen oder ein Bild von sich malen lassen.

Vom Markt geht es in eine Drogerie. Ein langer, fensterloser, schlauchartiger Raum mit Regalen zu beiden Seiten, die bis unter die Decke mit Waren bestückt sind, alle ordentlich aufgereiht, ohne eine einzige Lücke. Ich kaufe Papiertaschentücher, sechs Pakete für 65 Cent. Als ich an der Kasse nach San Isidro frage, dem Museum, oder nach San Andrés, der benachbarten Kirche, löse ich damit heftige Bewegung aus. Die junge Kassiererin rennt nach hinten, um die Chefin zu fragen, die beiden Kundinnen hinter mir blicken sich gegenseitig fragend an und bestätigen sich gegenseitig und mir, dass das ganz hier in der Nähe sei. Sie wüssten das ganz genau, sie seien schließlich hier in diesem Viertel aufgewachsen. Wo war das denn noch mal? Dann kommt eine dritte Kundin hinzu, eine ganz alte Dame. Ja, hier vorne, gleich auf dem Platz, wo die Musik spielt. Ja, jetzt wissen es die anderen auch wieder.

Man braucht tatsächlich nur ein paar Schritte auf dem Bürgersteig weiter zu gehen und schon kommt man auf den Platz, einen ganz schönen, unregelmäßigen Platz mit der Kirche und dem Museum und viel Gastronomie. Ich setze mich draußen an einen der Tische direkt vor dem Museum. Kaffee gibt es nicht, also bestelle ich heldenhaft noch ein Bier. Als sie mir das Bier bringt, zusammen mit einem Teller Oliven, sagt die junge Kellnerin, dass Museum sei bestimmt chulo, aber sie sei noch nie drin gewesen.

Wie in allen städtischen Museen in Madrid ist der Eintritt gratis, aber hier würde es sich auch lohnen, Eintritt zu bezahlen. Man ist überrascht von der hochmodernen Präsentation der Exponate hinter der historischen Fassade.

Überrascht ist man auch, was sich hier in der Gegend in vorgeschichtlicher Zeit alles rumgetrieben hat: Stiere, Hirsche, Nashörner, Nilpferde, Elefanten! Alle dokumentiert durch Knochenfunde, darunter die mächtigen Stoßzähne eines Mammuts! Die ältesten Spuren sind 500.000 Jahre alt.

Das älteste Exponat, das auf die Präsenz von Menschen hinweist, ist 125.000 Jahre alt: ein Backenzahn!

Von der Präsenz des Homo heidelbergensis und des Homo neanderthalensis zeugen keine Knochenfunde, wohl aber Werkzeuge.

Ein wichtiger Schritt in der Entwicklung von Werkzeug ist das, was hier auf Englisch hafting und auf Spanisch enmangado genannt wird und was auf Deutsch, wie das Internet mir verrät, Schäftung heißt. Dabei werden zwei oder mehrere Teile zu einem komplexeren Werkzeug verbunden. Hier kann man verschiedene Exemplare eines solchen Werkzeugs sehen, zum Beispiel solche, bei denen eine Klinge aus Stein an einen Schaft aus Holz angebracht wurden. Das verbessert die Handhabung der Werkezugs und erhöht die Wirksamkeit. Alles dies sind noch Werkzeuge von Jägern und Sammlern.

Ein schöner Bronzekrug mit Verzierungen, der aussieht, als wenn er ein Steinkrug wäre, ist eins der ältesten Zeugnisse des sesshaften Menschen hier. Dazu sieht man allerlei Kochgeräte aus Ton mit schönen Friesen. Man war von vornherein darauf bedacht, nicht nur funktionales, sondern auch schön aussehendes Geschirr zu produzieren.

Landwirtschaft und Viehzucht bedeuteten nicht sofort den großen Durchbruch. Man musste mit vielen Rückschlägen kämpfen. Was man sich auch gut vorstellen kann: Man pflanzt etwas an, aber es wächst nicht, man hat mit Pflanzenbefall zu rechnen, die Ernte leidet unter den Wetterbedingungen. Lange war mit der neuen Lebensweise bestenfalls die Selbstversorgung zu gewährleisten. Erst als die Resultate besser wurden und man Überschüsse erwirtschaftete, lohnte sich die neue Lebensweise. Und die löste dann auch den Handel aus.

Aus den Höhlen war man in Hütten umgezogen, und jetzt entstanden die ersten Häuser. Man sieht hier das Modell eines länglichen Hauses, für die gesamte Großfamilie, einschließlich Vieh, alle in einem Raum. Solche Häuser waren aus Lehmziegel gebaut und konnten mit den entsprechenden Ausbesserungsarbeiten 200 Jahre überdauern.  

Dann kommt ein Sprung in die Römerzeit, die hier mit einem prächtigen Mosaik vertreten ist. Das muss aber aus einer anderen Gegend stammen. Madrid selbst wurde ja erst später gegründet. Das Mosaik stellt vier allegorische Figuren dar, die für die vier Jahreszeiten stehen. In der Mitte, an einer beschädigten Stelle, nicht so gut zu erkennen, ein Panther, der von einer menschlichen Hand gehalten wird.

Dann kommt die Zeit der Mauren. Hier werden zahlreiche Alltagsgegenstände ausgestellt: Töpfe, Krüge, Schüsseln usw. Bis auf den leicht arabisierenden Dekor könnten sie genauso aus der christlichen Zeit oder aus der Zeit der Römer stammen.

Dann kommt das christliche Madrid und mit ihm das erste Kloster, San Jerónimo. Es hatte zunächst einen anderen Standort, wurde dann aber wegen der ungesunden Umgebung verlegt, dahin, wo heute noch die Kirche steht, in das Gebiet des heutigen Paseo del Prado. Dabei wurde das Kloster Stein für Stein abgetragen und an der neuen Stelle wiederaufgebaut, und man zog mit Sack und Pack um.

Ein besonderes Schmuckstück des Museums sind zwei Grabmäler, die von Francisco Ramírez und Beatriz Galindo, Sarkophage aus Alabaster. Beide werden liegend dargestellt, sie mit betenden Händen, er mit einem Buch. Dabei hätte ihr das Buch genauso gut zu Gesicht gestanden. Schließlich ging sie als die Belesene, La Latina, in die Geschichte ein. Beide sind gebettet auf einem dreifachen Kissen. An den Wänden der Sarkophage sind im Relief allerlei Figuren, Wappen und Verzierungen angebracht. Beatriz Galindo wurde schon in jungen Jahren Witwe, weil ihr Mann, der Sekretär des Königs Fernando, aber auch Artillerist in seinem Heer war, bei dem Kampf gegen die Moren in Granada ums Leben kam.

Der letzte Teil der Ausstellung ist San Isidro gewidmet. Es gibt Gemälde und Figuren von ihm aus unterschiedlichen Zeiten, die meisten eher Resultate der Volksfrömmigkeit als der Kunstfertigkeit. Meist wird er mit einer langstieligen Hacke dargestellt, denn San Isidro – und das ist das Besondere an ihm – war kein Märtyrer, kein Gelehrter, kein Ritter, sondern ein ganz einfacher Landarbeiter. Im Spanischen heißt er deshalb auch meist San Isidro Labrador. Und er war verheiratet, mit einer ebenfalls ganz einfachen Frau, und das ist die ominöse María de la Cabeza, auf die ich jetzt schon mehrmals gestoßen bin. Sie wird oft mit einem Rechen dargestellt. Der Name erklärt sich immer noch nicht, wenn man die Darstellungen sieht. Sie hat weder einen besonders kleinen noch einen besonders großen Kopf, auch keinen auffälligen oder deformierten Kopf. Der Name stammt daher, dass ihr Kopf, der jetzt in einer Urne in Madrid aufbewahrt wird, der wichtigste und meist verehrte Teil ihrer Reliquien war.

Die Besichtigung endet in einem sehr schönen Renaissance-Innenhof, der original erhalten ist. Der Innenhof ist lichtdurchflutet, zweistöckig, mit schlanken Säulen und den typischen weiten Bögen der Renaissance. Im Zentrum steht ein Brunnen, der mit San Isidro in Verbindung gebracht wird oder gebracht wurde. Er ist nämlich der Legende nach – die sich inzwischen als Irrtum erwiesen hat – der Brunnen, an dem San Isidro sein bekanntestes Wunder vollbracht hat: Ein Junge drohte im Wasser des Brunnens zu ertrinken, aber San Isidro sorgte dafür, dass das Wasser stieg, bis an den Rand des Brunnens, so dass man den Jungen bergen konnte.

