18. Januar (Freitag)
Río de Janeiro soll mal die Hauptstadt von Portugal gewesen sein. Diese verwegene Hypothese zu testen, das ist schon fast eine Reise wert. Ich habe sechs Monate Zeit dafür.
Noch vor dem Berufsverkehr geht es los. Die Straßen sind glatt, Schneepflüge sind unterwegs. Auf dem Weg in die Eifel? Wer kommt auch auf die Idee, im Januar mit dem Auto auf Reisen zu gehen.
Auf der Autobahn ist viel Verkehr. Ich mache es den sparsamen Trierern nach und tanke in Luxemburg.
Schon nach 60 Kilometern fährt man über die Grenze nach Frankreich: Lorraine. Wir sind in Lothringen. Auf der Gegenfahrbahn ein kilometerlanger Stau, rechts Lastwagen und Busse, links PKWs. Kann kein Vergnügen sein, zu dieser Zeit im Auto im Stau zu sitzen auf dem Weg zur Arbeit.
Auf unserer Seite geht es voran, aber dann kommt ein Unfall, schon drei Kilometer vorher elektronisch angezeigt. Wir kommen zum Stehen, komplett. Dann geht es ganz langsam weiter. Eins der Unfallwagen steht mitten auf der Fahrbahn. Die Unfallstelle ist noch nicht gesichert. Die Busse und LKWs müssen abschätzen, ob rechts oder links mehr Platz ist.
Noch vor Metz geht es über die Maginot-Linie. Es geht auf Metz zu, und der Verkehr wird immer dichter. In Metz suche ich vergeblich nach Ausschilderungen nach Troyes, Orléans, Tours, Poitiers. Nichts da. Stattdessen Straßburg, Saarbrücken, Paris, Lyon, Nancy. Alles falsch. Am Ende komme ich, nach vielem Hin und Her und einigem Fluchen und dem Bedauern, mich trotz Warnung auf das Handy verlassen und keine Karte besorgt zu haben, über Nancy Richtung Troyes.
Nach Toul kommt dann endlich die ersehnte Maut-Strecke. Von hier aus ist das Fahren ein Kinderspiel, außer an einer langen, unübersichtlichen Baustelle bei Orléans mit schlecht markierten Fahrstreifen.
Es geht durch die Vogesen. Nach zwei unendlich scheinenden Stunden wird es hell. Auf den Feldern und Hügeln liegt Schnee. Die Sonne findet keine Lücke, aber der Himmel ist nicht deprimierend dunkelgrau, sondern eher weißlich. So als wolle es anfangen zu schneien.
Auf den braunen Schildern am Wege macht ein Ort auf sich aufmerksam, der für Instrumentenbau bekannt ist, dann einer, der für Klingen bekannt ist, dann einer, der für Kristall bekannt ist.
In den Autobahnraststätten gibt es dünnen Kaffee aus Plastikbechern, am Automat. Und das in Frankreich! Habe ich anders in Erinnerung, vielleicht von anderen Routen.
Es geht durch Domrémy-la-Pucelle, und es wird natürlich Werbung mit der Heldin gemacht. Später kommt ein anderer französischer Held in Sicht: Colombey Les Deux Églises. Der General posiert in Uniform.
Es geht in die Champagne. Hier liegt kein Schnee mehr. Um zehn findet die Sonne eine Wolkenlücke und begleitet mich dann bis zum Nachmittag, erst links, im Süden, als ich nach Westen fahre, dann, als ich nach Süden fahre, direkt vor mir.
Clairvaux liegt am Wegesrand, und auch Fontainebleau ist später nur wenig abseits der Route. Ich komme an einem Ort vorbei, der mit Claudel wirbt. Vorher schon einer, der mit Renoir wirbt. Am meisten Werbung für sich macht aber Troyes. Ein ganzes Spalier von braunen Schildern sagt einem, was man alles verpasst, wenn man dran vorbeifährt. Irgendwann geht es auch an Le Mans vorbei. Das hätte ich weiter nördlich verortet.
Bei Blois Strommasten, die wie Strichmännchen aussehen, mit dreieckigen Augen und dreieckigen Ohren und vier Armen, zur Seite gestreckt und angewinkelt, einer nach dem anderen. Sieht lustig aus.
Die Raststätten haben kuriose Namen: Aire de Chantecoq, Aire de la Courte Épée, Aire de la Longue Vue.
Bei Tours geht es von der Autobahn runter: mehr als 60 Euro Maut. Später kommen noch mal 10 Euro dazu. Ein teures Vergnügen.
In Poitiers geht es Richtung Zentrum, aber die Beschilderung ist etwas unklar und die Sonne blendet, so dass ich häufig nicht lesen kann, was auf den Schildern steht. Am Ende geht es aber.
Das Apartment liegt an einem großen Boulevard, ist aber ruhig. Genau das, was ich jetzt gebrauchen kann. Ich bin zehn Stunden unterwegs gewesen.
19. Januar (Samstag)
Am Morgen sind es hier 6°, in Penela 7°, in Trier -3°. Es kommt eine Kältefront genau mit meiner Abreise. Für heute ist hier Regen angesagt.
Das trifft sich gut: Die portugiesische Partnerstadt von Poitiers ist Coimbra! Die deutsche ist Marburg.
Auf dem Weg zur Innenstadt, gleich in der Nähe des Apartments, liegt eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten Poitiers: St. Jean. Es ist ein rechteckiger, niedriger Bau mit einer polygonalen Vorhalle. Der zentrale Bau enthält eine der ältesten überhaupt erhaltenen Baptisterien Europas, und dazu wichtige Wandmalereien aus den folgenden Jahrhunderten, als der Bau erweitert und schließlich in eine Kirche verwandelt wurde. Patrozinium: Johannes der Täufer. In vorchristlicher Zeit war hier in römischer Zeit ein privates Schwimmbecken. Lustig, wie das Christentum für Kontinuität sorgte!
Das ganze Terrain, auf dem sich auch das Musée Sainte Croix befindet, auf einer Wiese etwas abseits der Straße gelegen, hat einen besonderen Charme. Nicht ganz so charmant sind die Öffnungszeiten, besonders im Januar. Das ist eben keine Reisezeit.
Durch völlig verlassene, schmale Sträßchen geht in die Innenstadt. Das sieht alles, obwohl kein Mensch unterwegs ist, authentisch aus, schön alt, aber nicht so geleckt. Auch scheinen hier ganz normale Wohnungen zu sein. Eine große Kirche, von der ich noch nicht weiß, dass es die Kathedrale ist, lasse ich rechts liegen.
Zum historischen Zentrum geht es leicht bergauf. Allmählich begegnen mir auch ein paar Menschen, und oben, auf dem Marktplatz, ist richtig viel Betrieb. Es gibt einen modernen, überdachten Markt mit festen Plätzen, und drum herum einen offenen Wochenmarkt. Ein Hingucker sind die Austern und die Jakobsmuscheln, aber am verlockendsten sieht der Käse aus. Dem sieht man förmlich an, dass es nach was schmeckt.
In einem repräsentativen Gebäude am Marktplatz ist die Touristeninformation. Hier gibt es einen Stadtplan und einen kurzen Film über die Geschichte von Poitiers. Poitiers geht auf eine keltische Gründung zurück, eine Siedlung der Pikten. Die keltische Siedlung hieß Limonum. Vielleicht ist das in Limoges erhalten. Poitiers soll von Pikten abgeleitet sein. Wäre ich im Leben nicht drauf gekommen.
Die Pikten suchten sich diese Stelle wegen der zwei Flüsse aus, dem Clain und der Boivre. Der Clain begrenzt bis heute die Innenstadt. Der Boulevard, an dem das Apartment liegt, folgt der Linie des Flusses. Ob der Fluss, den ich gestern mehrmals bei der Suche nach dem Apartment überquert habe, auch der Clain ist, kann ich nicht mehr feststellen. Boivre ist etymologisch verwandt mit Biber. Kurioserweise ist Clain im Französischen Maskulinum, Boivre Femininum, genau das Genus, was ich ihnen intuitiv im Deutschen zugeordnet habe.
Das Apartment liegt auf dem Boulevard Anatole France, und ich frage, ob der eine besondere Beziehung zu Poitiers hatte. Das müsse man im Archiv nachgucken, ist die Antwort. Daraufhin verzichte ich auf meine anderen Fragen.
Aus der Kälte flüchte ich mich in ein Café. Es gibt Kaffee, aber kein Gebäck, keine Croissants, nichts. Café bedeutet eben im Französischen was anderes als im Deutschen. Der Mann am Nebentisch hat das Problem auf seine Art gelöst: Er holt aus einer Tüte sein Croissant raus und isst es zu dem Kaffee. Scheint akzeptiert zu sein.
Der wichtigste Ausschank hier ist Bier. Das gibt es in allen möglichen Sorten. Aber nicht zu dieser Jahreszeit. Jetzt trinken alle Kaffee. Das Café ist klein und dunkel. Es ist rappelvoll, man sitzt an kleinen runden Tischen und an der stilvollen Theke aus Eichenholz mit vergoldeten Messingstäben, von einem “Baldachin” bekrönt. Der Mann hinter der Theke hat ein Trockentuch über die Schulter geworfen und klappert mit den frisch gespülten Espresso-Tassen. Auf den runden Tischen Frauenporträts im Jugendstil. An der Wand alte Reklameschilder von Pernot und Coca-Cola, aus den Lautsprechern amerikanische Jazz-Musik. Man kann nicht sagen, dass das Café keine Atmosphäre hat.
Der Einfachheit beginne ich die Besichtigung mit Notre Dame, gleich hier auf dem Marktplatz. Nicht zu übersehen ist die wunderbare, skulptierte Fassade. Dies ist nicht die Kathedrale, wie ich zuerst glaubte, sondern eine Stiftskirche.
Der Bau ist romanisch. An der Nordseite enden die leicht aus der Wand heraustretenden Seitenkapellen in Giebeln, wie in Ostwestfalen. Die Südseite ist anders, etwas verbaut.
Innen nimmt einen die Atmosphäre sofort gefangen, auch wenn es ziemlich dunkel ist. Man erkennt aber sofort die farbig gefassten Säulenbündel, mit schönen geometrischen Mustern als Verzierung. Das ist 19. Jahrhundert, aber trotzdem schön.
Die Kirche ist dreischiffig, mit einem Chorumgang und einem Tonnengewölbe im Mittelschiff. Sie ist lang und hoch, vor allem in Relation zur Breite. Wenn man hinten steht, sieht man ganz deutlich, dass das Mittelschiff völlig aus der Achse ist.
Die berühmteste Skulptur steht im Chor: La Vièrge des Clés. Es ist eine Kopie einer mittelalterlichen Skulptur, die von den Hugenotten zerstört wurde. Die Madonna hält das Jesuskind gerade vor sich auf dem Schoß und hat dadurch beide Hände frei. Rechts hält sie einen Palmzweig, links den namengebenden Schlüssel, vergoldet, groß. Der bezieht sich auf eine Legende: Ein treuloser Bürger wollte die Stadt verraten und den Schlüssel zu einem Stadttor den bösen Engländern übergeben, aber: Sie da, der Schlüssel war weg. Die Madonna hatte ihn sich an Land gezogen. Als der Bürgermeister sich angesichts des fehlenden Schlüssels an Maria wendete, entdeckte er ihn in ihrer Hand. Die Madonnen helfen eben immer den Guten.
In einer Kapelle im Chorumgang fällt mein Blick auf eine Skulpturengruppe, eine Beweinungsszene, vier Frauen und zwei Männer. Auch hier spielt das 19. Jahrhundert sein Spielchen mit mir: Ich hätte die Skulptur glatt als Renaissance-Werk durchgehen lassen. Jedenfalls ist die Gewandung nicht aus der Zeit der Entstehung, und noch weniger aus dem Palästina der Zeitenwende. Alle Figuren tragen lange, elegante, vor allem bei den Männern reich verzierte Gewänder. Die Frauen tragen lange, mehrmals um die Schulter geschlungene Tücher. Einer der Männer trägt an einem Gürtel eine Geldtasche aus Leder. Worauf das anspielen soll, ist nicht klar. Vielleicht auf den wohlhabenden Joseph von Arimathäa? Am besten aber sind die Kopfbedeckungen! Hüte, Mützen, Hauben aller Art, wie eine Modenschau.
Die Männer halten an beiden Enden das Leichentuch mit dem toten Jesus, die Frauen stehen dahinter, alle mit unterschiedlichen Gesten und Ausdrücken der Trauer, von exaltiert bis gedankenverloren und erschüttert. Eine tolle Skulptur. Erinnert mich an Bologna, zumal dies auch Holz zu sein scheint, aber farbig gefasst.
Bleibt noch die Bilderwand der Westfassade. Beeindruckend schon der erste Blick darauf, kaum eine Stelle leer, überall wimmelt es von Figuren und Verzierungen. Ganz oben, in einer Mandorla, triumphiert Christus. Darunter in zwei Reihen vierzehn Figuren, die zwölf Apostel und zwei Bischöfe. Einem der Apostel haben die Schleimer eine Triara aufgesetzt, eine Reverenz an Urban II., der die Kirche höchstpersönlich eingeweiht hat.
Darunter ein Fries mit biblischen Ereignissen, ganz links der Sündenfall und ganz rechts eine Szene, die ich als die Rückkehr des Verlorenen Sohns deute. Warum wird die eigentlich so selten dargestellt? Für mich eine der wirkungsvollsten und schwierigsten Szenen des Neuen Testaments.
Dazwischen gibt es eine ganz merkwürdige Geburtsszene, etwas unbeholfen dargestellt: Maria zeigt liegend auf die Krippe mit dem Jesuskind. Die ist aber nur ganz klein zu sehen. Rechts davon eine Szene, die ganz falsch verstanden habe, als eine Taufe. Man sieht eine Figur bis zur Hüfte in ein rundliches Becken eingetaucht, links und rechts davon zwei Figuren. Das sind zwei Figuren, die das Jesuskind waschen! Eine Szene, die sich im Mittelalter größter Beliebtheit erfreute. Das Becken ist kein Taufbecken, sondern ein Bottich! Maria hat sich derweil aus dem Staub gemacht, und Josef lehnt einsam an einem Baumstamm.
Im unteren Teil dann Tiere, die meisten halbe Fabelwesen, nicht zu identifizieren. Eine grobe Ähnlichkeit mit Löwen ist bei einigen zu erkennen. Sie winden sich, so als ob sie etwas erleiden würden, oder attackieren einander.
Danach folge ich, nicht sehr systematisch, den verschiedenfarbigen Linien, die man in das Pflaster eingelassen hat und von denen jede eine auf eine andere thematische Tour durch Poitiers führt. Gut, dass es sie gibt, denn so kommt man zu Plätzen, zu denen man von selbst nicht ohne Weiteres kommen würde. Dabei stoße ich auf das eine oder andere sprachliche Problem: An einem Weingeschäft steht: La Vache à Vin. Was macht die Kuh mit dem Wein. An einer Konditorei steht: Patissier und Traiteur. Ist das nicht ein Verräter? Und eine Straße heißt Rue de la Regratterie. Da stehe ich ganz auf dem Schlauch.
Ich komme durch das ehemalige Handwerkerviertel. Geschäftsschilder und Straßennamen zeugen noch davon. Hier gibt es viele Fachwerkhäuser, etwas anders aussehend als bei uns, eher bräunlich als schwarz und weiß. An einer Straßenecke steht ein Haus, das zur einen Straße hin Fachwerk hat, zur anderen Stein.
Es geht noch weiter sanft aufwärts, und an der höchsten Stelle gelangt man zum Palais, mit einer großen Freitreppe und einer klassizistischen Fassade. An dieser Stelle soll die erste Burg gestanden haben. Der heutige Bau beherbergt immer noch die mittelalterlichen “Saal der Verlorenen Schritte”, einen Saal, der zu seiner Zeit der größte in Europa war. Und für seine Kaminwand bekannt ist. Den will ich natürlich sehen. Ich gehe die Treppe rauf, aber oben ist alles verschlossen.
Etwas weiter abseits liegt das Rathaus, ein zu groß geratener Bau an einem zu groß geratenen rechteckigen Platz. An dessen Rand stehen ein paar Laternen und ein paar Bäume, aber die ganze Mitte ist leer. Da kommt man sich etwas verloren vor.
Das Rathaus, das die gesamte Stirnseite des Platzes einnimmt, ein Neo-Renaissance-Bau, sieht auf Photos besser aus als in Wirklichkeit. Allerdings laden die Kälte und der Wind auch nicht zu langem Verweilen ein, und vielleicht macht der gesamte Platz bei gutem Wetter mit vielen Menschen einen ganz anderen Eindruck. Dies ist ein Prestigebau. Die Bedeutung der Stadt sollte herausgestellt werden. Innen gibt es eine monumentale Treppe mit schön skulptiertem Geländer, aber auch hier kann man nicht rein. Beide Stockwerke haben große, unterschiedlich gestaltete Fenster, dazwischen Säulen und Pilaster und leere Sockel. Auf denen sollten ursprünglich die Figuren bedeutender Menschen aus Poitiers tragen sollten. Wer da wohl in die Auswahl gekommen wäre?
Der Mittelrisalit mit dem Eingangsportal tritt leicht hervor, mit dem Haupteingang und einem halbrunden Fenster darüber. Diese Achse wird fortgesetzt vom Balkon darüber, einem Uhrenturm und einem eisernen. An den Seiten des Uhrenturm stehen zwei allegorische Gestalten, die Landwirtschaft und die Industrie. Auf dem Pavillon vier eiserne Tiger – was Tiger hier zu suchen haben, fragt man sich – und vier Putten. Die halten das Wappen von Poitiers, das auch irgendwo in einem skulptierten Fries erscheint sowie innen an verschiedenen Stellen. Es zeigt den Löwen von Aquitanien, eine Lilie und neun goldenen Kugeln. Die sollen für die ersten neun Ratsherren stehen.
In einer größeren Fußgängerstraße ganz in der Nähe finde ich einen Supermarkt, gar nicht so leicht zu finden im historischen Zentrum einer Stadt. Von gegenüber kommen leckere Düfte aus einer Bäckerei. Da scheint es auch Kaffee zu geben, aber es sind keine Tische zu sehen, außer draußen, wo tatsächlich ein paar Verwegene Platz genommen haben. Ich stelle mich in die lange Schlange in dem ganz schmalen Raum, nehme all meinen Mut zusammen und frage, ob man sich oben hinsetzen und Kaffee trinken kann. Ja, kann man. Bestellen und bezahlen muss man unten. Oben ist ein kleiner, bescheiden eingerichteter, aber warmer Raum, in dem man in Ruhe seinen Kaffee trinken kann. Ich bin ganz alleine. Erst später kommen zwei Frauen, eine jüngere und eine ältere. Sie nehmen an einem Nebentisch Platz. Ich beachte sie nicht weiter, bis mir fremde Klänge ans Ohr kommen. Dann muss ich einfach zuhören. Sie machen Sprachunterricht. Die jüngere Frau lernt Polnisch! Zuerst machen sie etwas Konversation, dann lesen sie einen Text und dann machen sie ein paar Übungen. Das können sie hier in aller Ruhe machen.
Als ich weitergehe, fällt mir ein eigenartiges Ladenschild auf: Le dé à trois faces. Die Schaufensterauslagen geben erst keinen Hinweis, was es ist, aber dann, beim näheren Hinweis, zeigt sich, dass es sich um ein Spielwarengeschäft handelt. Und das erklärt auch den Namen des Geschäfts. Würfel mit drei Seiten scheint es tatsächlich zu geben. Ich bin so davon angetan, dass ich reingehe und ein Puzzle kaufe.
Dann komme ich noch zu einem ganz merkwürdigen Gebäude mit einem ebenso merkwürdigen Namen: La Tour Maubergeon. Von einem Turm ist aber nichts zu sehen. Höchstens mehrere runde Halbtürme an einem unregelmäßigen Bau mit großen gotischen Fenstern. Noch merkwürdiger ist die Verlängerung dieses Baus, ein Bau mit einer Art getrepptem Giebel, der aber keinen Eingang hat. All das bleibt ein Rätsel, und ich habe den Eindruck, dass ich den Bau nie richtig von vorne zu sehen bekomme. Aber dann scheint mir, dass ich den vorderen Teil vorher gesehen habe, den Bau mit der großen Freitreppe.
Wie dem auch sei, die Geschichte des Baus ist höchst bedeutsam und führt in die Blütezeit von Poitiers. Der Vorgängerbau, noch zu Verteidigungszwecken gebaut, stammte aus der Zeit von Guillaume IX., dem “Ersten Troubadour”. Auf ihn geht auch der zusätzliche Turm zurück, den ich nicht finden kann, der mit dem komischen Namen, Maubergeon. Das war offensichtlich der Name seiner (merowingischen) Geliebten, die er trotz der Widerstands der Kirche nicht fallen ließ. Diese Maubergeon war die Großmutter der legendären Eleonore von Aquitanien und damit die Urgroßmutter von Richard Löwenherz und Johann Ohneland. Sie veranlasste, zusammen mit ihrem Sohn Richard, den Umbau der Verteidigungsanlage, die nach dem Bau der Stadtmauer obsolet geworden war, zu einem Palais. Der Burggraben wurde zugeschüttet. Der kreisrunde Verlauf der Straße spiegelt bis heute den Verlauf des Burggrabens wider.
Am Eleonores Hof wurde das Erbe ihres Großvaters gepflegt. Er wurde zu einem wichtigen Zentrum des Minnesangs. Hier wurden seine (auf Aquitanisch verfassten) Minnelieder aufgeführt. In der Zeit von Eleonore entstand auch der berühmte große Saal, in dem die Fußtritte wegen seiner Größe nicht zu hören waren. Sie gingen verloren.
Eleonore, die hier zur Verwirrung Aliénor heißt, war eine der bemerkenswertesten Figuren der europäischen Geschichte. Ihr Stammhaus war das der Grafen von Poitou. Die hatten dann das Herzogtum Aquitanien dazugewonnen. Als der letzte Herzog starb, trat Eleonore das Erbe an. Sie heiratete zuerst den französischen König, Ludwig VII., dann den englischen König, Heinrich II. Sie war also innerhalb kürzester Zeit Königin von Frankreich und Königin von England! Den französischen König wurde sie wieder los, indem sie die Ehe annullieren ließ. Sie berief sich darauf, dass sie mit ihm verwandt war. Das war ihr erst nach der Hochzeit aufgefallen. Es gab aber auch keinen Thronfolger. Die Trennung von Philipp und die Heirat mit Heinrich war eine der folgenreichsten Entscheidungen des europäischen Mittelalters, denn Heinrich, der ohnehin schon Herzog der Normandie war, hatte sich jetzt auch noch Anjou an Land gezogen. Die Verbindung der beiden bedeutete also riesige englische Besitzungen in Frankreich, was zu jahrhundertelangen Auseinandersetzungen und in letzter Instanz zum Hundertjährigen Krieg führte. Eleonores Beziehung zu Heinrich war konfliktreich, wie man sich vorstellen kann. Er wollte ein einheitliches Königreich, sie wollte ihre Autonomie bewahren. Das hatte letztlich zur Folge, dass sie ihre Söhne unterstützte, als die sich gegen ihren Vater auflehnten. Sie stellte Heinrich fünfzehn Jahre lang unter Hausarrest! So stand es hier, bevor ich von kundiger Seite darauf aufmerksam gemacht wurde, dass das nicht ganz richtig ist – nichtEleonore stellte Heinrich, Heinrich stelle Eleonore unter Hausarrest!
Bei so einer Vita wäre es natürlich besonders gut gewesen, diesen merkwürdigen Bau irgendwie in den Griff zu bekommen und vor allem den Saal zu besichtigen. Aber auch so habe ich einen guten Eindruck von Poitiers bekommen. Und kann mich weiterhin an nichts, aber auch wirklich gar nichts von damals erinnern.
Den ganzen Tag über war es kalt, aber es hat nicht geregnet. Jetzt, auf dem Rückweg, fängt es an. Ich schaffe es aber noch, der Kathedrale einen kurzen Besuch abzustatten. Die liegt auf dem Rückweg, etwas abseits des eigentlichen Zentrums, an einem großen, leeren Platz, der sich am Ende einer schmalen Straße plötzlich auftut.
Auch hier gibt es ein beeindruckendes Skulpturenwerk an der Fassade. Vor allem die Szene der Verdammten, bestimmt fünfzig und mehr Figuren, alle dicht aneinander gedrängt, durch die Gegend purzelnd oder in die Tiefe gestoßen. Noch unter ihnen steigen die Toten aus ihren Gräbern auf. Komisch: Was haben sie nur bis dahin gemacht? Nur einfach in ihren Gräbern rumgelegen? Werden sie nicht auch sofort zur Rechenschaft gezogen? Erscheinen nur die dann noch Lebenden beim Jüngsten Gericht? Oder wird zweimal Urteil gesprochen, einmal am Ende des Lebens, einmal am Ende der Welt? Leider ist keiner zugegen, der mir meine Fragen beantworten kann. Genauso wenig wie die über Eleonore von Aquitanien.
Die Kirche hat einen ungewöhnlichen Grundriss, ganz einfach, mit einem geraden Ostabschluss. Der löst in dem kleinen Führer, den ich habe, großes Rätselraten aus. Die Erklärung liegt aber auf der Hand: Das ist englisch! Schließlich “gehörte” Poitiers zur Zeit der Erbauung zu England.
Innen ist man in einer gotischen Kirche, in der man sich wie in einer Barockkirche vorkommt. Man hat trotz der drei Schiffe den Eindruck eines einzelnen Raumes. Die Seitenschiffe sind fast so hoch wie das Mittelschiff, und die Bögen gehen fast bis an die Decke. Beeindruckend sind die Dimensionen, vor allem die Länge und die Breite.
Den größten Eindruck hinterlässt aber das Orgelspiel. Es war schon draußen auf dem Platz zu hören, weit vor der Kirche. Die Orgel donnert und dröhnt durch die leere Kirche, in der außer mir kein Mensch ist. Offensichtlich bekommt jemand Orgelunterricht, denn alle paar Minuten wird unterbrochen und kommentiert. Aber wenn es nach mir ginge, bräuchte der Spieler keinen Unterricht mehr.
Die Aussichten für morgen sind nicht gerade rosig: In Burgos ist es noch kälter, und es regnet.
20. Januar (Sonntag)
Als ich in aller Herrgottsfrühe in der dunklen Seitengasse mein Auto einparken will, um noch mal in die Wohnung zu gehen, versperrt mir eine junge Frau den Weg und macht eine hilfesuchende Geste. Ich denke nur: Dunkelheit, Ausland, alleine, Wertsachen, Schlüssel – und mache eine abwehrende Bewegung. Sie verschwindet sofort. Später sehe ich sie in ein Taxi einsteigen. Und ärgere mich über meinen Kleinmut. Sie wollte nur mitgenommen werden.
Viele Kilometer geht es durch ein Industriegebiet, dann kommt die Autobahn. Dunkel und leer. Ich muss tanken. Man kann nur mit Karte bezahlen, ich will aber bar bezahlen. Ich parke das Auto und gehe rein. Radebrechend versuche von der jungen Frau ich erfahren, ob man nicht bar bezahlen könne. Dabei komme ich echt in die Bredouille. Das Wort für ‘bar’ fällt mir nicht ein, und ich versuche es mit en courrant und en comptant, und irgendwie versteht sie mich, wie ihre Antwort zeigt: en espèce. Hört sich nach Gewürzen an. Ob das mal der Ursprung war? Sie macht mit einem unglaublichen Redeschwall weiter, dem ich nur entnehme, dass ich erst zahlen muss, dann tanken. Ich muss mir aber erst eine Zapfsäule aussuchen und das Auto dahinstellen. Dann wieder reinkommen zum Bezahlen. Also muss ich vorher abschätzen, wie viel Benzin ich brauche? Und was ist, wenn ich zu viel bezahlt habe? Die Art, wie ich diese Fragen stelle, hat mit Französisch nur noch marginal zu tun. Aber sie bewahrt ein ernstes Gesicht und sagt, ja, dann erhielte ich das Geld zurück. Und genau so geht es: Ich stelle das Auto an eine Zapfsäule, bezahlen 50 €, tanke für 42 €, gehe wieder rein und bekomme den Rest zurück. Auf jeden Fall ist das eine gelungene Strategie, die Leute zum Zahlen mit Karte zu ermutigen. Bei der Weiterfahrt fällt mir noch auf, dass sich bar gar nicht so italienisch anhört wie Giro und Skonto und Bankrott. Der Duden hilft: Es ist tatsächlich deutsch und bedeutet bar im Sinne von ‘bloß’, ‘unbedeckt’, ‘nackt’. Ich habe nackt bezahlt. Aber nicht mehr lange zahlen wir nackt. Demnächst nur noch in cash.
Zu viel Gelegenheit zum Sinnieren über Sprachwandel habe ich nicht. Es kommt Nebel auf, und der wird immer dichter. Man sieht nur noch die Fahrbahnmarkierungen und den Scheibenwischer, der sich unentwegt gleichmäßig hin und her bewegt. Hin und wieder kommen Warnsignale: Brouillard. Glücklicherweise kann man die sehen. Irgendwann wird es ganz hinten hell, ein rötliches Licht. Tagesanbruch? Schön wär’s. Danach wird es noch dunkler. Erst nach acht Uhr beginnt es, hell zu werden, aber der Nebel hält an. Es geht an Cognac vorbei. Auch das hätte ich anderswo verortet. Erst nach Bordeaux löst sich der Nebel auf, und es beginnt zu regnen.
An die flache, eintönige Landschaft zwischen Bordeaux und der Grenze kann ich mich noch erinnern. Unzählige Bäume mit schlanken Stämmen, die bis zur Krone keine Äste haben.
Um genau zwölf Uhr fahre ich über die Grenze: Guipuzcoa. Hier ist alles zweisprachig ausgeschildert: Hartu ticketu. Die Ortsnamen stimmen nur in seltenen Fällen überein: Bilbao ist Bilbo, aber San Sebastián ist Donostia und Vitoria ist Gasteiz. Und verwirrenderweise ist Iruña nicht Irún, sondern Pamplona! Es gibt einen weiteren Ort mit diesem Namen, in Alava: Iruña de Oca. Alle drei hatten unterschiedliche römische Namen, aber bei den Einheimischen denselben. Vermutlich geht der auf eine Wurzel zurück, die einfach ‘Stadt’ bedeutet!
Burgos ist hinter der Grenze noch nicht ausgeschildert. Dafür aber Algeciras. Auch auf Arabisch!
Hinter der Grenze verändert sich die Landschaft abrupt: schroffe Felsen, steil abfallende Wiesen, baumbestandene Berge. Immer wieder geht es durch Tunnel. Leider wird der Regen jetzt so stark, dass er von der Umgebung ablenkt.
Im Baskenland muss man an den Mautstellen nicht unbedingt an einem Automaten bezahlen. Es gibt immer eine oder zwei Stellen, die von einem richtigen, lebendigen Menschen besetzt sind. Davon mache ich Gebrauch. Es ist netter, erleichtert die Sache aber auch. Man bezahlt ständig kleinere Beträge, nur die letzten Kilometer bis Burgos sind gratis. Darauf wird aber auch alle Nase lang hingewiesen.
Als ich über einen Pass komme, hört der Regen auf, und ganz hinten kommt die Sonne zum Vorschein. In Burgos ist es dann trocken, sonnig und eiskalt.
Es geht durch hässliche Außenbezirke Richtung Innenstadt. Kein Mensch ist unterwegs, die Straßen sind leer. Dies ist noch spanische Mittagszeit, auch wenn es auf vier Uhr zugeht. Gut für mich, das erleichtert die Suche. Das Apartment ist ganz zentral gelegen, in einer Fußgängerzone, und der Treffpunkt ist außerhalb. Aber da ist nicht so leicht hinzukommen. Nach vielen Runden, bei denen ich immer etwa zwei Kilometer vom Ziel entfernt bin, ganz egal, wohin ich fahre, hilft mir ein Ehepaar mit einer perfekten Erklärung: Erst am Cid vorbei, dann über die Brücke, dann auf der anderen Seite am Fluss entlang, dann über die zweite Brücke zurück an dieses Ufer. Diesmal klappt es.
Das Apartment ist perfekt, in einem Altbau gelegen, modernisiert und geschmackvoll eingerichtet. Hat alles, was das Herz begehrt. Und ist so zentral gelegen, wie man es nur wünschen kann. Noch zentraler wohnen nur die Domherren.
Ich mache gleich einen Spaziergang durch die frische Luft. Tut gut. Ich habe für die Fahrt wieder fast zehn Stunden gebraucht, und wieder war die Strecke länger als vom Routenplaner vorhergesagt.
Das Zentrum zeigt sich in dem hellen Licht von seiner besten Seite. Alles sehr photogen, vor allem die Kathedrale. Bei ihr denkt man immer nur an die “Kölner” Türme, aber es handelt sich um einen riesigen, komplexen Bau, perfekt in die Hanglage eingepasst. Einmal um die Kathedrale rum ist ein richtiger Spaziergang, und man muss immer wieder Treppen rauf und Treppen runter. Nicht zu übersehen ist das reiche bildhauerische Werk, an den Portalen, aber auch an den Außenmauern.
Die Westfassade hat statt der drei ursprünglichen gotischen Portale drei neoklassische Portale. Die passen wie die Faust aufs Auge. Das ist aber auch das einzige Manko einer ansonsten perfekten Fassade. Die durchbrochenen Türme, die durch gotische Fenster mit Dreipässen durchbrochene Wand, das Figurenensemble, der Übergang der quadratischen Turmstümpfe in das Achteck der Obergeschosse, der – wie an dem gesamten Bau – gereinigte Sandstein, die relativ bescheidene Höhe – alles passt!
Wenn auch die Türme sofort an Köln denken lassen, ist die Höhe doch ein Unterschied und auch die Rosette, genauso wie die Galerie der Könige in einer Linie. Und von den anderen Seiten her ist dann gar kein Köln mehr zu sehen. Der Bau ist unglaublich komplex, mit einem riesigen Kreuzgang, einer Sakristei, den ganzen Seitenkapellen und der Kapelle im Osten. Auffallend ist, vor allem aus etwas Distanz gesehen, das Ensemble von Türmen und Türmchen. Die bekrönen die Querung und die Kapelle im Osten. Dieses Ensemble macht es unverwechselbar zu Burgos.
Auf dem Platz vor der Kathedrale auf einer Bank die Skulptur eines Jakobpilgers, mit Muschel auf der Brust und Pilgerstab mit Lederbeutel in der weit von sich gestreckten Hand. Man sieht ihm die Erschöpfung förmlich an.
In der Nähe ein Geschäft mit einem ungewöhnlichen Ladenschild: El ovillo de Aracne. Ein Handarbeitsgeschäft. Die Verbindung von Mythologie und heimeligem Wollknäuel hat was.
El Mesón de la Cueva, El Restaurante Nuño, El Asador de Aranda: Hier machen sie sich Konkurrenz, vor allem mit den typisch kastilischen Gerichten: Codillo, Cochinillo, Morcilla. Kein Paradies für Vegetarier. An einem Lokal eine handgeschriebene Tafel, das seine Olla Podrida anpreist – und gleich die Erklärung über den Ursprung des merkwürdigen Namens folgen lässt: podrida = poderida. Der Eintopf ist mächtig, nicht faul.
21. Januar (Montag)
Burgos ist keine römische Gründung, ungewöhnlich für eine spanische Stadt. Sie ist mittelalterlich. Und das erklärt wohl auch den deutsch klingenden Namen, angeblich auf Jakobspilger zurückgehend, die die Stadt wegen der Burg so nannten. Die thront oben auf einem Hügel. Aber es ist nicht mehr viel davon übrig. Ich erspare mir den Weg dorthin und kehre nach einer intensiven Besichtigungstour am Nachmittag durchfroren nach Hause zurück.
Gleich nach Tagesanbruch geht es los. Das erste, was mir auffällt, ist ein WC: modern, sauber, gratis, mit Erklärungen in drei Sprachen. Da erkennt man Spanien kaum wieder. Dann bin ich aber wieder mit Spanien versöhnt, als auf zwei elektronischen Anzeigen, die sich in einer Sichtachse befinden, die eine die einer Bank, die andere die einer Apotheke, einmal 8.59, einmal 9.01 und einmal 0° und einmal 2° sehe. Geht doch!
Durch die Puerta de Santa María geht es zum Fluss, dem Arlanzón. Das Tor stammt aus der frühen Neuzeit und ersetzt ein mittelalterliches, wie so vieles in Burgos. Es ist ein mächtiges, breites Tor, mit einem eher niedrigen Durchgang, unter einem halbrunden Bogen.
Stadtauswärts ist das Tor von zwei Rundtürmen begrenzt. In der Mitte sind in Nischen mehrere große Skulpturen eingelassen, sechs historische Figuren in zwei Reihen, oben Fernán González, der Cid und Karl V., alle mit gerade nach oben stehenden Schwertern. Da kommt man auf ganz andere Gedanken. Darüber in einer Nische ein Schutzengel, ganz oben die Jungfrau, die Schutzpatronin von Stadt und Kathedrale.
Das Tor soll im Zusammenhang mit dem Sieg Karls V. über die Comuneros zu tun haben, aber welchen, verstehe ich nicht. Stand Burgos vielleicht auf der Seite der Comuneros und wollte Abbitte leisten? Die Comuneros, städtische Patrizier, hatten sich mit den Adeligen verbündet, um die Errichtung einer absoluten Monarchie in Spanien vorzubeugen. Ihre Forderungen wurden dann aber den Adeligen zu brisant, und so blieben sie allein auf weiter Flur. Und letztlich chancenlos gegen die Monarchie. Dabei hatte Karl sowieso alle Hände voll zu tun: Die aufständischen Holländer, die ketzerischen deutschen Protestanten, die Angriffe der Türken, und jetzt auch noch diese blöden Städter, die sich einbildeten, ein Land besser regieren zu können als ein König!
Wie dem auch sei, es lohnt sich, das Tor zu durchschreiten und sich die Flusspartie anzusehen. Hier gibt es drei parallel verlaufenden Wege zum Promenieren: unten am Fluss ein Spazierweg auf Sand und Gras, hier oben mit Blick auf den Fluss eine breite, schön gepflasterte Promenade mit gewagt geschnittenen Buchsbäumen zu beiden Seiten, und dann etwas vom Fluss entfernt, eine weitere Promenade auf Straßenpflaster, mit gestutzten Platanen zu beiden Seiten.
Am Fluss sehe ich am Ufer eine junge Frau, die sich auf ein Gitter stützt und gedankenversunken auf den Fluss blickt. Sie hat ein schönes Gesicht und wunderbares, langes Haar, das sie quer über die Schulter geworfen hat. Sie trägt einfache Stiefel und ein einfaches Kleid, dazu einfachen Schmuck, aber all das ist passend. Ich sehe sie unverwandt an. Sie hat nichts dagegen. Es ist eine Skulptur. Skulpturen dieser Art sind über das ganze Zentrum verteilt. Schon vorher habe ich am Stadttor eine auf dem Boden hockende Frau mit Kopftuch gesehen, die vor sich in der Glut Kastanien röstet. Später treffe ich auf einen Mann, der lässig an einer Häuserwand lehnt und Zeitung liest. Dann auf ein altes Ehepaar auf einer Parkbank, sie strickend, mit Wollknäueln an der Seite, er auf den Stock gestützt, tatenlos. Dann kommt ein Schmied bei der Arbeit und schließlich ein Junge in der Begleitung eines Mannes, beide in Kostümen. Ein Schild auf dem Boden davor verrät, was sie darstellen: Tetines y Danzantes. Jungen, die traditionelle Tänze erlernen und ihre Lehrer.
Die Promenade endet in einen kleinen, aber viel befahrenen Platz. Auf dem steht das Reiterstandbild des Cid. Der rauschende Bart, der Helm, das im Wind flatternde Gewand, die nach vorne gestreckte Lanze, das nach vorne galoppierende Pferd mit dem waagerecht in der Luft stehenden Schwanz, das ist alles ein bisschen zu dramatisch. Fast muss man lachen. Aber der Himmel mit dem Gemisch aus Wolken und Sonne bietet den passenden Rahmen für ein etwas theatralisches Photo.
So fügt es sich gut, dass das Theater gleich hier an diesem Platz steht. Eine Fassade, die schwer einzuordnen ist, so etwas wie ein modifiziertes Neobarock. Als die Sonne durch die Wolken bricht, spiegelt sie sich in den Fensterscheiben der Fassade und lässt sie gleich viel schöner erscheinen.
Das Theater hat hinten keinen geraden Abschluss, wie man ihn erwarten würden, sondern schließt polygonal ab. Das, erfährt man aus einer Inschrift, ist ein Erweiterungsbau. Das Theatergebäude diente auch als Sitz einer bürgerlichen Gesellschaft, und die war hier untergebracht. Erst jetzt verstehe ich den merkwürdigen Seiteneingang, an dem ich vorher vorbeigekommen bin: ein großes hölzernes Portal im Jugendstil, das hier völlig unerwartet auftaucht. Darauf steht: Salón de Recreo.