Nach dem Museum schlendere ich etwas in der Gegend herum und lande dann bei San Millán, auf einem benachbarten Platz, auch noch in La Latina. Ein Volltreffer. Es gibt Bohnen mit chorizo, Hähnchen mit Pommes und budín (der anders als unser Pudding ist und oft Biskuit und Rosinen enthält), alles sehr schmackhaft außer den Pommes, dazu Bier und Kaffee. Das Ganze für 12 €!

Am Abend sehe ich im Fernsehen El Cazador, das spanische Pendant zu Gefragt – Gejagt. Der Wert jeder Frage in der Schnellraterunde ist hier nicht 500 €, sondern 1.000 €,  und die Fragen in der Schnellraterunde sind leichter als bei uns. Es geht also um mehr Geld. Die Jägerin ist eine Armenierin, erst seit sieben Jahren in Spanien lebend. Es heißt, sie habe Spanisch durch ein ähnliches Fernsehquiz gelernt. Ihr Wissen ist beeindruckend, und sie kann oft sogar die Kandidaten schlagen, wenn es um Fragen zum Spanischen geht: Wie heißt es? Nunca digas … A) de este agua no beberé, B) de esta agua no beberé oder C) beide Versionen sind korrekt. Sie gibt die richtige Antwort (B), der Kandidat die falsche (A). Eine andere Frage lautet, wie viele Nachbarstaaten Mexiko habe, 1, 3 oder 4. Der Kandidat sagt 1, die Jägerin macht es richtig und sagt 3. Ich habe zwischen 3 und 4 geschwankt. Eine andere Frage lautet, welche der spanischen Provinzen am weitersten südlich liegt, Tarragona, Teruel oder Segovia. Beide, Jägerin und Kandidat, antworten richtig: Teruel. Ich hätte Segovia gesagt.

Die Nachrichten im Fernsehen werden auch hier vom Krieg beherrscht. Der hat die Pandemie in die zweite Reihe verwiesen. Der Tenor ist derselbe wie bei uns. Neben diesen weltbewegenden Themen gibt es noch zwei spanische Themen, die behandelt werden: die bevorstehende Rückkehr des emeritierten Königs, der juristisch von allen Anschuldigungen freigesprochen wurde, und der Kampf um den Vorsitz der PP. Der amtierende Vorsitzende, Casado, ist wegen undurchsichtiger Geschäfte ins Kreuzfeuer geraten, und jetzt ist ein Gegenkandidat aufgetreten, der ihn ersetzen will.

3. März (Donnerstag)

Heute steht eine längere Fahrt mit der Metro an. Nach Chamartín, Madrids Nordbahnhof. Von dort soll es weiter nach Norden gehen, nach Lugo, mit dem AVE.

Es geht mit der vertrauten Linie 5 los, der grünen, dann weiter mit der neuen Linie 10, der grauen. Alles ist vorbildlich ausgeschildert. Zu dieser Zeit ist die Metro voll, rappelvoll, aber man steht nicht mehr so eng aneinander wie früher. Es sind nicht nur Metrolinien dazugekommen, es sind auch alte ausgebaut worden. Die 5, die früher 16 Haltestellen hatte, hat heute 32. Die Metro fährt aber weiterhin links. Warum, das habe ich damals schon nicht gewusst.

Auch bei dieser Reise profitiere ich von einer praktischen Erfindung der Kleidungsindustrie: eine Tasche in der Hosentasche, die Reißverschluss abschließbaren ist. Da sind Ausweis oder Geldkarte gut aufgehoben. Man muss sich nur später daran erinnern, dass man sie da versteckt hat.

Spanien hat von allen europäischen Ländern durch Corona die schärfsten Einschränkungen im Alltagsleben durchgemacht. Übriggeblieben ist jetzt noch die Maskenpflicht. Die gilt überall, im Hotel, im Museum, in der Metro. Schwarz ist die beliebteste Farbe bei den Masken. Auch draußen tragen viele noch die Maske, vielleicht aus purer Gewohnheit. Es wird aber nirgendwo mehr kontrolliert, ob man geimpft ist, weder in Geschäften noch in Lokalen noch in Museen. In Funchal bin ich vor Weihnachten, trotz Impfnachweis, noch in einem Museum abgewiesen worden, weil mein Test nicht mehr aktuell war.

In Chamartín tritt man beim Übergang von der Metrostation in den Bahnhof kurz ins Freie. Dort eröffnet sich ein Blick auf die Castellana mit vier modernen Wolkenkratzern, in regelmäßigen Abständen zueinander stehend, alle schlank, jedes mit seiner eigenen Form. Ein anderes Madrid als das von La Latina oder Lavapiés.

Auch der Bahnhof ist nicht wiederzuerkennen. Gläserne Aufzüge, schwebende Rolltreppen, Lichtinstallationen, in Dunkelblau und Dunkelrot gefasste Räume. Dann kommt man in die großzügig gehaltene Abfahrtshalle.

Hier geht es wie auf einem Flughafen zu. Man wartet vor der Anzeigetafel darauf, dass der Bahnsteig benannt wird. Dann erfolgt die Gepäckkontrolle, dann kommen Fahrkartenkontrolle und Ausweiskontrolle. Wenn man keine Fahrkarte hat, kommt man gar nicht erst auf den Bahnsteig.

Das Netz des AVE ist jetzt schon sehr dicht. Ich erinnere mich noch an den Bau der ersten Strecke, Madrid-Sevilla. Der Bau des AVE, unter der Regierung von Felipe González initiiert, war anfangs hoch umstritten. Schließlich fährt der AVE auf der europäischen Spurenbreite, die schmaler ist als die spanische. Es wurde also ein komplett neues, autarkes Eisenbahnnetz aufgebaut, das jetzt parallel zu dem alten existiert. Dadurch kommt dem AVE nichts in die Quere. Er fährt auf dieser Strecke oft an die 300 km/h.

Hinter Zamora geht es ständig durch Tunnel, einer nach dem anderen, langen und kurzen. Kaum ist man aus einem raus, ist man in dem nächsten drin. Der Bau der Strecke muss eine unglaubliche Ingenieursleistung gewesen sein. Andererseits hat Spanien den Vorteil, nicht so dicht besiedelt zu sein wie Deutschland.

Es gibt bis Orense nur einen Halt, Zamora. Da sind wir in einer Stunde. Dann kommt schon Orense. Fahrplanmäßige Ankunft: 12.15. Tatsächliche Ankunft: 12.15.

In Orense geht es in den Bus. Der Zug fährt nicht nach Lugo durch, weil Arbeiten an der Strecke vorgenommen werden. Man wird in Orense am Bahnhof von einer Angestellten der RENFE in Empfang genommen und zu seinem Bus geführt.

In der modernen Abfahrtshalle hat man auf den blauen Balken des Glasdachs Verse eines galicischen Gedichts angebracht. Ich kann es auf die Schnelle nicht entziffern, aber es hat etwas mit Abfahren und Wiederkehren zu tun.

Der Bus braucht natürlich länger als der Zug. Aber dafür entschädigt die Landschaft. Fruchtbare Äcker, Weiden, auf denen Kühe grasen, Berge und Schluchten, grüne Bäume, blühender Ginster, und ganz unten im Tal ein Fluss.

Einen Halt machen wir in Monforte. Vor der Einfahrt in die Stadt sieht man auf einem hohen Felsen gelegen eine Festung mit einem hohen Turm.

Am Bahnhof gibt es ein Puppenmuseum oder ein Puppenkastenmuseum – das ist nicht so leicht zu unterscheiden – und davor stehen knorrige Bäume, deren Blüten wie Rosen aussehen.

Aus Monforte stammt Inés de Castro, die Protagonistin des abenteuerlichsten Liebesdramas der portugiesischen Geschichte. Sie ist mir aus Coimbra in Erinnerung. Sie kam als Hofdame der kastilischen Prinzessin Costanza nach Portugal. Der Thronfolger, Dom Pedro, heiratete Constanza, hatte es aber auf Inés abgesehen. Die beiden hatten ein heimliches und nach dem Tod von Constanza ein offenes Liebesverhältnis (ob sie auch heimlich geheiratet haben, weiß man nicht genau). Das war aber dem König, Afonso IV, ein Dorn im Auge. Nicht nur aus moralischen, auch aus politischen Gründen, denn er fürchtete den Einfluss des kastilischen Hofs auf die Politik Portugals. Und so ließ er Inés hinterrücks ermorden. In Coimbra habe ich den Jardim das Lágrimas besucht, den Ort der heimlichen Liebestreffen der beiden und den Ort des Meuchelmords an Inés. Pedro veranstaltete nach ihrem Tod einen wilden Kreuzzug gegen seinen Vater, aber ohne Erfolg. Als der Vater starb und Pedro ihm auf den Thron folgte, ließ er Inés rehabilitieren. Heute ruhen beide in prächtigen weißen Sarkophagen in Alcobaç. Sie liegen sich gegenüber, Fuß an Fuß, damit, wie die Legende besagt, sie sich bei der Auferstehung am Jüngsten Tag gleich in die Augen sehen können.  