Ein paar Meter weiter an derselben Fassade El Morito, ein Mohr, der mit zwei verschiedenen Glocken die Stunde und die Viertelstunde läutet und über einer emblematischen Uhr steht.
Ich komme auf eine Reihe von kleineren Plätzen und Straßen, alles sehr schön. Eine Bar hat den schönen Namen ¿Quedamos?
Dann stehe ich plötzlich auf der Plaza Mayor. Über den Häusern sieht man die vielen Türme der Kathedrale. Sehr schönes Bild.
Die Plaza Mayor ist ungewöhnlich: ein unregelmäßiger Kreis, mit Häusern, die alle unterschiedlich sind, in Breite, Höhe und Aussehen, aber die dennoch ein schönes Ensemble sind. Alle haben Laubengänge unten.
Dann geht es zur Casa del Cordón. Der Name ist irreführend. Es ist eher ein Palast. Groß genug, um in einem Teil, innen modernisiert, eine Bank unterzubringen.
Die Casa del Cordón ist ein Renaissancebau, der zu einer Seite auf die alte Plaza Mayor geht, eine kleinere Version der neuen. Zu dieser Seite hin ist die schöne Südfassade des Hauses, mit den namensgebenden Franziskaner-Kordel. Sie umrahmt das ganze Portal. Hier ist Geschichte geschrieben worden, wie eine Inschrift an der Südfassade zeigt: In diesem Haus empfingen die Katholischen Könige Kolumbus nach seiner zweiten Reise nach Amerika. Das ist aber längst nicht alles: Hier starb Felipe el Hermoso, nachdem er sich beim Pelota-Spiel erkältet hatte. Und hier fand die Hochzeit des Infanten Juan mit Margarete von Österreich statt. Noch wichtiger aber: Hier beschlossen die Parlamente von Kastilien und Navarra die Vereinigung der beiden Königreiche, ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Entstehung Spaniens.
Danach gehe ich ein bisschen durch die Fußgängerzone, über eine breitere, dann über eine schmalere Straße, die zurück zur Plaza Mayor führt. Hier reiht sich ein Lokal an das andere. Darunter eine Bar, La Quinta del Monje, bei der die Tapas, offensichtlich besserer Qualität, schon draußen mit Photos und Preisen angezeigt werden.
Auf der breiteren Straße viele alte Geschäfte, noch in privater Hand, darunter ein Hutgeschäft und ein Schirmgeschäft und mehrere Buchhandlungen sowie Aristocrazy, ein modernes Schmuckgeschäft.
Es wird Zeit für die Kathedrale. Es gibt gleich vier Eingänge, alle mit reichem Skulpturenschmuck. Im Süden – da ist der Eingang, und da kommt man ebenerdig in die Kathedrale – ist die Majestät Christi das Thema. Eine strenge, nach vorne blickende Christusfugut hält das Gesetzesbuch in der Hand, umgeben von den Symbolen der Evangelisten. Diese selber gruppieren sich drum herum, und zwar alle an einem Pult sitzend und eifrig schreibend!
An der Hauptfassade, wie in den französischen Königskathedralen, eine Galerie der ersten Herrscher Kastiliens, von Fernando I. bis zu Fernando III. Ausgerechnet Urraca, die einzige Königin, hat man ausgelassen.
Die Fassade hat auch, ganz französisch, eine Rosette. Eine weitere Rosette gibt es im Norden. Ganz ungewöhnlich ist eine gemeißelte Inschrift, die von unten einfach dekorativ aussieht. In gotischen Buchstaben steht da: pulcra es et decora. Das bezieht sich auf Maria, die Patronin der Kirche, deren Bildnis über der Inschrift erscheint.
Die Portale der Hauptfassade sind geschlossen, und die der Nordseite auch. Von hier aus käme man nur über eine Treppe in die Kirche hinunter. Früher gab es auch eine ganz einfache Treppe, und man nutzte die Kathedrale auch, um einfach von einer Seite der Innenstadt zur anderen zu kommen. Diese Treppe wurde dann durch die Escalera Dorada ersetzt, zum Betreten zu schade!
Das Thema des Nordportals ist die Deesis, die Bitte um Anhörung. Die Jungfrau und Johannes bitten vor Gott für die sündige Menschheit. Christus weist auf seinen entblößten Körper und die seine Hände und die Wundmale an beiden. Das Thema wird dann fortgeführt in der Darstellung eines Themas, das – wie ich jetzt lese – Psychostasie heißt, das Wiegen der Seelen. Michael ist mit diesem Job beauftragt worden. Darunter schließt sich folgerichtig das Jüngste Gericht an, anders als in Poitiers, nicht so gedrängt.
Dann geht es endlich rein in die Kirche, zum reduzierten Rentnertarif. Innen verstellt der Chor, wie fast überall in Spanien, den Blick nach Osten (und den nach Norden und Süden und Westen!). Er steht mitten im Mittelschiff statt im Chor, also da, wo er hingehört. Diese Änderung wurde im16. Jahrhundert in Spanien eingeführt, weiß der Kuckuck warum, aber eben nur in Spanien. Man bekommt dadurch kaum einen Raumeindruck von dem Bau.
Den Chor anzusehen, lohnt sich aber auf jeden Fall. Zur einen Seite der vergoldete Hochaltar, zur anderen das Chorgestühl, und in der Mitte, unter der Vierung, die Grabstätte des Cid und seiner Gemahlin, Doña Jimena, unter einer einfachen, großen Marmorplatte.
Der Vierungsturm, mächtig, achteckig, ist wunderschön gestaltet. Man sieht hinauf zu einem vielzackigen Stern, in den wiederum ein anderer Stern eingelassen ist. Es fehlt nur ein bisschen Sonnenschein, um den Blick perfekt zu machen.
Das Chorgestühl kann man nicht betreten, aber man sieht das Ensemble und die ersten Plätze. Es dürfte um die fünfzig Sitze geben, in zwei Reihen angeordnet, und es dürfte um die dreihundert im Halbrelief geschnitzte Flächen über und unter den Plätzen geben. Die ersten kann man im Detail ansehen. Allein in einer geschnitzten Fläche rechts sieht man neun Figuren, wenn man die mitzählt, deren Kopf gerade abgeschlagen auf einem Teller liegt. Diese Figur erscheint allerdings zweimal. Oben wird gerade von einem grimmig aussehenden Schergen das Messer angesetzt. Das Ganze geschieht unter königlicher Aufsicht. Links davon, immer noch im selben Bild, zwei Bischöfe, einer mit einem Krummstab, einer mit einem Stab, der in einem Kreuz endet.
Darunter Kämpfer mit Waffen, nur mit Röckchen bekleidet, und in den Miserikordien Tiere, die in der Erde wühlen, so eine Art Warzenschwein.
Diese Sitzreihe wird abgeschlossen und quasi “bewacht” von einer nackten Männerfigur mit einem muskulösen Körper wie aus dem Fitnessstudio. Sein Pendant auf der anderen Seite ist eine ebenfalls nackte Figur, mit einem langen Bart und entblößten Frauenbrüsten. Was den Holzschnitzern so alles in den Sinn gekommen ist! Steht in keinem Reiseführer!
Nördlich der Vierung die wunderbare Escalera Dorada, eine doppelläufige Treppe, die unten ein paar gemeinsame Stufen hat, dann zu den beiden Seiten auseinander läuft, um sich oben wieder zu treffen. Sie hat ein schönes, geschmiedetes Geländer, aber man kann es nicht von Nahem sehen.
Das alles ist Renaissance. Die Kirche, die außen, vor allem vor der Westfassade, wie eine klassische gotische Kirche aussieht, ist innen ganz, ganz anders. Auch durch den Kapellenkranz. Der dürfte auch erst später angelegt worden sein.
Die Kapellen sind teils so groß und so reich ausgestattet wie eigene Kirchen. Ich sehe mir die Capilla del Condestable genauer an. Sie bildet dem Abschluss des Chorumgangs. In der hängt so ganz nebenbei eine Maria Magdalena von Leonardo (oder Leonardo zugeschrieben). Aber die Kapelle ist so reicht ausgestattet, dass man das Gemälde glatt übersehen könnte.
Hier gibt es alleine drei Altäre und vierzehn Sandsteinfiguren, jede einzelne mit einem Baldachin versehen und einer ganzen Kampfszene zu den Füßen. Im Zentrum die schönen, idealisierten Grabfiguren des Stifterehepaars, mit detaillierten Abbildung des Schmucks auf Rüstung und Gewand und genauer Nachbildung des Faltenwurfs, und einem Hündchen zu Füßen der Frau.
Ich sehe mir hier aber mal ein paar Details an, die in der Bilderflut sonst untergehen, wie ein skulptiertes Gitter an der Seite des Altars und ein vergoldetes, geschmiedetes Wappen rechts davon. Unglaublich, welche Arbeit und welche Kunstfertigkeit darin steckt.
Ganz am anderen Ende der Kathedrale, im Westen, befindet sich hoch oben der Papamoscas, eine Figur, die die Stunden schlägt und dabei den Mund öffnet. Die Figur erfreut sich großer Popularität, ist aber eigentlich nichts Besonderes.
Man wird durch Pfeile auf einem festen Weg durch die Kathedrale geleitet, und der bringt mich in die Sakristei und dann in den Kreuzgang, aber nur in die obere Etage. Nach unten gerate ich gar nicht und sehe damit auch den Eingang zum Kreuzgang nicht, der in allen Büchern erscheint. Ebenfalls verpasse ich den Cristo de Burgos, eine beeindruckende und gleichzeitig sehr populäre Figur von Christus am Kreuz. Vielleicht hat das alles damit zu tun, dass unten eine Kapelle restauriert wird.
Die Sakristei hat einen barocken Überschwang, mit knallbunten Gipsfiguren, dass es einem zum Lachen zumute ist. Was die vielfigurige Szene an der Decke darstellen soll, ist nicht zu enträtseln.
Der Kreuzgang ist hoch und elegant, aber leider durch und durch verglast, so dass man kaum einen Blick in den Innenhof werfen kann und auch die andere Seite nicht sieht, was doch den Reiz eines Kreuzgangs ausmacht. Hier, im Kreuzgang, stoße ich unerwarteterweise auf den Cofre del Cid, eine mittelalterliche Truhe, verbunden mit einer nicht sehr heldenhaften Tat des Cid. Er brauchte nach seinem Exilierung dringend Geld, um die 300 Männer zu bezahlen, die ihn begleiten würden. Das Geld lieh er sich von zwei jüdischen Geldleihern. Als Garantie gab er ihnen diese Truhe, die angeblich Schmuckstücke enthielt im Gegenwert zu dem Geld. Die Juden rochen ein gutes Geschäft, akzeptierten, ohne nachzusehen, und fanden am Ende heraus, dass die Truhe nur Sand und Steine enthielt. Eine wahrlich christliche Legende!
Hunger hat sich eingestellt. Eins der vielen typischen Menüs des Zentrums offeriert La Posada: Sopa Castellana, Guiso de Lechazo, Pudding. Der ist hier, statt mit Brotkrumen oder mit Gebäckstückchen, mit kleinen Stücken Obst durchsetzt. Dazu Wein. Schmeckt alles gut, außer den durchgeweichten Pommes.
Ich bin der einzige Gast, bis um Viertel nach zwei ein weiterer eintrifft. Er nimmt das Gegenprogramm: Gambas, Kabeljau, Wasser, Kaffee.
Es ist alles sehr spanisch. Unten, in der Bar, geht es laut und unordentlich zu, oben ist ein schöner Speisesaal mit Holzbalkendecke. Die Tische sind eingedeckt, aus dem Lautsprecher kommt leise Gitarrenmusik, an den Wänden hängen Schwarz-Weiß-Photos von Stierkämpfern. Die Suppe wird in einer Keramik-Schüssel serviert.
Es gibt zwei Hinweisschilder auf das WC, ein schönes Keramikschild, ein gewöhnliches Messingschild. Auf dem einem steht Aseos, auf dem anderen Servicios.
Ich gehe noch rauf zu San Esteban. Das habe ich noch von damals in Erinnerung. Es ist aber geschlossen, da es ein Museum und heute Montag ist. Der Weg lohnt sich aber doch: Auf dem kleinen Platz davor steht, seitlich zum Platz, ein schief in den Hang gebautes einstöckiges Häuschen, mit der ganzen Fassade über und über voll mit einfachen Blumentöpfen.
Am Morgen habe ich aber zufällig ein Museum entdeckt, das auch heute geöffnet ist, untergebracht in einem schmalen Haus, ganz unscheinbar: El Museo del Libro. Man muss klingeln, um eingelassen zu werden.
Das Museum gehört einem Verlag, Siloé, der sich auf die Herstellung von Faksimiles spezialisiert hat und wichtige Werke veröffentlicht hat. Hier präsentieren sie auf drei Etagen die Geschichte des Buches, kurz und bündig, gut gemacht, mit Nachbildungen von wichtigen Werkzeugen und Bildern.
Der Beginn der Schrift wird nach Mesopotamien verortet, mit der Keilschrift. Das ist aber nicht unumstritten. Mindestens China und Ägypten waren zur gleichen Zeit am Zug, und eine der großen Fragen ist weiterhin, ob es für so eine wichtige Erfindung mehrmals an verschiedenen Orten gemacht wurde – klingt unwahrscheinlich – oder sich von einem Ort aus schnell um die Welt verbreitet hat – klingt ebenso unwahrscheinlich.
Aus Mesopotamien werden die Stifte der Keilschrift und beschriebene Tonplättchen präsentiert. Überhaupt wird auf Schreibmaterialien großen Wert gelegt: Stein, Knochen, Ton, Papyrus, Pergament, Papier, Bildschirm.
In einer kleinen Videosequenz sieht man, wie viel Aufwand es ist, Pergament herzustellen. Zuerst muss die Haut immer feucht gehalten werden, dann wird die obere Schicht mit den Haaren abgekratzt, dann wird die Haut eingespannt und muss weiterhin von beiden Seiten feucht gehalten werden. Man bekommt aus viel Tierhaut wenig Pergament.
Auf der Etage darunter geht es weiter mit Gutenberg und dem Buchdruck. Hier liegt das Augenmerk auf einem gewissen Fadrique de Basilea. Der war von besonderer Bedeutung für Burgos. Ob er wirklich aus Basel kam, ist nicht gesichert, auf jeden Fall aber aus dem deutschsprachigen Bereich, denn eigentlich heißt er Friedrich Biel. In Spanien wurde er dann zu Fadrique. Er druckte eine ganze Reihe wichtiger Inkunabeln, darunter die erste Ausgabe von Calixto y Melibea und von der Celestina.
Dann werden Bücher aus verschiedenen Epochen gezeigt, frühe Neuzeit, Barock, Aufklärung. Es gibt Ausgaben von dem ersten und dem zweiten Band des Quijote. Der eine spricht von dem Ingenioso Hidalgo Don Quixote, der andere von dem Ingenioso Cavallero Don Quixote.
Unten gibt es eine Etage über den Cid. Etwas unerwartet, aber auch hier geht es um Ausgaben des Buches. Der Cid, heißt es, wurde geboren zu einer Zeit, als das Kalifat von Córdoba gerade zusammengebrochen war und sich in die Reinas de Taifa aufgelöst hatte. Parallel dazu hatte auf christlicher Seite Fernando I. sein Reich unter seine Söhne aufgeteilt, was zu Bruderzwist und Kriegen führte. Vor diesem Hintergrund sind die vielen “Seitenwechsel” des Cid eher verständlich. Christen und Araber bekämpften sich gegenseitig, aber auch untereinander. In dem Gedicht über den Cid verschwimmen Wirklichkeit und Fiktion. Er erscheint jedenfalls als der klassische Ehrenmann. Auch hier gibt es Faksimiles von frühen, handschriftlichen Ausgaben. Ob man die verstehen kann? Der Versuch scheitert daran, dass man die Buchstaben kaum entziffern kann.
Zum Schluss kommt noch ein echter Höhepunkt. das Voynich-Manuskript. Die Frau, die mich so freundlich empfangen hat, ist ganz entsetzt, dass ich davon noch nie gehört habe. Auch das wird jetzt von Siloé als Faksimile herausgebracht. Das Voynich-Manuskript, heute in Yale, gilt als das “rätselhafteste Buch der Welt”. Man weiß nicht, wer es geschrieben hat. Man weiß nicht, für wen es geschrieben worden ist. Man weiß nicht, wovon es handelt. Man weiß nicht, in welcher Sprache es geschrieben ist. Und man weiß nicht, in welcher Schrift es geschrieben ist.
Der Namensgeber, Voynich, hat das Manuskript unter wohl nicht ganz geklärten Umständen in Italien entdeckt, nachdem es jahrhundertelang verschwunden war. Über seine Erben kam es dann nach Yale.
Das Voynich-Manuskript ist kein Buch im engeren Sinne, sondern besteht aus zusammengefalteten Pergament-Seiten. Die sind nicht vollständig erhalten,und einige sind größer als andere. Deshalb ist es sogar schwer zu sagen, welche Seitenzahl es umfasst.
Was man durch Beobachtung herausgefunden hat: Der rechte Rand ist etwas unregelmäßiger als der linke. Es wird also von links nach rechts geschrieben. Es gibt kleine Abstände zwischen den Zeichen. Es handelt sich also um “Buchstaben”. Und es gibt etwas größere Abstände zwischen einzelnen Gruppen von Buchstaben. Es handelt sich also um Wörter. Außerdem hat man durch Zeichnungen, die sich auf fast allen Seiten befinden, eine Ahnung, worum es sich handeln könne: Astronomie, Botanik, Anatomie. Aber das ist Spekulation.
Man hat versucht, das “Alphabet” der Sprache aufzustellen, aber das ist gar nicht so einfach: Wenn man ein Zeichen vor sich hat, ist das ein eigener Buchstabe oder nur eine Variante eines anderen Buchstaben? Wenn jemand, ohne Deutsch zu können, versuchen würde, aus meiner Handschrift die deutschen Buchstaben herauszufiltern, könnte er auf die Idee kommen, dass die Varianten von <s> und <e> eigene Buchstaben sind.
Genauer weiß man etwas über das Alter des Manuskripts. Voynich selbst hatte spätes Mittelalter geschätzt, und damit lag er gar nicht so falsch. Die Untersuchungen von Papier, aber auch von einigen Darstellungen, haben ziemlich eindeutig erwiesen, dass es aus dem 15. Jahrhundert stammt. Die Authentizität des Manuskripts ist also bekannt.
Aber: Kann das nicht alles Hokuspokus sein? Hat sich da nicht vielleicht jemand einen Scherz erlaubt, einen sehr aufwendigen Scherz, und der Nachwelt ein Rätsel hinterlassen, das sie nicht lösen kann? Kann es sein, dass es eine Sprache gibt, von der sonst keine Quelle und kein Hinweis existiert, außer diesem einen ausführlichen Text, der dazu akademisches Wissen voraussetzt? Ist das nicht alles falscher Zauber?
Auch dazu gibt es Hinweise. Und die deuten eher auf die Authentizität des Textes: Es gibt eine begrenzte Zahl von Buchstaben, die Buchstaben kommen in sehr unterschiedlicher Frequenz und in verschiedenen, aber nicht allen möglichen Kombinationen vor. All das sind Merkmale von natürlichen Sprachen (oder besser der Schriftform natürlicher Sprachen). Außerdem ist der ganze Schreibduktus sehr flüssig. Bei einem auf reiner Phantasie beruhenden Text würde man das nicht erwarten.
Auf jeden Fall hat der Besuch dieses unscheinbaren Museums mit dem Voynich-Rätsel nicht nur Fragen hinterlassen, sondern auch ein paar Einsichten.
22. Januar (Dienstag)
Wie in Frankreich springen die Ampeln in Spanien sofort von Rot auf Grün. An einigen Ampeln werden aber hier die Sekunden runtergezählt, auch für die Autofahrer.
Wieder wird es erst sehr spät hell. Es geht über die spanischen Autovía. Da fallen keine Mautgebühren an. Die Fahrt durch die eintönige spanische Meseta zieht sich hin, über Valladolid und Salamanca. Am Wegesrand liegen Torquemada (auch ein Ort!) und Tordesillas. Für einen Moment überlege ich, abzufahren und mir die geschichtsträchtige Ort anzusehen. Dass ich das nicht tue, ist die beste Entscheidung des Tages.
Im Radio ist bei einem Anrufprogramm ständig vom Wetter die Rede, obwohl das gar nicht das eigentliche Thema ist. Wo es wohl zuerst schneit? Es ist der bisher kälteste Tag des Winters.
Kurz vor Salamanca ist zum ersten Mal Portugal angezeigt. Genau um 12 Uhr bin ich an der Grenze. Der verlassene Grenzort auf der spanischen Seite gibt einem den Eindruck, in einer anderen, früheren Welt zu sein. Ich finde kein Café, treffe aber auf einen Mann, der mir sagt, es sei besser, hier zu tanken. In Portugal sei das Benzin viel teurer.
Nach ein paar Kilometern taucht eine Mautstelle auf: Nur für Ausländer. Schöne Grüße von der CSU. Man kann hier nur elektronisch bezahlen, und nur mit der Kreditkarte. Von der wird dann pauschal abgerechnet, aber man bekommt keine Quittungen. Gibt einem kein gutes Gefühl.
Das erste Wort, das ich in einem portugiesischen Sender höre, als ich das Radio einschalte, ist Dortmund. Es geht um futebol.
Trotz guter Vorsätze habe ich immer noch kein bisschen Portugiesisch gelernt. In den letzten Tagen habe ich aber ein paar Wörter nützliche Wörter aufgeschnappt, die gleichzeitig Teil der portugiesischen Alltagskultur sind: uma bica ist ein Espresso, um galão ist ein Milchkaffee und uma imperial ist ein gezapftes Bier. Doch ganz gut für den Anfang!
Im Wetterbericht fällt mir die Aussprache von Porto auf. Klingt wie Portu. Das unbetonte <o> klingt anders als das betonte. Das scheint jedenfalls die Grundregel zu sein. Wirkt sich auch bei Coimbra, Faro, Portugal und gleich doppelt bei obrigado aus. Anders ist es bei Lisboa.
Dann geht es von der Autobahn ab, aber auf einer guten Landstraße weiter, bis nach Coimbra. Jetzt fehlt nur noch ein kleines Stück. Aber welche Richtung? Ausgeschildert sind nur Autobahnen und eine Landstraße. Aber die bringt mich in die falsche Richtung, nach Norden. Ich fahre nach Coimbra zurück, komme in die Stadt, dann in das Universitätsviertel, ganz oben gelegen. Am Ende stellt sich heraus, dass ich noch mal auf die Autobahn muss, Richtung Lissabon. Auf der kommt dann das Schild Castelo de Penela. Ziel in Sicht! An der nächsten Ausfahrt ist aber keine Abzweigung nach Penela, und an der übernächsten auch nicht, also fahre ich ab und zurück nach Coimbra. Dann zurück Richtung Lissabon, und dann an der ersten Abfahrt ab. Hier habe ich meinen ersten “Dialog” auf Portugiesisch. Ich frage den Mann an der Mautstelle – hier wird inzwischen wieder Strecke für Strecke abgerechnet – wie ich nach Penela komme. Der macht das hervorragend: Weiterfahren – Auf der Dreizehn – bis Miranda do Corvo – dort Penela. Der Mann könnte Fremdsprachenlehrer sein. Im letzten Moment unterdrücke ich Gracias und sage Obrigado. Beim nächsten Versuch, in einer Bar, geht es schief. Da sage ich Grazie.
Ermutigt setze ich die Fahrt fort. Jetzt kann eigentlich nichts mehr passieren, und die Abfahrt nach Miranda do Corvo kommt dann auch irgendwann in Sicht. Aber ach – sie ist gesperrt! Unfall! Man kann nicht abfahren, muss weiterfahren bis zur nächsten Ausfahrt und dann wieder zurück. Dort ist dann an einem Kreisverkehr zum ersten Mal Penela ausgeschildert. Gott sei Dank! Aber es zieht sich. Es geht über eine kurvenreiche Landstraße, immer Auf und Ab, durch immer neue Dörfer. Dann kommt endlich Penela, hoch gelegen. Dort gibt es einen Markt. Ich will einkaufen mit Pause verbringen, aber der Markt ist geschlossen. Ich trinke in einer heruntergekommenen Bar einen Kaffee. Vier Männer und die Frau hinter dem Tresen starren schweigend auf ein unsägliches Video mit Horror-Szenen. Der Kaffee ist gut und günstig: 90 Cent. Wenigstens etwas.
Das nächste Problem folgt auf dem Fuße: Ich komme aus dem Ort nicht heraus. Entweder lande ich wieder an dem Markt oder an der Sporthalle oder an einem Feldweg. Nach mehreren Runden komme ich durch die historische Altstadt, über Kopfsteinpflaster, und dann irgendwie aus dem Ort heraus. Ich frage drei Männer, die sich gerade verabschieden, nach Estrada de Viavai, aber sie sind nicht von hier. Ich soll an der Tankstelle fragen. Das tue ich. Die junge Frau weiß Bescheid, aber ich kann ihrer Erklärung nicht ganz folgen. Es ist immer wieder von rotunda die Rede, das muss der Kreisverkehr sein, aber ich muss an insgesamt dreien vorbei und immer in andere Richtungen. Ich finde es auch nicht sehr beruhigend, dass sie nach links zeigt, wenn sie rechts sagt. Egal, die grobe Richtung stimmt: runter. Ich lande in einem Wohngebiet. Dort hilft mir ein junger Mann weiter. Wieder ist es dreimal ein Kreisverkehr. Er ist sehr hilfsbereit und zeichnet den Weg auf einem Blatt auf. Lieber wäre mir, wenn er mir eine Richtung sagen würde, an die ich mich halten kann. Ich folge seinen Instruktionen, so gut ich kann, und komme durch eine unendliche Kette von Dörfern mit Namen, die mir bereits bekannt vorkommen: Pastor, Rosas, Sra. de Glória, Casais de Cabra. Hier bin ich schon mal durchgekommen. Mindestens einmal.
Immer noch kommt kein Schild nach Estrada de Viavai in Sicht, nicht einmal nach Viavai. Ich frage einen Mann in einem Jeep, und er schickt mich zurück. Dann kommt plötzlich das ersehnte Schild in Sicht: Viavai. Warum bin ich da vorher vorbeigefahren? Weil es nur aus dieser Richtung kommend ausgeschildert ist!
Es geht über einen nur behelfsmäßig befestigten Weg. Aber der nächste Ort ist nicht Viavai. Der übernächste auch nicht. Es geht immer weiter, bis plötzlich die Autobahn in Sicht kommt. Und dann bin ich plötzlich in Estrada de Viavai.
Ich fahre durch den Ort und suche das Haus. Ortsende. Ich weiß auch nicht genau, wonach ich suchen soll. Der einzige Anhaltspunkt sind die Photos im Internet. Dann, als ich zurückfahre, sehe ich plötzlich: Casa Tranquila. Angekommen. Am Ende habe ich heute noch länger gebraucht als in den Tagen davor, und insgesamt waren es, statt der vom Routenplaner vorgesehenen 2050 Kilometer 2230 Kilometer.
Der Schlüssel soll im Briefkasten sein. Aber der ist tief. Ich klemme mir meine Finger ein bei dem Versuch, an den Umschlag zu kommen. Das Pförtchen öffnet sich auch nicht. Ich beuge mich drüber und versuche, das Kästchen an der Pforte zu öffnen. Dabei fällt mein Handy aus der Jacke, auf das Grundstück und zerfällt in seine Einzelteile.
Ich versuche es wieder mit dem Umschlag. Irgendwie bekomme ich ihn dann doch zu fassen und zieht ihn heraus. Es ist kein Umschlag. Es ist ein Werbeprospekt.
Ich klettere über das Pförtchen, sammele die Handyteile ein und versuche, das Kästchen von dieser Seite zu öffnen. Es geht! Da ist der Schlüssel! Jetzt geht es “nur” noch darum, herauszufinden, für welchen Eingang der Schlüssel bestimmt ist. Beim dritten Versuch klappt es. Dann öffnet sich auch das Pförtchen. Es war nicht abgeschlossen, sondern klemmte!
23. Januar (Mittwoch)
Das größte Problem ist die Kälte. Sie trotzt dem Kamin und dem Gasofen. Das einzige, was man merkt, ist, dass das Holz weniger wird.
Statt nach Penela geht es – Tipp des Vermieters – nach Miranda do Corvo. Da gäbe es einen Supermarkt, einen Lidl. Penela sei schön zu besichtigen, aber nicht so gut zum Einkaufen.
Kaum verwunderlich, dass es hier so grün ist. Die Dächer und Straßen sind nass, und auf den Bergen hängen die Wolken. Bald beginnt es zu regnen. Das ist dann wohl das, was man “ergiebigen Regen” nennt.
Ich merke mir den Namen der Orte, durch die Fahrt geht, um wieder zurückzufinden. Und die Abfahrten an den verschiedenen Kreisverkehren. Ein Ort heißt São Simão. Daran kann man gut sehen, dass das <ã> eine Art Grabstein für das verloren gegangene <n> ist: San Simón > São Simão. Sieht man auch an información > informação, recepción > receção, mano > mão.
Kurz vor Miranda taucht, wieder einmal an einem Kreisverkehr, ein ganz modernes Gebäude auf: Museo do Mel. Könnte eine der ersten Besichtigungen werden.
In Miranda parke ich vor dem Markt. Es gibt ein geschlossenes Gebäude, aber ohne feste Stände. Es sieht alles etwas provisorisch aus. Hier verkaufen Bauern aus der Umgebung an improvisierten Ständen.
Ich kaufe bei einer Bäuerin ein: Möhren, Tomaten, Birnen und Clementinen. In einem spanisch-portugiesisch-Mix frage ich, was besser sei: die Apfelsinen oder die Clementinen. Sie zögert nicht mit der Antwort. Die Clementinen: mais doces. Apfelsinen heißen laranjas. Da, wo wir den Anfangskonsonanten aus dem Persischen getilgt und die Spanier ihn bewahrt haben, haben die Portugiesen ihn durch einen anderen ersetzt! Die Frau erklärt mir auch, welche Birnen die besten sind. Von dem “Gespräch” animiert, frage ich auch noch, ob der Markt jeden Tag stattfindet. Nein, nur am Vierten, na quarta. Das ist Mittwoch. Gewöhnungsbedürftig. Die Zählung fängt am Montag an, aber bei zwei!
An einer Apotheke zeigt die Temperaturanzeige 12°. Muss wohl defekt sein. Zumindest ist es draußen wärmer als im Haus.
Man sieht viele alte Leute auf der Straße. Die alten Männer tragen alle eine Mütze. Einige gehen an einem Stock. Einen Rollator habe ich noch nicht gesehen.
Abseits des Markts liegt das Zentrum. Das ist alles andere als hässlich. In einem Café trinke ich einen Kaffee. Ein paar Verwegene sitzen tatsächlich draußen. Es sind Engländer!
Mit der Frau hinter dem Tresen lache ich am Ende gemeinsam über mein verdutztes Gesicht. Sie hat mir gezeigt, wo die Toilette ist und dabei auf die Wand gewiesen. Die hat dasselbe Muster wie die Eingangstür zur Toilette, und man glaubt, man müsse durch die Wand gehen.
Zum Lidl soll ich besser mit dem Auto fahren, sagt sie. Unterwegs halte ich aber noch mal an und frage zwei junge Frauen, die vor einer Haustür stehen. Eine von ihnen antwortet – auf Englisch. Sie muss die Wörter suchen, aber sie erklärt alles perfekt. Ich finde den Weg auf Anhieb.
Im Lidl ist alles wie bei uns. Hier finde ich auch, wie vom Vermieter empfohlen, Holzkohle für den Ofen. Der holländische Käse ist billiger als der portugiesische. So kann das nichts werden. Dafür kaufe ich ein Brot aus der Gegend. Das ist sehr lecker.
Auf der Teedose steht Chá Preto für Portugiesisch und Té Negro für Spanisch. Die Portugiesen haben, anders als die Spanier, das kantonesische Wort für ‘Tee’ genommen, so wie die Griechen und die Ungarn und die Russen und viele andere. Und für ‘schwarz’ wird in diesem Kontext nicht negro gebraucht (das es auch gibt) und im Spanischen nicht prieto (das es auch gibt).
Auf dem Rückweg sehe ich an verschiedenen Stellen, wie Baumstämme auf Lastzüge geladen werden. Gestern habe ich mehrmals welche vor mit gehabt, die Holz transportierten, teils mit Anhänger. Holzwirtschaft scheint hier großgeschrieben zu werden. Gut für meinen Ofen.
Wieder geht es den langen Weg ins Dorf nach der Abbiegung von der Landstraße entlang. Die Dörfchen, die durch man kommt, haben kuriose Namen wie Vouzela und Poupa. In einem Ort gibt es sogar eine Haltestelle und eine Telefonzelle!
24. Januar (Donnerstag)
Der überflüssigste Einrichtungsgegenstand ist der Kühlschrank. Die Butter bleibt auch außerhalb frisch – und knüppelhart.
Als ich schon eine Weile auf bin, fangen die Hähne erst an zu krähen. Der Sonnenaufgang ist später als bei uns. Klar, wird sind im äußersten Westen.
Der Name des Hauses, Casa Tranquila, ist offensichtlich. Die Ähnlichkeit mit Spanisch und Italienisch ist zu deutlich. Und doch: Die Dinge sind komplizierter, als sie scheinen: Im Portugiesischen ist das s in casa, wie im Italienischen, aber anders als im Spanischen, stimmhaft. Aber der zweite Vokal wird hier “abgeschwächt”, zu einer Art schwa reduziert, und das ist wiederum anders als im Italienischen. Das Wort wird also in allen drei Sprachen gleich geschrieben, aber unterschiedlich ausgesprochen!
25. Januar (Freitag)
Estrada de Viavai ist, wie der Name schon sagt, ein Straßendorf: Der bedeutet einfach ‘Straße nach Viavai’. Ein paar hundert Meter weiter geht auch wirklich die Straße nach Viavai ab. Die italienische strada lässt grüßen. Man darf sich nicht verwirren lassen durch das zusätzliche <e> am Wortanfang: estación und estação gegenüber stazione, esperanza und esperança gegenüber speranza.
Ein schöner, sonniger Tag, und es wird sogar warm und wärmer. Ich mache einen Spaziergang durch den Ort. Es gibt keine Kirche, keinen Dorfplatz, kein Dorfleben. Nicht einmal einen Laden. Zum Ortsausgang ist es ungefähr so weit wie zum Ortseingang. Straßennamen gibt es nicht. Die Häuser haben manchmal Namen wie P2 oder Jorge.
Es gibt ein buntes Gemisch von Häusern, aber die meisten sind umgebaut und erweitert und geräumig. Sonst ist aber alles vertreten, von echten Ruinen bis zu Herrenhäusern, die an römische Villen erinnern.
Auf vielen Grundstücken stehen einzelne Olivenbäume, aber es gibt auch kleinere Plantagen. Die sehen aber ganz anders aus als in Andalusien. Die Bäume stehen unregelmäßig verteilt auf einer abschüssigen Wiese.
Vor den Häusern stehen auch Orangenbäume, Zitronenbäume und Granatapfelbäume voller Früchte. Wie die wohl die Kälte aushalten? Die meisten Häuser haben auch eine Palme, und am Ortsausgang wachsen Kakteen und Agaven.
Jedes Haus hat mindestens einen Hund, und die sind mir, wie in Kreta, feindlich gesinnt. Gott sein Dank sind die meisten angekettet. Sie bilden die ganze Palette von Hundegebell ab, von dem hellen Kläffen eines Köters über das lang anhaltende, wolfsähnliche Geheul eines Bernhardiners, der sich auf die Hinterbeine stellt, bis zu dem tiefen Bellen eines unsichtbaren Hundes hinter einem Zaun.
Am Wegesrand steht ein Andachtskapellchen. Eine Kirche scheint es nicht zu geben. Menschen sieht man so gut wie keine.
Ganz oben über dem Berg, im Osten, steht die Sonne und bestrahlt das Tal darunter. Es geht steil rauf zu einem Punkt, von dem man eine schöne Aussicht haben soll. Bebauung gibt es hier überall, auch am Fuße des Berges. Das muss Viavai sein.
Ich fahre nach Miranda und gehe ins Museo do Mel. Das ist aber kein Museum, sondern eine Begegnungsstätte mit Café, das sich aus irgendwelchen Gründen den Honig zum Thema gewählt hat. Die Tische und Regale und auch die Deckeneinfassungen haben alle die Formen von Bienenwaben. Es gibt alle möglichen Artikel zu kaufen, die etwas mit Honig zu tun haben. Ich nehme ein Glas Honig mit.
Das portugiesische Wort, das ich inzwischen am besten “beherrsche”, ist Obrigado. Das kommt jetzt schon fast von selbst raus und verdrängt Gracias. Es ist auch sprachlich aus zwei Gründen relevant: Das Portugiesische unterscheidet sich hier in der Wortwahl von allen anderen romanischen Sprachen. Und es heißt obrigado, obwohl es doch “eigentlich” obligado heißen müsste. Aber der Rhotazismus hat seine Spuren im Portugiesischen hinterlassen. Was man gut durch den Vergleich mit dem Spanischen sieht: plaza > praça, plato > prato, regla > regra, blanco > branco, playa > praya.
Im Minipreço in Miranda, einem chinesischen Laden mit allerhand Krimskrams, versuche ich mein Glück mit den Briketts. Die Konversation mit der jungen Chinesin gestaltet sich schwierig. Sie versteht briquete nicht und zeigt mir alle möglichen Dinge, die ich nicht meine. Dann zeige ich ihr ein Photo von dem Ofen. Aha, sagt sie, und führt mich zu einem anderen Regal. Aber da hat sie nur Anzünder. Sie gibt mir dann aber doch noch einen Tipp: Lidl. Ich glaube, das sei nur ein Ausweichmanöver, aber sie hat recht. Bei Lidl werde ich fündig. Und kaufe gleich eine ganze Waggonladung voll. Die Dinger scheinen im Sonderangebot zu sein, und wer weiß, wie lange es sie noch gibt?
Auch eine Offenbarung: Der griechische Joghurt, den ich in einem portugiesischen Supermarkt kaufe, stammt aus Deutschland!
Ansonsten ist der Einkauf auch eine sprachliche Entdeckung. Es gibt Wörter, die man im Leben nicht ableiten kann, zum Beispiel frango. Das heißt ‘Hähnchen’. Interessant auch pimento vermelho, ‘rote Paprika’. Wieder hat das Wort, vermelho, nichts mit rojo, rosso oder rouge zu tun. Und es enthält außerdem die typische Buchstabenkombination <lh>. Am Ausgang steht schließlich Até breve. Sollte man sich merken.
Wieder zuhause, mache ich einen Spaziergang ins nächste Dorf. Das ist, wie der Zufall es will, Viavai. Am Ortsausgang komme ich an einem Haus vorbei, bei dem gleich drei Hunde vom Balkon, zwischen die Streben des Geländers gequetscht, auf mich herabsehen und mich vertreiben. An der Eingangspforte steht cuidado com o cão. Beim Hund steht das Portugiesische, anders als das Spanische (perro) auf der Seite des Italienischen (cane) und des Französischen (chien) und in der Tradition des Lateinischen (canis).
Man muss unter der riesigen Brücke der A 31 durch. Die wirkt hier, in diesem Dörflichen Ambiente, wie ein Fremdkörper, ist aber kaum hundert Meter vom Ortsausgang entfernt. Schon bald ist man in Viavai. Dort gibt es eine Kirche, aber die ist verschlossen.
Auch die Taverna scheint verschlossen, müsste aber, den Öffnungszeiten zufolge, geöffnet sein. Sie hat sogar generöse Öffnungszeiten. Geschlossen: Segunda und Terça, Montag und Dienstag. Also versuche ich es. Mit Erfolg. Ich komme in einen dunklen Raum, wo nur ein älterer portugiesischer Mann sitzt, mit einer Mütze mit Ohrenschützern, tief über die Zeitung gebeugt, bei einem Glas Rotwein. Er ruft die Kellnerin. In der Zwischenzeit kann ich mich umsehen. Der Raum ist voll mit Tischen aller Art, vom Tapeziertisch bis zu einem Eichentisch für zwölf Personen. Ob hier jemals so viele Gäste sind? An den Wänden Stadtansichten, Wimpel, Stillleben, Karten und Photos. Und Handwerkszeuge von Bauern. Es gibt sogar eine Nische mit Haushaltsartikeln, von Mayonnaise bis zu Waschmittel (Omo!). Hier kann man gut einen Noteinkauf machen.
Es kommt eine Frau, und ich bestelle ein portugiesisches Bier: Sagres. Sie verschwindet wieder, taucht dann aber wieder auf und fragt mich, ob ich Franzose sei. Sie selbst ist Engländerin. Wir kommen ins Gespräch. Sie stellt sich vor: Pamela. Sie kennt auch die Casa Tranquila und erklärt mir, dass ein großes Panoramaphoto an der Wand von dort aus gemacht worden sei, und zwar von meinen Vermietern.