Nach Monforte wird die Landschaft unansehnlicher. Und es regnet unentwegt. Kein Wunder, dass es hier so grün ist.

In Lugo angekommen, geht es auf einem kurzen Fußmarsch durch hässliche Außenbezirke ins Zentrum. Das Hotel liegt direkt außerhalb der Stadtmauer. Die ist komplett erhalten und Lugos Wahrzeichen. Alles, was innerhalb der Stadtmauer liegt, ist alt. Moderne Wohnviertel, Industrieviertel, Hochhäuser, alles außerhalb.

Erinnerungen an unsere Wanderung kommen auf. Da habe ich auf der Stadtmauer von Lugo meine allerersten vorsichtigen Gehversuche mit dem geschwollenen Knie gemacht. Und wir waren in einem luxuriösen Hotel untergebracht, dem ersten Haus am Platze. Das kam uns allen unnötig und unangemessen vor. Mein jetziges Hotel ist das Gegenteil davon. Hier ist Einfachheit Trumpf.

Ich lasse mich einfach durch die Stadt treiben, ziellos, und flüchte dann vor dem Regen in eine Kneipe. Auf dem Weg entdecke ich einen Frisörladen mit dem Namen El Cangrejo Zurdo – Der linksarmige Krebs. Was es damit wohl auf sich hat? Und später eine Kneipe mit dem Namen Ladrón de Manzana – Apfeldieb. Genauso rätselhaft.

Am Abend kommt Olga. Wir gehen einen Kaffee trinken und dann etwas essen. Ich erzähle von Madrid, sie von ihrer Arbeit und vor allem von ihren zukünftigen literarischen Projekten. Sie hat, durch die Verbindung mit einem ukrainischen Dichter, der in New York lebt, ukrainische Gedichte ins Spanische übersetzt, die der wiederum ins Englische übersetzt hat, so dass am Ende eine dreisprachige Ausgabe dabei herauskam. Ihre letzte Veröffentlichung ist ein Gedicht in einem Band mit galicischen Gedichten. Die Gedichte sind ausschließlich von Immigranten verfasst worden. Sie hat ihr Gedicht auf Ukrainisch geschrieben, irgendwer hat es auf Galicisch übersetzt, und so steht sie nun Seite an Seite mit den einheimischen Dichtern. Sie hat mir eine Übersetzung aus dem Galicischen ins Spanische geschickt. Das war auch nötig. Den galicischen Text hätte ich sonst nicht verstanden.

Wir machen anschließend noch einen kurzen Spaziergang, an der Kathedrale vorbei, durch zwei Stadttore und zur Plaza Mayor. Es hat aufgehört zu regnen, und die alten Gebäude sind angestrahlt. Ein paar schöne Photomotive. Dann macht sie sich auf zu der 97-jährigen  Dame, die sie pflegt und die sie jetzt ins Bett bringen muss.

4. März (Freitag)

Am Morgen bringt mich Olga noch zum Bahnhof. Wir machen Photos vor der Stadtmauer und von einer schönen romanischen Kirche. Dann entdecken wir noch eine ganz neue Skulptur, eine Weltkugel, über die eine Frau schützend ihre Hand legt. Die Figur der Frau scheint über der Kugel zu schweben und ist unten halb abgeschnitten.

Lugo hat viele Reste aus der römischen Zeit, Reste eines Tempels, Reste von Häusern, Reste von Thermen, Reste der Stadtmauer, Reste einer Begräbnisstätte. Davon ist aber bei einem oberflächlichen Stadtrundgang nichts zu sehen. Die Stadt wirkt mittelalterlich. Bei dem Volksfest, im Juni, lebt die römische Tradition aber wieder auf. Olga zeigt mir Photos, auf denen Menschen als Senatoren, als Gladiatoren, als Soldaten verkleidet durch das Zentrum defilieren.

Es bleibt noch Zeit für ein Frühstück. Sie führt mich in eine elegante Konditorei im Zentrum. Wir sitzen an Marmortischen, bei Kaffee und Gebäck. Auch hier kann man mit Kleingeld bezahlen: 4,40 €.

Olga hat, genauso wie ich, Schwierigkeiten mit ihrem Nachnamen. Bei ihr liegt das an der lateinischen Transkription des kyrillischen Namens, und die wiederum hat etwas zu tun mit der (früher eher dominanten) russischen und der (heute dominanten) ukrainischen Aussprache ihres Namens. Als Resultat dieser Veränderungen schreibt sie sich Glapsun, ihr Sohn aber Hlapsun.

Der Bahnhof ist nicht weit, liegt aber tiefer als die Innenstadt, in einem wenig ansehnlichen Gebiet. Er wirkt wie aus einer vergangenen Welt, ist klein, alt und heruntergekommen.

Und der Zug fällt entsprechen aus. Ich habe bei der Buchung übersehen, dass ich einen ALVA und keinen AVE reserviert habe. Der rumpelt und wackelt durch die Gegend, hat ein halbes Dutzend Haltestellen und kein Internet.

Nach Orense nimmt der Zug aber doch Fahrt auf, so dass wir nicht zu nachtschlafender Zeit in Chamartín ankommen. Die Wolkendecke, statt sich zu lichten, wird immer dichter, je näher wir Madrid kommen. Und in der Sierra liegt noch Schnee.

Es wird aber besser, als ich mich in Madrid noch mal auf den Weg mache, Richtung Malasaña, mit der Metro. Neben mir sitzt eine Frau mit einem aufgeschlagenen Buch in der Hand: La rebelión de las masas. Ein Buch, das bei mir seit Jahren auf der Merkliste steht.

Vor dem Ausstieg fällt mir ein Text auf, der neben der Tür im Wagen der Metro hängt: „Al alba“, ein Gedicht, das ich in vertonter Form kenne, von Rosa León gesungen. Der nicht auf den ersten Blick verständliche, aber sehr suggestive Text beschwört Bilder herauf, die im Kopf bleiben. Das Gedicht ist noch am Ende der Franco-Zeit verfasst worden und gibt die düstere Atmosphäre der Zeit wieder. Im Refrain heißt es „Presiento que tras la noche viene la noche más larga – Ich fühle, dass nach der Nacht die längste Nacht kommt.“

Ich steige in Alonso Martínez aus und gehe die von früher vertraute Sagasta hinunter. Die Straße ist nach einem Politiker des 19.Jahrhunderts benannt. Er stammte aus Zamora und war von Haus aus Ingenieur. In Madrid wurde er Dozent an einem technischen Institut und geriet nebenbei in die Politik und dabei in gefährliches Fahrwasser. Wegen seiner Beteiligung an einem Aufstand wurde er gefangen genommen, vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Es gelang ihm aber zu fliehen und in Frankreich Asyl zu bekommen. Nach dem Fall der Monarchie kehrte er zurück und wurde Innenminister unter Serrano. Sein Name ist Práxedes Mateo Sagasta, wobei Mateo nicht, wie man meinen könnte, der zweite Vorname, sondern der erste Nachname ist. Eigentlich müsste die Straße also Mateo heißen. Aber in Spanien kennt man ihn nur als Sagasta, und das klingt ja auch besser.

Am Ende der Sagasta befindet sich an einer Ecke das Café Comercial, eins der beiden berühmten Cafés, die noch von früher übriggeblieben sind, mit viel Marmor, Glas und Eisen. Das Comercial repräsentiert noch (obwohl es etwas jünger ist) den Typ Kaffeehaus des 19. Jahrhunderts, wo man einkehrte, einen Kaffee bestellte und dann Stunden mit der Zeitungslektüre verbrachte. Oder an eigenen Artikeln schrieb oder mit anderen Stammgästen über Gesellschaft und Kunst debattierte.

Aber jetzt ist das Comercial eine Enttäuschung für mich. Man hat den größeren Teil abgetrennt. Dort wird Mittagessen serviert, an weiß gedeckten Holztischen. Welch ein Frevel! Der schöne Raumeindruck mit den unendlich vielen kleinen Marmortischen ist verloren.

Hier an der Ecke, wo das Comercial liegt, beginnt ein weiteres populäres Stadtviertel, Malasaña. Es ist benannt nach einer jungen Frau, Manuela Malasaña, die damals bei dem Aufstand gegen die Napoleonische Besatzung eine Rolle spielte und dabei, mit gerade mal siebzehn Jahren, ums Leben kam. Sie war die Tochter eines Schneiders, und in den Legenden, die sich um sie ranken, spielt oft eine Schere eine Rolle.

Ich komme an einer Kneipe vorbei, die Ojalá heißt, auch ein origineller Name, ein aus dem Arabischen abgeleiteter Ausruf, der auch Titel eines der bekanntesten kubanischen Lieder ist. Eine andere Kneipe nennt sich chupitería, also ein Lokal, in dem man einen chupito, einen Schuss, ein Schnäpschen bekommt. 

Fürs Essen finde ich ein kleines, vollbesetztes Lokal, wo nur Einheimische sind. Es gibt ein Menu mit einem leckeren Pasta-Gericht und ebenso leckeren gefüllten Auberginen. Mit Bier und Kaffee 11,50 €!

Auf dem zentralen Platz in Malasaña, wo vor allem viele junge Leute und Eltern mit Kindern sitzen, trinke ich zum Abschluss noch einen Kaffee.

5. März (Samstag)

Heute steht das Museo Lázaro Galdiano auf dem Programm. Die nächste U-Bahn-Station ist Rubén Darío, benannt nach dem nicaraguanischen Dichter. Als ich aus der Metro komme, ist von dem Museum weit und breit nichts zu sehen. Aber ich will sowieso erst einen Kaffee trinken. Aber auch eine Bar ist weit und breit nicht zu sehen. Das kommt in Madrid nicht so oft vor. Ich gehe die breite Straße in diesen besseren Wohnviertel entlang, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Erst ganz am Ende der Straße versteckt sich im Kellergeschoss eines Gebäudes eine Bar, wo ich einen Kaffee bekomme. Es stellt sich heraus, dass ich noch ein ganzes Stück gehen muss, auf die Serrano, die weiter oben parallel zu dieser Straße verläuft.

Dann kommt das Museum in Sicht. Es enthält die Privatsammlung eines einzigen Mannes, Lázaro Galdiano, der am Ende sogar diesen kleinen Palast bauen ließ, um all das unterzubringen, was er im Laufe seines Lebens zusammengetragen hatte. Lázaro gehörte zu einer gebildeten, aufgeklärten Gruppe von Menschen, die sich nach dem Verlust der letzten spanischen Kolonien neu auf Spanien besannen, offen für Neues waren, ohne die Tradition zu verleugnen. Er gründete eine Zeitschrift und später einen Verlag, deren Name Programm war: La España Moderna.

Das Museum ist gut besucht. Unten werden in Vitrinen einige besonders wertvolle Stücke präsentiert, oben ist alles so arrangiert, als wäre es keine Sammlung, sondern gehörte einfach zur Einrichtung des Palasts. Die Fülle ist überwältigend. Es gibt nichts, was es hier nicht gibt: Porzellan, Uhren, Schmuck, Keramik, Drucke, archäologische Funde, Ölgemälde. Figuren, Mobiliar, Fächer, Waffen, Miniaturen, Münzen. Man kann sich nur einzelne Stücke ansehen.

Lázaro Galdiano hatte auch eine riesige Bibliothek, und einige besondere Schätze daraus sind hier unten ausgestellt: Briefe von Goya, eine Originalausgabe des Buscón von Quevedo, ein winziges Stundenbuch mit dem Text auf der einen und einer Miniatur in glänzenden Farben auf der anderen Seite.  

Einige Ausstellungsstücke kehren auf den verschiedenen Etagen immer wieder auf, darunter Sekretäre. Fast jeder Raum hat einen, alle mit schönem Design, oft mit Intarsien, einige mit einer ganz einfachen Fläche, andere ausklappbar, mit Schubladen und Fächern. Eins, aus Antwerpen stammend (XVI), aus Ebenholz, hat bildliche Darstellungen an den Seitenwänden und auf jedem der Fächer. In allen Szenen scheint es ums Anbändeln zu gehen, um Liebesverhältnisse, Affären, Romanzen. Der rätselhaften Inschrift zufolgeEcke gedacht sein.

Ebenfalls überall vertreten sind Truhen, darunter eine spanische (XVI), die die Form eines Hauses mit Satteldach hat, mit Leder und Samt bezogen und mit Eisenbeschlägen verziert. Truhen waren nicht nur für die Reise wichtig, sondern hatten auch die Funktion dessen, was später der Schrank war.

Unter den Münzen sind zwei Goldmünzen aus der Zeit der Katholischen Königs ausgestellt, Dukaten. Sie kommen in der Literatur der Zeit oft vor. Fernando hatte sie, nachdem er Kastilien verlassen hatte, in Aragón eingeführt, um das Münzsystem zu ordnen. Auf der Vorderseite sieht man sein Konterfei, auf der Beschriftung am Rande seinen Name und seine Titel.

Bei den liturgischen Geräten fallen mir zwei Exponate auf, ein Weihrauchgefäß in der Form eines Bootes, eine Pyxis in Form einer Taube, beide emailliert, aus Limoges stammend.

Unter dem, was man als „Gebrauchsgegenstände“ fassen kann, ein Jagdmesser, reich verziert, groß. Passend dazu ein kleines Messer und eine Gabel und eine bestickte Schatulle, die Platz für alle drei bietet. Ein merkwürdiges Ensemble.

Dann gibt es ein vielteiliges Necessaire, mit allen möglichen fein ziselierten Fläschchen und Gläschen und Gerätschaften mit Griffen aus Elfenbein.

Taschenuhren gibt es in großer Auswahl, einige davon winzig klein. Eine hat gleich sechs kleine Zifferblätter um das große zentrale Zifferblatt herum, so dass die Zeiten verschiedener Orte angezeigt werden können.

Eher von politischer Bedeutung ist ein Sitz aus einem Chorgestühl, mit geschnitzter Miserikordie und einer hohen Rückwand. Er stammt aus dem Chorgestühl der Kathedrale von Urgel (XV). Gegen die Reform des Chors, der das Chorgestühl zum Opfer fiel, schrieb Lázaro Galdiano eine Brandschrift, ohne Erfolg. Danach sicherte er sich wenigstens einen Sitz des Chorgestühls für seine Sammlung.

In einer abgesonderten Ecke des Museums ein Exponat, das die Blicke auf sich zieht, weil man nicht sofort weiß, worum es sich handelt. In zwei hölzernen Rahmen mit verschiedenen Bahnen und Reihen stecken Karten, die wie Spielkarten aussehen, aber keine sind. Alle tragen das Porträt einer wichtigen Figur aus der spanischen Geschichte. Welche Funktion das alles hat, sieht man an einer modernen Nachbildung daneben: Mit diesen Karten bildete man ein castillo de naipes, ein Kartenhaus, bestehend aus aneinander gelehnten Karten, auf die man als Dach eine weitere Karte legt. Die Zahl der aneinander gelehnten Karten wird nach oben hin immer kleiner, so dass eine Pyramide entsteht. Vorausgesetzt, man hat sein Haus solide gebaut und vermeidet abrupte Bewegungen. Also ganz einfach ein Geschicklichkeitsspiel.

Die Gemälde kann man sich hier, anders als im Prado-Museum, in aller Ruhe ansehen. Es gibt keinen Andrang. El Greco ist vertreten mit einem Porträt von Franz von Assisi. Der Heilige wird in Ekstase dargestellt, den Blick nach oben gerichtet. Hinter ihm dringt das diffuse Licht der kaum sichtbaren Sonne in die Szene ein, die dadurch eine mystische Qualität bekommt. Auch die Augen und der Blick und die vor der Brust gekreuzten Hände tragen dazu bei. Man erkennt sofort, dass es El Greco ist, an der länglichen Figur, den langen, dünnen Händen des Heiligen und an der Farbe seines Gewands.

Velázquez ist vertreten mit einem wunderbaren Porträt, aus der frühen Schaffensperiode. Es zeigt den Kopf einer jungen Frau, in Seitenansicht. Die helle Haut setzt das Gesicht von dem dunklen Hintergrund ab, die dunkle Kleidung verschwimmt vor dem Hintergrund. Wenn man länger hinsieht, bemerkt man eine Spange, die das Haar zusammenhält, einen Ohrring und den Besatz des Kleides. Nase, Lippen, Auge, alles sehr fein, sind wunderbar wiedergegeben. Die besondere Atmosphäre wird durch das Spiel von Licht und Schatten auf dem Gesicht der Frau erzeugt.

Von Goya gibt es ein ganz bekanntes, verstörendes Bild, den Hexensabbat, El Aquelarre. Eine Szene auf dem Lande, in der Dämmerung, in dessen Mittelpunkt der Satan steht, auftretend in der Form eines Ziegenbocks. Er sitzt aufrecht im Zentrum, mit triumphierendem Blick, die Vorderpfoten von sich gespreizt, mit einem geflochtenen Siegeskranz auf den Hörnern. Er ist umrundet von bäuerlichen Figuren mit schrecklich entstellten Gesichtern. Die bieten ihm zwei Kinder zum Opfer dar. Goya wollte hiermit wohl, als aufgeklärter Mensch, den volkstümlichen Aberglauben parodieren.