Später kommt auch ihr Mann, Ian, und ein weiterer britischer Nachbar, Howard. Die ersten Bekanntschaften, die ich in Portugal mache, sind Briten!
Schließlich erklärt sich auch die merkwürdige Anordnung der Tische. Das sei nur heute so. Heute ist Burns’ Night, schottischer traditioneller Feiertag. Sie hat 32 Gäste heute Abend. Serviert selbstgemachten Haggis und rezitiert das Gedicht von Burns dazu. Natürlich gibt es auch Whisky.
Die beiden sind weit in der Welt herumgekommen, sind unter anderem mit dem Wohnmobil zwei Jahre durch Indien gereist. Ihr Lieblingsland. Auch in Portugal sind sie ständig mit dem Wohnmobil unterwegs. Deshalb ist montags und dienstags geschlossen. Sie hat auch mal ein Jahr in Garmisch-Partenkirchen gelebt.
Sie haben meist nur ausländische Gäste. Die Portugiesen hier aus dem Dorf könnten sich solche Preise nicht leisten. Es gibt in Europa ein ordentliches Nord-Süd-Gefälle. Die meisten hier lebten von der Landwirtschaft, Oliven und vor allem Kohl. Paradoxerweise sei das portugiesische Olivenöl hier sehr teuer. Bei Lidl, wo sie auch kaufe, sei das ausländische Olivenöl billiger. Da stimmt doch was an dem ganzen “System” nicht! Pamela erzählt mir, der portugiesische Mann komme jeden Tag, einmal am Vormittag, einmal am Nachmittag. Er bestellt ein Glas Rotwein und bleibt mehrere Stunden. Und warum? Sie macht eine Handbewegung und sagt: Deswegen. Wegen der Heizung. Zuhause ist es kalt.
26. Januar (Samstag)
Heute ist ein kleiner Ausflug nach Penela vorgesehen. Es hat ca. 6000 Einwohner, etwas weniger als Miranda do Corvo. Wenn ich jetzt das Ortsschild Penela sehe, denke ich immer daran, wie der Mann an der Mautstelle es ausgesprochen hat.
Auf den Feldern liegt Raureif, und ich muss die Scheiben am Auto freikratzen, bevor es losgeht. Der portugiesische Winter meint es ernst.
An der Abbiegung nach Panela steht ein großes Schild, auf dem sich die Stadt als Municipio de portas abertas anpreist. Doppelter Kontrast zum spanischen puertas abiertas. Zweimal Diphthong im Spanischen, zweimal Monophthong im Portugiesischen. Welche Regelmäßigkeit es da gibt – wenn überhaupt eine – ist noch rauszufinden.
Vor der Ortseinfahrt liegt der Friedhof. Er ist treppenförmig angelegt, mit weitem Blick in das Tal. Darauf liegt ein Nebelstreifen wie ein Wattebausch, und die strahlende Sonne versetzt das alles in ein schönes Licht.
Die Gräber sind wie bei uns, aber alle haben eine Marmorplatte, die so groß ist wie das Grab. Das Grab hat also keine Erde rundherum. Oben, am Eingang, sind die Mausoleen der Wohlhabenden, kleine Häuschen mit heruntergelassenen Gardinen. Auf denen steht: jazigo. Und das bedeutet einfach ‘Grab’, ‘Grabstätte’. Erst später fällt mir eine Ähnlichkeit mit span. yacer, ‘liegen’, auf. Wird auch in diesem Kontext benutzt, im Sinne von Hier liegt …
Hoch über der Stadt liegt die Burg. Nach Osten wie nach Westen ist eine zinnenbekrönte Mauer enthalten, und mitten in dem ummauerten Bezirk die Burg selbst, den höchstgelegenen Felsen als Basis benutzend. Auf Schildern ist zu erfahren, was das alles für einen Sinn hat: Die Burg war Teil einer Verteidigungslinie entlang des Mondego. Der bildete etwa hundert Jahre lang die Grenze zwischen maurischem und christlichem Gebiet, bis zur Eroberung von Lissabon. Von da an war der Tejo die Grenze. Die Verteidigungslinie hier am Mondego wurde von einem Mozaraber errichtet, einem gewissen Sesnando Davides, der vorher in Diensten der Mauren gewesen war und es in Sevilla bis zum Wesir gebracht hatte. Diese Linie war, wie hier betont wird, eine Linie der Konfrontation, aber auch der Verbrüderung. Es fand nicht ständig Krieg statt.
Im Burgbereich steht auch noch eine Kirche, Såo Miguel, die auf das Hochmittelalter zurückgeht, aber dieser Bau ist eindeutig jünger. Die Kirche ist weiß getüncht, wie alle hier. Und verschlossen. Wie alle hier.
In das Stadtzentrum geht es an einer großen Aussichtsterrasse eines Lokals vorbei, eines Lokals der gehobenen Klasse, das ebenfalls Sesnando heißt. Stühle und Tische stehen draußen, so als würde die Saison bald losgehen.
Ansonsten ist das Zentrum eine Katastrophe. Es fängt damit an, dass es das gar nicht gibt. Ich frage einen alten Mann, wo es ist, aber das Wort centro sagt ihm nichts. Noch nie gehört. In der Nähe der Stadtkirche ist ein Schreibwarenladen. Ich habe meine Karteikarten extra mitgebracht, um mir umständliche Erklärungen zu sparen. Die Verkäuferin dreht sie ein paarmal in der Hand herum und fragt mich dann, was das sei. Ich gebe es auf, genauso wie den Versuch, eine passende Bank zu finden, die meine Geldkarte annimmt. Scheint es hier nicht zu geben. Von der Straße aus gibt der schön an einem Hang gelegene Ort mit den Zinnen der Burg und der weißen Kirche ganz oben aber ein schönes Bild ab. Zumal die Sonne weiterhin scheint. Das bleibt auch bis zum Abend so, entgegen den Vorhersagen, aber es ist nicht mehr so warm wie gestern.
Später mache ich zuhause die Kostenrechnung für die Hinfahrt auf: 200 € für Benzin und 135 € Mautgebühren, an insgesamt 14 Mautstationen, die Strecke mit der Kreditkartenzahlung noch nicht mitgerechnet.
27. Januar (Sonntag)
In Penela gestern ein Schild gesehen, wo man ein Ladenlokal vermietet: aluga-se. Und später eine Wohnung, die zum Verkauf ansteht: vende-se. In beiden Fällen steht das Pronomen enklitisch. Hört sich nach Cervantes an und nach Asturianisch. Ist aber im Portugiesischen nicht immer der Fall. Bei Fragen mit Fragepronomina steht das Pronomen proklitisch. Es ist aber wohl noch komplizierter.
Am Vormittag klopft es an der Tür. Unverhoffter Besuch? Es sind Zeugen Jehovas, Vater mit kleinem und mit großem Sohn. Sie nehmen es tatsächlich auf sich, hier in dieser verlorenen Gegend für ihren Glauben zu werben.
Am Mittag gehe ich durch das bereits bekannte Hundespalier nach Viavai, in die Taverna. Da wird heute Sunday Dinner serviert, alles sehr englisch, einschließlich Yorkshire Pudding! Es gibt Schweinebraten und geröstet Kartoffeln und eine große Auswahl an Gemüse. Alles sehr schmackhaft, vor allem die Bratensoße.
Alle Gäste sind Briten. Der Raum ist gut gefüllt, die Taverna hat offensichtlich einen guten Ruf. Die meisten trinken Wein. Der kommt aus dem Alentejo. Das ist ein Name, der schon in Lissabon in Lokalen mehrmals gefallen ist. Ich brauche den Reiseführer, um zu sehen, dass der Tejo in Alentejo steckt. Es ist die Region ‘jenseits der Tejo’. Der Alentejo erstreckt sich vom Tejo bis zur Algarve. Er nimmt ein Drittel der Fläche Portugals ein und ist damit die größte und gleichzeitig am dünnsten besiedelte Region Portugals.
Als ich schon beim Kaffee bin, kommt ein Mann an meinen Tisch und fragt mit einer Geste, ob er sich dazusetzen darf. Ich sage ja, auf Englisch. Dann aber bestellt er seinen Kaffee auf Portugiesisch. Radebrechend versuche ich, ein paar persönliche Informationen auszutauschen. Er wohnt nicht hier, sondern in einem Ort, dessen Name ich nicht verstehe, na serra. Er kommt zwei-, dreimal pro Woche hierher. Ich erzähle, wo ich wohne und woher ich komme. Zu mehr reicht es nicht. Am Ende will er mir meinen Kaffee bezahlen und verabschiedet sich mit einem festen Händedruck.
Auf dem Rückweg schrecken mich wieder die Hunde auf, ich dafür aber ungewollt ein paar Ziegen, die aufgeregt den Weg freiräumen und sich hinter einer Häuserecke verstecken. Dahinter kommen weitere Ziegen in Sicht, unter anderem eine, die auf zwei Beinen steht an einem Baum steht und versucht, an die oberen Blätter zu kommen. Neben ihr, auf einen Stock gestützt und dick eingepackt, die Ziegenhirtin.
28. Januar (Montag)
Auf der Landstraße nach Penela ein einsamer Wanderer, im Regen. Ich nehme ihn mit. Ein Engländer. Militärische Tarnjacke und Hose mit Farbklecksen. Er sei hier noch nie von jemandem mitgenommen worden. Er lebt seit vier Jahren halb in Portugal, halb in England. Auf der Fahrt hierher hat er in Spanien einen Autounfall gehabt. Jetzt hat er ein portugiesisches Auto gekauft, aber bei dem funktioniert die Kupplung nicht. Die Kälte sei ganz normal um diese Jahreszeit, sagt er. Bis März werde die mindestens anhalten. Er hat dieselben Probleme wie ich: dicke Wände, keine Heizung. Ich lasse ihn in Penela raus. Bevor er aussteigt, fragt er mich noch: Dutch? Er selbst hat versucht, Portugiesisch zu lernen. Unmöglich. Zu schwer. Klingt wie Russisch.
Wie von dem Engländer vorgeschlagen, nehme ich die Autobahn nach Coimbra, auch wenn die Geld kostet. Es gibt aber keine Mautstelle. Ob hier wieder “heimlich” abkassiert wird? Mir ist bei dem Gedanken nicht wohl.
In Coimbra soll es mit dem Parken echt schwierig sein, aber das Parkproblem erledigt sich wie von selbst: An einem großen Einkaufszentrum, Alma, werden kostenfreie Parkplätze angeboten, in einem riesigen Parkhaus. Von dort versuche ich es zu Fuß.
Der Mann, der mich in die Innenstadt weist, fragt mich, ob ich zur Universität wolle. Nein, in die Unterstadt, La Baixa. Ganz einfach, bis zur Kirche und dann immer weiter geradeaus. Aber schon, als ich zu der Kirche komme, weiß ich nicht, wo “weiter geradeaus” ist, und komme doch irgendwie Richtung Universitätsviertel. Erst ist die Umgebung alles andere als einladend, aber dann kommt ein breiter Boulevard und es geht immer an dem Botanischen Garten entlang. Dann kommt die riesige, langgestreckte Praça de República und dann der Mercado Municipal. Und dann bin ich plötzlich in der Fußgängerzone. Die ist kurz und reicht nur von einem kleinen Platz, an der die Kirche Santa Cruz liegt, bis zu einem großen Platz, der schon seitlich vom Mondego begrenzt wird. Die Kirche ist wohl echt sehenswert, aber heute geht es nicht um Besichtigungen, sondern um Erledigungen.
In einem Schreibwarengeschäft versuche ich erneut mein Glück mit den Karteikarten, aber der Verkäufer weiß offensichtlich nicht, was das ist, auch als ich sie ihm zeige. Er will mir einen Notizblock verkaufen. Später versuche ich es auch noch in einem Copyshop. Der Verkäufer wirft einen hilflosen Blick auf die Karteikarten und sagt, nee, das brauche ich erst gar nicht weiter versuchen. So was gebe es hier nicht. Das wundert mich dann nicht mehr.
In einer winzigen Nische zwischen zwei Häusern verkauft eine alte Dame Ansichtskarten. Briefmarken hat sie keine, aber sie erklärt mir genau, wo ich die bekomme, nämlich in der Casa da Sorte, und nur da, und sie erklärt mir auch den Weg zur Touristeninformation. Die Casa da Sorte öffnet aber erst um zwei, aber dann bekomme ich doch noch Briefmarken in einem Souvenirgeschäft. Es gibt sogar mehrere Motive zur Auswahl. Alle sind schön und groß und kosten einen Euro.
Einen geeigneten Bankautomaten finde ich auch hier nicht, und in der Touristeninformation gibt es nur einen kleinen Stadtplan.
Es ist kein schöner Tag, wolkenverhangen und regnerisch, aber es ist alles andere als kalt. Auf dem Rückweg, bergauf, kommt man sogar ins Schwitzen.
An einer Pforte hat ein Hausbesitzer das Schild angebracht, was auch der mit den drei Hunden in Estrada de Viavai haben müsste. Er warnt in der Mehrzahl vor den Hunden: Cuidado com os cães.
Auf einem Werbeplakat entdecke ich mein erstes portugiesisches Wortspiel: Coimbra tem Alma. Damit ist das Einkaufszentrum gemeint, angeblich die ‘Seele’ Coimbras. Ob auch die Unterzeile so beabsichtigt ist? O shopping no coração de Coimbra. Seele im Herz?
Vor dem Einkaufszentrum ein Graffiti, dessen Autor sein Werk nicht vollenden konnte: We are billions of beautif. Wie es wohl weitergehen sollte?
29. Januar (Dienstag)
In den deutschen Nachrichten eine Nachricht mit Relevanz für Portugal: Guterres, Generalsekretär der UNO, bekommt den Karlspreis.
Die Suche nach dem Alentejo auf der Landkarte vorgestern hat die Frage aufgeworfen, wo wir eigentlich sind. Gar nicht so einfach, denn wir befinden uns wohl in der Nähe eines Dreiländerecks, irgendwo zwischen Beira-Litoral, Beira-Baixa (es gibt auch noch Beira-Alta) und Ribatejo (‘am Ufer des Tejo’). Wir befinden uns in der Beira-Litoral (die Nähe des Meers, von dem hier aber nichts zu spüren ist, lässt grüßen) und im Distrikt Coimbra. Die Provinzen haben aber anscheinend keine administrative Funktion mehr. Es sind historische Regionen.
Die geographische Mitte Portugals liegt bei Vila de Rei. Das ist gerade mal fünfzig Kilometer von hier, Richtung Süden, unweit von Tomar. Ich erinnere mich an einen Portugiesen in Trier, gebürtig aus Setúbal, der energisch protestierte, als ich sagte, das hier liege in der Mitte Portugals. Unsinn, das wäre nicht in der Mitte, das wäre im Norden Portugals!
Auf den Wasserhähnen steht F und Q: frio und quente. Das eine ist ganz offensichtlich, das andere, ohne Zusammenhang, nicht zu entziffern.
30. Januar (Mittwoch)
Alle halbe Stunde hört man von einer nahegelegenen Kirche, vielleicht der von Viavai, ein schönes Glockenspiel, eine eher heitere kurze Melodie.
Milton hält in einer Art Vorwort zu Paradise Lost eine flammende Rede für eine Dichtung ohne Reim. Es ist sogar eher eine Rede gegen den Reim. Der sei nur schmückendes Beiwerk, und wäre nur dazu da, ein schlechtes Metrum, eine schlechte Syntax und einen schlechten Übergang von Vers zu Vers zu kaschieren. Er beruft sich auf Homer, Vergil und “große englische Dichter” (damit meint er Shakespeare, Marlowe und Webster), die alle auf den Reim verzichtet hätten (stimmt bei Shakespeare nicht ganz). Offensichtlich wurde dieses Vorwort nachträglich hinzugefügt als Antwort auf Leser, die das Gedicht tadelten, weil es sich nicht reimte.
Kartoffeln heißen auf Portugiesisch batatas, nicht patatas. Kommt mir irgendwie bekannt vor. Vielleicht aus Amerika?
31. Januar (Donnerstag)
Wie Cervantes bei Lepanto im Kampf gegen die Türken seine linke Hand verlor, verlor Camões im Kampf gegen die Mauren sein rechtes Auge. Merkwürdige Parallele.
Bei Milton sind Satan und Beelzebub zwei verschiedene Figuren. Sie sind sich nicht einig, als es darum geht, ob man noch mal eine Chance hat, ob man noch mal gegen “den da Oben” aufzubegehren.
In Hundert Jahre Einsamkeit vertritt ein seniler Priester die Ansicht, der Satan habe tatsächlich den Kampf gegen Gott gewonnen und regiere die Welt, gebe aber vor, Gott zu sein und nur das Gute zu fördern.
Die Kathedrale von Coimbra ist durch einen Schimmelpilz in Gefahr, einen bisher unbekannten Schimmelpilz, den Forscher entdeckten, als sie den stark korrodierenden Kalkstein der Kathedrale untersuchten. Er nistet sich in den Kalkstein ein und verursacht Risse und Spalten.
Der Regen lässt nicht nach. Und soll auch morgen anhalten. Aber dafür werden die Temperaturen wieder runtergehen.
1. Februar (Freitag)
Passend zum Wetter ist in der Übersetzung, die ich lese, von der Sintflut die Rede. Es geht um Wahrsagerei, Hellseherei, um Techniken wie Chiromantik und deren Bewertung in der frühen Neuzeit. Das Interesse daran war überall vorhanden, aber es gab einen feinen, nicht klar definierten Grenzlinie zwischen dem, was erlaubt und dem, was nicht erlaubt war. Die Kirche hatte ihre Einwände. Es ist verblüffend, wie viel Mühe man sich damit machte, genau zu bestimmen, was ging und was nicht ging. Es gab nur wenige Bücher, die in toto auf den Index gestellt wurden, meist wurden ganz bestimmte Passagen gestrichen. Heute kann man darüber schmunzeln, aber es ging um eine wichtige Frage, die des freien Willens, und der war für die Kirche nicht verhandelbar. Wenn man aus den Handlinien eines Menschen seine Zukunft vorhersagen konnte, war das eine Absage an den freien Willen. Aber man wollte natürlich trotzdem wissen, was die Zukunft bereit hielt, (und auch ob Ereignisse der Vergangenheit, wie die Sintflut, vorhersehbar war), und da gab es ingeniöse Lösungen, wie diese: “Chiromancy considers the following experience: take one hand of the pregnant woman in question, then study the hand and its unusual size: should the right hand be swollen, then it will be a sign that she is expecting a boy; should the left one be, then she is expecting a girl.” Ganz einfach.
Vor dem Haus steht ein schöner Baum mit weichen, feingliedrigen Blättern. Was für ein Baum ist es? Ich befrage mein Trierer Orakel: Es ist eine Jacaranda mimosifolia, ein Palisanderholzbaum.
Aus der Heimat kommen wunderschöne Photos von schneebedeckten Bäumen, Zäunen, Kirchen, Mülleimern.
In Portugal gibt es neben vinho tinto und vinho branco auch einen vinho verde, ein leichter, moussierender Wein, der rot oder weiß sein kann. Er ist sozusagen noch ‘grün hinter den Ohren’. Bei der Gelegenheit erfahre ich aus berufenem Munde, dass es in Frankreich auch einen ‘schwarzen Wein’ gibt, vin noir. Der erinnert mich wiederum an den μαύρο κρασί, den ebenfalls ‘schwarzen Wein’ aus Griechenland. Aber ob damit dasselbe gemeint ist? Ebenfalls erfahre ich, dass das chinesischen Wort für ‘Weißwein’ in Taiwan genau das bedeutet, was es bei uns bedeutet, auf dem Festland aber einen Schnaps bezeichnet. Das wiederum erinnert mich an alte Texte, in denen Wein alles mögliche bedeuten konnte, auch hier in Europa.
In Japan gibt es eine verbreitete Gewohnheit, zerbrochene Schalen wieder zusammenzufügen, und zwar mit Gold! Das, was kaputt war, bekommt so einen neuen Wert. Sicher auch metaphorisch gemeint, für Dinge, die im Leben kaputtgegangen sind.
Der Sturm löst auch noch Stromausfall aus. Kreta lässt grüßen.
2. Februar (Samstag)
Mein Ziel ist Lousã, der Ort, aus dem mein Honig kommt. Ich fahre aber nicht wegen des Honigs hin (auf den es dort auch gar keinen Verweis gibt), sondern wegen Worten. Das ist ein Elektrohandel. Da gibt es Heizlüfter.
Nach drei Tagen Regen ist die Welt wie verwandelt. Stundenlang scheint die Sonne, und am Nachmittag wird es sogar warm, wärmer, als es die Vorhersage vermuten ließ.
Lousã liegt noch nicht in den Bergen, aber am Fuß der Berge. Die Berge tun sich dahinter auf, fast bis an die Spitzen dicht mit Bäumen bestanden.
Lousã liegt noch zehn Kilometer hinter Miranda do Corvo. Die Wiesen auf dem Weg wirken jetzt noch grüner. Könnte in Irland sein. Sonst hat aber die Landschaft mit Irland wenig zu tun.
Alle Häuser sind aus Naturstein, Backstein ist so gut wie unbekannt. Die meisten Häuser sind verputzt, meist die “besseren”. Die nicht verputzten Häuser sehen oft ärmlich aus oder sind Ruinen.
An der Tankstelle werde ich bedient. Der junge Mann legt immer wieder nach, bis wirklich kein Tropfen mehr reinpasst. Er bedankt sich überschwänglich für das bescheidene Trinkgeld.
Bei der Verhandlung über die Zahlungsart meine ich das Wort Karton zu hören. Erst dann fällt der Groschen: cartão de crédito. Wahrscheinlich kann man sich an Karton für die Aussprache halten.
Lusåo hat viele kleine unregelmäßige Straßen, viel Volks ist unterwegs, und er herrscht reger Verkehr. Es macht einen intakten Eindruck. Das Stadtbild ist etwas unübersichtlich, aber grob kann man drei Teile unterscheiden: ein neueres, unansehnliches, die eigentlich Altstadt, eher dörflich geprägt, und das Vorzeigeviertel, ein fast hochherrschaftliches Viertel, mit einer Reihe stattlicher Häuser. Hier haben wohl früher die Grafen von Espinhal residiert.
Ich suche einen Briefkasten und werde mal hierhin, mal dahin geschickt, aber das macht gar nichts, ich habe Zeit, kann Bewegung gebrauchen und will mich hier ohnehin orientieren. Alle überbieten sich gegenseitig an Freundlichkeit, vor allem ein junger Vater mit Sohn und eine Frau vor einer Kirche. Schließlich finde ich den Briefkasten an einem Platz, der die Innenstadt begrenzt, einem Kreisverkehr. Wie sollte es auch sonst sein? Auch bei den Briefkästen kommt wieder die Farbe ins Spiel. Es gibt einen Schlitz für Correio Azul, den Schnelldienst, und einen roten für die normale Post.
Wenn ich meine kleinen Gehversuche auf Portugiesisch mache, wird manchmal auf Englisch geantwortet, aber nicht so oft wie in Griechenland. Die junge Frau in der Touristeninformation wechselt ständig zwischen Portugiesisch und Englisch. Sie traut dem Braten, d.h. mir nicht und glaubt, ich würde nur vorgeben, zu verstehen. Die Antworten, wenn sie auf Portugiesisch kommen, verstehe ich gut oder, wenn nicht, wenigstens im Groben. Wenn die Portugiesen untereinander sprechen, verstehe ich nichts. Und nichts heißt hier: kein Wort.
Auch die gescheiterten Sprechversuche sind was wert: Man merkt, wo Bedarf ist, woran es fehlt. Dann braucht man sich “nur” noch an die Situation zu erinnern, das Wort nachschlagen, das Wort aufschreiben, das Wort behalten und beim nächsten Mal verwenden.
In einem Ramschladen, in dem ich Anzünder für den Ofen bekomme, hängt unten ein Schild mit der Aufschrift: Roubar um – Pagar dez. Ich muss länger hingucken, dann macht es klick: Es ist eine Warnung vor Diebstahl. Der kommt zehnmal so teuer.
Der Ramschladen gehört der Ladenkette Minipreço an, der größten portugiesischen Kette. Hier taucht ein weiterer Buchstabe mit Sonderzeichen auf, <ç>. Es wird immer wie /s/ ausgesprochen. Dieser Laut kann aber auch durch <s> dargestellt werden, je nach Position. Warum dann nicht immer einfach <s>, wie im Spanischen? Das hat was mit der Aussprache zu tun. Das Portugiesische hat auch ein stimmhaftes s, und dafür wird <s> gebraucht, in bestimmten Positionen. Zu allem Übel kann /s/ auch noch durch <c> dargestellt werden. Ein schönes Beispiel ist receção, wo derselbe Laut auf zweierlei Art wiedergegeben wird. Ist deutlich komplizierter als im Spanischen, auch wenn alles seine Regelmäßigkeit zu haben scheint. Zu diesen Regelmäßigkeiten zählt, dass <ç> nie am Wortanfang steht. Da übernimmt <s> seine Funktion.
In der Touristeninformation bekomme ich einen Stadtplan und werde auf alle möglichen Spaziergänge aufmerksam gemacht, zur Burg und in die umliegenden Dörfer. Als ob es in Lousã selbst nichts zu sehen gäbe. Im Zusammenhang mit den Dörfern der Umgebung ist von Xista die Rede. Damit ist wohl ein Zusammenschluss der schönsten Dörfer der Umgebung gemeint, der der Serra da Louså. Von dem Museum, dessentwegen ich eigentlich hier reingegangen bin, ist auch nicht die Rede.
Die Pfarrkirche, groß, weiß getüncht, mit einem mächtigen Turm, liegt etwas erhöht, am Rande des Zentrums. Sie ist einschiffig und hat an den Seiten riesige Abbildungen von Heiligen auf blau-weißen Kacheln und einen ganz merkwürdigen Altar, der ein bisschen an eine Hochzeitstorte erinnert. An den Türen steht Puxar und Emburrar (später, in einem Café, im Imperativ statt im Infinitiv Puxe und Emburre). Dabei bedeutet puxar nicht etwas drücken, sondern ziehen. Hier erweist sich das Spanische als Fallensteller.
Vor der Kirche steht ein dicht bewachsener, hoher Baum, wie ein riesiger Buchsbaum, grob in der Form eines Tannenzapfens. Unten kleben an den Zweigen lauter Schnecken. Sehen jedenfalls so aus. Sind aber die Früchte.
An einem Amtsgebäude, schön in geschmückten Kacheln eingelassen, Junta de Freguesia da Lousã. Das Wort freguesia verwirrt mich. Ich bin freguesa in der Bedeutung ‘Kunde’ begegnet. Stimmt aber, freguesia heißt tatsächlich ‘Kundschaft’, aber auch ‘Gemeinde’. Das ist die kleinere Einheit, unter vila. Diese Kategorie hat Penela. Darüber dann die cidade, wie Coimbra.
Zwei sich gegenüberliegende Friseursalons in einer schmalen Straße machen sich Konkurrenz, einer, der sehr modern, einer, der sehr traditionell aussieht. Das wunderbar komplizierte Wort für ‘Friseur’ erscheint aber in beiden: cabeleireiro.
In einem kleinen Café unweit der Kirche bekomme ich einen hervorragenden Kaffee, den besten bisher. Im allgemeinen ist mir der Kaffee, der Milchkaffee jedenfalls, in Portugal zu schwach, in Spanien zu stark. Die Frau hinter der Theke erklärt mir auch sehr verständlich den Weg zu Worten.
Auf dem Weg zu Worten liegt aber auch der Lidl, und da will ich zuerst hin. Erstaunlich kompliziert, dahin zu kommen. Man biegt von der Hauptstraße ab und kommt dann in ein ganz schmales Sträßchen, ganz eng zwischen Häusern vorbei und schreckt alle möglichen fetten, in der Sonne dösenden Katzen auf, die offensichtlich keine Autos erwarten. Das kann doch nicht richtig sein. An der nächsten Kreuzung frage ich einen jungen Mann, der gerade in sein Auto einsteigen will, und der gibt mir eine langatmige, komplizierte Erklärung, auf Englisch, um dann plötzlich stecken zu bleiben. Erst jetzt ist ihm eingefallen, dass es den Lidl ja gar nicht mehr gibt. Ich frage ersatzweise nach Worten. Oh, das sei viel komplizierter, meint er. Um dann kurz entschlossen zu sagen, ich solle hinter ihm herfahren. Durch die ganze Innenstadt führt er mich und aus der Stadt heraus, ein ganzes Stück, bis auf den Parkplatz.
Bei Worten spricht der Verkäufer Portugiesisch mit mir, und nach ein paar kurzen Nachfragen bekomme ich hier auch meinen Heizlüfter.
Nebenan ist ein riesiger Supermarkt, Continente. Nehme ich gerne als Lidl-Ersatz. Auch hier gibt es die falschen Briketts, aber auch Säcke mit Holz oder das, was danach aussieht. Ich nehme einen mit. Dann fehlen nur noch ein paar Kleinigkeiten. Seife ist erstaunlich teuer, auch die am Stück, bestimmt zwei- bis dreimal so teuer wie bei uns. Und Sahne scheint ein Nischenprodukt zu sein. Als ich wieder zurückfahre, ist es richtig warm geworden. Ich kann das Fenster runterkurbeln.
3. Februar (Sonntag)
Kaum ein Wölkchen mehr am Himmel, strahlender Sonnenschein, und trotzdem ist es noch kalt. Kein Wunder, dass es im Haus nicht warm wird: Auf den Feldern liegt Raureif, und das Wasser eines Rinnsals ist sogar gefroren. Trotzdem gutes Wetter für einen Spaziergang.
Der beginnt mit einer Runde um das Grundstück. Das ist gar nicht mal so klein. Man könnte gut und gerne noch zwei weitere Häuser dieser Größe drauf bauen. Sogar ein kleiner Gebetsstock, fast eine Kapelle, in die Umfassungsmauer eingelassen, gehört zum Grundstück.
Richtige Nachbarn habe ich, wenn überhaupt, nach hinten hin. Das Haus gegenüber ist eine Ruine, und die beiden nebenan liegen erhöht und sind teils durch Gitterzäune abgetrennt. Außerdem trennt uns zu beiden Seiten eine kleine Straße. Das sind nicht die besten Bedingungen für Dorfschnack.
An einem der Häuser, die hinten an das Grundstück grenzen, hängt neben dem Eingang an der Hauswand noch sehr dekorativ ein Regenschirm, Erinnerung an die letzten Tage.
Das Grundstück der Casa Tranquila ist ebenfalls durch eine Böschung oder eine Mauer abgetrennt, außer zu einer Seite, wo der Seiteneingang, mein Eingang, liegt. Da ist gegenüber ein kleines Weinfeld, das wiederum die Distanz zu dem Nachbarn vergrößert.
Nach der obligatorischen Ritual des Hundegebells geht es Richtung Viavai. Dabei überquere ich einen Fluss, den ich bisher gar nicht bemerkt habe. Jetzt ist es nicht mehr zu übersehen und, vor allem, nicht mehr zu überhören. Der Dauerregen hat seine Wirkung gehabt.
In Viavai geht es dann aufs Geratewohl auf einen Weg zwischen zwei Häusern, und schon ist man mitten im Wald. Es geht bergauf, der Sonne entgegen.
Gestern sahen die bewaldeten Berge aus der Ferne so aus, als stünden dort die Bäume in Reih und Glied, alle gleich. Hier ist es ganz anders, es herrscht ein wunderbares Durcheinander von Krüppeln und majestätischen Bäumen, von Riesen und Zwergen, von Dick und Dünn, und überall dazwischen alles mögliche Gestrüpp. Es gibt viele Nadelbäume, sehr unterschiedlich, aber vermutlich Abarten von Kiefern. Es gibt auch eine ganz Reihe von Laubbäumen, aber die sehen ganz anders aus als bei uns, haben meist kleinere, oft olivfarbene Blätter. Auch das Ensemble ist anders als bei uns, nicht unbedingt schöner. Die großen, dünnen Bäume ohne Rinde sind vermutlich Eukalyptusbäume.
Oben angekommen, stehe ich auf einer Lichtung. Das ist wohl noch nicht der Panoramapunkt, von dem ich irgendwo gelesen habe, aber schon ein ganzes Stück höher. Links sieht man in der Nähe die dichtbewachsenen Berge, rechts hat man einen weiten Blick über das Tal auf die entfernt liegenden Berge der anderen Seite.
Hier oben hat Verwüstung stattgefunden, entweder durch Sturm oder durch Feuer. Es ist teils auch wohl schon wieder aufgepflanzt worden, und die neuen Bäume haben besonders leuchtendes Grün.
Statt zurückzukehren gehe ich einfach weiter und komme auf eine ganz schmale Straße, die dann breiter wird und über die Autobahn führt.
Dann kommt ein Dorf, Grocinas. In den Gärten stehen Bäume ganz dicht mit Früchten behangen. Ich klaue eine Apfelsine und eine Mandarine. Die Apfelsine hat eine dicke Schale und schmeckt sehr gut, ist aber nicht sonderlich süß. Vermutlich ist es noch etwas früh für die Ernte. Deshalb hängen hängen die Bäume noch voll. Die andere Frucht ist so klein, dass ich erst dachte, es wären Mirabellen. Ist aber so etwas wie eine Mandarine oder Clementine in Mini-Format. Die ist etwas süßer und schmeckt ganz anders.
Vor einem Auto liegt friedlich ein Hund, einer, der ausnahmsweise mal nicht bellt und mich vertreiben will. Dann scheuche ich aber ungewollt zwei Tauben auf, und schon geht es los.
Dann kommt ein weiteres Dorf, Venda dos Moinhos. Ich tippe auf ‘Mönche’, aber es sind ‘Mühlen’. Der Namensteil Venda (wie Venta in Spanien) kann keinen Bezug zu den modernen Bedeutungen des Wortes haben. Aber früher bezeichnete es wohl ein Wirtshaus. Dann geht es steil herunter bis zur Landstraße, an dieser entlang und dann wieder steil rauf, und komme ich unerhofft gleich hinter der Casa Tranquila aus.
Auf einer Straßenkarte im Internet sehe ich später, eng beieinander, diese Orte verzeichnet: Alvorge, Albarrol, Adegas, Almoster, Abiul, Alqueidåo, Abelheira, Abades, Almogade, Aivado, Alcamim, Amieira, Alcoutim, Almegue. Alle mit demselben Anfangsbuchstaben und praktisch ohne die Harmonie störende Orte zwischen ihnen. Kann man das alles mit dem arabischen Einfluss erklären?
“Miguel Moreno muss an der gleichen Krankheit leiden wie ich, denn er lässt nichts unerwähnt”, sagt Nooteboom in seinem Reisebuch über Spanien, Der Umweg nach Santiago. Sie scheinen nicht die einzigen zu sein, die unter dieser Krankheit leiden.
In der Übersetzung, die ich Korrektur lese, spricht ein gewisser Favorinus eine Warnung gegen Wahrsagungen aus, gegen günstige wie gegen ungünstige. Die könnten nur Unglück bringen, selbst wenn sie die Wahrheit sagten. Wenn sie günstig sind und nicht eintreffen, macht dich das Warten elend. Wenn sie ungünstig sind und nicht eintreffen, wirst du dir die Sache zu Herzen nehmen und die ganze Zeit umsonst leiden. Wenn sie ungünstige sind und eintreffen, werden sie dein Leiden verlängern, denn du leidest schon, wenn dich das Leid noch gar nicht getroffen hat. Wenn sie günstig sind und eintreffen, wird dir das gleich in zweierlei Hinsicht schaden: Das ständige Warten auf das Ereignis wird dich auslaugen und wenn es dann eintrifft, wird die Freude nur noch halb so groß sein, weil du sie ja schon kommen sahst. Deshalb frage ich mich ja heute noch, warum die Leute alles daran setzen, zu erfahren, ob sie krank sind.
4. Februar (Montag)
Auf der Landstraße auf dem Weg nach Coimbra stehen verschiedene Fußgängerampeln. Sie springen immer wieder um. Aber man sieht nie einen Fußgänger. Als ich an der roten Ampel stehe, fahren die entgegenkommenden Autos einfach weiter. Und sie haben allen Grund dazu: Nur in meiner Richtung ist eine Ampel.
In Coimbra komme ich über eine schöne, alte, grün gefasste Brücke mit mehreren Bögen, kann aber nicht sehen, was darunter ist, und dann an einer ebenfalls schönen, modernen weißen Hängebrücke vorbei, die über den Mondego führt. Die heißt Ponte Rainha Santa Isabel.
Ich komme, ohne es zu wollen, auf einem anderen Weg nach Coimbra, aber das Stadion ist gut ausgeschildert, und ich erinnere mich zufällig, dass das Einkaufszentrum in dessen Nähe ist. Es klappt.
In die Innenstadt komme ich auch auf einem anderen Weg, über die Rua do Brasil. Da fällt mir ein Lokal auf, das mit traditionellen portugiesischen Speisen wirbt, sabores das aldeias. Es heißt Pharmácia! Dafür gibt es auch eine Begründung: In der Apotheke bekommt man alle Mittel um den Geist zu erfreuen! Auf einer großen Tafel werden die Gerichte aufgelistet. Darüber steht Ementa, ein Wort, dem ich schon mehrmals getroffen bin. Es heißt einfach ‘Speisekarte’.
Immer wieder sieht man einzelne Häuser, auch in nicht so schönen Gegenden, die von dem früheren Reichtum Portugals sprechen. Hier sind es oft zweistöckige Gebäude, oft mit Turm und Loggia, nicht groß genug, um als Villa durchzugehen, aber sehr ansehnlich.
Ich komme von genau der anderen Seite in die Innenstadt. In einem Café, Briosa, bekomme ich einen Kaffee und ein Teilchen, eins typisch für Coimbra, Pastel de Santa Clara, sehr süß, gefüllt mit einer Masse, die ich nicht identifizieren kann. Diese Teilchen wurden populär, weil sie in finanziell nicht gut aufgestellten Klöstern fabriziert und unter die Leute gebracht wurden. Briosa ist auch der populäre Name des Fußballvereins von Coimbra, Académica de Coimbra.
Zur Besichtigung steht Santa Cruz an. Die freundliche Frau an der Kasse fragt mich, ob ich Spanisch spräche. Scheint man zu merken. Sie kann auch Spanisch, und wir sprechen in der Folge in einer bunten Mischung aus Englisch, Spanisch und Portugiesisch.
Da gleich eine Messe beginnt, gehe ich zuerst in den Kreuzgang. Doppelstöckig, wunderschön, mit gedrechselten Säulen und Bögen (allerdings nicht auf allen Seiten) unten und einfachen, eleganten flachen Bögen öben. An den Wänden die in Portugal obligatorischen Kacheln, blau-weiß. Sie stellen Gleichnisse aus dem Neuen Testament dar. Man ist überrascht, wie viele es gibt. Man sieht immer vorne Jesus (der eher wie Gottvater oder Moses aussieht) und hinten die Szene des Gleichnisses.
Über eine Treppe gelangt man in den zweiten Stock und auf eine Empore, in der ungewöhnlicherweise das Chorgestühl untergebracht ist. Warum? Weil der König vorne, im Chor, bestattet werden wollte. Also nahm man das Chorgestühl kurzerhand und schaffte es hierher.
Die Empore nimmt einen guten Teil des Mittelschiffs ein. Von hier sieht man in den Kirchenraum hinunter, und von hier hat man auch einen guten Blick auf die vergoldeten, breiten Schlusssteine und auf die prächtige Orgel, in Rot und Gold, mit wunderbar senkrecht und waagerecht angebrachten Pfeifen.
Das Chorgestühl hat es wirklich in sich. Es hat zwei Reihen. Die oberen, “besseren” Reihen haben für jeden Platz drei Schmuckelemente: eine Armillarsphäre, darüber das Königswappen und darüber entweder ein Schiff oder eine Stadt oder eine Festung. Was hat das bitte mit Kirche zu tun? Das einzige christliche Symbol, das man entdecken kann, ist ein Kreuz auf einigen der Schiffe. Das ist eine Vorstellung, die aus Portugals Rolle als Seemacht und als Verbreiter des Christentums stammt: Seht her, wir haben mit unserer Seemacht den rechten Glauben in alle Welt getragen. Auch die Figuren, die die untere Reihe des Chorgestühls schmücken, ebenfalls vergoldetes Holz, sehen nicht gerade christlich aus.
Ebenfalls oben befindet sich ein merkwürdiger Raum, der eine Art Reliquienkammer ist, aber nicht wie eine aussieht, eher wie eine eigene Kirche, mit ovalem Grundriss. Alles ist schön säuberlich geordnet. Es gibt drei Altäre und, in Nischen, acht große Büsten von Bischöfen und Heiligen, und die enthalten wohl die Reliquien. In diesem Zusammenhang ist von den Märtyrern von Marokko die Rede, aber wer das ist, wie viele es davon gibt und ob die alle hier vertreten sind, wird mir nicht klar.