Zum Schluss sehe ich mir noch ein Gemälde von Bosch an, ebenfalls sehr bekannt. Es zeigt Johannes den Täufer in ungewohnter Umgebung. Ein Lamm im Vordergrund dient als Identifikationsmerkmal. Johannes, in ein hellrotes Gewand gekleidet, lehnt, halb liegend, auf einem moosbewachsenen Felsbrocken. Auf dem Felsen krabbelt Getier herum, und Vögel picken nach Nahrung. Vorne durchbricht ein Zweig den Stein, der dadurch bröckelt. Die ganze Landschaft ist durchzogen mit allen möglichen, unwirklichen Gewächsen und Gebilden, die dem Ganzen etwas Traumhaftes verleihen. Besonders unwirklich ist eine hohe Pflanze, die aus dem Felsbrocken herauswächst und den Körper von Johannes teils verdeckt. An ihr wächst eine eierartige Frucht, an der sich ein Vogel zu schaffen macht. Alles wirkt surrealistisch, wie von Dalí gemalt. Es kann durchaus sein, dass er hier Inspiration gefunden hat.  

Als ich aus dem Museum komme, gehe ich die Serrano hinunter, eine schnurgerade verlaufende, unendlich scheinende Straße, bis zu deren Ende: Gucci, Bang & Olufsen, Cartier, Breitling – dies ist eine andere Welt als die von Lavapiés und La Latina. Frauen in Pelzmänteln und Männer, die in schicken Täschchen ihren Frauen den letzten Neuerwerb aus dem Juweliergeschäft hinterhertragen. Praktischerweise gibt es an jeder zweiten Ecke eine Bank, in der man für Nachschub sorgen kann, wenn das Geld ausgeht.

Ein Geschäft fällt mir ein vornehmes Geschäft ins Auge: Las 5 Jotas. Hier gibt es Schinken der besten Qualität zu kaufen. Wofür die 5 Jotas stehen, bekomme ich nicht heraus, außer dass der Begriff ganz allgemein für Qualität beim Schinken steht.

Die Serrano ist benannt nach einem Politiker des 19. Jahrhunderts, von Hause aus Militär, der die Geschichte Spaniens dieser Zeit mitgeschrieben hat und dabei eine Reihe von Wandlungen mitmachte, obwohl seine Grundgesinnung immer liberal war. Aber er war mal auf der einen, mal auf der anderen Seite, und fast immer in führender Stellung. Er war unter anderem einige Jahr als Staatsbeamter in Kuba, wo er sich auch, ohne große Skrupel, selbst bereicherte. In Spanien war er mit der jungen Isabel II sehr vertraut, so sehr, dass die Gerüchteküche kochte. Er war aber auch an ihrem Sturz beteiligt, der dann zur Gründung der Ersten Republik führte. Da wurde er Premierminister, löste aber das Parlament auf, hielt sich aber an die Verfassung. Seine Regierungsform gilt als eine Art republikanischer Diktatur. 

Die Serrano ist ein Teil des Viertels Salamanca, benannt nach dem Marquez de Salamanca, auf dessen Initiative die Anlage dieses Viertels zurückgeht, abseits des alten Zentrums gelegen, mit breiten statt engen und geraden statt krummen Straßen, mit Häusern mit großzügig zugeschnittenen Wohnungen und modernen sanitären Anlagen. Man sieht noch heute bei dem Blick auf dem Stadtplan, dass dieses Viertel mit seinem schachbrettartigen Grundriss systematisch angelegt worden ist. Der Marquez von Salamanca investierte auch selbst in den Aufbau des Viertels, verkalkulierte sich aber dabei und musste seinen eigenen Palast verkaufen.

Schon fast an der Plaza Colón angelangt, nehme ich die Metro und fahre nach Opera. Auf dem Platz vor der Oper ein wahnsinniger Betrieb, kein Vergleich zu den anderen Wochentagen. Es geht schnurstracks in die Chocolatería San Ginés, die bekannteste von Madrid. Sie hat durchgehend geöffnet, 24 Stunden. Hier kehren die Nachtschwärmer nach einer durchmachten Nacht ein, um zum Abschluss sich noch eine Portion churros zu gönnen.

Man bestellt an der Theke und setzt sich an einen der kleinen Marmortische. An den Wänden Spiegel und Holzpaneele und dazwischen Photos von Berühmtheiten, die hier schon ihre churros gegessen haben: Sara Montiel, Maradona, Carlos Santillana, Christopher Lee, Julio Iglesias, Paloma Picasso und viele andere. Nur Johannes Paul II war hier noch nicht.

Die churros werden von Kellnern gebracht. Die Schokolade ist so dickflüssig, dass der Löffel drin steckenbleibt. Am Nebentisch schaffen Vater und Sohn gemeinsam eine Portion nicht. Ich alleine wohl, aber vor der restlichen Schokolade resigniere ich auch.

Nicht weit von hier liegt das Kloster der Descalzas Reales. Das sehe ich durch eine Häuserlücke, als ich wieder auf der Calle Arenal bin. Dort finden Besichtigungen statt, aber die sind, wie ich schon vor der Abreise festgestellt habe, alle ausgebucht.

Von Sol nehme ich die Metro nach Tribunal. Das Ziel ist das Museo de Historia, das ehemalige Stadtmuseum. Gegenüber befindet sich der Rechnungshof, Tribunal de Cuentas, von dem das Viertel seinen Namen hat.

Das Museum ist untergebracht in dem ehemaligen Hospicio San Fernando und hat ein prächtiges barockes Portal. Es sieht wie eine riesige Skulptur aus. In der Mitte steht San Fernando, der Stifter des Hospizes.

Das Museum knüpft zeitlich da an, wo das Museo San Isidro, das ich dieser Tage besucht habe, aufhört, bei der Ernennung von Madrid zur Hauptstadt, 1561.

Einen Einblick in die Geschichte Madrids bekommt man hier nicht, jedenfalls nicht, wenn man das Museum so besichtigt wie ich, sich von den vielen Exponaten auf verschiedenen Etagen nur die ansieht, die einem zufällig ins Auge fallen.

Was aber deutlich wird: Die Gründung wichtiger Fabriken auf Initiative der Monarchie wie die Real Fábrica de Porcelana oder die Fábrica de Cristales de la Granja sorgte für Unabhängigkeit von ausländischer Einfuhr und bedeutete einen wirtschaftlichen Aufschwung für die Hauptstadt. Produziert wurde hier allerdings, wenn man den Exponaten trauen kann, keine Alltagsware. Die schön verzierten bauchigen Krüge oder das feine Butterfässchen waren eher etwas für den gehobenen Bedarf. Und das meiste war vermutlich sowieso eher Dekor als Gebrauchsgegenstand.

Eine andere Entwicklungslinie, die deutlich wird: Es hat lange keine systematische Stadtplanung gegeben. Auch zu einer Zeit, als schon Gebäude mit repräsentativen Fassaden entstanden, stand es noch schlecht bestellt um den Zustand der Straßen, die Beleuchtung, die Hygiene.

Das zeigen die vielen großformatigen Bilder aber nicht. Sie widmen sich eher den Volksfesten und der Freizeit. Man sieht immer wieder Bilder der großen Plätze mit geschmückten Balkonen. Auf einem sieht man die Plaza Mayor, erst auf den zweiten Blick zu erkennen, wo ein Reiterspektakel stattfindet. Mit der Ankunft des Königs hatte sich die Funktion des Platzes, der vorher Marktplatz war und als „Markt der Märkte von Madrid“ galt, gewandelt.

Gar nicht wiederzuerkennen ist der Paseo del Prado. Dort sieht man Kutschen und Reiter und Spaziergänger in einem parkähnlichen, fast ländlichen Gelände. Ein Mann besorgt sich mit einer Kanne Wasser an einem Brunnen.

Sehr schön eine Szene am Manzanares. Dort sieht man Badende zuhauf. Einige haben sich zum Baden ausgezogen, andere angezogen. Man springt mutig von den Uferrändern ins Wasser. Die Szene wird beobachtet von lustwandelnden Frauen im Reifrock und herrschaftlichen Personen in Kutschen. Im Hintergrund ein Ausschnitt aus der Arbeitswelt: eine Mühle. Es werden Säcke mit Mehl durch die Gegend geschleppt.

Auf einem Bild sieht man, wie im Retiro ein Schauspiel aufgeführt wird, auf einer Insel in einem Weiher. Die Zuschauer stehen am Ufer des Weihers und sehen das Stück von dort aus. Die Insel wird flankiert von zwei Schiffen, deren Funktion nicht ganz klar ist. Vielleicht haben sie die Schauspieler und die Requisiten auf die Insel gebracht.

Buntes Treiben herrscht an dem Mercado de la Cebada. Auf dem Bild findet der noch im Freien statt. Möbel, Geschirr, Strohmatten werden zum Kauf angeboten, von Verkäufern, die auf dem Boden sitzen, vor ihnen, ebenfalls auf dem Boden, die angebotene Ware. Die Szene wird bevölkert von Händlern, Klerikern, Hunden, Neugierigen, Dienern, Mauren und Herrschaften, die aus der Kutsche herausgucken.

Am besten gefällt mir ein Bild aus neuerer Zeit (1900), von einem gewissen Enrique Cubells gemalt. Es zeigt die Puerta del Sol im Regen, im abendlichen Zwielicht. Auf dem nassen Asphalt spiegeln sich die Umhänge der Passanten, die Räder der Kutschen, die Wagen der Straßenbahn. Man nimmt alles nur in vagen Umrissen wahr, verschwommen, ohne die Details zu erkennen, aber man spürt die Atmosphäre. Alles ist Grau, aber in vielen Schattierungen, und alles glänzt durch den Regen.

Nach der Besichtigung gehe ich die Fuencarral runter, die ich noch als vielbefahrene Straße kenne. Sie ist heute komplett fußläufig und die Einkaufsstraße von Madrid. Sie endet an der Gran Vía. Ich sehe mir die Hochhäuser an und mache ein paar Photos. Sie kommen mir jetzt schöner vor als früher, vielleicht bin ich damals zu kritisch gewesen.

Wieder ist es richtig sonnig, obwohl das Wetter laut Vorhersage schlechter werden soll. Und es wird spürbar wärmer, je länger ich unterwegs bin.

Ich überquere die Gran Vía und gehe die Montera runter, die Verlängerung der jetzt , auch sie Fußgängerstraße. Sie geht bis Sol. Dort stehen vor der Pastelería La Mallorquina die Kunden Schlange bis auf den Platz hinaus. Hier gibt es Pralinen und Gebäck, aber auch Sandwiches und empanadas.

Neben dem Eingang sitzt ein Losverkäufer und bietet seine Lose an. Sie werden immer noch von den Blinden der ONCE verkauft, aber ohne die langgezogenen, schrillen Schreie, mit denen sie früher auf die Lose aufmerksam machten.

Ich gehe auf dem längst vertrauten Weg zurück und lande wieder bei San Millán. Der Chef, der, seinem Schmerbauch nach zu urteilen, selbst kein Kostverächter ist, spricht mich sofort an – er scheint mich wiederzuerkennen – und preist wortreich das Gericht des Tages an: Rabo de Toro – Ochsenschwanz, wörtlich eigentlich ‚Stierschwanz‘. Er sei frisch geliefert und eine Delikatesse. Aber nicht billig. Ich nehme ihn trotzdem, und es lohnt sich: Das Fleisch ist direkt am Knochen, lässt sich ganz leicht davon trennen und ist saftig und zart. Und die Portion ist nicht zu verachten. Zum Nachtisch gibt es torreja, vereinfacht gesagt, Armer Ritter, aber hier in der Luxusvariante serviert, mit Sahne, Schokolade und Zimt.

Man sitzt auf dem Platz in der Sonne unter einem Baum, der noch nicht alle Blätter vom Vorjahr verloren hat. Neben dem Lokal ist ein McDonald’s, aber die Spanier sind, bis auf ein paar Jugendliche, die dort mit ihren Pappbechern sitzen, klug genug, sich für San Millán zu entscheiden.

6. März (Sonntag)

Leere Plastikbecher, Essensreste, gebrauchte Servietten, Zigarettenstummel – die Relikte der Samstagnacht auf den sonst sauberen Bürgersteigen von Madrid.

Ich gehe aufs Geratewohl Richtung Zentrum und stoße dabei auf einen weiteren Markt, den Mercado San Miguel. Der ist das Gegenstück zu dem Mercado de la Cebada in La Latina. Hier, im Mercado San Miguel, geht es nicht um den alltäglichen Einkauf, sondern um Delikatessen, die man hier kaufen und vor allem auch probieren kann. Und davon wird jetzt, am Sonntagvormittag, viel Gebrauch gemacht.

Das Gebäude ist eine Konstruktion aus Glas und geschwungenem Eisen, sehr schön, und stammt vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Es war lange ein ganz normaler Markt, aber der litt nach dem Krieg immer mehr unter der Konkurrenz der Supermärkte und sollte abgerissen werden. Da hat man sich aber eines Besseren besonnen und ihn umgewidmet.

Von hier gerate ich zufällig zum Rathaus. Großer Kontrast. Diese Gegend ist so gut wie menschenleer, im Gegensatz zu dem Getümmel um den Markt herum.

Auf dem Weg zum Rathaus komme ich durch eine Gasse, die ihre abgeknickte Form, den Ellenbogen, im Namen trägt: Calle del Codo.

Dann komme ich zum Monasterio de la Encarnación, einem Frauenkloster, gegründet von Margarita, der Frau von Felipe III, als Kampfansage sozusagen zu den Descalzas Reales, die von Juana von Portugal gegründet worden waren. Das konnte Margarita nicht auf sich sitzen lassen. Die Gebäude ähneln sich sogar, zumindest auf den ersten Blick.

In die Fassade ist eine Steinplatte eingelassen, in der gesagt wird, was man hier nicht tun soll, nämlich Wasser lassen. Sehr vornehm ausgedrückt, aber unter Androhung einer Strafe: Se prohibe hacer AGUAS bajo la multa correspondiente.

Vor dem Kloster eine Statue von Lope de Vega. In der einen Hand hält er ein aufgeschlagenes Buch, in der anderen einen Stift. Was seine Verbindung zu dem Kloster ist, ist nicht herauszubekommen. Er wird im Priesterornat dargestellt. Nach dem Tod seiner Frau und seines Sohnes erlitt er eine seelische Krise und ließ sich zum Priester weihen. Nach ein paar Jahren gab er das Priesteramt aber wieder auf.

Hinter dem Kloster befindet sich der Senat, und von dort gehe ich über die Gran Vía, auf der sich die Leute drängeln, in einem weiten Bogen zum Congreso de los Deputados, dem Parlament. Hier finden im Moment wegen Corona keine Besichtigungen statt. Ich hatte es vor der Reise schon probiert. Hier fand der 23-F statt, der Staatsstreich, der nach dem Tod Francos und dem Wandel, den das Land durchmachte, die alte Ordnung wiederherstellen sollte. Es fielen Schüsse im Plenarsaal, deren Einschusslöcher bis heute noch zu sehen sind. Der Staatsstreich scheiterte bekanntermaßen.

Hinter dem Congreso befindet sich Huertas, das Literatenviertel. Vier der ganz Großen der spanischen Literatur, vier Größen des Goldenen Zeitalters, lebten hier wohl zufällig gleichzeitig in demselben Viertel: Cervantes, Lope de Vega, Quevedo und Góngora. Sie waren sich nicht gerade freundschaftlich verbunden und trugen regelrechte Schlammschlachten aus, besonders Quevedo und Góngora. Aber auch Lope und Cervantes waren nicht gerade zimperlich, wenn es darum ging, sich verächtlich über den anderen zu äußern. Der arme Lope würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, dass sein Geburtshaus heute in der Calle Cervantes liegt! Das Geburtshaus von beiden ist in ein und derselben Straße.

Lopes Geburtshaus ist heute Museum, und man kann es auch besichtigen. Aber es ist bis nächsten Mittwoch ausgebucht. Ich hatte eigens eine Mail geschrieben, um mich für eine Führung anzumelden, aber die ist angeblich nicht angekommen.

In der gesamten, schmalen Calle Huertas – auch die bis auf das vereinzelte Taxi, das hier entlang fährt, nur für Fußgänger – sind in den Boden in goldenen Lettern Zitate spanischer Literaten eingelassen, darunter León Felipe, Rosalia de Castro, Nicolás Moratín, Emilia Pardo Bazán. Das berühmteste Zitat ist der Eingangssatz des Quijote mit der rätselhaften Formulierung über das Mancha-Dorf, an dessen Name der Dichter sich nicht erinnern will. Und Góngora ist mit dem Beginn eines Sonetts vertreten, „Ande yo caliente“, das bis heute aktuell wirkt.

Am Fuße der Huertas angelangt gehe ich in eine kleine Bar und tue das, was Spanier am Sonntagvormittag tun: vermut trinken, einen Aperitif, der nicht unbedingt aus Wermut bestehen muss, sondern auch ein leicht süßlicher Wein mit Kräutern sein kann. Er wird mit Eiswürfeln und einer Zitronenscheibe serviert.

Mein nächstes Ziel ist die Puerta del Sol. Dort gibt es einen Optiker, der auch sonntags geöffnet hat. Darauf hat mich ein freundlicher Verkäufer in einer Apotheke aufmerksam gemacht. Die jungen Verkäuferinnen in dem Optikergeschäft, offensichtlich gelangweilt, weil keine Kunden da sind, reißen sich geradezu darum, mich zu bedienen, und im Teamwork finden sie auch eine passende Brille für mich, ein Notbehelf, Ersatz für die Brille, die ich auf dem Rückweg von Lugo verloren habe.