Auf dem Weg nach unten hat man einen schönen Blick in vom oberen in den unteren Kreuzgang, bei dem sich die verschiedenen Bögen kreuzen. Die Sonne nimmt einen immer größeren Platz im unteren Kreuzgang ein.
Unten kann man dann noch die Sakristei besichtigen. Die ist gleichzeitig der Eingang für Besucher. Sie ist lang und sehr hoch, die größte Portugals, heißt es. Besonders schön ist eine, die gesamte Längsseite einnehmende Kommode mit vielen, übereinander angeordneten Fächern, mit schönen Beschlägen aus Gold und mit Intarsien aus Elfenbein. Sie stammt aus dem 17. Jahrhundert. Wie überhaupt in der ganzen Kirche fast nichts aus dem Mittelalter stammt. Das Gebäude war ursprünglich ein Augustiner-Kloster, aber das wurde im 16. Jahrhundert gründlich umgestaltet. Mein Blick fällt in der Sakristei noch auf ein hölzernes Kästchen mit Türmchen und Flügeltüren, dessen Funktion ist erst nicht verstehe. Die geöffneten Flügeltüren geben den Blick frei in ganz schmale Schubfächer, so wie man sie früher in einer Backstube für Brote hatte. Die Assoziation ist gar nicht so abwegig. Es handelt sich um ein Kästchen zur Aufbewahrung von Hostien, und zwar XXL-Hostien, so, wie sie vom Priester am Altar verwendet wurden.
Am Ende kann man dann noch in den Chor gehen. Dort sind, in gegenüberliegenden Grabstätten, die ersten beiden Könige Portugals begraben, Alfonso Henrique und Sancho (XI). Die beiden Denkmäler sind ähnlich gestaltet, sehen auf den ersten Blick sogar gleich aus, aber die Skulpturen, Evangelisten, Apostel, Märtyrer, Heilige, sind auf beiden Seiten anders. Beide Könige werden liegend dargestellt, mit betenden Händen und mit Rüstung und mit einem Löwen zu Füßen. Die Schuhe von Alfonso Henrique sind allerdings spitz, die von Sancho rund. Ob man damit die Mode der Zeit wiedergeben wollte? Aber was wusste man schon davon? Die Grabmäler sind Jahrhunderte später entstanden.
An der Wand gleich über den Figuren ist noch etwas dargestellt, das ich nicht identifizieren kann, irgendwas, was im Doppelpack erscheint. Ich frage die freundliche Frau am Eingang, und sie weiß die Antwort: Handschuhe!
Draußen sehe ich dann noch, dass ein Teil des Gebäudes im Süden heute einem anderen Zweck dient. Dort ist ein Café untergebracht.
Ich gehe die Fußgängerstraße, die mir jetzt schon fast vertraut ist, wieder runter, bis zu dem Platz am Ende. Dort kommen zwei junge Männer in schwarzen Umhängen auf mich zu und fragen, ob sie helfen können. Ich wehre sofort ab, weil ich glaube, sie gehörten einer Sekte an oder wollten mir etwas andrehen. Ist aber nicht der Fall. Sie tragen die klassische Tunika der Universität und helfen Besuchern. Am Ende frage ich sie nach einer Buchhandlung.
Almedina, die Buchhandlung, die sie mir empfohlen haben und die sich auf einem kleinen, abgelegen Platz unterhalb der Kathedrale versteckt, hat praktisch nur Sachbücher und nicht das, was ich suche. Das finde ich aber in einer Buchhandlung in der Fußgängerzone, ein Roman von Saramago. Hier bekomme ich auch eine Straßenkarte, aber die hat noch nicht einmal Estrada de Viavai (das im Internet erscheint) und erst recht nicht die umliegenden Dörfer (die nicht einmal im Internet erscheinen). Die Straßen, die aus dem Dorf führen, sind auch nicht zu identifizieren.
Es ist inzwischen so warm geworden, dass ich mich in ein Straßencafé setzen und ein Bier trinken kann. Unglaublich! Am Morgen musste ich noch das Eis von der Windschutzscheibe kratzen. Die Temperaturunterschiede, sowohl die zwischen Tag und Nacht als auch die zwischen Sommer und Winter, sind verrückt, Symptome eines kontinentales Klimas, und das würde man in Portugal nicht unbedingt erwarten.
Der Platz, auf dem ich sitze, heißt Largo da Portagem. Vorher habe ich mir überlegt, was wohl Lg. auf den Verkehrsschildern bedeutet. Die Bedeutung von largo ist einfach ‘Platz’. Vermutlich kleiner als praça.
Ich versuche, aufzuschnappen, worüber die beiden Männer neben mir sprechen, bekomme es aber nicht heraus. Immer wieder meine ich Benfica zu hören, aber es kann auch sein, dass sie einfach fica sagen. Das Verb, ficar, ist ein ganz wichtiges, es bedeutet ‘bleiben’, aber auch ‘sich befinden’.
Und dann kommt der gloriose Moment, wo ich zum ersten Mal einen Satz aus einer Unterhaltung unter Portugiesen verstehe: “Sie verkaufen keinen Fisch.” Vielleicht keine Aussage von transzendentaler Bedeutung, aber immerhin verstanden.
Auf dem Rückweg geht es wieder erst ein ganzes Stück durch Coimbra, über breite Boulevards und riesigen Plätzen. Man könnte den Eindruck haben, in einer Millionenstadt zu sein. Dabei hat sie gerade mal 140.000 Einwohner. Dass ich richtig bin, merke ich, als ich an einem Platz mit einem großen CDU-Plakat vorbeikomme. Hat nichts, aber überhaupt nichts mit unserer CDU zu tun. Es ist ein Wahlbündnis aus Kommunisten, Grünen und einer demokratischen Bewegung!
An der Autobahn steht Boa viagem! Ist Femininum im Portugiesischen. Und endet wie viele andere Substantive auf -m: portagem, paragem, lavagem, jardinagem.
5. Februar (Dienstag)
Merkwürdige Verwirrung: Wenn ich sage, dass wir eine Stunde hinterher sind, bekomme ich immer wieder die Antwort: Klar, liegt ja auch weiter südlich.
Estrada de Viavai liegt 272 Meter über dem Meeresspiegel. Nur 272 Meter. Der höchste Punkt der Serra da Lousã ist 1205 Meter hoch.
Aus der Heimat werde ich mit allem versorgt, was man sich wünschen kann: Waffen gegen die Kälte, Bilder vom Schnee, aber auch mit Nachrichten über die Vorboten des kommenden Frühlings (längere Tage, Vogelgezwitscher Kraniche). Dann ein schönes Zitat aus der BBC über den Brexit: “A no-deal Brexit is less and less unlikely.”. Schließlich ein Link zu einem artikel über einen portugiesischen Autor, Miguel Torga (nie gehört, war sogar mal Kandidat für den Nobelpreis), mit engen Verbindungen nach Coimbra und einer ganz besonderen, etwas bizarren Biographie, ein Einzelgänger, der sich dem Leben der einfachen Leute widmete, ohne sie zu glorifizieren.
6. Februar (Mittwoch)
Tomar, das sich den Beinamen Stadt der Templer gegeben hat, liegt südlich von hier. Zum ersten Mal fahre ich in diese Richtung. Man kommt gut dahin über die IC 3, wird dann aber auf die (kostenpflichtige) A 13 umgeleitet. Die führt im Übrigen auch nach Fatima, das gar nicht mehr so weit von hier ist.
Tomar kommt mir groß vor. Es hat auch immerhin 40.000 Einwohner, mit großen Mietkästen, Einkaufszentren, Tankstellen.
Überall kommen mir Gruppen von Joggern oder einzelne Jogger entgegen. Ob hier demnächst ein Volkslauf stattfindet?
Auf der Suche nach einem Parkplatz kommt die hochgelegene Festung in den Blick, ein überwältigender Anblick, auch weil es so plötzlich kommt.
Parken kann man am Mercado Municipal. Dessen Außenmauer ist verziert mit Bildern von Artikeln, die man hier kaufen kann, vom Kürbis über die Sardine bis zum Speck. Darüber und dazwischen die Sammelbegriffe: Hortofrutícula, Pão, Queijos, Talhos usw.
Hier wird das Thema mit den Templern ordentlich ausgequetscht. In das Straßenpflaster ist das Kreuz der Templer eingelassen, ein Hotel schreibt das O von Tomar als Templerkreuz, und ein Einkaufszentrum nennt sich Templarios.
Ich komme an den Fundamenten eines römischen Bads vorbei, acht aber mehr auf einen Baum, dessen Stamm in einer Reihe bunter gehäkelter Stoffe eingehüllt ist. Aus dem oberen oberen Stockwerk eines Hauses lehnt sich eine uralte Frau, mit einem gehäkelten Kopftuch, aus dem Fenster und grüßt freundlich.
In einem Café, das neu eingerichtet ist, aber auch zwei alten (?) ionischen Säulen ruht, bekomme ich einen guten Kaffee und ein leckeres Gebäck mit Karamellgeschmack. Das Café ist benannt nach Santa Iría, der Lokalheiligen, die von einem verschmähten Liebhaber getötet und in den Nabão geworfen wurde (ja, so ging man früher mit den Frauen um!). Der fließt ganz nahe an dem Café vorbei.
Wenn man über den Nabão geht, der an dieser Stelle ziemlich breit ist, ist es, als wenn man in eine andere Stadt käme. Man kommt über eine wunderschöne, historische Straße, ohne Autoverkehr, mit ganz unterschiedlichen Häusern, die aber fast alle im ersten Stock ganz schmale Balkone mit schön geschmiedeten Gittern haben. Die Fassaden einiger Häuser sind mit Kacheln verkleidet, blaue, aber auch grüne.
Die Praça da República, der Hauptplatz, kommt erst in Sicht, wenn man schon fast da ist. Sie hat ganz in weiß gehaltene Häuser zu drei Seiten, darunter das Rathaus an der Stirnseite. Im Zentrum steht das nicht sehr ansehnliche Standbild des Gründers von Tomar.
Im Café da Praça sitzt man schon draußen. Es ist zwar sonnig, aber das wäre mir jetzt noch zu kalt.
Gegenüber dem Rathaus die Stadtkirche, Såo João Baptista. Sie hat eine fast schmucklose Fassade, die stark kontrastiert mit dem von Zierrat überbordenden Portal. Hier erscheint wieder die Armillarsphäre, ebenso wie das königliche Wappen. Daneben ein Kreuz, das an allen Enden einen kleinen Querbalken hat, die wiederum in zwei Spitzen enden. Auch das scheint hier charakteristisch zu sein. Später entdecke ich genau diese drei Symbole an der Fassade des Rathauses und an dem Glockenturm.
Der lehnt sich im Norden an die Kirche an, wirkt aber halb unabhängig. Er hat einen klobigen, quadratischen Unterbau und einen feinen achteckigen Oberbau, der wiederum von einer hölzernen Pyramide bekrönt ist, mit zwei quer laufenden Steinschnüren verziert. Der Turm ist ein echter Hingucker, hier vom Platz aus, aber auch aus der Ferne.
Innen wirkt die Kirche höher, als sie ist. Sie ist dreischiffig, mit Balkendecke. Hier auch wieder der entsetzliche tortenartige Altaraufbau. Schön dagegen die gemeißelte spätgotische Kanzel (ohne bildliche Darstellungen) und die dazu passenden, einfachen Weihwasserbecken.
Zur Burg braucht man sich nur nach oben zu orientieren. Statt über die Straße gehe ich durch einen Park, den Parque de Mouchåo. Dem Namen bin ich hier schon öfter begegnet, kann aber nicht herausfinden, was er bedeutet. Scheint auch was mit Wein zu tun zu haben, vielleicht ein Anbaugebiet.
Der Weg, der sogar einen Namen hat, Caminho da Cadeira De‘l Rei, (der ‘Königsstuhl’!) führt steil nach oben. Bald stehe ich vor den Mauern der Burg. Aber es ist kein Reinkommen. Immer weiter bringt mich der Weg von der Burg weg. Man kann auch nicht abbiegen: links dichte Bäume, rechts eine etwas mannshohe Mauer ohne Durchlässe. Dann kommt man zu einer Lichtung, einem regelrechten Aussichtspunkt. Ganz hinten, am anderen Ende des Tals, aber auf gleicher Höhe, steht die Burg, unten die Stadt. Nicht schlecht.
Von hier her führt der Weg bergab. Er ist ursprünglich angelegt worden, um die Wasserversorgung für die Burg zu sichern. An verschiedenen Stellen gibt es kleine, tempelartige Aufbauten, unter denen man Reste der Wasserleitung sieht. Als ich vor einer stehenbleibe, erinnere ich mich an eine Passage in Nootebooms Umweg nach Santiago, in der er vor verschiedenen Arten der Stille spricht. Wie wahr! Hier ist es still, aber nicht lautlos: Man hört das Zwitschern der Vögel und das Rauschen des Wassers. Dankenswerterweise haben die Arbeiter, die im Wald beschäftigt sind, gerade ihre Kreissägen ausgeschaltet.
Am Ende stellt sich heraus, dass der Weg ein Rundweg ist und ich wieder unten am Eingang zum Park lande. Noch mal rauf zur Burg will ich nicht. Und begnüge mich stattdessen damit, dass heute Bewegung statt Besichtigung auf dem Programm stand.
Jetzt ist es so warm, dass man sich auch in das Straßencafé auf der Praça da República setzen könnte, aber ich gehe stattdessen zur Post. Hier sind die Briefmarken billiger als in dem Souvenirgeschäft in Coimbra. Wieder merke ich, wie weit meine Aussprache von dem Original entfernt ist, als die Frau hinter dem Schalter das Wort selos wiederholt.
Auf der Rückfahrt höre ich im Radio (einem katholischen Sender) immer Claxi. Ein Name? Eine Institution. Aber als das immer wieder auftaucht, fällt der Groschen: Claro que sím.
7. Februar (Donnerstag)
In der Taverne in Viavai sitzt Howard, ein Brite, den ich schon flüchtig kennengelernt habe, bei einem Glas Wein. Die Wirtin, Pamela, sitzt am PC, bei den letzten Vorbereitungen für die Reise, nach São Tomé, wo sie vierzehn Tage bleiben. Morgen geht es los. Sie fliegen von Lissabon aus, kommen dahin mit dem Zug von Pombal aus, wohin sie gebracht werden. Kann man sich merken.
Sie setzt sich dann zu uns und trinkt auch einen Wein und raucht ausnahmsweise eine Zigarette drinnen. Ist in Portugal nicht erlaubt und wird auch respektiert.
Ich trinke ein Bier, Sagres, und dann, auf Howards Vorschlag, ein anderes, Super Bock. Das sind die beiden wichtigsten. Sind beide leicht und schmecken ganz ähnlich, Bier, das man gut trinken kann, aber über das man nicht ins Schwärmen gerät. Es gibt aber einen kulturellen Aspekt. Als ich nach der Verteilung frage, ob eine Marke vielleicht irgendwo im Land populärer ist als woanders, bleibt die Antwort vage, aber es gibt einen Unterschied: Die Anhänger von Fußballvereinen haben sich der einen oder anderen Marke verschrieben. Howard verwechselt Sporting und Porto, aber das Internet hilft: Benfica, Braga und Académica Coimbra stehen für Sagres, Sporting, Porto und Belenenses für Super Bock! Ein echter Einblick in die Alltagskultur! Schon deshalb hat sich der Weg in die Taverne gelohnt.
Howard hat es eher mit Rugby. Er findet, da geht es zivilisierter zu. Und die Rugby-Spieler seien nicht solche Memmen wie die Fußballspieler. Er hat einige Jahre in Wales gewohnt. Wenn er da in die Kneipe ging, um Rugby zu sehen, konnte er ohne Weiteres unter allen diesen Wales-Anhänger zu England halten. Es gab höchstens ein paar verbale Seitenhiebe, aber der freundlichen Art. Da hat er recht, das ist im Fußball nicht so einfach.
Bei dem bevorstehenden Six-Nations-Turnier halte er zu Italien. Warum? Weil die immer Letzter würden. Sie fingen immer gut an, aber ließen dann nach. Absteigen kann man eigentlich nicht, aber es gibt jetzt doch zwei Kandidaten, Kroatien und Serbien, die Italien ersetzen wollen. Im Grunde seines Herzens hofft er natürlich, dass England gewinnt.
Die beiden erzählen mir, dass ich froh sein könne, dieses Jahr gekommen zu sein. Letztes Jahr wäre schrecklich gewesen, jetzt genießen sie die Sonne genauso wie ich. Sie klagt wie ich über die Kälte, ihm scheint sie nichts auszumachen.
Sie erzählen, wie er zu seinem Haus gekommen ist, an einem Abend, als sie ein paar Bier zu viel getrunken hatten. Sie erwähnte, dass ein Holländer sein Haus, gleich um die Ecke, verkaufen wolle. Er hatte eigentlich gar nicht vor, ein Haus zu kaufen, wohnte irgendwo für 300 € zur Miete. Aber so aus Spaß nannte er dann mal einen Preis, den er bezahlen wollte. Sie rief den Eigentümer an, nannte den Preis, der sagte ja, und das Haus war gekauft. Am nächsten Tag sei er aufgewacht und habe sich gefragt: “Hast Du gestern Abend wirklich ein Haus gekauft?”. Er hat einen Volltreffer gelandet, der Holländer hat ihm ein voll eingerichtetes Haus, mit Möbeln und Utensilien hinterlassen, sogar sein Shampoo habe er dagelassen. Jetzt ist er seit anderthalb Jahren hier und will nicht mehr zurück.
Dann kommt eine ältere Portugiesin auf einen Kaffee, und dann noch eine. Jetzt wird Portugiesisch gesprochen. Eine der Frauen spricht sehr, sehr klar. Sie korrigiert mich auch ganz entschieden, aber freundlich: Es heißt moro, nicht muro. Optimal. Die andere Frau verstehe ich gar nicht, und Pamela auch nicht. Aber da bin ich nicht so sicher, ob das an mir liegt.
8. Februar (Freitag)
Gestern zum ersten Mal mit den Wochentagen durcheinander gekommen. Es gibt keine richtigen Unterscheidungsmerkmale.
Bei Saramago lese ich: “Dona Maria reicht dem König ein kaltes Händchen, das, wie sehr auch unter dem Federbett aufgewärmt, im Eisenhauch des Zimmers sogleich kalt wird.” Vielleicht ist es ja tröstlich, dass früher auch Königinnen im Schlafgemach frieren mussten, aber wärmer wird’s dadurch auch nicht.
Im Reiseführer lese ich von einem gewissen Fernåo Mendes Pinto. Er stammte aus Montemor-o-Velho, auch hier im Beira Litoral, Richtung Küste, und ist der berühmteste Sohn der Stadt. Er war einer der ersten Europäer, der den Fuß auf japanischen Boden setzte. Er hielt seine Eindrücke in einem Buch fest, A Peregrinacåo. Seine Schilderungen trafen überall auf Unglauben. Er galt als Lügenbaron. Und hat Eingang in die Sprache gefunden: Fernåo, mentes? – Minto. Fernåo, lügst du? – Ja, ich lüge. Heute gilt A Peregrinacåo als eins der wichtigsten Dokumente über das Japan des 16. Jahrhunderts.
In Manaus denke er nicht an Madrid und in Bogotá nicht an Coimbra, sagt Nooteboom. Der Unterschied zwischen Spanisch und Portugiesisch sei natürlich leicht zu hören, reiche aber darüber hinaus, betreffe das “Wesen” der Sprache. Angesichts der Verbreitung von Spanisch und Portugiesisch in Amerika fragt er sich, warum sich Holländisch nicht durchgesetzt habe in den Kolonien. Warum spricht man in Java heute nicht Holländisch? Gute Frage, schwere Frage. Man kann noch ergänzen: Warum hat sich Portugiesisch in Amerika, aber nicht in Afrika durchgesetzt, in Angola und Mosambik? Dabei sind die viel später unabhängig geworden als Brasilien. An der Zahl der Sprecher kann es wohl nicht liegen, die Portugiesen waren immer die Minderheit. Vielleicht am Zeitpunkt der Kolonialisierung?
Genau deckungsgleich mit ein bisschen ist um bocado, von boca, ‘Bissen’ abgeleitet: Podes esperar um bocado?
Das schöne Wetter ist schon wieder vorbei. Die Sonne hat heute kaum mal eine Chance, durchzukommen. Und auch fürs Wochenende, wo strahlender Sonnenschein angesagt war, sind die Aussichten eher gemischt. Auch da lässt Griechenland grüßen. Es wird immer besser, aber immer in ein paar Tagen.
Einem Tipp von gestern folgend gehe ich nach Carvalhais, auch gut zu Fuß zu erreichen. Da betreibt eine Frau namens Edite die Snack-Bar Pascoal. Es ist ein großer, leerer Raum, praktisch ohne Dekoration, in dem zwei Männer bei einem Kaffee sitzen. Keine sehr einladende Atmosphäre. Ich stelle mich an die Theke und zwinge Edite ein Gespräch auf, und bald taut sie auf. Hier gebe es viele Engländer in der Gegend, am Abend habe sie eine ganze Gruppe zum Essen da. Meine Vermieter kennt sie nur vom Hörensagen. Essen gibt es hier nur auf Bestellung, por encomendo. Das steht glücklicherweise draußen an der Fassade, so dass ich gar nicht umständlich umschreiben muss. Ich frage nach Mittagessen am Sonntag – almoço – aber es gibt nur Abendessen – jantar. Ich bestelle einen Tisch. Das Bier hier ist noch billiger als in Viavai: 85 Cent pro Flasche.
Ganz in der Nähe liegt das, was die Engländer Pink Bar nennen, ein schummriges Lokal (wenn man es denn so nennen will), wo ich an der Theke noch ein Bier trinke. Animiert von dem ersten Bier verwickele ich die Frau hinter dem Tresen in ein Gespräch. Sie selbst ist nicht von hier, ihr Mann aber. Sie kommt aus einem Ort in der Nähe von Miranda, dessen Lokalisierung mir detailliert erklärt. Wie es denn hier wäre, will sie wissen. Ruhig, oder? Ja.
Neben der Theke hängt ein Bild von Sporting Lissabon mit der Meistermannschaft von 2001/2002, wohl der letzten. Hinter dem Tresen ein Spiegel und davor ein unglaubliches Sammelsurium von Dingen: Lotterielose, Kinder-Schokolade, ein Fußball, ein Fußballschuh, Pokale, Schiffe, Kalender, beschriftete Teller und Rum-, Whisky-, Brandy- und Likörflaschen.
Die zweite Hälfte des Raums wird von einem kleinen Laden eingenommen. Früher hätten sie viel mehr gehabt. Aber immerhin. Sie hat Reis, Nudeln, Kaffee, sogar frischen Käse. Auf jeden Fall braucht man dann nicht gleich nach Miranda fahren, wenn mal was fehlt.
Auf dem Rückweg kommt zwischendurch die Sonne durch und erlaubt nicht nur einen schönen Anblick, sondern ein Photo, das noch schöner ist als die Wirklichkeit: im Vordergrund eine moosbewachsene Mauer, dahinter die Ruine eines Hauses, durch dessen Fenster man in die Ferne blickt, und am Himmel dicke, weißt Wolken abwechselnd mit blauen Himmelsstreifen.
9. Februar (Samstag)
Coimbra war nicht immer da, wo es jetzt ist. Es lag ursprünglich weiter südlich, da, wo sich jetzt das Ausgrabungsfeld Conimbriga befindet. Als die Stadt verlassen wurde, vermutlich unter dem Eindruck der Angriffe der Sueben, nahmen die Flüchtenden den Namen mit.
Zum ersten Mal brauche ich nicht mehr die Windschutzscheibe freizukratzen. Es muss also nachts allmählich wärmer werden. Nur merkt man davon noch nicht so viel.
Der Weg nach Conimbriga ist kürzer als der nach Coimbra, und als ich ankomme, ist alles noch verschlossen. Man kann aber über einen Weg an dem Ruinenfeld vorbei in den nächsten Ort gehen, Condeixa-a-Velha. Das mache ich, damit mir warm wird. Der Ort sieht ziemlich ärmlich aus und erstreckt sich an einer Straße entlang. Außer einer alten Frau, die auf einen Stock gestützt am Straßenrand steht, ist niemand zu sehen. Ein Café gibt s nicht, also gehe ich einfach weiter, als ich an den Ortsausgang komme. Die Straße geht in einen Weg über und der führt direkt in den Wald. Der Weg wird immer steiler und enger und ist teils nicht mehr als weg auszumachen. Und er führt immer wieder in eine Sackgasse. Aber es lohnt sich. Es ist, als wäre man in einer anderen Welt. Die ausgerissenen Wurzel, die quer über den Weg liegenden Baumstämme und das dichte Gewirr von Ästen, die von den Bäumen herabhängen, geben einem fast das Gefühl von Urwald. Dabei kann die Straße nur ein paar Minuten entfernt sein.
Da gelange ich dann auch irgendwann hin. Vorher geht es noch an einem durch ein Gitter abgesperrten, mit Gräsern zugewachsenem Grundstück vorbei, das seit Jahren nicht mehr betreten worden ist. An dem Gitter steht ein Schild mit der Aufschrift: Passagem proibida as pessoas não autorizadas.
Im Dorf verteilt der Bäcker Brötchen, hängt sie in durchsichtigen Plastiktüten an die Haustüren. Es sind carcaças, die großen, Brötchen in Rhombus-Form, die es hier überall gibt.
Inzwischen ist mir warm geworden. Ich gehe aber trotzdem in die Dorfkneipe auf einen Kaffee. Der Raum ist dunkel, wie immer hier, vielleicht, um der Hitze des Sommers zu trotzen. Die Wirtin, auch das scheint die Regel zu sein, ist klein und rundlich und sieht bäuerlich aus. In dem ungemütlichen Raum stehen ein Spielautomat und ein Billardtisch rum, und auf dem Tresen liegen Gummiablagen von Jägermeister.
Die Wirtin bestätigt mir, dass dies doch noch Condeixa-a-Velha ist. Ich muss vorher wohl nur durch einen Teil des Ortes gekommen sein. Ich frage nach dem Weg zu den Ruinen, und sie fragt, ob ich über terra batida gehen wolle. Ja. Danach folgt ein Redeschwall, aus dem ich nur nach unten und Kreuzung und Fatima entnehmen kann. Genügt aber. Ich komme auf direktem Weg dahin.
Es gibt ein Museum und ein Ausgrabungsgelände. Auf dem Innenhof stehen, ordentlich aufgereiht, Orangenbäume, die voller Früchte hängen. Etwa weiter ein besonders großes Exemplar der Bäume, die man hier so oft sieht. Sie haben bis oben zur Krone keine Äste oder Blätter, bilden oben aber ein Dach. Muss im Sommer sehr willkommen sein.
Der Eintritt kostet gerade mal 2,25 €. Ich gehe zuerst ins Museum, in der Hoffnung, das später noch die Sonne rauskommt. Tut sie aber nicht.
Das Museum ist nicht allzu groß, aber die Exponate sind sehr sehr schön präsentiert, in hellen Schaukästen, thematisch geordnet, mit guten, wenn auch etwas grob gehaltenen Erklärungen.
Gleich am Anfang ein Schaubild, das die Verbreitung römischer Münzen anzeigt, in fünf Etappen. Jede Etappe wird unterschiedlich beleuchtet, und man sieht, dass die Münzen sich immer weiter nach Norden und nach Osten ausbreiten, um am Ende dann wieder nur in Italien aufzutauchen. Conimbriga ist schon in der ersten Epoche vertreten, Trier und Köln in der dritten. Toll gemacht! So macht man Geschichte sichtbar.
Es gibt vor allem Alltagsgegenstände zu sehen, darunter Scheren, die den unseren verblüffend ähnlich sehen. Gut vertreten sind Haarnadeln, mit denen sich die römischen Frauen das Haar zusammensteckten. Beim Schmuck wurde nicht gekleckert: Römische Frauen trugen, vor allem in der späteren Zeit, meist mehrere Ohrringe gleichzeitig und mehrere Ringe an jedem Finger! Man sieht hier auch einen fein geformten Spiegel (aus polierter Bronze) und einen Kamm (vermutlich aus Tierknochen) mit Zähnen unten und oben.
Bei den Hygieneartikeln ist besonders der strigil gut vertreten, mit dem man sich die Öle vom Körper strich. Auch Paletten gab es, auf denen man verschiedene Salben mixte.
Landwirtschaftliche Geräte sind vertreten, aber noch nicht in großer Zahl, da bisher nur die Stadt ausgegraben wurde, nicht die umliegenden Ackerfelder. Unter den Exponaten befindet sich auch eine Messer zum Trimmen von Reben.
Krüge, Schalen und Becher aus Ton sind in allen Formen und Größen vertreten. Aus den Bechern wurde getrunken, bis sich Glas in größerem Stil verbreitete. Die einheimische Produktion unterscheidet sich von den Importen dadurch, dass sie eher gräulich ist. Die Importe, die erst aus Italien, dann aus Gallien, dann aus Spanien, dann aus Tunesien kamen, sind erdfarben.
Das Glas ist weitgehend durch Glasscherben vertreten, aber es gibt auch ein paar gut erhaltene Exemplare, zwei Schalen und eine Flasche, beide in gedämpften Farben. einheimische Glasproduktion ist seit dem 1. Jahrhundert nachgewiesen.
Interessant auch, wie man aus Funden Schlüsse zieht. Große Webstuhlgewichte sind ein Indiz dafür, dass nicht nur am heimischen Webstuhl gewebt wurde, sondern, dass es industrielle Herstellung gab. Und späte Münzfunde in Tonkrügen, im Boden vergraben, sind Indizien dafür, das Geld gehortet wurde, entweder angesichts von Gefahren von außen oder angesichts von Inflation.
Sehr aufschlussreich alles, was mit Maßen zu tun hat. Man sieht Stäbe, Gewichte, Waagschalen, Zirkel. Zwei verschiedene Typen von Waagen waren im Einsatz: die libra (auch: talentum) und die statera (auch: trutina). Die erste war griechischen Ursprungs, die zweite genuin römisch.
Die Maße waren genormt: Ein Pfund hatte zwölf Unzen, und ein Fuß hatte vier Untereinheiten, Handbreit. Hier herrschte das Duodezimalsystem.
In einem anderen Teil des Museums sind zwei große, gut erhaltene Mosaike ausgestellt, zweifarbig, mit einfachen Mustern, ohne gegenständliche Darstellung, vermutlich aus einer eher späteren Zeit. Eins stellt ein Labyrinth dar, mit Stadttoren an den verschiedenen Ausgängen.
Kleine Stelen mit Inschriften für die Götter sind auch vertreten, darunter Liber Pater, der Patron des Weinbaus, und Aius Rogatus, ein adaptierter lokaler Gott, der Beschützer der Bäder.
Interessanter sind die Exponate, die Aberglauben dokumentieren. Es gibt alle möglichen Amulette, die gegen den bösen Blick und gegen böse Geister schützen sollten, einige in Form eines Phallus, andere mit der Darstellung gekreuzter Finger, dem Haupt der Medusa, mit Darstellung von Kopulation und Ausscheidungen. Nicht zimperlich, die Römer!
Ein Rätsel stellt ein magisches Quadrat mit Buchstaben dar, das in verschiedenen Richtungen zu lesen ist, das Sator-Quadrat. Im zentralen Kreuz steht Tenet. Ob der Text eine Bedeutung hat, ist unklar. Das Quadrat wurde lange als christliches Symbol missverstanden, es könnte dagegen eine Beziehung zur stoischen Philosophie haben. Hier erscheint es in der Kategorie Aberglauben.
Dann geht es nach draußen. Das Ausgrabungsfeld ist groß. Es gibt Außenmauern aus Naturstein zu sehen, aus Ziegelsteinen gemauerte Bögen, Säulen und Pfeiler. Es gibt die Reste des Forums, der Thermen und vor allem, besser erkennbar, des Theaters.
Auch hier gibt es Mosaike, vor allem in der Casa dos Repuxos, dem ‘Haus der Fontänen‘, einem großen, aristokratischen Bau, auf einem Vorgängerbau errichtet. Hier gibt es auch Mosaike mit bildlichen Darstellungen, u.a. Reiter bei der Jagd, mit Beutetieren und mit galoppierenden Pferden, anatomisch falsch, aber sehr dynamisch dargestellt, mit Beinen, die in beide Richtungen gespreizt sind.
Auf dem Ausgrabungsfeld fühle ich mich etwas verloren, und man hat hier den Eindruck, dass man eine solche Ausgrabung schon nach ein paar Tagen nicht mehr von anderen unterscheiden kann, die man gesehen hat.
Interessanter ist die Lektüre über die Geschichte von Conimbriga. An verschiedenen Stellen stehen Schilder mit Informationen. Kurios ist, dass die Stadtmauer, die ursprüngliche, eher dekorative als defensive Funktion hatte.
Conimbriga lag an der Straße von Olisipo (Lissabon) nach Braccara Augusta (Braga), die über Sellum (Tomar) und Aeminium (Coimbra) führte. Die römische Besiedlung erfolgte schon im 2. Jahrhundert v. Chr., aber die Stadtanlage (und die Beförderung zum Oppidum) stammt aus der augusteischen Zeit.
Man sieht am Rande des heutigen Ausgrabungsgebietes eine hohe Mauer. Die wurde offensichtlich mitten durch die Stadt gebaut, als Verteidigungsmaßnahme, und dabei wurden die Häuser, die man heute sieht, offensichtlich aufgegeben und als Steinbruch benutzt. Die neue Mauer nutzte aber auch nichts bei dem Angriff der Sueben. Ob die die Stadt verwüsteten, ist nicht richtig herauszufinden, aber danach übersiedelte zumindest ein Teil der Bevölkerung, vermutlich die Elite, nach Aeminium – das dann zu Coimbra wurde.
Nach so viel Kultur geht es dann nach Condeixa-a-Nova, zu trivialeren Zwecken. Auf der Suche nach Continente oder Lidl stoße ich dort auf Minipreço, den Supermarkt mit den meisten Filialen in Portugal. Hier ist er aber ein richtiger Supermarkt, kein Ramschladen. Es gibt alles außer Brennmaterial. Der Markt macht seinem Namen alle Ehre, alles ist spottbillig, außer der Melone. Beim Obst fällt mir mamão auf, das ist Papaya.
Condeixa-a-Nova ist ein Ort ohne Parkplatzprobleme. Ich parke in der Nähe einer ehemaligen Grundschule, einem schönen, kleineren Gebäude, das jetzt mit Hilfe der EU saniert und einem neuen Zweck zugeführt wird. Auf einer Tafel ist die Höhe der Zuwendung durch die EU vermerkt, auf den Cent genau.
Auf dem Hauptplatz, der auf den ersten Blick schöner wirkt als er ist, befindet sich das einzige nennenswerte Restaurant der Stadt, Regional do Cabrito. Das führt die Spezialität des Hauses gleich im Namen mit: Cabrito asado. Bestelle ich. Es ist umwerfend gut. Das Fleisch ist zart und saftig und schmackhaft, ganz ohne Soße. Es heißt, es werde nach Art des Spanferkels zubereitet, was immer das heißen mag. Es gibt Kartoffeln und Reis dazu und ein Gemüse, grelos, das sich als Stielmus entpuppt. Es gibt Hauswein, zwei Sorten, man lässt mich beide probieren. Die Entscheidung fällt leicht: Encostas do Bairro ist der Auserwählte. Vorher gibt es Oliven, Brot und drei Sorten Käse, alle lecker. Das gibt es ungefragt, aber es schlägt sich auf der Rechnung als Couvert nieder.
Auf dem Rückweg komme ich an einem Betrieb vorbei mit dem Schild: Compra-se uvas – Vende-se vinho. Schönes Beispiel für die Personalpronomina.
10. Februar (Sonntag)
Das Rote Kreuz heißt auf Portugiesisch Cruz Vermelha, nicht Cruz Encarnada. Wie die beiden Adjektive gebraucht werden, ist mir ansonsten noch schleierhaft.
Am Ende eines regnerischen Tages ohne Sonnenschein mache ich mich auf den Weg in die Taverne nach Carvalhais, über die schlecht erleuchtete Dorfstraße. Als ich auf die völlig dunkle Landstraße komme, macht ich kehrt und hole das Auto.
In der Taverne ist richtig was los. Es ist voll, und es geht sehr laut zu. Eine reine Männerangelegenheit, mit der Ausnahme von einer einzigen Frau, die mit anderen an einem Tisch sitzt, der bereits abgeräumt wird. In Portugal isst man früher als in Spanien.
Die älteren Männer sitzen an den Tischen, die jüngeren stehen am Tresen. Im Fernsehen läuft Fußball. Das Spiel muss wohl gerade vorbei sein. Es werden Ausschnitte gesendet, ein Tor nach dem anderen, bis ich glaube, dass es verschiedene Spiele gewesen sein müssen. Ist aber nicht der Fall, es ist ein einziges Spiel, Benfica gegen Nacional: 10:0. Das erste Tor ist gleich in der ersten Minute gefallen. Man hat hier gefeiert. Neuankömmlinge werden mit zehn erhobenen Fingern begrüßt.
Später frage ich den jungen Mann, der mich bedient, ob hier alle Benfica-Anhänger seien. Ja, fast alle, sagt er und deutet auf ein kleines Häuflein von Männern, die das jetzt beginnende Spiel verfolgen. Das seien die Anhänger von Sporting. Er selbst hält zu Porto, eine einzige große Ausnahme in dem Dorf.
Mir fällt auch auf, dass die Trikotwerbung von Benfica tatsächlich Sagres ist, was die Bemerkung von Howard über die Parallele von Fußballverein und Biermarke bestätigt.
Das Essen ist ausgesprochen schmackhaft. Es gibt Schweinelenden, wieder mit Reis und Kartoffeln (die sind hier immer besser als die pampigen Pommes frites in Spanien) und dazu einen leckeren Salat. Zur Wiederholung empfohlen.
11. Februar (Montag)
Bei der Lektüre fällt mir auf, wie viele arabische Wörter denselben Anfangslaut haben: Moschee und Mihrab, Minarett und Muezzin, Marokko und Marrakesch, Medina und Mekka, Mohammed und Muslim. Zufall? Und dann fällt mir auf, durch eine falsche Lektüre, dass Tenor im Deutschen durch unterschiedliche Betonung unterschiedliche Bedeutungen erhält.
Ich erinnere mich an ein Gespräch in der Taverne in Viavai, als ich von den Briten das Wort pregret lernte. So etwas, wie wenn man angesichts des bevorstehenden Katers trotzdem noch ein Glas Wein trinkt.
Von einem unbekannten Korrespondenten bekomme ich unverhofft Aufklärung über den Gebrauch von vermelho und encarnado, den beiden Wörtern für ‘rot’. Während encarnado eine reine Farbbezeichnung ist, ist vermelho produktiv und bildet Einheiten wie cartåo vermelho, diabos vermelhos, sinal vermelho, carne vermelha.
Milde Temperaturen und strahlender Sonnenschein. So hieß es in der Vorhersage. Die Wirklichkeit: Wolken, Neben und ein eisiger Wind, der einem auch den Spaziergang verdirbt.
“Sie erwarten von mir, dass ich Ihnen sage: Was ist Kunst? Wenn ich es wüsste, würde ich es für mich behalten.” Picasso war auch ein Meister des Wortes. Wie auch diese anderen Zitate belegen: “Wenn es nur eine einzige Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen.” – “Ich male die Nasen absichtlich schief, damit die Leute gezwungen sind, sie anzusehen.” – „Ideen sind nur Ausgangspunkte. Um zu wissen, was man zeichnen will, muss man zu zeichnen anfangen.“ – “Wenn ich mir keine Ölfarbe mehr leisten kann, kaufe ich Wasserfarben. Wenn für Wasserfarben kein Geld mehr bleibt, bitte ich um Bleistifte. Wenn die Bleistifte ausgehen, man mich ins Gefängnis wirft, spuck ich mir auf den Finger, bemale die Wand.” – “Ich male die Dinge, wie ich sie denke, nicht wie ich sie sehe.”
In einem Radiovortrag ironische Seitenhiebe gehört auf Veröffentlichungen wie Rilke für Gestresste oder Nietzsche für Manager.
12. Februar (Dienstag)
Auf der Fahrt nach Aveiro komme ich durch Carvalhal. Scheint der Singular von Carvalhais zu sein, unserem Nachbardorf. Hat aber nichts mit Pferd zu tun (cavalo), wie ich vermutete, sondern mit Eiche (carvalho). Es bezeichnet einen Eichenwald.
Die Straßen sind gut, aber nicht ganz frei von Schlaglöchern, und dazu kommen in regelmäßigen Intervallen Kanaldeckel, die nicht glatt mir der Fahrbahndecke abschließen, und die Schwellen, die überall angebracht sind, um langsames Fahren zu erzwingen. Das Auto muss allerhand aushalten.
Es geht durch eine merkwürdige Landschaft: kahle Bäume, grüne Bäume, verdorrte Bäume, blühende Bäume (sehen aus die Ginster in Baumform) und immer wieder ganz kahle, vielleicht abgebrannte Stellen und immer wieder übermannshohe Gräser, die völlig vertrocknet sind.