Dann geht es in ein anderes Viertel, Santo Domingo. Auf dem zentralen Platz des Viertels sehe ich ein Lokal mit dem diabolischen Namen Santa Canalla.

Mein Ziel ist La Bola, ein renommiertes Lokal, das vor allem für seinen Cocido Madrileño bekannt ist. Es ist bis auf den letzten Platz besetzt. Ich soll nach einer halben Stunde noch mal wiederkommen. Dann habe ich Glück. Ein Platz wird frei. Später merke ich, dass der Raum hier am Eingang mit den eng beieinander stehenden Tischen nur ein zusätzlicher Raum ist. Weiter hinten befindet sich ein weit größerer Raum. Auch hier sind alle Tische besetzt.

Das Lokal ist wie eine Mischung aus Museum und Wohnzimmer. An den Wänden hängen Photographien und Urkunden über gewonnene Preise für den Cocido und andere Speisen. Die Kellner sind stets schnell zur Stelle, sie haben aber Mühe, sich mit den Speisen durch die engen Reihen zu bewegen. Platz für Gegenverkehr gibt es nicht.

An fast allen Tischen wird Cocido Madrileño gegessen. Das Gericht wird in einer Kanne serviert. Das Prozedere ist wie folgt: Man bekommt einen Teller mit ganz dünnen Nudeln serviert. Auf die Nudeln wird aus der Kanne die Brühe gegossen, so dass man eine Suppe als Vorspeise hat. Danach wird der Deckel der Kanne gelüftet, und mit Schwung landet der gesamte cocido auf dem Teller: Kichererbsen, Möhren, Kartoffeln, Speck, Wurst und Fleisch. Nichts für Zartbesaitete. Sobald man die ersten Bissen gegessen hat, kommt der Kellner und tut noch eine ordentliche Portion Kraut auf den ohnehin schon vollen Teller.

Danach ist ein Verdauungsspaziergang angesagt. Wieder gehe ich eher ziellos durch die Straßen. Ich komme noch einmal an dem Rathaus vorbei und sehe es von der Seite. Sonne und Wolken wechseln sich am Himmel ab.

Auf der Calle Mayor befindet sich eine alte Apotheke: Antigua Farmacia de la Reina Madre. Damit hat es folgende Bewandtnis: Isabel de Farnesio, die Mutter der Königin, kaufte hier ihre Arznei statt in der Hofapotheke. Warum? Weil sie einen Giftanschlag ihres Schwiegersohns Fernando fürchtete. Die Maßnahme hatte Erfolg: Sie überlebte ihren Schwiegersohn um Jahrzehnte.

Auf dem Weg zurück komme ich über die Calle Cava Baja. Hier reiht sich ein Lokal an das andere. Eins heißt Erre que Erre. Das ist der Anfang eines Reims, mit dessen Hilfe Ausländer das gerollte spanische r üben sollen. Tatsächlich diente es meistens nur dazu, sie vorzuführen. Indem man einfach den Reim aufsagt, lernt man es nicht.

Wieder bin ich meilenweit unterwegs gewesen, ohne auch nur einmal die Metro zu nehmen.

8. März (Montag)

Regen, Wind und Wolken, und es ist kalt. Im Laufe des Tages kommt zwar auch mal die Sonne durch, aber es ist insgesamt ein trüber Tag.

Mein erstes Ziel ist die arabische Stadtmauer, oder was noch von ihr übrig ist. Sie liegt ganz in der Nähe des Palacio Real, aber etwas unterhalb, und man muss schon gezielt nach ihr suchen. Auf dem Weg dorthin komme ich an der gewaltigen Kathedrale vorbei. Die ist damals von Johannes Paul II eingeweiht worden.

Um die arabische Stadtmauer, die die Keimzelle Madrids markiert, hat man einen kleinen Park angelegt, aber dessen Tore sind verschlossen. Man kann aber alles auch gut von außen sehen. Die Beschriftungen sind hier in drei Sprachen: Spanisch, Englisch, Arabisch.

Die Mauer ist erstaunlich hoch, neun Meter. Und drei Meter stark. Sie besteht aus Feuerstein- und Kalksteinmauerwerk. Zwischen denen befinden sich immer wieder Ziegelsteine, aber das ist späteres Flickwerk.

Die Mauer wurde im 9. Jahrhundert gebaut und später verstärkt. Sie umgab die gesamte Festung. Erhalten sind noch 120 Meter davon. Sie galt als besonders robust, und es heißt, dass Funken aus ihr stieben, wenn Pfeile auf sie trafen.

Interessant ist ein eisernes Relief, das man hier angebracht hat. Man sieht den Grundriss der arabischen Festung und den der ersten christlichen Stadt, die die arabische Festung einschloss, aber weiter darüber hinweg ging, vielleicht fünf- bis sechsmal so groß war. Sie hatte immerhin acht Pfarreien und ein Judenviertel und ein Maurenviertel. Madrid war vielleicht kein bedeutender Ort, aber auch nicht das elende Mancha-Dorf, als das es manchmal dargestellt wird.

Die Übergabe an die Christen erfolgte 1083, und die danach entstehende Stadtmauer blieb, mit den entsprechenden Veränderungen und Ausbesserungen, bis 1561 bestehen, als Madrid Hauptstadt wurde. Dann wurde eine größere Stadtmauer angelegt.

Von hier aus geht es durch den langsam nachlassenden Regen am Palacio Real vorbei zum Templo de Debod. Auf dem Weg komme ich an einem Platz vorbei, den ich nicht kenne, obwohl ich hier schon öfter vorbeigekommen bin. Auf dem Platz steht ein schöner, moderner Brunnen mit starken horizontalen und vertikalen Fontänen. An den Enden halten zwei weibliche Figuren, unbekleidet, einen Krug, aus dem das Wasser in das Becken rauscht.

Das Gebäude dahinter ist eine Klosterkirche, ein Templo Nacional, die Kirche Santa Teresa de Jesús y San José. Das angebaute Klostergebäude – wenn es denn noch eins ist – sieht eher wie ein Hotel aus.

Dann kommt der Templo de Debod, ein Stück Ägypten mitten in Madrid. Es ist ein echter Tempel aus dem alten Ägypten, aus dem 2. Jahrhundert vor Christus stammend. Er ist ein Geschenk Ägyptens an Spanien, dessen Ingenieure halfen, alte Kulturgüter zu bewahren, die sonst dem Bau des Assuan-Staudamms zum Opfer gefallen wären. Der Tempel wurde in Madrid Stein für Stein wiederaufgebaut, in einem schönen, gepflegten Park. Wie an seinem ursprünglichen Standort ist die Ausrichtung von Osten nach Westen. Der Tempel besteht aus drei Bauteilen, zwei Toren, die hintereinander stehend, gleich auf den Eingang des Tempels selbst ausgerichtet sind. Alle Bauteile sind relativ niedrig und bestehen aus regelmäßigen, bearbeiteten Steinquadern, gelblich-beige. Man kann den Tempel auch besichtigen, aber nicht montags. Am Montag hat nur das Museo del Prado geöffnet.

Ich gehe zur Plaza de España und nehme von hier aus die Metro nach Rubén Darío. Bei der Fahrt sehe ich, dass jetzt auch Gregorio Marañón, der Arzt, Manuel de Falla, der Komponist, und Santiago Bernabéu, der Namensgeber des Stadions, eine U-Bahn-Station haben, genauso wie die Reyes Católicos. Dort ganz in der Nähe befindet sich eine U-Bahn-Station mit dem Namen Baunatal. Keine Ahnung, wie der sich erklärt.

Die schlechte Nachricht ist, dass morgen im öffentlichen Nahverkehr gestreikt wird und ich zusehen muss, wie ich zum Flughafen komme.  

Mein Ziel ist der Paseo de la Castellana. Dort hat man eine „Ausstellung“ mit Kunst unter freiem Himmel installiert, eine Serie von modernen Skulpturen, die neben oder unter einer Brücke stehen, die die Castellana überquert. Einige der Skulpturen sind nicht zu sehen, werden von einer Baustelle verdeckt.

Sehr gut gefällt mir ein stark stilisierter, schlanker Stier, den man erst auf den zweiten Blick als solchen erkennt. Interessant auch eine senkrecht stehende Steinplatte, aus der drei unterschiedlich große Kugeln hervortreten. Auf der anderen Seite der Platte ist es genau umgekehrt. Da, wo auf der Vorderseite die Kugeln sind, sind auf der Rückseite nur leere Kreise, und da, wo auf der Vorderseite die leeren Kreise sind, treten hier die Kugeln heraus, aber in umgekehrter Anordnung: Da wo auf der Vorderseite die großen Bälle sind, sind hier die kleinen.

Dann will ich mir noch eine Skulptur von Botero ansehen, aber die ist weit und breit nicht zu sehen. Ich frage und frage. Alle kennen die Skulptur, aber keiner weiß genau, wo sie steht. Mal werde ich die Castellana runter, dann wieder rauf geschickt. Am Ende frage ich einen Mann, und der sagt: „Klar, weiß ich, wo der Botero steht. Ich bin selbst Kolumbianer“. Auf die Frage, woher er komme, erklärt er, genau wie der Kellner in Aranjuez: Barranquilla.

Er hat nicht zu viel versprochen. Er zeigt mir wirklich den richtigen Weg. Allerdings ist es noch ein ganzes Stück zu Fuß. Die Skulptur, „La Mano“, eine Hand mit in die Höhe gestreckten Fingern, steht vor einem Springbrunnen mitten in einem verkehrsumtosten Kreisverkehr. Sie ist menschengroß und steht auf Bodenniveau. Das Material, ein Metall, ist glänzend blank und nicht weiter bearbeitet. Die Hand ist groß und kräftig und trotzdem grazil.

Jetzt geht es in entgegengesetzter Richtung, die gesamt Castellana runter. Die ist in der Mitte sechsspurig und hat an beiden Seiten nochmals eine Fahrbahn mit zwei Spuren. Hier fließt der Verkehr. Aber man kann trotz der vielen Autos ungestört auf der breiten Promenade spazieren gehen.

Mir ist aufgefallen, dass ich in der ganzen Woche noch kein Hupkonzert gehört habe. Früher gab es jeden Tag eins, oft mehrere, langanhaltend. Man hupte, wenn es nicht weiter ging, ganz egal, ob das Wirkung hatte oder nicht. Sogar die Zebrastreifen, die früher rein dekorative Funktion hatten, werden heute respektiert.

Es hat aufgehört zu regnen und die Sonne kommt raus. Am Ende der Castellana geht es immer weiter, jetzt Recoletos hinunter, der Verlängerung der Castellana. Am Rande der Promenade eine erst vor kurzem aufgestellte Skulptur, aus Kupfer vermutlich. Sie stellt Flüchtlinge dar. Sie sitzen dicht gedrängt auf einer Mauer, mit leeren Gesichtern.

Dann biege ich ab. Ich will die Woche in Madrid nicht zu Ende gehen lassen, ohne wenigstens einmal kurz im Parque del Retiro gewesen zu sein. Er war früher ein königlicher Park, später wurde er dann für das Volk freigegeben. Und wird bis heute viel besucht, auch an einem trüben Montag wie heute. Der Park ist aber so groß, dass sich die Leute darin verlaufen.

Der erste Teil ist wie ein Französischer Garten angelegt, mit geraden Wegen und beschnittenen Bäumen und Hecken. Der andere Teil, etwas erhöht gelegen, ist anders, mit eher unregelmäßigen Wegen und natürlich wachsenden Pflanzen. Die Wege, einige von ihnen asphaltiert, sind nach Ländern in Lateinamerika benannt: Paseo Paraguay, Paseo Venezuela, Paseo de Cuba.

Hier im Park gibt es sogar eine öffentliche Toilette, eine Seltenheit in Madrid.

Meine Beine sind müde und ich mache bei einem kalten Bier eine Pause an einem Kiosk. Von hier aus sieht man direkt auf den Palacio de Cristal. Der ist ein echter Hingucker, größer als ich ihn in Erinnerung hatte, aber trotzdem elegant mit seinen geschwungenen, schlanken Eisenstäben und den gebogenen Glasscheiben. Man kann in den Raum hinein und durch das ganze Gebäude hindurch sehen.

Dann geht es zum Estanque Grande, dem großen, künstlich angelegten Teich mit dem Denkmal für Alfonso XII, das mit seiner doppelten Säulenreihe ein echter Blickfang ist und den Teich optisch nach hinten abschließt.

Zum Schluss gehe ich noch zum Monumento al Angel Caído, einer originellen und gewagten Skulptur. Sie stellt Luzifer dar, wie er vom Himmel stürzt, die Flügel vom Wind gespannt, mit entsetztem Blick nach oben schauend. Er, der „Lichtträger“, ist vom Himmel verbannt worden, weil er es gewagt hat, gegen Gott zu rebellieren. Welche andere Stadt hat schon ein Denkmal für den Satan?

Auf einem geraden gepflasterten Weg geht es einem der Ausgänge zu. Am Wegesrande viele blühende oder ausschlagende Bäume, mehr als man im Zentrum sieht. Auf einem Papierkorb hat es sich eine Elster bequem gemacht, nachdem sie den Papierkorb nach Essensresten durchsucht hat. Sie lässt sich in aller Ruhe photographieren.

Am unteren Ende des Parks stoße ich dann zufällig auf die Cuesta Moyano, eine Erinnerung an einen meiner ersten Besuche in Madrid. Am Rande des leicht abschüssigen Weges reihen sich um die dreißig Kioske nacheinander auf, in denen Bücher verkauft werden, gebrauchte und neue. Um diese Zeit sind nur wenige geöffnet, aber es könnte auch sein, dass einige schon durch die Konkurrenz der großen Bücherketten haben schließen müssen.

Ich gehe ein Stückchen am Park entlang, über den Paseo del Prado, und dann kommt auf der linken Seite das Caixa Forum, ein modernes Kulturzentrum, das in einem der spektakulärsten Gebäude Madrids untergebracht ist. Es ist ein altes Elektrizitätswerk, aus gemauerten Steinen, dem man ein zweites, neues, leicht verrostet aussehendes Stockwerk aufgesetzt hat. Eine Fassade des alten Gebäudes ist komplett begrünt, mit 15.000 Pflanzen auf fast einem halben Quadratkilometer Fläche.

Für mich geht es zurück nach La Latina. Dort will ich auf der Cava Baja, über die ich gestern gekommen bin, nach einem Lokal suchen. Auf dem Weg dahin komme ich an einem Frisörsalon vorbei, der einen originellen Namen hat und dabei eine milde Form eines Schimpfwortes verarbeitet, das hier aber nur als Ausdruck der Begeisterung fungiert: Peluquería, ¡¡¡jo qué corte!!!

Etwas weiter stolpere ich über einen Stolperstein, von genau der Art, wie wir sie auch in Deutschland haben. Ich wusste gar nicht, dass es die in Spanien auch gibt. Dieser Stolperstein erinnert an einen ehemaligen Bewohner dieses Hauses, der nach Frankreich emigriert war, dann in Salzburg inhaftiert und schließlich nach Mauthausen deportiert wurde. Er überlebte.  

An einer Häuserfassade sieht man in mehreren Sprachen und verschiedenen Schriften kurze Sätze, von denen ich nur den französischen verstehe. Es geht darum, dass in diesem Viertel Menschen aus verschiedenen Ländern gut miteinander auskommen.

Als ich schon fast in La Latina bin, sehe ich ein Lokal mit einem Plakat, in dem vom Junggesell(inn)enabschied die Rede ist. Es ist aber keine Werbung dafür, den hier zu feiern, ganz im Gegenteil: despedidas de solter@s no gracias.

Dann komme ich zur Cava Baja, aber, was für ein Unterschied zu gestern! Kaum eine Menschenseele zu sehen, und die meisten Lokale, bis auf ein paar sehr feine, sind geschlossen. Die erholen sich vom Sonntagsbetrieb.

Eine Alternative finde ich ganz am Ende der Straße, auf der Plaza del Ángel. Ein traditionelles Lokal mit Fliesen an der Fassade, die verschiedene Szenen von Madrid darstellen. Und der Name bestätigt die traditionelle Ausrichtung des Lokals: El Madroño. Man kann draußen sitzen, obwohl dunkle Wolken aufziehen. Eigentlich müsste ich hier Kutteln essen, Callos a la Madrileña, das wäre der Tradition gemäß, aber ich entscheide mich am Ende für das Menu: eine mäßige Vorspeise, schlechter Wein, ein großartiges Hauptgericht (Osobucco) und ein ebenso guter Nachtisch (budín). Das Lokal macht seinem Namen alle Ehre: Zum Abschluss gibt es auf Kosten des Hauses ein Gläschen Madroño-Likör!

Das war’s mit Madrid. Einiges ist unter den Tisch gefallen, vor allem habe ich es die ganze Zeit nicht ein einziges Mal an den Manzanares geschafft, von dessen Renaturierung doch so viel die Rede ist. Und Alcalá, das fest auf dem Speiseplan stand, ist ganz unter den Tisch gefallen. Aber das dürfte auch eine eigene Reise wert sein.  

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