Die Fahrt dauert lange, länger als gedacht, obwohl ich am Ende wieder auf die ungeliebte Autobahn geführt werde, wo wieder ordentlich abkassiert wird, in bar und elektronisch.
Am Stadtrand von Aveiro komme ich an dem wunderbaren Stadion vorbei, ein bunter Bau, der völlig anders aussieht als alle Stadien, die ich gesehen habe. Leider muss ich weiterfahren und kann kein Photo machen.
In Aveiro fahre ich, einem Hinweisschild folgend, Richtung Zentrum, aber da darf ich gar nicht hin. Da dürfen nur Anwohner rein. Ich drehe ein paar Runden und finde dann einen Parkplatz neben einer Industrieruine, unbefestigt, mit Schlaglöchern und hohen Schwellen. Komischerweise ist der nur ein paar Minuten von dem herausgeputzten Zentrum entfernt.
Aveiro ist eine Stadt, in der man sich nicht leicht zurechtfindet. Es fehlt an einem zentralen Platz. Sowohl der Domplatz als auch der Hauptplatz, der natürlich Praça da República heißt, liegen etwas abseits und sind so gut wie menschenleer.
Orientierung bietet der Kanal, Canal Central, der die Stadt in zwei Teile teilt. Ich gerate erst in den neueren, aber älter aussehenden Teil und in ein reines Wohnviertel, richtig authentisch, mit vielen kleinen Häusern, deren Eigentümer sich abgesprochen haben, dass jedes Haus sich möglichst stark von allen anderen bisher existierenden unterscheiden sollen. Ist ihnen voll geglückt. Das eine oder andere hat sogar einen Giebel und fällt schon dadurch aus der Reihe. Das verbindende Element sind die Kacheln an der Fassade, aber auch die sind völlig unterschiedlich, von einem Haus, deren ganze Fassade mit einer einheitlichen blauen Kachel mit weißen Ornamenten bedeckt ist, bis zu einem Haus, das lediglich über dem Eingang eine Kachel mit der Abbildung eines Bootes hat. Besonders angetan hat es mir ein ganz schmales Haus, das im ersten Stock nur Platz für ein Fenster hat. Es dies als Guesthouse. Wie ein fast versteckter Hinweis preisgibt. Auf einer Kachel.
Ich komme zur Praça do Peixe, mit einer modernen Markthalle, in der es passenderweise nur Fisch gibt. Ringsum Lokale aller Art, darunter O Telheiro, das sich als Adega Típica ausgibt, eine willkommene Gelegenheit, adega nachzuschlagen. Es ist ein Weinkeller – eine Bodega. Ein telheiro ist ein Ziegelbrenner.
Eine der Besonderheiten von Adeiro ist das Straßenpflaster. An verschiedenen Stellen in der Innenstadt, vor allem um die Praça da República herum, findet man schöne Motive, oft nur Kreise und Linien, aber auch, vor allem am Kanal, Anker, Segelschiffe, Windrosen, Seepferdchen. Hier an der Praça do Peixe sind es Fische. Es werden immer die gleichen, wenig auffälligen Farben verwendet, Grau und Weiß.
Immer und immer wieder, an Konditoreien und Cafés, der Hinweis auf Ovos Moles. Das sind ganz dünne Oblaten, denen eine Form gegeben wird, und drinnen befindet sich eine Masse aus Eigelb. Die wurde mir auch gleich am Morgen in einem Café als typisch für Aveiro serviert.
Fast genauso häufig kommt der Hinweis auf eine andere Spezialität: tripas. Ist es wirklich das, was es zu sein scheint? Es gibt Lokale, die nur tripas haben. Eins davon macht in der Woche erst um 21.30 auf. Das ist alles rätselhaft. Später lese ich die Erklärung, dass es sich doch nicht um Kutteln handelt, sondern um eine Art Crêpe. Trotz des Namens gibt es die wohl doch nicht nur in der süßen Variante.
An jeder Ecke steht eine Kirche. Besonders schön eine ganz in Weiß gehaltene, nicht sehr große Kirche, die ganz für sich steht, eingerahmt von dem dunkelblauen, wolkenlosen Himmel. Mein heimisches Wetterorakel hat recht behalten: Dies ist der sonnigste und wärmste Tag seit meiner Ankunft.
Die kurze, aber sehr breite Bücke, die über den Kanal führt, hat vier Skulpturen, die traditionelle Berufe darstellen: Salineira, Marnoto, Parceirado do Ramo, Fogueteiro. Was die genau bezeichnen, ist nicht rauszukriegen, aber auf jeden Fall spielt Salz eine Rolle (daneben wohl Blumen und Feuer). Salz war die wichtigste Quelle des Reichtums von Aveiro, neben Fischverarbeitung. Leider bekomme ich nichts zu sehen, was die ganz ungewöhnliche landschaftliche Entwicklung des Ortes angeht, und dazu gehört in gewisser Weise auch der Salzabbau. Eine ganz wichtige Rolle spielt die Versandung des Hafens, der den wirtschaftlichen Niedergang der Stadt bedeutete, und dann die Rückkehrung des Prozesses im 19. Jahrhundert durch technische Maßnahmen. Eine Folge des lange gesperrten Durchgangs zum Meer sind die Kanäle, aber auch das ganze Umland, das ein Sumpfgebiet ist. In der heutigen Stadt bekommt man das Meer jedenfalls nicht zu sehen.
Ich frage mich durch zum Museo de Aveiro. Das ist in einem ehemaligen Kloster untergebracht, mit einer leuchtend weißen Fassade, ein Renaissancebau, sehr lang, nicht sehr hoch, ein echtes Schmuckstück.
Das Kloster steht, genauso wie das Museum, in Verbindung zu einer außergewöhnlichen Frau, Dona Joana. Sie war die Tochter des Königs und sollte an den englischen Königshof verheiratet werden. Zog es aber vor, sich ganz bescheiden in dieses Kloster zurückzuziehen und mit ihrem Erbe das Kloster und dessen Armenfürsorge zu unterstützen.
Das Museum hat eine Sammlung sakraler Kunst, aber gleichzeitig ist das Gebäude selbst auch ein Museum, das (später sehr stark veränderte) Kloster. Ich lasse die sakrale Kunst beiseite und sehe mir das Kloster an. Was auch gut ist, denn irgendwann wird die Mittagspause angesagt und ich muss ohnehin raus. Während der gesamten Zeit sehe ich keinen anderen Besucher. Und der Eintritt ist frei.
Der zweistöckige, eher niedrige Kreuzgang mit einfachen Säulen mit ionischen Kapitellen ist umgeben von einer Reihe von Kapellen (heute nicht mehr als solche zu erkennen) sowie dem Kapitelsaal, einem Raum für die rituelle Waschung und dem Refektorium. Das ist sehr schön, mit Kacheln an allen vier Seiten und einer schönen Nische, in der die Vorleserin bei den Mahlzeiten stand. Die Einrichtung konnte das Kloster sich leisten, weil ein König, Manuel I. ihm den aus Madeira importierten Zucker zur Verfügung stellte. Neben dem Refektorium gab es einen zweiten Raum für die Mahlzeiten, das Debillium. Das war für Kranke. Und da gab es besseres Essen! Ob es da nicht immer Simulanten gab?
Im Zentrum des Kreuzgangs ein etwas heruntergekommener, grauer Brunnen, der nach nichts aussieht, aber den hier gegebenen Erklärungen zufolge symbolische Bedeutung hat: Der Obelisk steht für Gott, die Kugel für Christus, und die vier Wasserrohre für die vier Evangelisten. Wer sich das wohl ausgedacht hat?
Die Kirche betritt man von der Seite, so wie das, wie man hier erfährt, die Regel war bei Nonnenklöstern. Das verstärkt den Eindruck nur noch. Man ist völlig unvorbereitet auf den überbordenden Schmuck. Wer es gerne schlicht hat, kann hier nur Verzweiflungsschreie ausstoßen. Mir gefällt’s trotzdem. Es passt. Es gibt praktisch keine freie Fläche, und alles ist vergoldet: Altäre, Säulen, Kanzel, Figuren, Kandelaber, Einfassungen. Dabei ist alles aus Holz. Das Gold ist nicht hell glänzend, sondern eher gedämpft. Vielleicht ist es dadurch erträglich.
In dem unteren Chor, durch Gitterfenster abgetrennt von der Kirche, steht der Sarkophag von Joana, aus verschiedenartigem Marmor, das aber nicht wie Marmor aussieht, sondern eher wie eine Intarsienarbeit.
In die Kirche sehen kann man auch vom oberen Chor. Von hier aus verfolgten die Nonnen den Gottesdienst, ohne von den Laien gesehen zu werden. Von hier aus sieht man auch, dass die Orgel, die hier ganz oben an der Seitenwand hängt, ein eigenes Kabüffchen hatte, von dem aus die Organistin spielen konnte, ohne von unten gesehen zu werden.
Hier oben, im Chor, ist der Ort, an dem Joana ihr Gelübde abgab (1481), und zwar unter der Christusfigur, die hier oben hängt, vor dem Gitter des Chors. Mit dieser Figur hat es eine ganz besondere Bewandtnis: Christus sieht unterschiedlich aus, je nachdem, ob man ihn von rechts oder von links betrachtet. Von rechts sieht er friedlich aus, heiter fast, mit halb geöffnetem Mund und einem leichten Lächeln, von links sieht er leidend aus, mit geschlossenem Mund.
Unten, in der Nähe des Ausgangs, stehen noch ein paar weltlichere Dinge herum wie Kutschen. Man sieht aber auch noch das “Rad”, mit dem die Nonnen Kontakt mit der Außenwelt pflegten. Es hat verschiedene Fächer und wird dann nach außen gedreht, so dass man Dinge austauschen kann, ohne sich zu sehen. Auf diese Weise kamen Speisen und Bitten um Gebete in das Kloster und gelegentlich aus Babys von unverheirateten Frauen. Nach außen gelangten auf diese Weise von den Nonnen hergestellte Arznei sowie Tonfiguren.
Von all den Exponaten des Museums bleibt mir nur noch ein Blick auf ein Gemälde, das Joana darstellt, als Prinzessin, mit weltlichen Kleidern und herunterhängendem Haar, das das Gesicht einrahmt. Auf dem Kopf trägt sie eine Art Haube, mit Perlen und Gold besetzt. Aber ihr Blick ist ernst und starr nach vorne gerichtet, wie das einer Heiligen. Ein schönes Bild.
Danach ist Mittagspause im Museum. Die Kathedrale, auf demselben Platz gelegen, ist aber geöffnet. So schön das Kloster war, so enttäuschend die Kathedrale. Man hat, aus Anlass der Erhebung der Kirche zur Kathedrale, einen modernen, klotzigen Betonbau in die alte Kirche gesetzt, der so hässlich ist, dass man die Lust verliert, sich die Kirche anzusehen.
Als ich mich einen Moment in eine Bank setze, um wenigstens auszuruhen, fragt mich eine junge Frau, die begeistert photographierend durch die Kirch geht, wo ich meinen Stadtplan herhabe. Ich erkläre ihr, wo die Touristeninformation ist und frage sie woher sie kommt. Aus Brasilien. Da hat man wohl andere Kriterien für die Einschätzung von Kirchen.
Es ist viel zu schön, ins Museum zu gehen, deshalb lasse ich das Museo de Cidade für ein anderes Mal liegen (das auch ein Jugendstilmuseum beinhaltet und in selbst in einem der schönen Jugendstilhäuser am Kanal untergebracht ist) und gehe stattdessen in den schön angelegten Park, wo man exotische Bäume um einen Weiher herum angelegt hat, an dem ich meine ersten portugiesischen Enten sehe.
Auf dem Weg zurück zur Innenstadt komme ich durch ein Wohnviertel, Bairro de Alboi, ein besonderes Viertel, das von einem in Brasilien reich gewordenen Heimkehrer angelegt worden ist, schon in den Zwanziger Jahren, als ein Vorform des sozialen Wohnungsbaus. Die Pächter konnten die bescheidenen Häuser nach zwanzig Jahren ihr eigen nennen. Auf den ersten Blick ist es gar nicht so einfach, zu entscheiden, welche Häuser des Viertels denn nun aus dem Projekt stammen, aber es müssen die niedrigen, einstöckigen Häuser sein, Reihenhäuser mit abfallendem schindelgedeckten Dächern, von denen einige sich den späteren Luxus eines Mansardenfensters geleistet haben.
Ich gehe über den Kanal zurück auf einen kleinen, ganz hübschen, etwas versteckt gelegenen Platz, in der Absicht, ein Bier im Freien zu trinken. Dann wird es aber doch, der Vernunft gehorchend, ein Kaffee. An der Theke kleben Bilder von typischen Snacks, die es hier gibt, mit den portugiesischen Bezeichnungen: Bifanas (die portugiesischen Hamburger, je nach Fleischart auch Prego genannt), Cachorros (Hot Dogs. dem Führer zufolge nicht zu empfehlen), Francesinhas (gegrillte, überbackene Toasts mit verschiedenen Fleischsorten), Salada, Hamburguer. Gut zu wissen.
An einem Kiosk hängen Zeitungen aus, die meisten Sportzeitungen. Der Kantersieg von Benfica wirkt noch nach und der Trainerwechsel im Nachhinein gefeiert. Ganz oben hängt aber eine Zeitung, die nichts mit Sport zu tun hat und wegen ihres Namens auffällt: O Diabo. Wovon handelt wohl eine Zeitung, die sich dem Teufel verschrieben hat?
Schließlich sehe ich an dem Platz auch noch eine Art Feinkostgeschäft, das regionale Produkte vertreibt: Tras os Montes. Hinter den Bergen. So heißt wirklich eine portugiesische Region, ganz oben, im Nordwesten.
Das Lokal, das an der Stirnseite des Platzes steht und dessen Fassade eine portugiesische, eine brasilianische und eine spanische Fahne zieren, heißt Petisqueira Portuguesa. Hier gibt es petiscos, ‘Kleinigkeiten’.
Zeit für die Heimkehr. Aber auf dem Rückweg kann ich der Versuchung nicht widerstehen, in Figueira da Foz abzufahren. Das liegt am Meer. Was ich nicht erwartet hatte, sind die vielen Kilometer, die ich durch die Stadt muss, um ans Meer zu kommen, und dann noch mal die Kilometer, die ich an der Küstenstraße entlangfahren muss, da ich auf der falschen Seite bin. Dann gibt es aber doch eine Wendemöglichkeit. Und einen Parkstreifen, der genauso lang ist die der Kai und der darunterliegende Sandstrand. Links der Hafen und die Bauklötze der Strandtouristen, rechts eine schöne Bucht, in der Mitte die Sonne, die das Wasser zum Glitzern bringt.
Es ist die reinste Sommeratmosphäre, nur dass diejenigen, die sich am Strand tummeln, nicht ins Wasser gehen, nicht einmal mit der Zehenspitze.
Hier gibt es eine Strandbar, und jetzt komme ich doch noch zu meinem Bier in der Sonne. Die Terrasse ist voll besetzt, ich ergattere noch so gerade einen Platz, lauter junge Leute. Es ist alles vertreten vom Rollkragenpullover bis zum T-Shirt, wobei die T-Shirt-Menschen angemessener angezogen sind. Natürlich tragen alle Sonnenbrillen.
Eine schöne Pause, auch, wenn ich die auf dem Rückweg mit Umwegen, Staus, Berufsverkehr, Krankenwagen, einem schnell leerer werdenden Tank, Mautgebühren, Baustellen und der blendenden tief stehenden Sonne, auf die genau zufahre, bezahlen muss.
13. Februar (Mittwoch)
Es ist paradox: Im Garten trocknet die Wäsche in der Sonne, drinnen bullert der Ofen.
Noch ein verwirrendes Detail aus der portugiesischen Parteienlandschaft: Die Partei, die sozialdemokratisch heißt, PSD, ist eine konservative Partei, die im Europäischen Parlament in der EVP ist, zusammen mit der CDU. Zu ihr gehört Barroso. Die eigentliche sozialdemokratische Partei ist die PS. Zu ihr gehört Guterres. Sie wurde in Bad Münstereifel gegründet! Es war die Partei von Soares. Eine Art AfD gibt es auch, die PP, ehemals der politischen Mitte verpflichtet. Die PCP, die kommunistische Partei, ist die einzige in Europa, für die immer noch die alten Werte gelten. Die sowjetische Fahne mit Hammer und Sichel ist weiterhin das Parteisymbol!
14. Februar (Donnerstag)
Schon am frühen Morgen kommt Sturm auf, so heftig, dass man davon wach wird. Dem Reiseführer zufolge sind April, Mai, Juni und September die besten Reisemonate für Portugal. Februar jedenfalls nicht.
Auf dem Weg nach Miranda überquert man einen Fluss. Der wird bezeichnet als Ribeira de Azenha. Das Wort ribeira hat mich bei solchen Bezeichnungen immer etwas irritiert, aber es bezeichnet nicht nur das Flussufer, sondern auch einen kleineren Fluss. Ribeira de Azenha ist also der ‘Mühlenbach’.
Ganz in der Nähe weiden auf einem Bauernhof, eher ein landwirtschaftlicher Betrieb, eine stattliche Herde von dicken Schafen mit dicken Fellen, darunter einige Mutterschafe, die Nachwuchs erwarten. Sie gehen sofort auf Sicherheitsabstand zu mir, sehen dann aber alle unverwandt in meine Richtung.
Der Mann an der Tankstelle in Miranda, ein älterer Herr mit schwerem Gang, findet, dass es warm ist. Als ich nicht so richtig zustimme, holt er zum Gegenschlag aus: Aber in Deutschland ist es kälter. Da muss ich ihm recht geben.
Frische Milch gibt es weder bei Lidl noch in einem unscheinbaren, aber gut bestückten Tante-Emma-Laden am Marktplatz. Die Fragerei ruft mir aber in Erinnerung, dass Milch Maskulinum ist, wie im Italienischen, anders als im Spanischen: leite fresco also.
An einem Schild sieht man, dass das Speiseeis, das bei uns unter dem Namen Langnese läuft, hier unter dem Namen Olá läuft. Gleiches Emblem.
Ein ungewöhnlicher Laden, wenn das denn das richtige Wort ist, hat eine englische Fahne im Schaufenster. Es ist eine Organisation, die Englischunterricht anbietet, aber auch Portugiesisch-Unterricht, aber nur 1:1. Sie offerieren aber auch alle möglichen Dienstleistungen, z.B. das Reparieren von defekten Rohrleitungen und das Laminieren von Dokumenten.
Ein weißer Reiter auf rotem Schild, dem ich schon oft begegnet bin, erweist sich als Emblem der Post, CTT . Erst jetzt sehe ich, dass der Reiter ins Posthorn bläst. CTT steht für Correios, Telégrafos e Telefones.
In einem Café mit angeschlossenem Restaurant, dem Teia, frage ich nach der Speisekarte, für ein anderes Mal. Der junge Mann antwortet mit einem Redeschwall, dem ich nur entnehmen kann, dass es keine Speisekarte gibt. Später finde ich im Internet die Speisekarte für den heutigen Tag. Es scheint also eine täglich wechselnde zu geben, und die war vielleicht noch nicht fertig.
In dem Café liegt Bola aus, eine täglich erscheinende Sportzeitung. 40 Seiten jeden Tag! Die meisten widmen sich dem Fußball, aber auch andere Sportarten sind vertreten, darunter andebol! Bei einem Spiel in der Champions League hat der VAR entschieden, der Videoarbitro. Die Bezeichnung Leões bezieht sich auf Sporting Clube de Portugal, das das Wort Lissabon gar nicht im Namen trägt.
An der Wand hinter der Theke sind Kleinigkeiten aufgelistet, die es hier gibt, darunter Bolas de Berlim!
15. Februar (Freitag)
Zum ersten Mal eine portugiesische Besonderheit probiert, auf die man überall trifft: broa. Die Übersetzung lautet ‘Maisbrot’, aber es ist wohl aus einer Mischung aus Maismehl und Weizenmehl gemacht. Das kleine Brot ist erstaunlich schwer. Es hat eine feste Kruste und ein kompaktes Inneres. Es soll zu Brühe und Eintopf gereicht werden, aber ich finde es eher süß, fast wie ein kompakter Stuten.
Am Nachmittag mache ich den zweiten Versuch, den fabelhaften Aussichtspunkt zu finden. Auf dem Weg durch den Ort komme ich mit der Ziegenhirtin ins Gespräch, einer älteren, kleinen Frau, mit Kopftuch und Schürze. Ich sehe mich vorsichtig nach der Herde um, aber sie hat nur diese, vier insgesamt, drei Große und ein Kleines. Ja, sie geben Milch. Für Käse. Wieder bin ich verblüfft, wie geschickt sich die Ziegen auf die Hinterbeine stellen und den Kopf nach oben recken, um an die Blätter ganz oben zu kommen, die, die am besten schmecken. Ich frage mich, ob die Frau überhaupt jemals frei hat. Kann sie die Ziegen mal einen Tag einsperren und nach Coimbra fahren? Kann sie überhaupt davon leben, oder hat sie noch eine andere Erwerbsquelle?
Als ich sie frage, ob ich ein Photo machen kann, sagt sie nicht ja, sondern wiederholt das Verb aus meiner Frage, so wie man das im Portugiesischen macht: “Pode.” Ob man so was jemals aktiv gebrauchen kann? Ich glaube, da gibt es bei mir eine Sperre im Kopf.
Es geht aus dem Dorf heraus, immer bergauf, und wieder finde ich die Hütte nicht, an der man abbiegen soll. Stattdessen komme ich an eine mit einer strahlend weißen Mauer eingefassten Grundstück mit einem Gitter, an dem ein Kreuz und ein Totenkopf abgebildet ist, auch ein häufig anzutreffendes Motiv. Ob das eine Kapelle ist? Oder gar ein Kloster?
Auch von hier geht es in den Wald, und es geht immer steiler bergauf. Der Sturm, der kurz nach Mitternacht begann, hat sich im Laufe des Vormittags gelegt, und jetzt ist es praktisch windstill. Und passabel warm.
Ich komme doch wieder auf eine Straße, aber egal. Auch die führt noch ein Stück bergauf, und dann komme ich tatsächlich zu einem Aussichtspunkt, wenn auch nicht zu dem Aussichtspunkt. Es lohnt sich vor allem wegen des weit hinter dem Tal gelegenen, dicht bewaldeten Hügels, den man von Estrada de Viavai aus nicht sehen kann. Auf halber Höhe ist der Hügel wie eingekerbt und bietet Platz für ein Dorf, alles in Ockerbraun, mit dicht aneinander stehenden Häusern. Es wirkt von hier aber so, als wäre das Dorf völlig abgeschnitten, ohne Verbindung zur Außenwelt.
Hier oben stehen einige besonders prächtige Exemplare der großen Bäume mit den gelben Blüten, die man hier jetzt überall sieht.
Auf dem Weg nach unten komme ich an ein Grundstück vorbei, auf dem zwei alte Autos stehen. Auf den ersten Blick sehen sie wie Wracks aus, aber dann kommen mir Zweifel: Sie haben noch Nummernschilder und sind so unter einem Baum platziert dass der sie vor der Hitze (!) schützt. Eins hat die alten, schwarzen Nummernschilder, ein die neuen, weißen.
Vielleicht klappt es ja beim nächsten Mal mit dem richtigen Aussichtspunkt.
In Aristophanes’ Stück Die Frösche kommen gleich auf der ersten Seite scheißen, furzen und kotzen vor.
16. Februar (Samstag)
Auf der Landstraße habe ich wieder Rote Welle. Die Fußgängerampeln, die wirklich welche sind, obwohl ich noch nie einen Fußgänger gesehen habe, der sie benutzt hätte, springen zuverlässig auf Rot, wenn man auf die zufährt. Inzwischen habe ich den Verdacht, dass sie zwingen sollen, das Tempo zu drosseln. Aber: Warum gibt es sie dann nur hier bei uns?
Fatima dürfte einer der bekanntesten Orte Portugals sein, bestimmt bekannter als Coimbra oder Setúbal oder Faro. Es liegt südlich von hier.
Was es in Fatima nicht gibt, sind Parkplatzprobleme. Aber vielleicht liegt das nur daran, dass jetzt keine Hochsaison ist. Die beginnt im Mai, dem Monat der ersten Erscheinung der Jungfrau, und endet im Oktober, dem Monat der letzten Erscheinung der Jungfrau, mit dem 13. jedes Monats in dieser Zeit als Höhepunkte.
Man betritt den Platz von Süden her. An diesem Ende steht die neue Basilika, eine der größten Kirchen der Welt. Sieht wie eine Kongresshalle aus, auch innen. Sie hat dreizehn große Bronzeportale, eins für Jesus, das zentrale, die anderen für die zwölf Apostel. An jedem Tor steht der Name eines Apostels und ein Zitat aus den Evangelien mit einem Satz des jeweiligen Apostels oder einem Verweis auf ihn. Dass sie überhaupt alle irgendwo namentlich erwähnt werden, finde ich überraschend. Viel Individualität haben sie, außer Petrus, nicht.
Dabei entdecke ich, dass Jakobus auf Portugiesisch Tiago heißt. Simon scheint zu denen zu gehören, die keine eigene Sprechrolle haben. Er wird lediglich angesprochen, erst von seinem Bruder Andreas, dann von Jesus. Das für Fatima relevanteste Zitat ist das von Jesus über Thomas: “Porque me viste, acreditaste. Felizes os que crêem sem terem visto!” (Joh, 20,29). Ja, dieser Glaube ist denen, die hierher pilgern, nicht abhanden gekommen. Ich halte es eher mit Thomas, dem alten Zweifler.
Auf der anderen Seite des riesigen Platzes steht die Alte Basilika, ein wenig gelungener neobarocker Bau, außen wie innen. Hier haben die Hirtenkinder, die pastorinhos, ihre letzte Ruhestätte gefunden, nahe am Altar, Francisco im Süden, getrennt von seiner Schwester im Norden. Beide starben als Kinder, wenige Jahre nach den Erscheinungen. Auf die Dritte im Bunde, Lucia, haben sie lange warten müssen. Die ist 2005 im Alter von 97 gestorben, als Nonne. Sie hat jetzt ihren Platz neben Jacinta gefunden, ebenfalls unter einer schlichten Grabplatte.
In der Basilika hat man das Gefühl, dass man hier auf Petersdom gemacht hat. Außen noch mehr. Zwei rundliche Arme umfassen den Platz vor der Kirche und die große Freitreppe.
Der Platz ist alles andere als schön und eher nüchtern, mit Grau und Weiß als einzigen Farben. Sie haben es aber verstanden, jeden Rummel hier herauszuhalten. Es geht nur um die Jungfrau und die Hirtenkinder.
Etwa auf halber Höhe steht die Gnadenkapelle mit der ganz in Weiß gehaltenen Rosenkranzmadonna. Zu dieser Kapelle gelangt man, wenn man will, auf Knien, auf einem eigens dafür eingerichteten Streifen, der den Platz hinunterführt. Davon machen jetzt nur einige wenige Gebrauch. Andere umrunden die Gnadenkapelle selbst auf Knien.
Vor der Madonna sitzen viele Betende, und man kann nicht nahe genug herankommen, um die Kugel in ihrer Krone zu sehen. Das ist die Kugel von dem Papstattentat. Der Papst glaubte, die Madonna von Fatima habe ihm das Leben gerettet und widme ihr deshalb die Kugel. Die dritte Prophezeiung der Jungfrau aus dem Jahre 1917 wurde später als Anspielung auf das Papstattentat gedeutet
In der Nähe ist ein eigener Stand für Opferkerzen eingerichtet. Ein bizarres Schauspiel. An die mehrsprachige Bitte, man möge pro Person nur eine Kerze anzünden, hält sich niemand. Ganze Hände voller Kerzen werden geopfert, und zwar nicht auf den dafür vorgesehenen Ständern. Sie werden stattdessen mit Schwung in das dahinter lodernde Feuer geworfen!
Am Rande des Platzes steht, hinter Plexiglasverschluss, ein Stück der Berliner Mauer, auch wohl auf Betreiben von Joao Pablo II. hierher geschafft. Das zeigt die politische Dimension der ganzen Veranstaltung.
Auf dem riesigen Platz die Statuen von Paulo VI und von meinem speziellen Freud, João Paulo II, beide Richtung Alter Basilika.
Das Schönste, eigentlich das einzig Schöne auf diesem Platz ist das riesige Kreuz, das vor der Neuen Basilika steht. Schwer zu sagen, welches Material, es sieht wie verrostetes Eisen aus. Eine moderne Skulptur von einem deutschen Künstler, dessen Name ich noch nie gehört habe: Robert Schad. Das Kruzifix, das als das höchste der Welt gilt, ist gerade in seiner Einfachheit sehr ausdrucksstark. Ein schlanker Christuskörper scheint sich um das Kreuz zu winden. Vor dem Hintergrund des intensiven, dunkelblauen Himmels entfaltet es voll seine Wirkung.
Als ich den Platz verlassen, am anderen Ende, an der Alten Basilika, ergibt sich noch ein zweiter schöner Blick, wieder mit Beteiligung des Himmels, nämlich der Blick von außen durch die doppelreihige Säulenreihe der Arme, die den Platz umfassen. Mit jedem Meter, den man nach rechts oder links geht, verändert sich der Blick ein bisschen.
In der Stadt Fatima gibt es nichts zu sehen, aber wirklich gar nichts. Cafés, Souvenirgeschäfte, Pensionen, die sich gegenseitig abwechseln, die meisten ziemlich neu. Auch Paramentengeschäfte gibt es. Statt eines feschen jungen Mannes in modischer Kleidung, der selbstbewusst in die Gegend schaut, sind die Schaufensterpuppen hier streng und ernst nach vorne blickende Bischöfe in vollem Ornat.
Die ganze Geschichte mit den Erscheinungen kommt einem doch sehr fragwürdig vor. Tausende von Menschen sollen am 13. Oktober zwar ein Himmelsspektakel gesehen haben – das natürliche Ursachen haben könnte – aber nicht einmal die haben, wie es aussieht, behauptet, die Jungfrau gesehen zu haben. Und deren Worte hat nur Lucia gehört. Die drei Prophezeiungen sind wohl erst viel später aufgeschrieben und teils, aus welchen Gründen auch immer, unter Verschluss gehalten worden. Ganz besonders merkwürdig ist die Prophezeiung, Reue und Einkehr könne die Sowjetunion, das Reich des Bösen, in die Knie zwingen. Was wusste wohl ein zehnjähriges Hirtenmädchen aus dem hintersten Winkel Portugals von der Sowjetunion? Wie dem auch sei, die Sache kam den Konservativen gut zupass. 1910 war die Republik ausgerufen worden, und die hatte sich nicht als besonders kirchenfreundlich erwiesen. Der Klerus sah sich bedroht. So ein Wunder wie das von Fatima konnte man gut gebrauchen.
Am Ende lasse ich doch noch etwas Geld in Fatima, indem ich irgendwo einen Kaffee trinke. Auf dem Weg zum Auto komme ich an einem weiteren Café vorbei, dem Transmontano. Das ist das zu Trás os Montes gebildete Adjektiv.
Da es noch nicht spät und noch sehr warm ist, steure ich ein weiteres Ziel an: Batalha. In England, in Kent, gibt es einen Ort namens Battle. Der liegt in der Nähe von Hastings und bezieht sich auf die Schlacht um die Herrschaft in England. Batalha ist ihr portugiesisches Pendant, und die hier gemeinte Schlacht, die Schlacht von Aljubarrota, ist weniger bekannt, aber fast so bedeutsam. Es ging um die Eigenständigkeit Portugals. Die Portugiesen stemmten sich, mit einem deutlich unterlegenen Heer, gegen die Invasoren aus Kastilien. Der portugiesische König, João I, gerade erst gekrönt, versprach den Bau eines Klosters, falls die Schlacht siegreich ausgehen sollte.
Es geht über eine einsame Landstraße. Batalha ist überall als Sehenswürdigkeit ausgeschildert. Als ich etwas verloren durch den Ort kurve, auf der Suche nach einem Kastell die Augen nach oben gerichtet, kommt auf einmal, direkt vor mir, ein Gebäude in Sicht, das einem den Atem verschlägt: das Kloster von Batalha. Hier gibt es kein Kastell, sondern eben das von João I in Aussicht gestellte Kloster.
Man sieht auf den Ostchor, aber der ist als Chor kaum zu erkennen, er ist sehr in die breite gezogen, man könnte fast meinen, man hätte einen Rundbau vor sich. Fialen, Brüstungen, Türmchen, Pfeiler, schlanke Fenster, alles in Hülle und Fülle, die ganze Mauer ist wie aufgelöst.
Mehrere Eingänge sind geöffnet, ich nehme den Haupteingang im Westen. Dort sind an die hundert Skulpturen angebracht, um die Krönung Mariens im Mittelpunkt.
Wenn man in die Kirche kommt, folgt die zweite Überraschung, auch die sehr, sehr positiv. Die Kirche bietet einen wunderbaren Raumeindruck, gerade durch die – nach den Trompetenstöße außen unerwartete – Einfachheit. Es gibt keine Seitenaltäre, praktisch keine Ausstattung, nur Bauschmuck, und davon nur ganz wenig, an den Kapitellen und den Schlusssteinen ganz oben.
Die Kirche ist dreischiffig, und die Schiffe sind sehr hoch und sehr schmal. Dazu kommt ein wunderbares Licht durch die sehr geschmackvollen modernen Fenster, das auf Boden und Bänken wunderbare, ineinander laufende Farbflecken malt.
Es gibt keinen Altar, auch das ist gut, denn man hat freien Blick auf den Ostchor, auch der schmal, hier mit originalen Fenstern vom Ende des Mittelalters, die so kleinteilig sind, dass man nichts erkennen kann, außer einer Jungfrau in Mandorla. Im Chor stehen farbig gefasste Holzfiguren von drei Heiligen und von Christus am Kreuz, späteren Datums. Was mit dem Altar geschehen ist, verstehe ich nicht.
Ich lasse die Kirche einfach auf mich wirken und halte mir Museum, Kreuzgang, Kapitelsaal und eine Grabkapelle für das nächste Mal offen.
Auf dem Kirchplatz, mit direktem Blick auf die Nordseite der Kirche, gibt es mehrere Cafés, um diese Zeit nicht stark frequentiert. Ich suche eins mit dem Namen Brogeira aus. Was der Name bedeutet, ist nicht herauszubekommen. Auf einer Tafel werden die petiscos beworben, die es hier gibt: bifanas, tostas, rissois, chamuças. Es stellt sich heraus, dass chamuças die dreieckigen Teigtaschen sind, die ich vor Jahren in Lissabon als samosas gegessen habe. Ich bestelle aber eine bifana, zum ersten Mal. Es ist Stück Schweinesteak, das in einem gegrillten Brötchen serviert wird. Hat mit dem Hamburger nur die äußere Form gemeinsam.
Auf dem Rückweg mache ich in einem Continente Halt, weil man trotz des Sommerwetters weiterhin heizen muss. Vorher bin ich an einem Pingo Doce vorbeigefahren, ohne zu wissen, dass es auch ein Supermarkt ist, Portugals zweitgrößte Kette. Der Name bedeutet ‘süßer Tropfen’.
An der Ausfahrt von Continente steht Obrigado pela sua visita. Dabei ist pela eine Zusammenziehung von por und la. Wichtiger ist aber der Artikel vor dem Possessivpronomen, im Gegensatz zum Spanischen: Gracias por su visita. Der Gebrauch des Artikels vor dem Possessivpronomen ist eine ganz haarige Angelegenheit. Mal steht er, mal nicht.
17. Februar (Sonntag)
Heute wenig Sonne, eher kalt. Zuhause ist richtiger Frühling, mit Krokussen, Kranichen und Kaffee auf der Terrasse.
In einem Roman von Saramago, Das Memorial, ist die Rede vom “Salat, der den Leuten den Spottnamen gab”. Das ist für den deutschen Leser nicht ganz durchsichtig. Gemeint sind die Einwohner Lissabons, die alfacinhas, deren Name von alface abgeleitet ist. Was der Zusammenhang zwischen Lissabonnern und Salat ist, habe ich noch nicht herausgefunden. Das Gegenstück dazu sind die tripeiros, die Bewohner Portos. Was die wiederum mit Kutteln zu tun haben, ist genauso wenig klar, obwohl es ein paar phantastische Erklärungen gibt.
18. Februar (Montag)
Bin jetzt seit genau einem Monat unterwegs. Ein Sechstel der Zeit ist schon vorbei. Es ist ein desolater Tag, grau, regnerisch, wolkenverhangen, kalt, der schlimmste bisher, trotz der Tage des Sturms und der Tage der Sintflut. Alles sieht trist aus, mit der Ausnahme der Bergspitzen, die halb im Nebel verschwinden.
Ich tröste mich mit einem Mittagessen im Teia in Miranda: Oliven, Brot, Butter, Suppe, Schweinefleisch mit Kartoffeln, Wein, Kaffee, für 7,50 €! Es fehlt Salz, und das Gemüse spielt wieder nur eine Statistenrolle. Ein bisschen Blumenkohl und ein paar Scheiben Möhren, dekorativ auf dem Berg von Fleisch und Kartoffeln platziert, kalt, eingelegt, gut schmeckend. Aber man fragt sich, was mit all dem Gemüse passiert, das man in Märkten und Supermärkten sieht.
Dies ist ein Familienbetrieb: Vater, Mutter und Sohn kümmern sich um die Bedienung und das Abräumen. Dabei verlieren sich gerade mal ein halbes Dutzend Gäste an den bestimmt sechzig eingedeckten Tischen. Es gibt einiges an Auswahl, und mein erster Blick fällt auf Alheira á Teia, ein Gericht, das nach dem Lokal benannt ist. Es ist eine Wurst, die aus anderen Fleischarten als aus Schweinefleisch gemacht ist, ein typisch portugiesisches Gericht. Der Name ist von alho, ‘Knoblauch’, abgeleitet. Warum ich mich dagegen entscheide, weiß ich auch nicht. Beim nächsten Mal.
Das klassische Gericht von Miranda steht heute nicht auf der Speisekarte, chanfana. Das ist ein Gericht aus nicht mehr ganz jungem Fleisch, meist Lamm, das in Knoblauch, Paprika, Lorbeer, Salz und Rotwein gegart wird.
Bei der Post stößt meine Frage nach Briefmarken diesmal nicht mehr auf Verwirrung, die Aussprache kann wohl nicht mehr ganz so daneben sein. Es ist aber ein komplizierter Vorgang, der sich in die Länge zieht. Ich bekomme alle erdenklichen Kombinationen von Briefmarken für die verschiedenen Sendungen und verschiedene Aufkleber. Die Erklärungen sind aber glasklar, die Frage ist nur, ob ich mich zuhause noch dran erinnere.
19. Februar (Dienstag)
Heute kann ich zum ersten Mal jemandem den Weg zeigen, einem Mann, der im Auto in meine Richtung kommt und verlangsamt, mit der offensichtlichen Absicht, nach dem Weg zu fragen. Ich bereite schon mal im Kopf “Ich bin nicht vor hier” vor, aber er will nach Viavai. Das ist nicht so schwer. Ich brauche eigentlich nur zu sagen, dass er in die andere Richtung muss.
Es ist gegen Mittag, und die Sonne ist rausgekommen, wider Erwarten. Ich biege diesmal am Ortsausgang nach Porto da Vila ab. Schon nach wenigen Minuten komme ich da ein. Nur ein paar Häuser. Vor einem steht eine sitzende Buddha-Statue (kann eine sitzende Statue stehen?).
Es geht, wie immer, rauf und runter, und irgendwann komme ich nach Viavai. Unterwegs steht am Wegesrand, nicht auf einem Grundstück, ein Orangenbaum, voller Früchte, aber nicht auf dieser Seite. Auf die an der anderen Seite kommt man nicht ran.
Schön sind die moosbewachsenen Stämme der Olivenbäume. Ich frage mich, warum nicht alle Moos haben. An der Richtung kann es nicht liegen. Vielleicht am Alter?
Vor einem Wohnhaus steht ein Baum in voller Blüte, rosarot. Mandel oder Kirsch? Vor anderen Häusern einige blühende Sträucher, in verschiedenen Farben, am schönsten in Violett. In der freien Wildbahn sieht man aber nur die gelben Blüten. In einigen Gärten wird Gemüse angebaut, darunter Grünkohl.
Aus dem Tal sieht man in diesen Tagen immer Rauch aufsteigen. Was da verbrannt wird, ist nicht klar, vielleicht Baumschnitt.
Ich komme aus einer anderen Richtung wieder ins Dorf und sehe, dass auch hier auf dem Grundstück, über dem Gebetsstock, etwas blüht, in Weiß.
20. Februar (Mittwoch)
In Coimbra ist es wärmer als hier, deutlich wärmer, der Anzeige an einer Apotheke zufolge 20°. Die Sonne kämpft mit den Wolken, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg.
Auf dem Weg ins Zentrum sehe ich die Schlagzeilen der Zeitungen. Eine hat ein Titelbild, ganz in Schwarz-Weiß, mit einem Bild von Karl Lagerfeld und der Nachricht seines Todes. Eine andere, kleinformatige, hat bunte Bilder auf der Titelseite, darunter das einer portugiesischen Ärztin aus Deutschland, die von ihrem früheren Liebhaber, wie es heißt “geköpft” worden ist (degolado).
Schon in der Nähe des Zentrum komme ich an einem Schild vorbei, das Englischunterricht anbietet: Explicações de Inglês. Hoffentlich bleibt es nicht dabei.
In der Fußgängerzone sehe ich ein Geschäft, das Artikel aus Kork verkauft, einem der wichtigsten Wirtschaftszweige Portugals. Gerade gestern war ich dem Wort in einem Text begegnet: cortiça.
Beim Aufstieg zu Kathedrale sehe ich links eine moderne Skulptur, eine Gitarre, deren Hals in die überkreuzten Hände und den zierlichen Kopf einer Frau übergehen. Von hinten ist der Boden der Gitarre der gar nicht so zierliche Hintern dieser Frau. An mehreren Seiten sind Gedichtzeilen angebracht, alle mit Erwähnung Coimbras, aber was das mit der Statue zu tun hat, ist nicht klar. Es gibt auch eine kleine Platte, die besagt, dass die Skulptur ein Geschenk der Gemeinde Almedina an die Stadt Coimbra ist.
Die Alte Kathedrale, Sé Velha, sieht wirklich nur auf den ersten Blick wie eine Festung aus, mit ihren Zinnen und ihren kleinen Fenstern. Die schlanken Pfeiler am Haupteingang, die die Archivolten der Rundbögen stützen, sind sehr schön gestaltet, alle unterschiedlich, und vor dem Nordportal gibt es einen Vorsatz aus Marmor, etwas in die Jahre gekommen, der sich die ganze Wand hochzieht, bis unter die Zinnen.
Innen ist die Kirche dunkel, kein Wunder bei den kleinen Fenstern, aber dann scheint es immer heller zu werden. Auch wirkt sie auf den ersten Blick schmucklos, aber das stimmt überhaupt nicht. Es gibt alleine wohl an die hundert skulptierte Kapitelle, mit einem Paar dickbauchiger Vögel als häufiges Motiv. Die oben an dem hohen Mittelschiff kann man aber kaum erkennen.
Das schönste Ausstattungsstück ist für mich ein Taufbecken, mit Reliefdarstellungen, meist Wappen, nur zwei biblische Szenen, von denen eine die Taufe Jesu darstellt, die andere nicht zu identifizieren ist. Unten liegt ein Kind in einem Weidenkorb. Moses? Aber wer sollen dann die Figuren rund herum sein? Bei der Taufe steht Jesus mit entblößtem Oberkörper, und Johannes schüttet ordentlich Wasser aus einer Schale über seinen Kopf. Links von Jesu steht ein dienstbarer Geist, vielleicht ein Engel. Was hält er da nur auf dem Arm? Ein Handtuch? Sieht fast so aus. Oder ein Gewand. Eine etwas großzügige Interpretation der biblischen Szene.
Vor dem Altar liegt unter Glas das einzige erhaltene Stück aus dem Vorgängerbau, einem Votivstein mit Inschrift. Der jetzige Bau ersetzte aus Gründen, die nicht bekannt sind, diesen Bau, der noch aus der Westgotenzeit stammte.
Der Altar, ein vergoldeter gotischer Schnitzaltar mit vielen Figuren, nimmt fast die gesamte Höhe des Ostchors ein, Besonders schön ist der stilisierte dunkelblaue Himmel, der sich über die Szenen wölbt.
Der Kreuzgang hat nur ein Geschoss und ist eher einfach gestaltet, mit gleichmäßigen Rundbögen. Aber eine Besonderheit sind die großen Rosetten, fünf an jeder Seite, alle von derselben Größe, aber jede einzelne ist anders gestaltet als alle anderen, mit einfachen geometrischen Figuren wie Kreisen und Dreiecken. Eine sieht aus wie ein Fußball. Sehr gelungen.
Als ich aus dem Kreuzgang herauskomme, spricht mich ein junger Mann an, ein Student, der eine Broschüre von Coimbra anbietet, mit denen sich die Studenten ihr Taschengeld verdienen. Sehr schön bebildert. Da er brav Portugiesisch mit mir spricht und es für einen “guten Zweck” ist, rücke ich die zehn Euro raus. Als Extras gibt es noch ein Lesezeichen und ein Aquarell.
Ich frage nach der Casa Nau, die in meinem Reiseführer steht, aber er kann damit nichts anfangen. Gemeinsam sehen wir uns die Karte an, und dann weiß er plötzlich, was gemeint ist: Ein Haus, das die Form eines Schiffs hat. Seine Erklärung ist unschlagbar gut, und ich finde das Haus auf Anhieb.
Es ist ganz anders als gedacht, kein fein herausgeputztes kleines Häuschen, wie mir das vorgestellt habe, sondern ein hohes, vier- oder fünfstöckiges Haus, in der die Alternative Szene herrscht, mit Graffiti und Slogans und Inschriften in arabischer Schrift an der Fassade. Am besten kann man das Schiff von vorne erkennen, vom Bug her. Hinten geht es in andere Häuser über. Ich bin hier schon mal vorbeigekommen und habe das Haus übersehen und stattdessen auf einen kleineren, klassizistischen Palast an der Seite des Hauses geachtet.Worauf das wohl schließen lässt?
Zum Abschluss gehe ich noch ins Café Santa Cruz, das, das in einem abgetrennten Teil der Kirche untergebracht ist. Man sitzt tatsächlich in einem überwölbten Raum, vielleicht einem Seitenschiff der Kirche (der aber nicht aus der Gründungszeit des Klosters stammt). Hinten, in der Apsis, stehen Mikrophone. Hier gibt es abends Fado. Die Einrichtung ist stilvoll und einfach, mit kleinen Tischen mit Marmorplatten. An der Seite dunkle Holzpaneele, die auch irgendwie sakral aussieht. Ob das ehemalige Beichtstühle sind?
Die Kellner bewegen sich langsam und lässig und sehen gelangweilt aus. Viel zu tun gibt es wirklich nicht, aber bei ihnen ist es wohl eher Teil der Berufsauffassung.
Ich bestelle ein gezapftes Bier und frage nach einer Kleinigkeit dazu. Es gebe nur Sandwichs. Das Wort ist irreführend. Es scheint der Oberbegriff für Kleinigkeiten zu sein, unter den auch sandes fallen, also die eigentlichen Sandwichs. Als ich nach einer bifana frage, bekomme ich die auch. Gegessen, getrunken, in der Kirche gewesen und was dazugelernt.
21. Februar (Donnerstag)
Meine erste Portugiesisch-Lektion. Per Skype. Wir verbringen den Großteil der Zeit damit, die Fragen durchzugehen, die ich aus verschiedenen Alltagssituationen mitbringe. Wenn man nach dem WC in einem Lokal fragt, heißt es tatsächlich casa de banho, was ich bisher immer vermieden habe. Und der Ofen, mit dem ich die Bude heize, hat den wunderbaren Namen salamandra.
Es fallen bei den Fragen zwei wichtige Erkenntnisse allgemeiner Art ab. Das Portugiesische hat nichts für zusammengesetzte Zeiten übrig: Ich habe verstanden, bei dem ich es mit dem Preterito Perfecto Compuesto versuche, heißt einfach Entendí. Das ist sehr gewöhnungsbedürftig. Auch durch den Kontrast zu den anderen romanischen Sprachen. Und dann die Aussprache. Meine Aussprache von responder kommt ihr sehr spanisch vor. Allerdings gibt es hier wohl viele regionale Unterschiede, aber sie spricht es mit einem gutturalen r, wie im Deutschen! Das r in preço ist dagegen wie das spanische r in pero. Keinesfalls so wie im Englischen, hämmert sie mir ein. Aber das braucht sie nicht.
Es waren nur dreißig Minuten, aber danach ist mir nach einem Spaziergang zumute. Ich gerate in ein Stück Wald, wo jemand gewütet zu haben scheint. Überall umgeknickte oder zerspaltene Baumstämme, auf den Wegen Äste und Blätter, und am Wegesrand völlig verdorrter Farn. Da haben die Eukalyptusbäume, die dem Boden das Wasser entziehen, und der Sturm der letzten Tage, der heute wieder die halbe Nacht und den halben Tag gewütet hat, gute Zusammenarbeit geleistet.
Am Ende gelange ich auf die Landstraße. Auch nicht besser. Entschädigt werde ich aber durch ein Schild an einem Gitter: Proíbido vaxar lixo e animais mortos. Man soll keinen Abfall drüberwerfen und keine toten Tiere. Spaziergang hat sich gelohnt.
22. Februar (Freitag)
Einem Lehrbuch zufolge ist Brasilien das drittgrößte Land der Erde, der Fläche nach, nach Russland und Kanada. Stimmt nicht ganz. Auch China und die USA sind größer. Nach Brasilien kommt Australien und dann, mit großem Abstand, Indien. Dagegen sind die Unterschieden von Kanada bis Australien relativ gering. Brasilien ist mehr als zwanzigmal so große wie Deutschland.
23. Februar (Samstag)
Im Autoradio auf dem Weg nach Miranda ein Wortbeitrag, ein Vortrag vermutlich. Die einzigen Wörter, die ich verstehe, sind próstata und menopausa. Den Rest muss man sich denken.
A Parreirinha ist mein Ziel, ein Restaurant, das eher den Charakter einer Taverne hat. Fast alle Gäste sind Männer, einzeln und in Gruppen. Später tauchen aber auch ein paar Paare auf. Die meisten sitzen in einem abgetrennten dunklen Speiseraum. Das ist vielleicht die Macht der Gewohnheit. Im Sommer hat man da Schutz vor der Sonne. Die anderen verlieren sich in einem Teil, den man mit etwas Wohlwollen als Wintergarten bezeichnen könnte. Hier ist es wunderbar hell.
Man sitzt kaum, schon kommt die Bedienung. Aus dem Redeschwall, mit dem ich von zwei Seiten traktiert werde, verstehe ich nur chanfana. Ja, die will ich. Etwas dreißig Sekunden nach der Bestellung steht das Essen auf dem Tisch. Ein paar Alibi-Pommes und Salatblätter, aber eine mächtige Schüssel mit Fleisch. Schmeckt sehr gut, aber ist nicht gerade das, was man unter leichter Kost versteht. Es handelt sich um nicht mehr ganz junges, geschmortes Fleisch. Schmeckt ein bisschen nach Wild, stellt sich auf Nachfrage aber als Ziege heraus.
Den Wein gibt es ungefragt gleich in einer Karaffe. Er wird gezapft, aus einem Fass hinter dem Tresen.
Obwohl die Gäste weitgehend Männer sind, sind die Kellnerinnen Frauen. Mit großen, raumgreifenden Schritten durchmessen sie den Raum von der Küche zum Speisesaal, ohne Ruhepause, große Fleischplatten auf dem Arm. Sie gehören zu der Kategorie no-nonsense-woman. Die Arbeit muss ja schließlich getan werden, also tun wir sie. Der Wirt, selbst mit einer prächtigen Plauze ausgestattet, beschränkt sich darauf, gemessenen Schrittes Bierkrüge in den Speisesaal zu tragen.
Danach ist noch Zeit, und ich setze mich auf den Platz, in die Sonne. Es ist ein richtigere Sommertag. Erst jetzt merke ich, dass auch hier an den Laternen noch die Weihnachtsbeleuchtung hängt. Griechenland lässt grüßen.
Auf dem Weg zu dem Platz komme ich an Pingo de Mel vorbei (‘Honigtropfen’) , einem Laden oder Lokal, dann an einem Café namens Fika-Keto (Bedeutung unklar) und dem Fanshop des SCP. Das ist Sporting.
Ich habe einen Termin mit einer Lehrerin, Filomena. Sie hat in Coimbra studiert, Englisch und Deutsch. Passt! Während des Studiums war sie in Halle, noch zu DDR-Zeiten. Sie war in einer Schule in Penela, wo die Nachfrage nach Deutsch immer mehr nachließ und sie am Ende nur noch Englisch unterrichtete. Sie hatte aber das Gefühl, dass sie nur noch Sekretärin und Kindergärtnerin war, d.h. dass Bürokratie und das reine Aufpassen im Vordergrund und die eigentliche Arbeit, der Unterricht, im Hintergrund war. Deshalb hat sie sich entschieden, sich selbständig zu machen. Sie gibt den Kleinen Englisch-Unterricht und den Großen Unterricht in Portugiesisch. Die sind alle Auswanderer, meist Briten, aber auch Finnen, Amerikaner und Deutsche. Wir verabreden uns für den kommenden Freitag.
24. Februar (Sonntag)
Ich mache einen weiteren Versuch, den in den Unterlagen der Vermietet so miserabel beschriebenen Weg zum Aussichtspunkt zu finden, und diesmal klappt es. Es ist kein zwanzigminütiger Spaziergang vom Haus aus, sondern ein zwanzigminütiger Spaziergang, der erst beginnt, nachdem man mit dem Auto in Serpentinen den Berg heraufgefahren ist. Dabei bieten sich einige beeindruckende, fast furchteinflößende Blicke hinunter ins Tal und in die Ferne.
Oben geht es über einen Wurzelweg weiter hinauf. Unterwegs ernte ich noch ein paar Tannenzapfen für den Ofen. Die sind hier groß, breit und weit geöffnet.
Bald kommt die Einsicht, dass hier Wanderschuhe das bessere Schuhwerk gewesen wäre, aber es geht zur Not auch so. Oben kommt man an einem Platz an, der an zwei Seiten von einer Felswand begrenzt ist, die glatt die Ruine eines alten Klosters sein könnte, aber natürlich ist. Zur einen Seite begrenzt sie die Sicht, aber zu anderen kann man darüber hinwegsehen. Obwohl es ein klarer, sonniger Tag ist, scheint es so, als würde das Tal im Dunst liegen. Es scheint der höchste Punkt der Umgebung zu sein, und man hat einen ungewöhnlich weiten Blick.
Vor den Felsen liegen verkohlte Baumstämme. Die Felsen sind weißlich, und auch einzelne Steine, die hier herumliegen, sind weißlich, und wenn mir jemand hätte weismachen wollen, das wäre Marmor, hätte ich es glatt geglaubt. Es ist aber Quarz, wie man einer Schautafel am Ausgangspunkt der Weges entnehmen kann. Dort sieht man auch, dass es auch einen Rundweg gibt, aber ich hätte keine Ahnung, wie man den finden soll. So was macht man dann wohl besser zu zweit, und zwar mit Wanderschuhen.
25. Februar (Montag)
Ich fahre nach Ansião, eine Kleinstadt in der Nähe, die ich noch nicht kenne. Nichts Aufsehenerregendes, aber ausgestattet mit einem schönen Platz im Zentrum mit den hier typischen weiß getünchten Häusern, darunter dem etwas zu groß geratenen Rathaus und gleich drei Kirchen, die ich am oder am Rande des Platzes tummeln.
Im Dorf betreibt Elvira Jesus Freire einen Elektrohandel. Mit so einem frommen Namen werden die Geschäfte bestimmt gut laufen. Elektrohandlungen gibt es hier an jeder Ecke, meist spezialisieren sie sich auf Heizöfen. Nur Frisöre sind noch besser vertreten.
An einer Mauer ein etwas in die Jahre gekommenes Emblem der PS, mit nach oben gereckter Faust.
Es ist so warm, dass man draußen sitzen kann. Bestellen soll man drinnen, ao balcão. Mit dem Balkon ist die Theke gemeint. Man wird aber draußen bedient. Es gibt frischen Erdbeerkuchen und einen Milchkaffee, für 2,75 €.
Auf dem Platz stehen hohe, schöne Bäume, voller grüner Blätter, die fast wie Nadeln aussehen. Erst glaube ich, dass es auch so etwas wie die Mimosen im Dorf sind, aber die Blätter fühlen sich viel härter an.
Am Nebentisch Schulkinder, die Hamburger essen. Sie sind alle schlank und dunkelhaarig, die Jungen besser aussehend als die Mädchen. Ich versuche, das eine oder andere Wort aufzuschnappen, ohne Erfolg.
Ich nutze die Gelegenheit zu einem Einkauf in einem Lebensmittelgeschäft. An der Fleischtheke sage ich meine auswendig gelernte Bestellung auf, und es klappt auch. Aber dann passiert das, was immer passiert: Ich verstehe die Gegenfrage nicht. Nach zweifacher Wiederholung macht es dann Klick: Rind oder Schwein? Beide Wörter haben zwei Silben, beide klingen aber, als hätten sie nur eine.
Als ich wieder zuhause bin, mache ich gleich einen Spaziergang ums Dorf herum. Es ist einfach zu schön, und die Wetteraussichten sind nicht gerade rosig.
Irgendwo raschelt es mitten in der Mittagsstille im Gebüsch. Ein Tier kommt herausgeschossen, ich glaube erst, es wäre ein Fuchs, aber es ist ein Hase! Wie lange habe ich schon keinen Hasen mehr gesehen!
Die Laubbäume, die hier eher rar gesät sind, haben noch keine Knospen. Sie sind aber auch nicht kahl, weil sie – wieder in Griechenland – das Laub des Vorjahres noch nicht abgeworfen haben. Trocken, krümelig und in sich gedreht halten die Blätter sich an den Ästen fest.
Es ist viel grün, aber selten so richtig satt grün wie bei uns, meist eher gedämpft. Die Ausnahme sind ein paar Wiesen, vor allem die unter den Olivenbäumen.
Schön auch ein kleines Weinfeld mit gestutzten Rebstöcken, unter denen sich ein dichter Teppich von Gänseblümchen wachsen überall.
Sehr schön ist auch der Dorfbach, den ich mehrmals überquere, mit rauschend, mit kristallklarem Wasser. Da fallen einem nur sprachliche Gemeinplätze ein. Jeden einzelnen Kieselstein kann man darunter erkennen.
Im Vorgarten eines Hauses ein Strauch, so groß, dass man ihn für einen Baum halten konnte, der von oben bis unten voller roter Rosen ist.
26. Februar (Dienstag)
Die Marmelade wandert als compota auf die Einkaufsliste. Es gibt zwar auch marmelada, aber das ist ausschließlich Quittenmarmelade, abgeleitet von marmelo, ‘Quitte’! Beim Einkauf läuft es dann auf abóbora hinaus: Kürbismarmelade! Dabei sehe ich auch, dass das, was marmelada genannt wird, das ist, was ich aus Spanien als membrillo kenne. Keine Marmelade im engeren Sinne.
27. Februar (Mittwoch)
In Coimbra stehe ich an der Tankstelle vor der Zapfsäule und warte, dass jemand kommt. Aber es kommt niemand. Hier ist Selbstbedienung. Scheint ein Stadt-Land-Unterschied zu sein.
An einem Gebäude am Largo do Portagem sehe ich eine Plakette, die darauf hinweist, dass hier Miguel Torga, alias Dr Adolfo Rocha, Dichter und Arzt, fünfzig Jahre lang tätig war. Darüber eine Hand, deren Finger voller Schuppen zu sein scheinen. Keine Ahnung, was das zu bedeuten hat.
Bei der Suche nach einer Bäckerei gelange ich im Zentrum, auf einem niedriger gelegenen Niveau, in ein volkstümliches Viertel, das ich noch gar nicht kenne. Man schickt mich hin und her, aber die einzige Bäckerei, an einem versteckten, kleinen Platz gelegen, ist geschlossen. Wegen Ferien. Erst in den nächsten Tagen wird mir im Nachhinein klar, dass es die Karnevalszeit ist, derentwegen man Ferien macht.
Für mein Brot muss ich dann tatsächlich in einen Supermarkt in der Nähe des Bahnhofs fahren. Als ich nach dem Weg frage, kommt eine Antwort wie aus einem Lehrbuchdialog: “É logo alí.”
Das ist Coimbra B, der Bahnhof, der etwas außerhalb des Zentrums liegt und an dem mehr Züge ankommen. Coimbra A liegt nur ein paar Schritte vom Largo do Portagem entfernt. Einem Plakat zufolge, das dagegen protestiert, soll er demnächst geschlossen werden.
Coimbra B ist wie ein etwas verschlafener Provinzbahnhof, der immer dann zum Leben erwacht, wenn ein Zug ankommt, ganz egal, welcher Kategorie, Alfa, Intercity oder Regional. Es gibt eine etwas schummrige Bar, sonst nichts. Mein Brot hätte ich hier nicht bekommen. Der Bahnhof ist das Gegenteil von den modernen deutschen Bahnhöfen, die eher Einkaufszentren mit Gleisanschluss sind.
Die DB Portugals heißt CP, Comboios de Portugal. Scheint staatlich zu sein. Wenn man hier ein Wort wie tren erwartet, ist man auf dem falschen Dampfer.
Den Hinweis auf Miguel Torga verdanke ich Xia, und die steht wenig später am Bahnhof plötzlich vor mir, statt aus dem Zug auszusteigen. Ich stehe auf dem falschen Bahnsteig.
Wir machen gleich, statt nach Hause zu fahren, einen Spaztiergang durch Coimbra. Das Wetter ist nicht so schlecht wie vorausgesagt. Mit dem typischen Blick für Besonderheiten der Häuser sieht Xia die Schiebefenster in dem Viertel der Casa Nau, die mit der Fassade glatt abschließenden Fenster und eine merkwürdige Reihung von Hausnummern: Jeder Eingang eines Hauses hat eine eigene. Man sieht oft vier, fünf Nummern auf ganz wenigen Metern über den niedrigen Eingangstüren. Das sehen wir in den nächsten Tagen immer wieder.
Wir gehen kurz in Santa Cruz rein und dann in die romanische Kirche in der Nähe, die Igreja de São Tiago, die das Niveau zwischen dem Platz unten und der erhöht liegenden Einkaufsstraße überwindet. Sie lehnt sich sozusagen an die Mauer an, auf der die Einkaufsstraße liegt. Sie stammt aus dem 12. Jahrhundert, aber wir können uns nicht darauf einigen, was noch original ist. Innen vermutlich nur die Säulen, die das moderne Holzdach tragen. Außen scheint mir alles original, aber Xia findet, das sei keine Romanik: Rosette passt nicht, Fenster sind zu groß, Bögen an den Portalen nicht eng genug aneinander.
Von dort unten sehen wir auf die Fassade der Grandes Armazens do Chioda, eine Eisenkonstruktion vom Beginn des 20. Jahrhunderts. War ursprünglich vermutlich eine Markthalle und scheint jetzt eine Ausstellungshalle zu sein. Sie wird aber gegenwärtig renoviert. Was Chioda ist, ist nicht rauszukriegen, außer, dass ein Stadtviertel von Lissabon so heißt.
Auf dem Rückweg klauen wir irgendwo zwei Apfelsinen, aber sie sind so gut wie ungenießbar. Könnten genauso gut Zitronen sein.
28. Februar (Donnerstag)
Im Fernunterricht erfahre ich von der Lehrerin, Emma, dass in Tomar, unserem heutigen Reiseziel, heute der Karnevalsumzug der Kinder stattfindet. Sie erzählt auch, in Tomar seien die Szenen für einen Film über Fatima gedreht worden, die in Ourém spielen. Tomar sei einfach die besser erhaltene Stadt.
Bei der Frage nach der Aussprache – es geht mal wieder um das unselige <s> – erweist sich mais o menos als Schulbeispiel für Assimilation: Das <s> von mais klingt hier ganz anders als alleinstehend.
Tomar heiß Tomar, weil das der arabische Name des Nabão ist! Das wiederum weiß die Lehrerin nicht. Wohl aber unser Reiseführer.
Als wir nach Tomar hineinfahren, treffen wir gleich auf die verkleideten Kinder, die auf dem Weg zum Umzug sind. Wir stehen im Stau und sehen aus dem Auto ein großes, vermutlich rekonstruiertes Wasserrad, wohl maurischer Machart, mit Krügen auf jeder Schaufel. Wie genau das funktioniert, bleibt offen.
Bald können wir an den Karnevalisten vorbeifahren und direkt nach oben zum Convento do Cristo fahren.
Man parkt fast direkt vor den mächtigen Mauern. Die Burg selbst entstand zum Zweck der Verteidigung gegen die Mauren, und schon bald nach ihrem Bau erfüllte sie genau diesen Zweck, als ein maurischer Angriff abgewehrt werden konnte. Das war dem Weitblick des Mannes zu verdanken, dessen Statue auf der Praça da República steht und der dort der Gründer Tomars genannt wird, Gualdim Pais. Dem war eine Burg unten am Nabão übergeben worden, aber er sah ein, dass die nicht reichen würde. So veranlasste er den Bau der Burg hier oben, 1160.
Die Keimzelle des Klosters und die wichtigste Sehenswürdigkeit ist die Rotunde, dessen Kuppel man von außen, über die Wehrmauern hinweg sieht. Die Rotunde ist ein sechzehneckiger Raum, in den wiederum ein sogenannte Charola eingelassen ist, ein achteckiger Einbau. Der beherbergt den Altar, der aber kaum als solcher zu erkennen ist. Um diese Charola herum geht eine Art Umgang. Angeblich wurde so gebaut, damit die Ritter den Gottesdienst auf Pferden sitzend verfolgen konnten, aber das dürfte ins Reich der Legende fallen.
Man tut sich hier schwer, zu entscheiden, was was ist. Je länger man hinguckt, umso mehr kommt man zu der Überzeugung, dass alles außer der Grundstruktur aus späteren Zeiten stammt. Die stammt aus dem 12. Jahrhundert.
An einer Seite hängt eine einzige riesige Orgelpfeife aus einer verloren gegangenen Orgel, mit dem Mundstück nach unten. Sie nimmt fast die ganze Höhe der Wand ein. Ein echter Hingucker. Die Art von Hingucker, die ich übersehe, wenn ich alleine unterwegs bin.
Als die Rotunde sich als zu klein erwies, riss man die Westwand ab und baute eine weitere Kirche an, eine Art horizontale Verlängerung der Rotunde. Ein verrückte Lösung.
Es fragt sich, ob es wohl irgendwo in der Welt noch mehr Kreuzgänge gibt in einem Gebäude als hier. Wenn man in dritten oder vierten ist, hat man vergessen, wie es im ersten aussah. Derjenige, der in Erinnerung bleibt, ist der, der am untypischsten ist, ein Renaissance-Kreuzgang mit antikisierenden Säulen und Tympanons. An der Seite kuriose Wendeltreppen, die ins obere Stockwerk führen und die, wie ich erfahre, den Treppen in einem Renaissance-Schloss an der Loire ähneln.
Die kraftstrotzende Burg außen und dann die Manuelinik mit ihrem überbordenden Zierrat innen, ein verrückter Kontrast. Am bekanntesten ist das Fenster des Kapitelsaals, Motiv auf Hunderten von Postkarten und Titelbild von Reiseführern nach Portugal. Ein Nebeneinander und Durcheinander von Bändern, Girlanden, Ranken, Stäben, Tauen und Ringen, neben, über und unter Strebepfeilern, die aussehen wie Baumstämme, aber bei all dem Dekor kaum zu sehen sind. Man kommt sich wie in Indien vor.
Daneben, im weiteren Sinne noch zu dem Fenster gehörend, ein merkwürdiges Motiv, eine übergroße Gürtelschnalle. Was hat die hier zu suchen? Erst später im Reiseführer finden wir die Antwort: Es ist ein Verweis auf den Hosenbandorden und damit auch ein Verweis auf die Beziehung von Portugal zu England.
Das Fenster kann man nur von oben, von einem der zahlreichen Kreuzgänge aus, sehen. Auf dem Weg dahin kommen wir an einem anderen, fast gleichwertigen Fenster der gleichen Machart vorbei, das man sehr versteckt hinter einer Wand liegt. Warum, ist unklar. Dieses Fenster wird nirgendwo erwähnt. Es ist außerdem in einem besseren Zustand als das andere, das von Moos und Flechten bewachsene ist und dringend in einen besseren Zustand versetzt werden müsste.
Die Templer waren ursprünglich gegründet worden, um die christlichen Pilger auf dem Weg ins Heilige Land zu schützen. Sieben Gefährten von Gottfried von Bouillon taten sich dazu zusammen. Der Schutz der Pilger, das ist zumindest eine Version. “Schutz” bedeutete aber wohl auch, den Mauren schon mal prophylaktisch eins auf die Mütze zu geben, diesen Ungläubigen.
In Jerusalem wurde ihnen ein Teil des Palasts von König Balduin zugewiesen, deshalb der Name, denn der Palast stand an der Stelle des Salomonischen Tempels.
Die Templer wurden von allen Seiten mit Schenkungen, Ländereien und Privilegien bedacht und waren von Zöllen und Abgaben befreit. Und wurden immer reicher und mächtiger, auch wegen ihres ganzen Netzwerks, über Europa, das Mittelmeer und das Heilige Land verteilt. Sie wurden dem französischen König, Philipp dem Schönen, ein Dorn im Auge. Da traf es sich gut, dass auch gerade ein Franzose Papst war. Die Templer wurden der Häresie und der Ausschweifungen angeklagt, und der Orden wurde aufgelöst. Das hatte den Vorteil, dass sein ganzes Besitz konfisziert wurde. An wen ging der wohl?
In Portugal erlitt der Orden das gleiche Schicksal, und doch ein ganz anderes. Er wurde aufgelöst, wurde aber wenige Jahre später unter einem anderen Namen, Christusritterorden, wieder zum Leben erweckt. Es war praktisch die Fortführung des alten Ordens unter neuer Etikette. Das erklärt, warum Tomar zur europäischen Hochburg der Templer wurde. Und es erklärt auch die komplexe Baugeschichte des Klosters, das dann später wieder religiösen Zwecken zugeführt wurde, unter Verlust der militärischen Zwecke. Politisch kam das gut zupass. Die Mauren waren ohnehin besiegt, und jetzt widmete sich der Orden der nationalen Einheit, der Verteidigung der Krone, vor allem aber der Ausdehnung Portugals. Ohne die Unterstützung, vor allem die finanzielle Unterstützung des Ordens, hätte Heinrich der Seefahrer seine Expeditionen nicht machen können, heißt es.
Wir fahren in die Stadt runter und trinken an der Praça da República ein Bier. Es ist warm, man kann draußen sitzen.
Anschließend geht Xia noch in eine Weinhandlung. Und kommt mit zwei Flaschen Bier heraus: Topazio, Bier aus Coimbra. Eine Flasche Wein hat sie auch ergattert, aber die Verkäuferin scheint von seliger Unkenntnis zu sein, was Wein angeht. Sie verkauft ihr einen Wein aus Setúbal als typisch regionales Erzeugnis. Der Wein ist billig und schmeckt nicht.
In einer Seitenstraße hat man die alte Synagoge restauriert. Der Raum steht offen und man kommt ohne Eintritt rein. Ein einfacher, quadratischer, überwölbter Raum mit vier Säulen und zwölf Konsolen an den Wänden. Die stehen für die zwölf Stämme Israels, die vier Säulen für vier bedeutende Frauen aus der jüdischen Tradition: Sara, Rebecca, Lea, Raquel. Da Lea und Raquel Schwestern sind, haben sie die gleichen Kapitelle.
Der über den Raum, modern ausgeleuchtet, sind Objekte verteilt, die mit der jüdischen Tradition zu tun haben: Shofar, Menora, Schrank für die Aufbewahrung der Thora-Rolle sowie ein paar Steine mit Inschriften in Hebräisch.
Wie in Spanien, wurden auch in Portugal die Juden vertrieben, wenn sie nicht konvertierten. Die Konvertiten standen dann unter Generalverdacht, heimlich ihrem alten Glauben anzuhängen. Ihre Gesinnung wurde überprüft, und es kam zu Prozessen, Verurteilungen und Verbrennungen.
Auf dem Weg zum Auto, ganz knapp außerhalb des Zentrums, stehen Häuser, die noch heute an der Fassade Spitzbögen aufweisen. Das waren vermutlich ursprünglich keine Häuser, sondern Stadttore, mit kleinen Wohnungen oben. In einem Fall scheint das Fenster noch original zu sein.
Am Abend wollen wir zum Essen nach Penela, kommen aber unterwegs an mehreren Lokalen vorbei und entscheiden uns für eins, in Pastor, das mehr nach Restaurant aussieht. Erst später, als wir bei einem Spaziergang auf seinen Zwilling stoßen, auf der anderen Straßenseite, weiter Richtung Penela, stellt sich heraus, dass die eine Kette sein muss, Lokale für Lastwagenfahrer. Das erklärt den großen Parkplatz vor beiden Häusern. Und auch die Größe des Essraums und seine nicht gerade einladenden Atmosphäre. Heute verlieren sich aber nur ein paar Leutchen an den vielen Tischen. Wer weiß? Vielleicht hat es hier bei der Nachfrage einen Einbruch gegeben, seitdem die Autobahn gebaut worden ist und die Laster nicht mehr über die IC 3 kommen.
Eins muss man sagen: Es gibt guten Wein. Zwar Hauswein, aber aus der Flasche serviert. Das Essen lässt, was die Quantität angeht, nicht zu wünschen übrig. Das sind Portionen für Lastwagenfahrer. Als das Essen serviert wird, ist es zu spät, einen Rückzieher zu machen, aber angesichts der Menge fällt mir wieder ein, dass man in Portugal auch halbe Portionen bestellen kann, die kurioserweise meia dose heißen – halbe Dosis.
Es gibt chanfana und Schnitzel, keine Delikatessen, dazu wieder einmal Reis und Pommes und die unvermeidlichen grelos. Im Vergleich zu allem anderen, was ich bisher hier konsumiert habe, kommt mir auch die Rechnung hoch vor.
1. März (Freitag)
Es ist kalt. Wir fahren nach Miranda. Im Unterricht ein bisschen Erzählen, ein bisschen Lesen, ein bisschen Grammatik. Bei Lesen stolpere ich über truxesse. Das <x> ist hier /s/, aber in anderen Umgebungen steht es für andere Laute.
Immer wieder heißt es, nee, das ist Italienisch (voglio), das ist Spanisch (tren) oder bestenfalls, das ist brasilianisches Portugiesisch, aber kein portugiesisches.
Xia hat inzwischen einen sensationellen Einkauf im dem benachbarten kleinen Laden gemacht, ein Kauf, bei dem fast alles nix kostet, außer dem Honig.
Wir bekommen auch noch Tipps zu portugiesischem Wein. Die drei bekanntesten Weinbauregionen sind Alentejo, Douro und Dão. Der ist in der Gegend von Viseu. Regionalen Wein bekommt man am besten in Lamas, nicht weit von hier, und auch eine Kooperative am Stadtrand von Miranda vertreibt regionalen Wein. Als heißester Tipp wird der Encosta de Criveira genannt.
Wir kommen erst nicht aus Miranda raus. Es formiert sich die Karnevalsprozession und man kann nicht abbiegen, und ein unfreundlicher Polizist auf Motorrad will uns hindern, zurückzufahren. Das toleriert er dann aber doch, wenn auch mit finsterer Mine.
In Lousã gehen wir durch den Ort und trinken dann in dem Café mit der couragierten Besitzerin, die ich noch vom letzten Mal in Erinnerung habe, einen Kaffee mit Kuchen. Wir bitten um eine Gabel, und dann auch noch um ein Messer. Alles wird geliefert, aber mit ironisch-strengem Blick und den deutlich ausgesprochenen Bezeichnungen dafür, garfo und faca. Alles schmeckt gut und kostet so viel wie bei uns der Kaffee alleine.
Sehr nachhaltige Wirkung hat der Besuch in einer Apotheke. Die Apothekerin überreicht uns wortlos und ohne Alternativen zu nennen ein teures Mittel gegen Hautrisse, aber das erweist sich als sehr wirksam.
Wir wollen zu Fuß zur Burg rauf, und folgen den Instruktionen eines freundlichen Mannes, der gerade die Touristeninformation zuschließt. Es ist ein wunderbarer, einsamer, ruhiger Weg, mit Blick in das weite Tal. Wir kommen an einem ausgedienten Strommast vorbei und an einer Madonnenstatue vor einem Haus, mit Brunnen davor und Spiegel dahinter. Vor einem Haus wachsen Kamelien. Das sind die, die ich in Estrada de Viavai für Rosen gehalten haben!
Es wird immer schöner, je weiter es nach oben geht, und auch immer wärmer. Man blickt auf die baumbestandenen Berge und auf die schwarze Burg und die weiße Kirche daneben. Das Grün ist hier schöner als in Viavai. Kein Eukalyptus, könnte die Erklärung sein.
Oben gehen wir einmal um die Burg herum und kraxeln ein bisschen auf den schmalen Wegen herum und fragen uns, was wohl mit alambor gemeint ist. Das steht über der portugiesischen Erklärung. Über der englischen steht glacis. Hilft auch nicht weiter. Das Bild daneben gibt einen Hinweis, und das Internet bestätigt es später: Die Rampe auf der Feldseite ist gemeint. Die Festungsmauer steigt nicht gerade an, sondern schräg, und das hat man durch eine Erdaufschüttung erreicht. Dadurch werden tote Winkel vermieden. Die Verteidiger können jeden Winkel von oben einsehen. Das Wort kommt aus dem Französischen und bedeutete ursprünglich einfach ‘Abhang’. Dass in einigen Städte Wege oder Plätze auch heute noch Glacis heißen, erinnert an die einst hier befindlichen Verteidigungsmauern mit Rampen.
Ausgerechnet hier oben, direkt unter der Burg, sehen wir den ersten sprießenden Laubbaum!
Xia hat noch nicht genug und muss auch noch den Weg nach unten erkunden, dort, wo die Kirche steht. Dort gibt es auch ein Schwimmbad und ein Restaurant. Sieht alles sehr verlockend aus. Von hier aus führen auch Wanderwege zu den Xista-Dörfern.
Ich mache Pause auf der Bank. Aus verschiedenen Richtungen kommen laute Vogelstimmen, vor mir flattern Schmetterlinge durch die Luft, aus der Burgmauer wächst ein vollständiger, sich nach unten neigender Baum heraus, die Berge liegen teils im Schatten, teils in der Sonne.
Um zu Fuß in ein Xista-Dorf zu kommen, ist es zu spät, obwohl eins von hier aus gerade mal drei Kilometer entfernt ist, aber der Wanderweg hat große Höhenunterschiede. Wir müssen mit dem Auto hin. Schon auf dem Rückweg verzieht sich die Sonne, es wird kälter, und die Luft wird feucht. Und wir ahnen noch nicht, was für eine Fahrt vor uns liegt, über Serpentinen, die gar nicht aufhören wollen. Die ungeschützte Seite zum Abhang hin ist meine.
Als wenn das nicht schon genug wäre, fliegt plötzlich vor einer Kurve irgendetwas quer über die Straße. Ich meine ein Riesenvogel, aber sie hat es richtig gesehen: ein Radfahrer. Ein Mountainbikefahrer. Für die ist hier eine Schneise durch den Wald geschlagen und eine Piste angelegt worden, wie eine Piste für Skispringer, und sie fliegen hier ganz wörtlich durch die Gegend. Später sehen wir einen Transporter. Der schafft die Räder tatsächlich nach oben, so dass die Fahrer sich nicht den Berg raufquälen müssen.
Dann kommen endlich ein paar Häuser in Sicht, aber es war falscher Alarm. Wir sind noch nicht da. Immer weiter geht es den einsamen, schmalen Weg durch den Wald entlang, immer weiter winkt mir von unten der Abgrund entgegen.
Dann kommt endlich Talasnal, eins der Xisto-Dörfer. Die Bezeichnung erklärt sich ganz einfach: xisto heißt ‘Schiefer’. An ein paar Stellen wird noch geflickt und gearbeitet, aber die freundlichen Arbeiter lassen uns überall passieren. Das Dorf ist an einen Hang gebaut, und die Häuser, alle etwa gleich groß, liegen auf verschiedenen Ebenen. Auf die Frage, ob hier noch jemand lebe, antworten die Arbeiter mit nein. Das sind reine Feriensiedlungen. Die verlassenen Dörfer sind aufgehübscht und teilweise auch wohl wiederaufgebaut worden. Einige der Häuser sehen auch nicht ganz koscher aus. Hinter Holzklappen an den Fassaden verbergen sich Sicherungskästen, und auf dem einen oder anderen Dach steht verschämt eine Satellitenschüssel. Das Ganze hat was von fake villages. Besucher gibt es hier vielleicht außer uns noch eine Handvoll.
Am Ende landen wir in einer Bar, in die ich regelrecht hinein geschubst werden muss. Aber was für ein Schubs das war. Hinter der Theke eine junge Frau, vor der Theke drei der Arbeiter, die hier im Einsatz sind. Überall sind sie im Einsatz, sagen sie stolz, in der ganzen Gegend. Sie arbeiten für die Gemeinde Lousã. Es wird eine wunderbare Begegnung. Die drei sind freundlich und gesprächig, dabei gar nicht aufdringlich. Bald werden wir zu einem Glas Wein eingeladen. Dann gibt es Tipps zu guten Weinen. Besonders empfohlen wird Pera Doce aus dem Alentejo. Ein jüngerer mit kahlgeschorenem Kopf ist der Wortführer. Er hat ein paar Jahre in der Schweiz gelebt, in verschiedenen Orten, auch in Zürich, aber Deutsch ist keins hängen geblieben. Die Schweiz ist für ihn das Wunderland. Dann kommt Spanien. Da habe er mal Urlaub gemacht. Er beschreibt mit großer Präzision die Stelle, an der der Urlaubsort lag, unweit der spanischen Grenze. Das wäre wunderbar gewesen: Sonne, Meer, Wein. Man sollte meinen, da spreche ein Isländer. Der Große neben mir, ebenfalls jung, mit auffällig schlechten Zähnen, macht nur hin und wieder einen Kommentar, vor allem, wenn es um Getränke geht. Ein Likör aus der Gegend wird angepriesen, und den muss natürlich die Frau probieren. Die würde viel lieber einen Schnaps haben. Der ältere, etwas rundliche, mit roten Gesicht, taucht erst langsam auf. Er ist ausgesprochen freundlich. Früher habe er immer Bier getrunken. Jetzt trinkt er Wein. Alle drei trinken Wein, Rotwein. An ihnen ist nichts Prolliges, weder im Aussehen noch im Benehmen. Die Verständigung klappt irgendwie, teils mit Wörtern, teils mit Gesten, teils mit Bildern, und wenn mal alles versagt, steigt die junge Frau hinter dem Tresen mit einer Erklärung auf Englisch ein. Wunderbar! Die Fahrt nach Talasnal hat sich gelohnt. Aber nicht wegen Talasnal.
2. März (Samstag)
Am Morgen steht plötzlich ein Blumenstrauß auf dem Tisch, aus Gerbera, Immergrün, Iris, Ölzweigen, Rosmarin, alles frisch aus dem Garten.
Dann werden mir meine Augen geöffnet hinsichtlich der Bank, die hier vor der Mauer steht, die den Küchenbereich vom Wohnbereich abtrennt: Es ist eine Kirchenbank! Die Kniebänke sind nach oben geklappt und lehnen sich an die Mauer.
Schließlich werden auch noch die unerreichbar scheinenden Strahler an der Decke so ausgerichtet, dass man auf dem Sofa lesen kann.
Die Berge liegen im Dunst, aber das versteht man hier inzwischen als gutes Zeichen, und tatsächlich kommt schon nach dem Frühstück die Sonne raus.
Es geht nach Coimbra, in die weltberühmte Universitätsbibliothek. Das Ergebnis: eher enttäuschend. Wir sind uns einig, dass wir Trinity College vorziehen. Hier kommt dazu, dass man in Gruppen von sechzig jeweils durchgeschleust wird und in dem berühmten großen Raum gerade mal zehn Minuten Zeit hat. Dafür wird aber ordentlich abkassiert, und man kauft die Tickets weit vom Eingang entfernt und muss sich dann auf die Suche begeben.
Der berühmte, obere Bibliotheksraum ist ein Prachtsaal, eine Art Mischung aus Thronsaal, Hofkapelle und Museum, nur dass er alles nicht ist und eben Tausende von Büchern an den Wänden hat, wertvolle Bücher, mit festem Einband und Goldschnitt. Die Bücher stehen auf zwei Etagen, die wertvollsten sind oben, wo nur die Bibliotheksdiener Zugang haben, über Leitern. Die Bücher unten sind teils angekettet.
Die Deckengemälde zeigen mythologische Szenen, aber von denen erfährt man nichts – oder die Zeit ist zu kurz. Die Regale oder die Leitern, die nach oben führen, sind mit Chinoiserien dekoriert.
Man erfährt, dass man für die Regale Eiche benutzt. Da sei das beste Holz für Bibliotheken, da es resistent gegen Insekten sei. Und dann kommt noch ein wirklich verrücktes Detail: Die Bibliothek wird von zwei Fledermauskolonien bewohnt. Die lässt man gewähren, denn auch sie sind das beste Insektenvertilgungsmittel. Andererseits müssen Möbel auch vor ihnen geschützt werden, vor ihren Exkrementen vermutlich, und deshalb wird über Nacht alles zugedeckt. Entdecken kann man keine Fledermaus, aber vielleicht bewohnen sie die nicht zugänglichen Teile der Bibliothek. Man fragt sich allerdings auch, ob sie nicht mal Ausgang bekommen müssen.
Draußen hat die Sonne inzwischen volle Kraft entwickelt und man kann die Augen angesichts all des Weiß, von dem man umgeben ist, kaum aufhalten. Wenn man sich von dem Innenhof abwendet, hat man einen schönen Blick runter auf den Mondego.
Die ganze Anlage war ursprünglich das Königsschloss, denn die ersten Könige Portugals residierten in Coimbra. Über dem Eingangsportal stehen die Figuren zweier portugiesischer Könige.
Wir sehen uns noch die Kapelle an, ein nicht unschöner, aber sehr eklektisch gestalteter Raum mit Kacheln an den Wänden, einer rokokoartigen Empore, einem barocken Altar, einer schönen, wiederum andersartigen Orgel (die gerade restauriert wird) und vor allem einem ganz merkwürdigen Deckengemälde mit floralen Motiven in sehr leuchtenden Farben. Die passt zu keinem anderen Teil des Raums. Bei der Gelegenheit erfahre ich, dass die horizontal ausgerichteten Orgelpfeifen Spanische Trompeten heißen.
Oben an dem Gitter eines Eingangs hängen Kleiderfetzen. Das ist kein Versehen. Die sollen da hängen. Einer Tradition zufolge zerreißt man nach bestandenem Examen einen Teil der Tracht und hängt die Fetzen hier auf. Es heißt, das Hemd müsse genau in der Mitte durchgerissen werden, und diesen Job dürfe nur die Allerliebste übernehmen.
Auf dem Platz davor stehen Gebäude und Skulpturen, die einen erkennbar faschistoiden Charakter haben. Die Skulpturen erinnern an die von Arnold Breker. Wir machen einen Versuch, die Verdienste einer solchen Auffassung von Architektur und Bildhauerei zu verstehen, mit mäßigem Erfolg.
Wir gehen in die Stadt runter und sehen in die Markthalle rein. Die meisten Stände sind dabei zu schließen, aber wir bekommen noch Obst und Brot an zwei Ständen mit sehr freundlichen, gesprächigen Verkäuferinnen.
In der Innenstadt erfahre ich vor einem Juweliergeschäft, dass der Goldanteil beim Gold in Portugal (und anderen Ländern) höher ist als in Deutschland. Woran mag das wohl liegen?
In einer Weinbar in der Unterstadt übernimmt Xia das Beratungsgespräch. Wir bekommen eine Empfehlung für einen regionalen Wein, den wir gleich auf der Stelle probieren: Marquês de Marialva. Er kommt aus einer Gegend nördlich von Coimbra, das Anbaugebiet scheint Bairrada zu sein und die Traube Baga. Er schmeckt vorzüglich. Wir nehmen gleich eine Flasche mit. Und bestellen hier zu dem Wein ein gemischte Käse- und Fleischplatte, die wir als einzige Gäste draußen vor dem Geschäft mit Genuss verzehren.
Dabei kommt es zu einem kuriosen Missverständnis. Auf den Deckchen, die auf die Holztische gelegt werden, ist ein Gebäude abgebildet, auf dem Sevilla zu stehen scheint. Wir fragen uns, was man hier wohl mit Spanien am Hut hat, aber dann stellt sich heraus, dass da nicht Sevilla, sondern Sé Velha steht. Das ist die Alte Kathedrale. Da gehen wir dann auch gleich hin und trinken dort in einem Café mit direktem Blick auf die Kathedrale noch einen Kaffee.
Wir fahren zurück und machen noch einen späten Spaziergang, zu dem Aussichtspunkt in der Nähe von Favacal. Zu dem Spaziergang kommt es aber fast nicht, da ich mich zweimal glorios verfahre und dann, auch zweimal, beim Rückwärtsfahren das Auto fast in den Sand setze.
Auf dem Weg nach oben sammeln wir Kiefernzapfen ein und hoffen auf ein Ende der Heizperiode.
Oben, am Ende des steinigen Weges, angekommen, verfallen wir beide unwillkürlich in Schweigen, in ein andächtiges Schweigen angesichts des Naturschauspiels, das sich uns hier präsentiert, einem ständig wechselnden Spiel von Sonne und Wolken, von Licht und Schatten. Man hört nur das Rascheln der Blätter im Wind.
3. März (Sonntag)
Der Routenplaner schickt uns auf einem unnötig komplizierten Weg nach Batalha. Und dort ist kaum ein Reinkommen in den Ort, den ich als verschlafene Kleinstadt in Erinnerung hatte. Warum ist heute hier so viel los? Karnevalsumzug und Pfadfindertreffen.
Bei jedem Schritt werde ich auf Dinge aufmerksam gemacht, die ich beim letzten Mal übersehen oder nicht beachtet habe: ein Negermännchen als Wasserspeier, ein alten Mann, der sich am Kopf kratzt, als Wasserspeier, eine Fledermaus an exponierter Stelle über dem Seitenportal und nicht zuletzt ein komplettes Gebäude, ein quer zum Ostabschluss stehendes, schönes mit buntem Ziegeldach, wie in Burgund. Nur sind die Ziegeln nicht lasiert. Das Gebäude muss wohl der Kapitelsaal sein.
Das geht in der Grabkapelle gleich so weiter: die niedlich, fast menschlich zur Seite und sich gegenseitig anschauenden Löwen zu Füßen des zentralen Grabmals und, vor allem, die schöne Geste auf dem Grabmal: Königin und König halten sich die Hand, auch nach dem Tod. Dieses zentrale Grabmal ist das von João I., dem Sieger der Schlacht von Aljubarrota, und seiner englischen Gemahlin, Philippa von Lancaster. Mit ihrer Ehe begann das Bündnis von Portugal und England, das über Jahrhunderte, nicht zuletzt zur Zeit Napoleons, immer wieder zum Tragen kommt. Am Fuß des Denkmals sind die Wappen der Häuser Avis und Lancaster angebracht. Die kann man gut sehen, im Gegensatz zu den skulptierten Figuren, die auf einem viel zu hohen Sockel ruhen. Das gilt auch für die Grabmäler am Rande der Kapelle, die der Söhne des Paars, darunter Heinrich der Seefahrer.
Diesmal bekomme ich auch die Kreuzgänge zu sehen, sehr unterschiedlich, der erste, der Claustro Real, prachtvoll, der zweite, der Claustro de Dom Alfonso V., schlicht. Von dessen oberem Stockwerk hat man einen schönen Blick nach unten und sieht die Wasserspeier, darunter einen Fisch und ein Phantasietier mit Fischschuppen. Beim Claustro Real hat man, offensichtlich nachträglich – man fragt sich, wie das geht – die Arkaden ausgeschmückt, und zwar mit einem teppichartigen filigranen Maßwerk, mit Lotusblumen und Bambusbüscheln, und natürlich Armillarsphäre und Christuskreuz, alles ganz dicht gewebt. Noch eins draufgelegt hat man bei den Bauschirmen um den dreischaligen Brunnen an einer Ecke des Kreuzgangs.
Das ist alles sehr schön, aber der eigentliche Höhepunkt steht noch bevor: die Unvollendeten Kapellen. Der Name ist irreführend. Die Kapellen, ein Kranz von sieben Kapellen, sind vollendet. Was fehlt, ist das Dach, nicht das Dach der Kapellen – auch das ist fertig – sondern das Dach über dem Raum, der den Kapellenkranz mit dem Ostchor der Kirche verbindet. Man steht im Freien, hat die Kapellen vor sich und den Ostchor hinter sich. Über einem der freie Himmel und die merkwürdigen Gebilde, die mir von außen wie Schornsteine vorkamen, immer mehrere als Bündel zusammengefasst. Das sind die Stützen, auf denen das Dach ruhen sollte. Originalton Xia: “Da kann man sehen, wie eine Kirche gebaut wird.”
Dieser abenteuerliche Anbau mit dem Kapellenkranz erklärt auch, warum die Kirche im Osten so breit und merkwürdig rund aussieht, so sehr, dass ich beim ersten Mal gar nicht wusste, welche Seite der Kirche das denn nun war.
Die Kapellen sind leer bis auf die zentrale. Da liegt Dom Duarte begraben, der Auftraggeber der Kapellen und älteste Sohn von João. Auch er mit seiner Königin. Auch er hält ihr die Hand. Oder sie ihm.
Nach Bier und Snack auf dem Platz vor der Kirche fahren entscheiden wir, noch an die Küste zu fahren. Am besten nach Nazaré, das ist nicht so weit.
Beinahe wäre ich für den gesamten Portugal-Aufenthalt in Nazaré gelandet. Es wäre das Gegenprogramm zu Estrada de Viavai gewesen. Eine geschäftige Stadt an der Küste, Touristenzentrum, perfekte Infrastruktur, hundert Meter Entfernung vom Haus zum Strand, Einkauf um die Ecke. Manchmal habe ich noch Zweifel, ob es die richtige Entscheidung war, aber sich das in den Sommermonaten vorzustellen, ist nicht gerade attraktiv. Xia hat gar keinen Zweifel: Estrada de Viavai ist die bessere Option.
Schon als es auf Nazaré zugeht, sieht man Dünen am Straßenrand, die aber kaum als solche zu identifizieren sind, weil sie baumbestanden sind. Dann sieht man in der Ferne das Meer, ohne zu erkennen, ob es das Meer ist.
In Nazaré kommt man nur noch schrittweise weiter, als es auf die Stadt zugeht, auch hier liegt es am Karnevalszug, aber der ist noch eine Nummer größer. Nachdem wir uns gegen zwei selbsternannte Parkplatzwächter, für die heute der Zahltag ist, halbwegs zur Wehr gesetzt haben, gehen wir die kurze Strecke zur Strandpromenade. Die ist abgesperrt für den Umzug. Es ist überall rappelvoll, in den Lokalen wie an der Strecke, viele verkleidet. Die schönsten Kostüme haben die alten Frauen, bestickte traditionelle Gewänder, die man eher mit einem Tanzfest als mit Karneval verbinden würde. Es geht sehr ruhig zu, es wird nicht gesungen, nicht geschunkelt und praktisch nicht getrunken.
Dann kommt aber dröhnende Musik aus den Lautsprechern, und wir entscheiden, das Weite zu suchen. Auf dem Weg zum Auto sehen wir Wäsche an einem Haus hängen, wieder, wie dieser Tage, säuberlich geordnet nach Art und Farbe!
Es gibt tatsächlich Hinweisschilder auf weitere Strände, die Praias do Norte, auf der anderen Seite des an einer Landzunge stehenden Kastells mit niedrigem Leuchtturm. Dort gehen wir einen Sandweg zwischen den Dünen und dann ein Stück am Strand entlang, und Xia lässt es sich nicht nehmen, mit den Füßen ins Wasser zu gehen. Was beinahe böse ausgeht. Die Strömung holt sie fast von den Füßen.
Nach einem unnötig komplizierten Rückweg landen wir am Abend im D. Sesnando in Penela. Das Lokal ist modern und fällt für Penela völlig aus dem Rahmen: Glas und Holz, niedrig, mit einer breiten Terrasse mit Blick über die Altstadt.
Es ist inzwischen dunkel geworden, und die ersten Müdigkeitserscheinungen stellen sich ein. Aber dafür steht uns ein kulinarisches Highlight bevor.
Wir werden von einem freundlichen jungen Mann in Empfang genommen, der sagt, es sei noch zu früh zum Essen, aber wir könnten uns schon mal setzen. Das tun wir, und sofort werden Brot und Oliven serviert.
Es gibt Cabrito Asado (der in der englischen Speisekarte wohl falsch als Lamb daherkommt) und Wildschwein. Echte Köstlichkeiten, genauso wie der dazu servierte Reis (einmal mit Pilzen, einmal mit Leber), die Kartoffeln und die Kastanien. Lediglich die obligatorischen grelos, die eher nach nichts schmecken und wie Algen aussehen, wären verzichtbar. Als ich später meiner Lehrerin gegenüber den Kommentar mache, dass wir uns wundern, warum es immer das gleiche Gemüse gebe, erwidert sie: Wieso, es gibt doch auch Reis und Kartoffeln. Irgendwie muss ich mich wohl nicht richtig ausgedrückt haben.
Zu der Qualität des Essens passt der Wein, genau der, den eben diese Lehrerin empfohlen hatte: Encosta da Criveira. Das mit Abstand beste Essen bisher.
4. März (Montag)
Das Auto bleibt stehen, wir machen uns zu Fuß auf den Weg Richtung Penela, wo wir am Ende tatsächlich ankommen. Erst folgen wir dem Routenplaner, der tatsächlich hier eine Strecke für Fußgänger hat, dann nehmen wir gegen seinen Ratschlag, auf der Landstraße zu bleiben, eine “Abkürzung”, die uns auf steilen Wegen in den Wald führt. Bald ist kein Zeichen von Zivilisation mehr zu sehen, und immer wieder müssen wir bei Abzweigungen aufs Geratewohl entscheiden, wo es weitergeht. Irgendwann fängt der Routenplaner uns wieder ein. Es soll angeblich gar nicht mehr so weit nach Penela sein. Dann, immer noch mitten im Wald, kündigt er an, dass wir in einem Kilometer, dann in 700 Metern, auf die Avenida do Brasil kommen werden. Scherzkeks! Na ja, es bleibt nichts anderes übrig, als es weiter zu versuchen. Dann kommt oben plötzlich eine Lichtung in Sicht, und Penela liegt uns zu Füßen. Wir sind auf der Avenida do Brasil!
Unterwegs hat es einiges zu sehen gegeben. An all dem wäre ich alleine achtlos vorbeigelaufen: ein Vorgarten mit geschnittenen Buchsbaumsträuchern hat zwei Figuren, einen nicht zu identifizierenden Vogel und eine füllige Frau mir sehr weiblichen Formen, mit ausgestreckten Armen. Eine Mauer mit schönem Mauerwerk hat einen halbrunden Abschluss. Ich erfahre, dass es so sein muss. So kann das Wasser ablaufen. Komisch, alle Mauern, die ich kenne, haben einen geraden Abschluss. Warum sind die nicht längst alle eingestürzt? An einem kleinen Graben ein ganz klein bisschen abseits der Straße liegt die frühere Waschstelle des Dorfes, mit Jahreszahl gekennzeichnet, 1880, und sehr schön mit Mustern aus schwarzen und weißen Kieselsteinen hergerichtet. Unmittelbar in der Nähe zwei benachbarte Häuser, die wir erst für Kirchen halten, aber die Figuren auf dem Dachsims sind keine Heiligen, sondern klassische Gestalten, vielleicht eine griechische Göttin und ein römischer Staatsmann. Das müssen früher einmal Paläste im Kleinformat gewesen sein. Und weit vor Penela, an einer Stelle, an der ich schon Dutzende Male vorbeigefahren bin, liegt ein Minipreço. Ich habe mich immer schon gefragt, wo in Penela der wohl liegt.
In einem Dorf kommt uns unterwegs eine schmächtige alte Frau entgegen, Eimer in der einen, Reisig in der anderen Hand. Sie lässt sofort alles stehen und spricht auf uns ein. Irgendwas von Arbeit und Herzproblemen und Tochter und Obst nur in kleinen Stücken. Sie sieht Xia dabei unverwandt an. Es macht ihr nichts, dass sie keine Reaktion bekommt, jedenfalls keine verbale. Ob sie sich überhaupt vorstellen kann, dass es Menschen gibt, die sie nicht verstehen, Menschen, die ihre Sprache nicht verstehen?
Über einer Mauer sehen wir grelos wachsen und daneben etwas weiß Blühendes. Ob das die grelos selbst sind? Kann ich mir nicht vorstellen. Ein paar Meter weiter haben wir ungehinderte Sicht auf das Gemüse. Und wieder muss der ungläubige Thomas Abbitte leisten.
Ein Rätsel bleiben weiterhin die schönen, sehr gleichmäßig wachsenden Bäumen, von denen ich ein besonderes Prachtexemplar vor der Kirche in Lousã gesehen habe. Ich glaube, es sind Zypressen. Xia glaubt, es ist Wacholder. Wir sehen einen am Wegesrand, und ich soll durch die Früchte überzeugt werden, dass es Wacholder ist. Aber da würde ich Beeren erwarten, und die hier sehen wie Nüsse aus. Später kommen wir an einen ähnlichen Baum, und diesmal sind es die Früchte, genau die, die ich in Lousã gesehen haben. Sie haben Ähnlichkeit in der Form mit dem angeblichen Wacholder, sind aber größer. Die Sache bleibt offen.
Als wir durch Rosas komme und ich den Namen des Ortes leise vor mir her sage, merke ich, dass kein Laut derselbe ist wie auf Spanisch!
In Penela gehen wir in die Stadt runter und dann zur Burg rauf. Zum ersten Mal wird mir klar, warum ich immer so verschiedene Eindrücke von Penela habe: Auf einem Hang liegt die Altstadt, auf dre anderen die Neustadt, und die Altstadt sieht wirklich, jedenfalls aus der Ferne, richtig schön aus.
Oben an der Burg, bei der Touristeninformation, besorgt Xia einen Busfahrplan. Es scheinen wirklich Busse nach Estrada de Viavai zu verkehren, aber wir werden aus dem Plan nicht schlau, und für heute gibt es sowieso keinen Bus mehr. Also geht es zu Fuß zurück, denselben Weg entlang.
Wir gehen kurz in den Minipreço und entdecken dort auch die beiden guten Weine der letzten Tage, den aus Coimbra, den aus dem Lokal. Vor dem Gebäude stehen zwei große Waschmaschinen und ein Trockner. Sollte man für den Notfall in Erinnerung behalten.
Dann geht es weiter, und die Füße werden immer schwerer. Unbarmherzig lässt uns der Routenplaner wissen, wie viele Kilometer es noch sind.
Dann hält plötzlich ein Auto neben uns. Ob wir mitfahren wollten? Ein Holländer, ein pensionierter Feuerwehrmann aus Den Haag. Er wohnt seit zwei Jahren mit seiner Ehefrau hier, in Carvalhais. Holland gefällt ihm nicht mehr, es sei nicht mehr so wie früher, hier in Portugal sei die Welt noch in Ordnung.
Er hält immer an und bietet den Leuten an, sie mitzunehmen, und die nehmen sein Angebot auch gerne an. Das ermutigt mich, es weiterhin zu versuchen.
Er erzählt von dem Waldbrand vor ein paar Jahren. Der sei verheerend gewesen und habe viele Menschen das Leben gekostet. Er ist gerade vor Viavai gestoppt worden.
Wir wollen in Carvalhais raus, aber er bringt uns bis vor die Haustür. Den Wein am Abend trinken wir auf sein Wohl
5. März (Dienstag)
Schreck in der frühen Morgenstunde: Das Auto springt nicht an. Der Schuldige ist schnell gefunden und zeigt sich reuig. Am Ende geht alles gut. Wir sind rechtzeitig am Bahnhof.
Auf den Bahnsteig kommt man, indem man über die Gleise geht, wie früher. Ein schrilles Glöckchen auf der einen Seiten warnt im Wechselgesang mit einem auf der anderen Seite vor herankommenden Zügen. Es ist wie in einer anderen Welt.
In der einfachen Bar bekommen wir, am Tresen stehend, einen letzten gemeinsamen Kaffee. Es bestätigt sich, dass der meio leite immer in einer Tasse, der galão immer in einem Glas serviert wird. Diesmal geht es auch kanonisch richtig zu, und der meio leite ist etwas stärker als der galão. Offen bleibt die Frage, ob der meio leite auch immer heißer ist als der galão.
Der Zug, ein Alfa, kommt auf die Minute pünktlich und sieht etwas zu modern für den altertümlichen Bahnhof aus. Er kommt aus Lissabon und fährt nach Porto. Der dortige Bahnhof sieht, wie ich noch im letzten Moment erfahre, gar nicht wie ein Bahnhof aus.
Dann muss ich mich alleine auf den Rückweg machen. In bewährter Weise gibt es bei Alma Holz für den Ofen. Ist heute auch dringend nötig, nachdem dieser Tage schon fast das Ende der Heizperiode in Sicht war. Ich nehme diesmal auch Pellets. Die brennen wie wild. Man hat das Gefühl, dass der Ofen im nächsten Moment in die Luft geht.
An dem Gemüsestand liegen couve und grelos nebeneinander und beheben meine letzten Zweifel, dass es ein und dasselbe ist. Es sieht so aus, als sei couve das allgemeine Wort für Kohl, nicht nur Grünkohl. Was genau die sagenumwobenen grelos sind, die hier grelos de nabo heißen, wörtlich übersetzt ‘Rübenstiele’, bleibt das Geheimnis der Portugiesen.
Beim Bezahlen überlege ich mir, was wohl Einkaufswagen heißt. Doch nicht etwa carro? Bringt man dann den carro zum carro? Nee, der heißt carrinho.
Auf dem Rückweg bringt mich der Routenplaner auf dem kürzesten Weg, unter Vermeidung der Autobahn, nach Hause.
6. März (Mittwoch)
Heute ist Aschermittwoch. Heißt auf Portugiesisch Quarta-Feira de cinzas. Den ganzen Tag stürmt und regnet es, und am Abend gehen die Lichter aus.
7. März (Donnerstag)
Im Unterricht per Internet geht es um Aussprache. Meine sei zu spanisch. Vor allem an den Nasalen hakt es.
Am Nachmittag kommen zwei Elektriker. Der eine scheint aber nur die Funktion zu haben, Leitern festzuhalten. Der andere spricht in schlechtem Englisch auf mich ein, ich revanchiere mich mit schlechtem Portugiesisch. Das Resultat: Wir reden aneinander vorbei. Und sie müssen zweimal nach Penela fahren, einmal für Glühbirnen, einmal für eine Steckdose. Sie haben nämlich nicht verstanden, dass eins der Problem ist, dass die Lichter nicht mehr aus gehen. Am Ende ist alles in Ordnung. Den Eigentümern zufolge ist hier noch nie eine Glühbirne kaputtgegangen. Dafür sind es jetzt gleich drei. Sie haben weder eine Leiter noch Ersatz.
8. März (Freitag)
An der Mülltonne am Ortsausgang spricht mich am Morgen ein Engländer an. Auf Portugiesisch. Ob alles in Ordnung sei im Haus. Er weiß, dass ich wohne, und weiß auch, dass ich sechs Monate bleibe. Findet er gut.
Er spricht ein wunderbares makkaronisches Portugiesisch, ohne jedes Verb: “Nächste Woche: Sevilla, dann Malaga.” Er ist Lastwagenfahrer. “Nächste Woche – Wetter besser.” Sein Wort in Gottes Ohr. Allein mir fehlt der Glaube.
Im Unterricht bekomme ich ein paar gute Tipps für Ziele in der Umgebung, Wanderungen und Lokale. Darunter O Burgo. Das ist das an der Burg in Lousã. Das ist für sie das beste Lokal in ganz Portugal.
An der Bäckertheke kommt es zu einem Missverständnis. Ich will den Unterschied zwischen zwei Broten wissen, die außerhalb der Sichtweite sind. Die Verkäuferin versteht nicht. Dann klärt es sich auf. Nur eins davon ist pão, das andere ist broa. Die scheinen in unterschiedliche Kategorien zu gehören.
Da die Sonne sich so rar gemacht hat, muss die Wäsche in den Trockner. Der steht vor dem Minipreço in Penela. Komisches Gefühl, da seine Wäsche reinzutun.
Ganz trocken ist sie nicht, aber inzwischen ist die Sonne rausgekommen. Die muss den Rest besorgen.
Am Mittag reicht es dann sogar zu einem kurzen Spaziergang. Ich komme an einer kleinen Einfriedung vorbei, auf der Schafe stehen, vier weiße, ein braunes. Wusste gar nicht, dass es auch braune Schafe gibt. Ich dachte, die wären schwarz.
Als ich gerade in tiefere Gespräche mit ihnen verfalle, ruft mich ein Mann aus der Distanz an. Ich denke, er will mich zurechtweisen, will er aber gar nicht. Er erzählt stolz, das seien seine Schafe. Dabei deutet er mit dem Zeigefinger bedeutsam auf seine Brust. Ja, die gäben auch Milch. Und den Käse mache er selbst. Er hat auch Ziegen. Als er mir erklärt, wo ich den kaufen kann, kann ich nicht folgen. Ob ich das jemals finde?
Der Regen der letzten Tage hat den Waldboden aufgeweicht. Ich kann aber trotzdem ein paar trockene Eukalyptuszweige mitnehmen und ein paar Kiefernzapfen. Irgendwo will ich eine Abkürzung nehmen und gerate in dichtes Gestrüpp. Der Weg ist kaum noch auszumachen. Eine dornige Angelegenheit. Und als ich irgendwann dann doch noch auf die Straße zurückkomme, kleben dicke Lehmklumpen an den Schuhen. Vorsatz: Auch für den harmlosesten Spaziergang werden demnächst Wanderschuhe angezogen.
9. März (Samstag)
Nach langer Zeit mal wieder ein sonniger Tag, auch passabel warm. Ohne jede Aktivitäten.
Bei den beiden Pflanzen, die hier überall in Blüte stehen, handelt es sich, meinem Trierer botanischen Orakel zufolge, um die Silber-Akazie (obwohl sie leuchtend gelb blüht) bzw. um Ginster, Genista aetnensis, ebenfalls gelb blühend.
Schwer durch Ähnlichkeit: la naturaleza – la natura – a natureza und la cuenta – il conto – a conta.
10. März (Sonntag)
Als ich am Morgen aus dem Dorf fahre, grüßt mich eine ältere Frau. Ich kurbele das Fenster runter, und wir kommen ins Gespräch. Sie heißt Lucia. Wie die von Fatima, fügt sie erklärend hinzu. Sie wohnt auf der anderen Straßenseite, gegenüber. Portugal sei ein schönes Land, erklärt sie mir.
In Coimbra sehe ich mir zum ersten Mal das Museo Machado de Castro an. Am Ende des Rundgangs erfährt man, dass es nach einem portugiesischen Bildhauer benannt ist, dem besten, wie es heißt.
Das Museum ist kürzlich renoviert worden. Die Exponate sind schön präsentiert, aber manchmal gibt es ziemliches Durcheinander mit der Nummerierung. Dafür kann man alles aus ganz kurzer Distanz ansehen, besser als vor Ort, zum Beispiel bei den Kapitellen.
Es geht rauf und runter, durch eine Vielzahl von Abteilungen, von Skulpturen bis Keramik. Außer in der Keramik-Abteilung fällt mir nur ein einziges Exponat auf, die Skulptur eines mittelalterlichen Ritters, die kein religiöses Thema hat. Aber die barocken Mariendarstellungen und Jesusdarstellungen sind so weit verweltlicht, dass man sie kaum noch als religiöse Kunst erkennt.
Im Zentrum des Museums ist eine ganze Kapelle wiederaufgebaut. Die stand wohl hier in der Nähe. Der Abbau und Transport ins Museum war wohl sehr umstritten.
Im Untergeschoss geht man im Dunkeln durch eine römische Ausgrabungsstätte, einen Kryptoportikus. Der römische Grabstein von Coimbra, Aeminium, erscheint auf einem der Gedenksteine, die entlang des Laufgangs vereinzelt aufgestellt sind.
Oben gibt es bei dem Durchgang durch das Museum immer wieder Fenster, die einen Blick nach draußen freigeben, auf den Mondego, auf einen Platz, auf den Innenhof des Museums.
Bei den romanischen Skulpturen gibt es kaum menschliche Darstellungen, aber dann, in der Gotik, geht es mit einem Mal volles Programm los. Bei den romanischen Kapitellen treten wieder die Vögel im Doppelpack auf, die ich schon irgendwo gesehen habe. Einer hält den Schwanz eines Fisches im Maul. Es gibt natürlich Löwen, aber auch Schweine mit Ringelschwänzchen. Daneben gibt es Weinblätter, Meerjungfrauen, Korbgeflechte, alles sehr schön gearbeitet.
Als künstlerisch besonders wertvoll wird ein Altarvorsatz bezeichnet, das das Lamm Gottes darstellt. Man könnte Zweifel haben, ob es Lamm oder Zicklein ist, wenn man es nicht wüsste. Erinnert mich an eine Szene bei einem Spaziergang letzte Woche, wo wir die Ziegen auf einer Weide erst bei näherem Hinsehen als solche identifiziert haben. Erst dachten wir, es wären Schafe.
Die Skulpturen sind aus ganz weichem Kalkstein. In der Nähe von Coimbra gab es mehrere Steinbrüche, und durch den einfachen Transport über Fluss und Meer verbreitete der sich in ganz Portugal und Galicien.
Besonders schön ist ein liegender, toter Christus mit einem fein gearbeiteten Leichentuch und die darunter postierten schlafenden Soldaten, die Beine bequem übereinander geschlagen. Der Kontrast macht’s.
Besonders fällt mir beim Durchgang eine Skulpturengruppe vor, die an eine ganz ähnliche erinnert, die ich in Poitiers gesehen habe, die wiederum an eine ganz ähnliche in Bologna erinnerte. Es ist die Grablegung Christi, mit zwei Männern an den Seiten, die gerade dabei sind, das Leinentuch mit dem toten Körper zu fassen, und mit fünf Frauen, die auf sehr unterschiedliche Weise den Tod betrauern.
In einem eigenen Raum ausgestellt ist eine Abendmahlsgruppe aus Terrakotta. Die war verloren gegangen und wurde erst im 19. Jahrhundert wiederentdeckt, teils beschädigt. Deshalb hat man keinen Versuch gemacht, die ursprüngliche Aufstellung nachzumachen – man weiß einfach nicht, wer wo war. Die Figuren stehen in kleinen Gruppen auf den Raum verteilt. Auch hier kann man sich alle sehr gut ansehen. Wer wer ist, das können wohl auch die Experten nicht sagen. Aber irgendwie identifiziert man Jesus, er ist irgendwie erhabener dargestellt als der Rest. Die anderen sind in gewisser Weise lebendiger, haben ihre Köpfe zur Seite geneigt. Allerdings ist er viel zu alt.
Beim Betreten des Raums habe ich gar nicht an die Abendmahlsszene gedacht, weil ich als erstes eine weibliche Figur sah. Eine vermeintlich weibliche, Johannes. Er ist als einziger bartlos und trägt eine Haube, wie man sie bei einer Bürgersfrau erwarten würde. Schön ist auch, dass die Westen der Apostel Knöpfe haben, ein schöner Anachronismus.
Auch ganz für sich steht, oder besser hängt, eine Monstranz, die man von einem Balkon auf einem oberen Stockwerk sehen kann, ein Riesenteil, mit einem Engel, der eine Sonne mit Strahlenkranz auf den Händen hält.
Mit der Malerei geht es in der frühen Neuzeit los, aber dann wiederum mit voller Wucht. Sehr schön ein Gemälde, auf dem Mönche links auf dem Bild und Nonnen rechts auf dem Bild mit staunendem Blick und nach oben erhobenen Augen eine Szene beobachten. Die Madonna hat ihre Brust entblößt und spritzt, unter Zuhilfenahme ihrer Finger, dem mit offenem Mund bereitstehenden São Bernardo auf einige Distanz mit einem heftigen Strahl ihre Milch in den Mund.
Für einen ersten Eindruck reicht es. Hierher kann ich noch öfter kommen.
11. März (Montag)
Wanderschuhe. Auf dem Weg aus dem Dorf begrüßen mich von dem Balkon eines Hauses nur noch zwei statt der gewohnten drei Hunde, wie gestern auch schon. Einer muss sich totgebellt haben.
Auf fast schon vertrauten Wegen gelange ich nach Espinhal. Der Ort, der von der Straße aus unansehnlich wirkt, ist tatsächlich ganz hübsch, vor allem von einer Abbiegung an, hinter der es auf Kopfsteinpflaster steil rauf geht. An dieser Abbiegung steht eine moderne Skulptur, längliche rostige Eisenstangen zu Bündeln zusammengefasst. Ich denke erst, es wären Baumstämme, aber es sind die fünf Finger einer Hand. Auf die schmale Handfläche darunter kann man sich setzen. Verdiente Ruhepause.
Vorher habe ich in einer schummrigen Bar, O Bigodes, Halt auf einen Kaffee gemacht. Die Frau hinter dem Tresen, die ich nach der Bedeutung des Namens frage, wiederholt immer nur den Namen selbst. Dann klappt es aber doch, und bei mir macht es Klick. Natürlich: ‘Schnäuzer’.
Dem darauf einsetzenden Redeschwall der plötzlich freundlich gewordenen Frau, die mich beim Eintreten noch sehr argwöhnisch angesehen hat, kann ich nicht folgen. Ich verstehe nur, dass es in Penela auch ein Lokal mit diesem Namen gibt.
Auch bei den Photos, die ich von einem Kalenderblatt und einer Pralinenschachtel machen will, aus sprachlichen Gründen, klappt die Verständigung erst im dritten Anlauf. Die Frau glaubt, ich wolle was kaufen, was in der Nähe steht.
An der Theke stehen zwei ältere Männer. Sie trinken aus kleinen, gerillten, identischen Gläsern, der eine Wein, der andere Bier.
Im Ort gibt es einen Wegweiser zum Parque de lazer. Trifft sich gut, ein Wort, dem ich gerade heute Morgen zum ersten Mal begegnet bin. Ist verwandt mit loisir und leisure.
Nach der Dorfkirche, die schön gelegen ist und von der man schon einen guten Blick ins Tal hat, erscheint rechts der Kalvarienberg, mit einem weißen Kirchlein ganz oben. Ein Zickzackweg führt dahin, an dessen Rand, natürlich in blau-weißen Kacheln, Stationen des Kreuzwegs abgebildet sind. Die letzten Stationen sind dann um die Kirche herum. Man ist jetzt noch höher. Und hier oben ist es ausgesprochen schön. Und merkwürdig: Wieder sind es die Bäume hier oben, die sprießen, und ein paar stehen sind schon über und über grün.
An einigen der Bäume auf dem Zickzackweg hängen Bänder, wie ich sie dieser Tage schon auf einem Spaziergang gesehen habe, mit der Aufschrift Prova a decorrer. Hab mich dieser Tage schon gefragt, was das wohl bedeuten könnte.
Etwas unterhalb der Kirche, seitlich davon, steht eine schöne, zweistöckige Villa mit Loggia. Hier wohnt sicher Hochwürden.
Dann geht es aus dem Ort heraus, erst über einen schönen, schmalen Weg mit glitzernden Olivenbäumen am Rand, dann über einen breiteren, nicht ganz so schönen Weg, immer weiter hinauf, ohne Schatten. So groß wie heute ist der Unterschied zwischen hier und zuhause noch nicht gewesen. In Deutschland stürmt und schneit es, hier ist der Himmel wolkenlos, und ich habe mit der Hitze zu kämpfen.
Als dann endlich der Wasserfall kommt, mein Ziel, bin ich nicht undankbar dafür. Hier ist es schattig, es weht ein bisschen Wind, die Luft ist frisch. Das Rauschen des Wassers hat man schon in weiter Ferne gehört, aber der Wasserfall wollte und wollte nicht kommen.
Ein richtiger Wasserfall ist es nicht, auch wenn man hier nicht gerade die Viktoria-Fälle erwartet. Oder bin ich immer noch nicht weit genug gegangen? Aber schön ist es auf jeden Fall. Der Bach läuft in vielen Windungen über natürlich Stufen, nach unten. Es ist der Ribeira da Azenha, über den ich schon oft mit dem Auto gefahren bin. Der Wasserfall heißt Pedra da Ferida, weiß der Teufel warum.
Die Felsen, die Baumstämme, die Mauern, das Brückengeländer, ein alter Mühlstein, alles ist hier mit Moos bewachsen. Sieht sehr schön aus.
Der erste Teil des Rückwegs, bis Espinhal, ist dann doch erheblich leichter. Es geht abwärts. Ein Café in Espinhal, das schöner aussieht als die Bar, ist weiterhin geschlossen, ebenso der einzige Lebensmittelladen und die Touristeninformation. Und viele Häuser stehen zum Verkauf an.
Diesmal komme ich über die Rua José Bacalhau. Benannt nach einem Arzt, der mit einem für einen Portugiesen perfekten Nachnamen gesegnet ist. Auf dem Hinweg ging es über die Avenida 25 Abril, eine Straße, die in keinem portugiesischen Ort fehlen darf, Erinnerung an die Nelkenrevolution, die Revolução dos Cravos.
Ab Espinhal macht sich dann Müdigkeit bemerkbar, und in Carvalhais kehre ich gleich in beide Bars ein, bei Pascoal und bei Caparica. Kaffee und Wasser im Doppelpack. In der Caparica sehe ich dann tatsächlich ein Plakat mit einem Hinweis auf O Bigodes in Penela. Müsste man schon wegen des Namens mal testen.
Dann bin ich beruhigt. Auf dem Balkon sind wieder alle drei Hunde versammelt und geben mir zu verstehen, dass ich hier nichts zu suchen habe.
12. März (Dienstag)
Zum ersten Mal Gruppenunterricht. Alle anderen sind Briten. Das Niveau passt. Das Vorgehen ist etwas kleinteilig, es geht viel um einzelne Formen und Sätze. Aber es ist für den Überblick ganz hilfreich. Am besten ein Randkommentar der Lehrerin, als in einer Übung eine Ja-Nein-Frage mit dem Verb beantwortet wird: In der Liste der häufigsten Wörter ist sim nur auf Platz135! Allerdings kommt es hier wohl sehr auf den Korpus an. Bei schriftlichen Texten sind yes und ja auch nicht in den Top 100. Im Portugiesischen ist não dagegen auf Platz 6. Das ist aber auch irreführend, denn es hat zwei Entsprechungen, nicht als auch nein.
13. März (Mittwoch)
Bei heftigem Wind zum ersten Mal gelaufen. Dient auch der Orientierung: Estrada de Viavai – Venda dos Moinhos – Grocinas – Casal Novo – Viavai – Estrada de Viavai. Erstaunlich, dass man auf so einer kurzen Distanz durch so viele Dörfer kommen kann.
Das Wort für Stau, engarrafamento, enthält ‘Flasche’, genauso wie spanisch embotellamiento!
Die Farben der portugiesischen Flagge, Rot und Grün, sind relativ modern und stammen aus der republikanischen Bewegung. Als die heutigen Farben eingeführt wurden, nach Ausrufung der Republik, kam es zu so heftigen Protesten, dass man vom “Flaggenkrieg” sprach! Die Königstreuen wollten an den alten Farben Blau und Weiß festhalten! Dabei stammen alle Symbole in dem Wappen aus der vorrepublikanischen Zeit: Die Armillarsphäre genauso wie die sieben Burgen und die fünf blauen Schilder und mit jeweils fünf eingelassenen weißen Münzen. Über deren Bedeutung gibt es, genauso wie über die Bedeutung der Farben, allerhand Spekulationen, aber die hören sich wie nachträgliche Erklärungsversuche an.
14. März (Donnerstag)
Zum ersten Mal zum Schwimmen gefahren, ins Schwimmbad nach Penela. Gut für die Bewegung, aber auch eine kleine Erfahrung der Alltagskultur des Landes.
An der Kasse ist niemand, und ich finde auch keinen Weg, auf mich aufmerksam zu machen. Irgendwer sieht mich dann und benachrichtigt die Kassiererin. Als die mich sieht, winkt sie mich durch, ich solle doch reingehen. Ich frage, wie es mit dem Zahlen ist. Sie sagt, das könne ich immer noch.
Im Lehrschwimmbecken Vorschulkinder, die mit Schwimmreifen und Schwimmflügeln unter Anleitung eines Lehrers die erste Versuche machen, sich im Wasser fortzubewegen. Unglaublich, wie viel Krach ein knappes Dutzend Kinder machen kann, und zwar durchgehend, bis sie das Schwimmbad verlassen. Am Beckenrand der Bademeister, Eltern, eine Lehrerin.
In dem anderen Schwimmbecken bin ich alleine. Das Wasser ist warm wie bei uns in der Badewanne. Das Schwimmbad muss aus den Fünfziger Jahren stammen und hat schon bessere Tage gesehen. Die Ausstattung ist minimal. Es gibt keine Sprungbretter und schon gar keine Rutschbahn oder Jaccuzi oder ähnlichen “Schnickschnack”, der bei uns inzwischen fast zum Standard gehört. Es gibt auch keine Schließfächer und keinen Fön. Aber, was man zum Schwimmen braucht, ist da. Erstaunlich, dass sich eine kleine Stadt in der Provinz wie Penela ein Schwimmbad leistet.
Pamela von der Taverne in Viavai erzählt von ihrer Reise nach São Tomé. Besteht aus zwei Inseln und ist inzwischen wohl ein eigenständiger Staat. Ob man dort Portugiesisch spricht, will ich wissen. Ja, aber “anders”. Sie sind auch durch die Gegend gefahren, Sie sind auch dort unterwegs gewesen, zumindest auf der Hauptinsel, aber es gibt nur eine Straße, die einmal um die Insel führt. Es sei alles sehr authentisch und sehr grün, aber auch teuer. Es gibt keine Mittelklassehotels, wie so oft in Afrika. Es gibt keine Nachfrage, und die Besucher können nur in den internationalen Großhotels wohnen und auch essen. Und da kostet eine Flasche Wasser sechs Euro und eine Flasche Wein achtzehn Euro.
15. März (Freitag)
Im Unterricht erfahre ich zum ersten Mal etwas über regionale Variation: Das Wort pãezinhos, das oft in Lehrbüchern vorkommt, wird in dieser Region kaum gebraucht, und auch carcaças, das ich schon auf Schildern gesehen habe, ist nicht so gewöhnlich wie papos secos.
Es klärt sich auch eine Sache, die mich schon mehr als einmal bei der Lektüre verwirrt hat. Es geht um simples. Das ist Singular (und gleichzeitig Plural). Ganz merkwürdig. Wie sich so was wohl entwickelt?
In der Post sehe ich zufällig CDs mit portugiesischer Musik. Nehme gleich eine mit. Verschiedene Interpreten. Aber die CD ist kein Hit. Alles ziemlich langweilige Popmusik. Reicht, wenn man sie einmal hört.
Im Autoradio bekomme ich die Auslosung für das Viertelfinale mit. Man freut sich heimlich, dass Real Madrid, Atlético Madrid und Bayern München draußen sind, aber der FC Porto weiter ist. Man spekuliert, welcher Gegner der günstigste ist. Man bekommt den FC Liverpool.
Die größten Städte Portugals sind Lissabon und Porto. Coimbra ist aber keineswegs die Nummer 3, sondern die Nummer 7, kurz vor Setúbal, kurz hinter Braga. Die Nummer 3 ist erstaunlicherweise Vila Nova de Gaia, ein Name, der mir gar nichts sagt. Sie liegt am Douro, gegenüber von Porto, und ist das Zentrum der Portweinproduktion. Sie wird meist einfach Gaia genannt.
16. März (Samstag)
Der nächste Besuch aus der Heimat trifft ein: Dede. Wieder nach einer unproblematischen Reise und auf die Minute pünktlich.
Sie zeigt sich sehr angetan von dem Blick vom Zug aus auf Porto und den Douro mit seinen vielen Brücken. Die Natur, meint sie, sei hier doch deutlich weiter als in Deutschland.
Der halbe Koffer ist mit Mitbringseln gefüllt, darunter To Kill a Mockingbird, nebst Nachwort aus der deutschen Version und Erklärung des deutschen Übersetzers zur neu erstellten Übersetzung. Wir fragen uns, warum es im Titel im Deutschen Nachtigall heißt. Ob der Roman das hergibt? Allerdings klingt Spottdrossel wirklich merkwürdig, aber wohl auch nicht mehr als mockingbird. Im dem Nachwort erfahre ich, dass Harper Lee eine Frau ist!
17. März (Sonntag)
Bei dem Gang um das Haus herum und durch den Garten zeigt Dede mir Lilien, Hortensien, Rosmarin, Borretsch, Agapanthus und Rosen, die am Haus hochwachsen.
An einem Tag ohne jeden Sonnenschein fahren wir nach Coimbra. Vor der Facultad de Letras versuchen wir, die Statuen zu identifizieren: Der mit Papyrusrolle und einem weiteren Attribut könnte Homer sein, der am Rednerpult mit bewegten Händen könnte Demosthenes sein, die weibliche Figur mit Lyra vielleicht Sappho? Für die vierte fällt uns kein Kandidat ein. Dem Homer haben die Studenten eine Weinflasche in eine Hand gedrückt und einen Damenschuh in die andere.
Die Königsstatue, die auf dem Innenhof steht, ist nicht die von Diniz, sondern die von João III., demjenigen, der der Universität einen Teil seines Königspalasts überließ und sie damit endgültig nach Coimbra brachte, nachdem sie lange der Zankapfel zwischen Lissabon und Coimbra gewesen war.
Ganz neu entdecke ich die Torre de Anto, benannt nach dem Dichter António Nobre, der hier während seiner Studienzeit vier Jahre lang wohnte. Unter anderem schrieb er Só, und ist damit der Begründer des Sósismo, einer Bewegung, die sich der Suche nach dem Ich verschrieb, mit der typisch portugiesischen Melancholie, die noch lacht, wenn das Auge schon weint.
Mit ganz neuen Augen sehe ich den Jardim de Manga. Der war, auch wenn er gar nicht so aussieht, Teil eines Kreuzgangs, der zu Santa Cruz gehörte. Heute ist nur noch ein von Wassergräben umflossener Kuppelbau erhalten, von Rundkapellen umrandet. In die konnten sich die Mönche zurückziehen und sich der Meditation widmen, indem sie die Zugbrücken, die zu den Kapellen führen, hinter sich hoch zogen. Die gesamte Komposition sieht eher nach einem barocken Lustgarten aus, in dem sich Liebespaare in die Rundtürme zurückzogen, nicht unbedingt zur Meditation. Die Idee zur Gestaltung des Kreuzgangs geht auf João III. zurück, der den Plan flugs auf die Rüsche seines Ärmels skizzierte. Daher der Name.
Die Statue des Mannes, der auf einem erhöhten Sockel am Largo de Portagem steht, hält eine Feder in der Hand, und da wir in Coimbra sind, halten wir ihn für einen Akademiker, einen Universitätsprofessor. Ist er aber nicht. Der Mann, Joaquim António de Aguiar, war Politiker und bekannt als Mata-Frades, ‘Mönchstöter’. Die Statue hält den Moment fest, wo er zur Feder greift und das Dekret unterschreibt, mit dem alle religiösen Orden in Portugal aufgelöst wurden.
Wegen Dedes Rückfahrt am Samstag fragen wir, wo wir schon mal in Coimbra sind, am Bahnhof nach. Der Mann am Schalter informiert uns über Züge nach Porto am Samstag, will uns aber keine Fahrkarte verkaufen. Die gebe es im Zug. Er spricht deutlich, auch Dede versteht ihn. Als er uns sprechen hört, fragt er, ob wir Deutsche seien. Er hat eine Schwester (oder ist es ein Bruder?) in Gronau. Ich erwähne Münster, und das kennt er auch. Und Cuxhaven. Und dann abschließend kommt noch München und die unvermeidliche Geste: Bier trinken!
In der Oberstadt sieht Dede, dass ein Kastanienbaum, ganz oben im Gipfel, nicht nur sprießt, sondern auch zu blühen anfängt. Sie glaubt, in zwei Wochen werde hier alles in Blüte stehen. Tatsächlich sieht man die Natur förmlich wachsen. Der Grasstreifen vor dem Haus wird täglich dichter.
Wir sehen uns die Kacheln in Santa Cruz an. Die Szenen sind einem Reiseführer zufolge biblisch, einem anderen Reiseführer zufolge aus der portugiesischen Geschichte. Ist wirklich nicht so leicht zu entscheiden. Die Kacheln, heißt es, seien von so schlechter Qualität, dass die Firma, die sie verantwortete, sich weigerte, sie mit ihrem Namen zu versehen. Die Kacheln wurden aus zwei Gründen angebracht: um die Akustik zu verbessern und um beschädigte Wandmalereien zu verdecken.
Die schöne Orgel verfügt über 4.000 Pfeifen, und ihr Mechanismus ist so schwer, dass sie nur von vier Organisten bespielt werden kann.
Am Abend geht es über eine einsame Landstraße nach Cumieira, zum Terreiro do Lagar, einer alten Ölpresse, in der jetzt ein rustikales und gleichzeitig nicht unelegantes Lokal untergebracht ist. Die Speisekarte ist auf Englisch, und auch die Gerichte scheinen ein bisschen auf englische Bedürfnisse abgestellt zu sein. Jedenfalls gibt es keine grelos, zur Enttäuschung von Dede, die sie gerne probieren wollte. Es gibt zweierlei Art von black meat, das eine viel dunkler als das andere. Auf Nachfrage heißt es, der einzige Unterschied sei, dass das dunkle fettarmer sei. Dazu gibt es Pommes frites und Reis mit Bohnen, leicht flüssig, sehr schmackhaft. Als Vorspeise gibt es Fischsuppe und kross gebratene Wurst, chorizo und morcela. Der regionale Wein auf der Karte ist ausgegangen, aber es gibt einen gut Wein aus dem Dão, einem der drei bekannten portugiesischen Weinbaugebiete, neben dem Douro und dem Alentejo.
18. März (Montag)
Über die CM 1195 geht es nach Alcobaça. Der Routenplaner instruiert uns: “Auf Centimeter 1195 abbiegen.”
Auf der Landstraße sehen wir, wie schon gestern, kleine Autos mit Rasenmähermotor. Sie fahren nur 50 km/h und haben gelbe Nummernschilder.
Kurz vor Alcobaça geht es an einem Fluss entlang. Die Natur ist hier geradezu explodiert. So grün habe ich es bisher während der ganzen Reise noch nirgendwo gesehen.
Die Stadt macht gleich einen guten Eindruck: lebendig, gepflegt, viel größer als wir dachten. Wir kommen an einen schönen, modernen Platz mit Wasserfontänen, wo Fitnessgeräte aufgestellt sind. Wir versuchen uns an jedem.
Dann kommen wir auf einen weiteren, intimeren Platz mit der Statue einer Marktfrau im Zentrum. Sie trägt eine Haube, ist barfuß und hält Früchte in der Hand, die sie zum Verkauf anbietet. Ursprünglich war hier der Markt, und noch früher breitete sich bis hierhin der riesige Klosterbezirk aus. Es war genau die Stelle, an der die Mönche ihre Waren nach draußen verkauften.
Gleich daneben ist die heutige Markthalle. Die Stände werden teils von Kaufleuten, teils von Bauern aus der Umgebung betrieben. Wir kaufen Brot bei einem Mann, der stolz verkündet, er habe es selbst gebacken. In einer weiteren Halle gibt es auch Federvieh in Käfigen: Hühner, Küken, Wachteln in allen möglichen Variationen.
Dann passieren wir Wir passieren einen Fluss, den Alcoa. Der ist einer der Gründe, warum den Zisterziensern diese Gegend zur Kultivierung übergeben wurde. Hier wurden Mühlen und Ölpressen und Kraftwerke angelegt. Etwas weiter vereinigt sich der Alcoa mit dem Baça – Alcobaça!
Nach Alcobaça kommt man wegen des Klosters. Auch das, wie Batalha (und auf Mafra) Resultat eines Gelübdes. Wenn es gelingen würde, die Mauren aus Santarém zu vertreiben, versprach Dom Afonso, würde er hier ein Kloster errichten. Es gelang, und er hielt sein Versprechen. Durch die Vermittlung des Papstes wurde er dann zum ersten König Portugals, als Afonso Henriques. Beim Papst hatte Bernhard von Clairvaux für ihn vorgesprochen, und so gab er den Zisterziensern das Land ringsum, um es urbar zu machen.
Einer Zisterzienser-Regel zufolge konnten in einem Kloster “einer weniger als tausend” Mönche leben (vermutlich Brüder eingeschlossen). Das war in Alcobaça der Fall, und das erklärt die riesigen Ausmaße des Klosters. Davon bekommen wir einen Vorgeschmack, als wir an einer der früheren Klostermauern entlanggehen. Die scheint unendlich und bringt uns immer weiter ab, aber nicht ins Kloster hinein. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, als irgendwann hinter einer Ecke die Seitenfront des Klosters in Sicht kommt. Das Kloster hatte u.a. fünf Kreuzgänge, sieben Dormitorien, ein Gästehaus, eine Bibliothek und mehrere Wirtschaftsräume, von der riesigen Kirche mal ganz abgesehen.
Dann stehen wir endlich auf dem großen, leeren, halbrunden Platz vor der Klosterkirche. Sie wird auf beiden Seiten von den weißen Klostergebäuden flankiert.
Mit der Fassade stimmt etwas nicht. Die hat man nachträglich hinzugefügt, in einem Sinne, der der mittelalterlichen Vorstellung der Zisterzienser widersprochen hätte. Hier reagiert der Barock. Die Fassade hat zwei mächtige Glockentürme, eine Rosette, eine Veranda mit Zierelementen, ein Portal mit Archivolten und eine Reihe von Skulpturen: Benedikt und Bernhard unten, die Klostergründer, weiter oben die Allegorien der vier Tugenden.
Das Erdbeben von Lissabon muss bis hierher gewirkt haben, und wenig später kommen noch Überschwemmungen hinzu. Ob das die Erneuerung der Fassade motiviert hat? Wir fragen uns auch, wie genau die neue Fassade im Zusammenhang mit der alten steht. Einfach davorgesetzt scheint sie nicht zu sein, und es heißt, Portal und Rosette seien original.
Innen gibt es dann das Kontrastprogramm. Man weiß nicht so recht, was man davon halten soll. Ein riesiges Langhaus, der größte Kirchenbau Portugals und die größte Zisterzienser-Kirche überhaupt, hoch und schmal. Vor allem die Seitenschiffe, die genauso hoch sind wie das Mittelschiff, sind extrem schmal. Einerseits ist die Einfachheit beeindruckend, gerade wegen der Größe, andererseits wirkt der Raum irgendwie nackt.
Das prachtvolle Gegenstück dazu sind die beiden Sarkophage, die im Querhaus stehen, direkt an der Vierung, die Sarkophage von Dom Pedro und Inês de Castro. Die Sarkophage und die damit verbundene dramatische Liebesgeschichte bringen vermutlich die meisten Besucher nach Alcobaça.
Dom Pedro, der Thronfolger, war mit einer Prinzessin aus Kastilien verheiratet. Toller als seine Ehefrau Constança fand er aber deren Kammerfrau, ebendiese Inês. Als seine Frau starb, wurde aus dem heimlichen Liebesverhältnis ein mehr oder weniger öffentliches. Dagegen opponierte aber Pedros Vater, Afonso IV., der einen allzu großen Einfluss Kastiliens fürchtete. Den hatte schon Pedros Ehefrau zu Lebzeiten ausgeübt. Inês selbst hatte sich in der Zwischenzeit vom Hof zurückgezogen und war auf Sicherheitsabstand gegangen. Das rettete sie aber nicht. Der Vater gab dem Drängen seiner Hofleute nach und ließ Inês ermorden, ohne zu wissen, dass Pedro sie inzwischen geheiratet hatte.
Zwei Jahre später, 1357, starb Afonso. Pedro folgte ihm auf den Thron. Und jetzt ging es so weiter, dass man meint, ein Theaterdichter habe die Geschichte erfunden. Pedro ließ den Leichnam Inês exhumieren – sie war in Santa Clara in Coimbra beigesetzt – in eine feierliche Robe kleiden, mit einer Perlenkette ausstatten und auf den Thron setzen. Dann zwang er die Hofleute, ihr die Hand zu küssen. Ihre Mörder ließ er hinrichten, in seiner Gegenwart, und deren Herzen zum Festmahl servieren, an dem selbst auch teilnahm. Schließlich ließ er den Leichnam seiner Frau nach Alcobaça bringen und ordnete er an, dass er nach seinem Tode ihr gegenüber bestattet werden sollte, und zwar so, dass sie sich gegenüberliegen, mit den Füßen nach vorn, so dass sie sich am Tag des Jüngsten Gerichts, wenn sie auferstehen, sich gleich in die Augen sehen können. Und so sind dann auch ihre Sarkophage hier in der Kirche aufgestellt!
Die Sarkophage sind meisterlich gearbeitet. Man kommt aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Das gilt weniger für die Figuren, zumal die von den Soldaten Napoleons teils beschädigt wurden, als für die Seitenwände. Alle vier Seiten haben ganz fein gearbeitete Szenen, teils biblisch, teils aus dem Leben der beiden, mit oft nur bleistiftgroßen Figuren, und allerlei Türmchen, Giebel und Säulchen, so klein, dass sie wie gehäkelt aussehen. Besonders gefällt mir das Rad der Fortuna zu Pedros Füßen. Es ist in mehrere Kreise geteilt und die wiederum in eine ganze Reihe von Speichen, in denen Figuren sitzen, nach unten rutschen oder kopfüber nach unten fallen, je nach Position.
Auch schön ist das Jüngste Gericht zu Füßen von Inês. Die Verdammten purzeln nach unten und fallen in das Maul eines Ungeheuers.
Inês selbst, deren Gesichtszüge verstümmelt sind, hält kokett in einer Hand einen Handschuh, die andere spielt mit den Perlen ihrer Halskette.
Nicht einig werden wir uns über die Interpretation der Figuren unter dem Sarkophag, die von dessen Gewicht geradezu erdrückt werden, halb menschliche, halb phantastische Figuren, die die Mörder Inês darstellen sollen. Dede findet, dafür sähen sie zu zahm, geradezu witzig aus.
Danach geht es in die Klostergebäude. Man gelangt darein durch die Sala dos Reis, einen quadratischen Raum mit Kacheln, in denen wohl Szenen der Erbauung des Klosters dargestellt werden. Etwas erhöht zu allen vier Seiten einfache Skulpturen der Könige Portugals, chronologisch geordnet. Es fehlen, bezeichnenderweise, die drei spanische Felipes – aus der Zeit, als Portugal zwischenzeitlich seine Unabhängigkeit wieder verlor – aber auch João III. und João IV.
Unter den Klostergebäuden ist besonders beeindruckend die Klosterküche, im 18. Jahrhundert erneuert, mit großen Marmortischen und einer riesigen “Dunstabzugshaube”. Durch die Mitte des Raums verläuft eine Rinne. Durch sie wurde ein Nebenarm des Alcoa in die Klosterküche geleitet, der den Mönchen stets frisches Wasser und frische Fische brachte, auf direktem Wege in die Küche! An der Wand, die an das Refektorium grenzt, eine schmale Tür. Es heißt, dass der, der nicht durch die Tür passte, auf Diät gesetzt wurde. Demnach müsste ich auf Diät gesetzt werden.
Der Kreuzgang ist doppelstöckig, unten gotisch, oben Renaissance, mit weit ausholenden Bögen und viel “Luft”. Unten hat man geschlossene Wandflächen, die aber über der zentralen Säule jeweils eine runde Öffnung haben. Die wiederum haben steinerne Verzierungen, und wir machen uns einen Spaß daraus, zwei identische zu finden, aber es gibt keine. Jede ist anders als jede andere, auf allen vier Seiten!
Nach der Besichtigung setzen wir uns in ein Café auf dem Platz und genehmigen uns ein Bier und ein paar Häppchen und genießen die Sonne.
Danach geht es nach Hause zurück. Auf dem Rückweg biege ich nicht rechtzeitig auf die IC 3 ab, und wir machen einen Umweg. Aber wir kommen gut an, rechtzeitig, um noch eine Flasche Wein zum Abendessen zu öffnen.
19. März (Dienstag)
Am Morgen gibt es eine Überraschung: Kekse aus der Heimat, aus gegebenem Anlass.
Im Unterricht wird der unterschiedliche Gebrauch von Ländernamen behandelt. Einige werden mit, andere ohne Artikel benutzt, und wenn der Artikel steht, muss man zwischen Maskulinum und Femininum unterscheiden: no Brasil. na Alemanha, em Portugal.
Als ich nach Hause komme, hat Dede eingekauft. Sie war schnell genug auf den Beinen, um den Bäckerwagen zu erwischen, aber der war nicht der Bäckerwagen, sondern ein Wagen mit der ungewöhnlichen Kombination Fisch und Obst. Sie kauft Obst ein und lernt dabei tangerina und maça.
Das schöne Glockenspiel von der Kirche in Viavai hat sie inzwischen als ein Ave Maria identifiziert. Nach weiterer Suche wird es dann noch genauer benannt: Es ist das Marienlied von Fatima!
Der Baum auf dem Nachbargrundstück, dessen Zweige auf unser Grundstück herüberwachsen, ist definitiv ein Lorbeerbaum.
Die beiden Früchte, die vorher so viel Rätselraten aufgegeben haben, Findet heraus, dass Wacholder zur Familie der Zypressengewächse gehört!!
Dann findet noch weitere Recherche zu den grelos statt, die auch auf dem Nachbargrundstück wachsen. Ein Lehrbuch verzeichnet sie als ‘gekochte Kohlsprossen’, das Internet spricht von ‘als Gemüse verwendeten Blättern und Stielen der Speiserübe’, ein Wörterbuch hat u.a. ‘Stielmus’, das englische Wörterbuch hat ‘turnip greens’, was wiederum im Deutschen ‘Rübstielgemüse’ heißt.
Inzwischen sind auch die Stühle auf der Terrasse zum ersten Mal zum Einsatz gekommen. Am frühen Nachmittag ist es sogar zu warm, um draußen zu sitzen.
Etwas später fahren wir zu dem Aussichtspunkt und sammeln reichlich Pinienzapfen und auch ein bisschen Brennholz. Wir fahren kurz durch Ferraria de São João, das auch als Schieferdorf ausgeschildert ist, nicht so bekannt wie Talasnal, aber dafür noch bewohnt.
Unten, da wo es zum Aussichtspunkt raufgeht, sehen wir uns diesmal eine andere Schautafel an, und die gibt Auskunft darüber, worum es sich hier wirklich handelt. Die ganze Anlage, einschließlich der Piste für Mountainbikes und der Radstation, ist ein Resultat des verheerenden Waldbrands von 2017. Die Einwohner des Dorfes beschlossen, Maßnahmen zu ergreifen, um solchen Bränden vorzubeugen. Es wurden Eukalyptusbäume entfernt und 6000 neue, einheimische Bäume angepflanzt, Eiche, Kirsche, Haselnuss, Korkeiche, Walnuss, usw. Gleichzeitig wurde ein Wanderweg angelegt, der an den neuen Pflanzungen vorbeiführt.
Am Abend dann die lange befürchtete Hiobsbotschaft: kein Gas mehr. Die Gasflasche ist leer. Sie steht in einem etwas schwer zugänglichen Verschlag hinter dem Haus. Dass es jetzt stockdunkel ist, hilft auch nicht gerade. Eine volle Ersatzflasche steht daneben. Der Anschluss will nicht gelingen, und wir überlegen uns bereits Überlebensstrategien, aber dann tragen Dedes Händchen und ihre Ausdauer den Sieg davon. Und ich lerne einen neuen Begriff: linksdrehend.
20. März (Mittwoch)
Nach Viseu geht es ab Penela über die IP 3. Die ist grün ausgeschildert, und es wird auch schlagartig landschaftlich schöner, da, wo sie beginnt. Dadurch komme ich auf die Vorstellung, dass IP für Itinerario Panoramico steht. Tut es aber nicht, es steht für Itinerario Principal. Warum gibt es dann so wenige davon? Außerdem ist die Straße enger und kurvenreicher als jede IC. Die Strecke ist aber auf jeden Fall schön. Oft haben wir auf der einen Seite einen Felsen, auf der anderen den Mondego. An einer Stelle wird der gestaut und sieht wie ein See aus. In einer Ebene kommen Störche in Sicht, einer, zwei, eine ganze Kolonie. Sie haben sich ausgerechnet auf verdorrten (vom Waldbrand zerstörten?) Bäumen niedergelassen. Ein ganz besonderes, bizarres, nachdenklich machendes Bild.
Als wir in Viseu vom Parkplatz kommen, fragen wir einen Mann nach dem Weg. Er antwortet auf Deutsch. Er hat zwölf Jahre in Hamburg gewohnt und kennt auch Trier.
Es ist noch sehr ruhig in der Innenstadt. Wir kommen über eine schmale, kopfsteingepflasterte Straße, über die auch Autos fahren können, aber um diese Zeit ist noch kaum jemand unterwegs, weder zu Fuß noch mit dem Auto. Auch in den Geschäften tut sich noch nichts.
Wir kommen an dem alten Marktplatz vorbei und an einer Skulptur, die einen lokalen Schriftsteller darstellt, an seinem Schreibtisch sitzend. Auffällig, wie er die Feder hält, zwischen Zeigefinder und Mittelfinger. Das kommt Dede ganz fremd vor, ich kenne es von Studentinnen.
Auf einem Platz hinter der Kathedrale gönnen wir uns einen Kaffee. Man kann draußen sitzen, aber es ist längst nicht so warm wie in Alcobaça. Wir erinnern uns an Lieder aus unserer Kindheit: “Als die Römer frech geworden”, “Kennt ihr die Geschichte von dem Mann im Schloss?”. Und wundern uns, mit welcher Gelassenheit wir damals als Kinder mit Geschichten umgegangen sind, die heute von fürsorglichen Eltern und fortschrittlichen Pädagogen als schädlich für die empfindsame Kinderseele gesehen würden.
Die Assoziation mit dem Lied von den Römern wird ausgelöst von Viritatus, dem portugiesischen Asterix, dem Pendant von Arminius und Vercingetorix. Er war der Anführer der Lusitaner, die, die einem römischen Historiker zufolge den stärksten Widerstand gegen die Römer leisteten. Die Lusitaner waren in dieser Gegend zuhause. Irgendwo in der Stadt steht ein Denkmal für Viriatus, aber das bekommen wir nicht zu sehen.
Im Zentrum des Platzes die Statue eines Königs, mit Zepter und Krone, aber auch mit Buch und ohne Schwert. Das ist Dom Duarte, in Viseu geboren, der “Philosophenkönig”. Er ist schon an verschiedenen Stellen während meiner Reise kurz in Erscheinung getreten, aber ich weiß noch nichts über ihn.
Wir gehen zuerst in die Kathedrale. Die liegt am höchsten Platz der Stadt. Die Zweiteilung der Stadt, Oberstadt und Unterstadt, erklärt sich aus der Geschichte. Die erste Befestigung wurde hier oben angelegt, später, als es unten sicherer wurde, siedelten die Bürger sich dort an, während hier oben der Bischof übernahm.
Man betritt die Kathedrale, ungewöhnlicherweise, durch den Kreuzgang, und da wartet dann gleich die nächste Überraschung. An einer Seite des Kreuzgangs das ursprüngliche gotische Eingangsportal, kleiner, aber feiner als das heutige.
In den Innenraum der Kathedrale kommt Licht nur durch Bullaugenfenster und schmale romanische Fenster. Dadurch ist der Raum nicht so hell wie Batalha oder Alcobaça.
In einer Vitrine an der Seite die silberne Armreliquie von São Teotónio. Er ist der Patron der Kathedrale und der erste Heilige Portugals. Irgendwo bin ich ihm schon mal begegnet, entweder in Porto oder in Lissabon.
In einer Seitenkammer steht ein Tragaltar mit einer hölzernen, gewandeten Christusfigur unter dem Kreuz, genau so, wie man sie von den Prozessionen der Karwoche in Spanien kennt. Ob es hier auch so was gibt?
Die Besonderheit von Viseu ist das Knotengewölbe. Steinerne Taubänder laufen aufeinander zu und verknoten sich in der Mitte. Das ist originell und schön. Besonders von oben, von der Empore, kann man sie gut sehen.
Dahin führt eine Treppe, und da oben auch das Sakralmuseum untergebracht ist, muss man hier einen bescheidenen Eintritt bezahlen. Wir sind die einzigen Besucher.
Der Eintritt lohnt sich aber doppelt. Von hier oben hat man einen schönen Blick in den Kreuzgang hinunter und, vor allem, von einer Art Veranda aus, auf die Plätze, den Domplatz mit dem (ehemaligen) Bischofspalast und der der Kathedrale gegenüberliegendem, weißen Misericordia-Kirche und dem Platz, auf dem wir vorher gesessen haben.
In dem Museum sehen wir uns vor allem die Kacheln an, die, einem Reiseführer zufolge, das einzig Störende, einem anderen Reiseführer zufolge das einzig Sehenswerte sind. Es werden Szenen dargestellt, die ganz und gar weltlich wirken, wie die von zwei nackten Männern, die mit Schwertern aufeinander losgehen. Dede sieht darin eine Anspielung auf den Kampf zwischen Kain und Abel, aber biblisch wirkt das nicht. Daneben eine Überfallszene. Ein Mann sticht auf eine Frau mit entblößter Brust ein, ein anderer will ihn zurückhalten. Auch da könnte man wahrscheinlich ein biblisches Motiv entdecken, aber uns fällt keins ein. Noch weniger für eine Flirtszene an einem Brunnen. Ein Mann, Blume in der Hand, gewandet wie ein Hofmann des französischen Königshofs, scheint der Frau Nettigkeiten ins Ohr zu flüstern.
Genau sehen wir uns auch eine Krippe an. Sie erinnert mich an die von Neapel. Sie stellt nicht nur die Geburtsszene da, sondern alles mögliche, was sich darum herum abspielt, auch zeitgenössische Dinge, die mit der Epoche der Bibel nichts zu tun haben. Sie wurde gefertigt von Machado de Castro, der, nach dem das Museum in Coimbra benannt ist.
Es wimmelt nur so von Figuren und Szenen, gebückte Männer, die Lasten schleppen, ein Packesel, ein Mann, der aus einem Turm schaut, alle möglichen Musikanten, ein Zechgelage, eine Frau, die sitzend einen Stoff bearbeitet. Die Könige kommen mit einem ganzen Tross angereist, bei den Tieren ist es schwer zu entscheiden, ob es sich um Pferde oder Kamele handelt. Unter den vielen Menschen vor der Krippe auch ein Mönch mit Kutte. Auf dem Dach der Krippe ein Hahn, ein Verweis auf den Verrat von Petrus und damit auf die Leidensgeschichte, wie Dede erkennt. Im Hintergrund wird auch der Kindermord in Bethlehem dargestellt, und irgendwo soll auch die Flucht nach Ägypten dargestellt sein, aber die ist nicht so leicht zu identifizieren. Der Himmel hängt voller Engel.
Nach der Kathedrale gehen wir durch die engen Straßen der Innenstadt. Dabei gelangen wir immer wieder auf die Rua Direita. An verschiedenen Stellen sieht man Patrizierhäuser mit aufwändig gestalteten Fassaden. Ein Haus hat sogar eine eigene Kapelle. Viseu muss eine reiche Stadt gewesen sein. Es lag an dem Schnittpunkt zweier Handelsstraßen und hat im Umland Anbau von Kartoffeln und Getreide und ist außerdem das Zentrum der Weinbauregion des Dão. Von all dem bekommen wir aber so gut wie nichts zu sehen. Auch den Pavia, ein Nebenfluss des Mondego, bekommen wir nicht zu sehen. Er scheint außen um die Altstadt herum zu fließen.
Wir gehen in ein Café, das in einem der historischen Häuser untergebracht ist. Hier gibt es eine sehr lahme Bedienung, aber der Kaffee, der beste bisher, und die dickflüssige Schokolade, entschädigen dafür.
An der Wand befindet sich ein Verweis auf die Kaffeekantate von Bach. In der versucht ein Bürger, ein gewisser Herr Schlendrian, seine Tochter von der Unsitte des täglichen Kaffeegenusses abzubringen. Er stellt sie vor die Wahl: Ehemann oder Kaffee. Erst dann lenkt sie ein. Allerdings unter der Bedingung, dass ihr zukünftiger Ehemann ihr das Kaffeetrinken erlaubt. Denn der Kaffee sei süßer als Küsse und süßer als Wein.
Nach der Pause gehen wir in das bedeutendste Museum von Viseu, das Grão Vasco, benannt nach dem berühmtesten Maler der Stadt, Teil einer Malerschule aus der frühen Neuzeit. Das ist im alten Bischofspalast untergebracht, gleich neben der Kathedrale.
Die meisten Gemälde sind vom Großen Vasco selbst oder von seinem Konkurrenten und Freund, Gaspar Vas oder sind aus der Zusammenarbeit beider entstanden. Fast alle Motive der ausgestellten Gemälde sind religiös. Immer wieder kommen Kreuzigung und Märtyrer vor, Lazarus, Himmelfahrt, Kana oder die Emmaus-Szene sind wenig oder gar nicht vertreten. Tod und Gewalt scheinen geeignete Motive fürs Malen zu sein.
Den bleibendsten Eindruck macht ein großformatiges Porträt des Petrus, in der Form eines Renaissance-Papstes, mit langem, kostbarem Gewand und Tiara. Sein Blick, streng, durchdringend, nimmt einen gefangen. Es ist, als wenn er da säße.
Natürlich gab es die Tiara zur Zeit des Petrus noch nicht, wohl aber zur Zeit des Grão Vasco. Sie ist seit dem 10. Jahrhundert belegt und hat seit dem 14. Jahrhundert drei Reifen. Die Deutung der drei Reifen ist umstritten: Der Papst als Vater der Könige, Herrscher der Welt, Stellvertreter Christi, die kämpfende, leidende, triumphierende Kirche, das Lehr-, Richter- und Weiheamt des Papstes.
Bei den vielen Märtyrerdarstellungen versuchen wir uns an der Identifizierung, meist ohne Erfolg, außer bei Sebastian.
In einer Geburtsszene sehen wir, dass Maria einen Strahlenkranz um den Kopf hat und das Christuskind einen Strahlenkranz um den ganzen Körper, aber dass der arme Josef leer ausgegangen ist.
Und dann kommen wir zu der Szene, deretwegen ich schon allein nach Viseu gefahren wäre. Sie ist auf einem vierzehnteiligen Altarbild zu sehen. Es ist die Szene der Anbetung der Könige. Das Altarbild entstand um 1500, kurz nach der Entdeckung Brasiliens. In der christlichen Ikonographie war es Konvention geworden, drei Könige darzustellen, die wiederum drei Lebensalter und die drei (damals bekannten) Kontinente darstellten. Hier tritt ein vierter König hinzu: ein brasilianischer Häuptling mit Federschmuck!
Auf dem Weg aus die Stadt hinaus sehen wir schließlich noch den Fries einen heimischen Malers (leider unter Plexiglasschutz), der an einer Häuserwand die sechs von ihm am meisten verehrten Maler porträtiert hat, darunter Frans Hals, Velázquez und Raffael. In der Mitte halten zwei Engel eine Palette und einen Pinsel.
Auf dem Rückweg werden wir über einen anderen Weg geleitet, über eine enge, sich langsam am Mondego entlang schlägelnde kurvenreiche Straße, die in der Nähe von Penela, hinter einem Tor, ganz unvermittelt in einem großen Kreisverkehr mündet.
Die Fahrt dahin ist mühsam, aber sehr schön. Es blüht und grünt, und es ergeben sich immer neue Perspektiven. Umso dramatischer der plötzliche Wechsel, als auf der anderen Flussseite ein dicht bewachsener Hang mit lauter verdorrten Bäumen in Sicht kommt, Resultat der Waldbrände von 2017. Es wirkt unwirklich.
Am Abend geht es in das D. Sesnando nach Penela. Und endlich gibt es grelos. Dede mag sie, trotz ihres etwas bitteren Geschmacks. Sie erinnern sie in ihrer Konsistenz etwas an Spargel. Leider gibt es während der Woche die Besonderheiten des Lokals nicht, und wir müssen uns mit gängigeren Gerichten begnügen. Sind aber auch nicht schlecht. Dazu gibt es, auf Empfehlung des Hauses, einen sehr guten Wein aus der Gegend, aus Podentes: Lapa dos Reis. Bei der Erklärung des Namens bin ich mir so gut wie sicher, dass ich den Kellner verstanden habe, aber seine Erklärung ist nicht sehr sinnvoll und wird auch nicht vom Wörterbuch bestätigt. Es heißt ‘Höhle der Könige’, ‘Felsen der Könige’, nicht ‘Kieselstein der Könige’.
21. März (Donnerstag)
Ungebetene Besucher in der Küche. Sie haben sich über Nacht über den Käse hergemacht. Am Tag danach ist es die Butter, die an der Reihe ist. Die Hausmittel zur Abwehr scheinen dann aber langsam zu greifen.
Wir fahren nach Espinhal und gehen zu der Kirche mit Kreuzweg rauf. Unterwegs zeigt Dede mir Salbei und einen Rosmarin mit einer eines Baumes würdigen Wurzel. Daneben ein Baum in voller Blüte, violett, vor dem Hintergrund des blauen Himmels und der weißen Kirche. Oben eine Reihe von Bäumen der gleichen Bauart, die obwohl am gleichen Standort, unterschiedlich weit sind. Einige sind schon ganz grün, bei anderen beginnen die ersten Zweige gerade zu sprießen.
Unten sehen wir eine Bäckerei und kaufen dort Brot ein. Es stellt sich heraus, dass von hier aus auch der Bäckerwagen losgeschickt wird, der täglich durch Estrada de Viavai fährt und so schwer zu erwischen ist. Die Schwester des Bäckers fährt ihn.
Wir gehen kurz in die daneben liegende Kirche, dreischiffig, zu groß für diesen Ort. Allerhand Kitsch. Die Fenster der Kapelle mit dem Seitenaltar sind mit Gardinen verhangen!
An einer Kreuzung steht eine Art Wohnwagen mit Aufschrift: Beleza por Rodas. Er hat tatsächlich einen Stromanschluss durch ein Kabel, das unten aus dem Wagen herausguckt. Es ist ein ambulanter Friseur!
Wir wollen von hier aus nach São João do Deserto, einem Schieferdorf, auch eine Empfehlung von Filomena. Die Fahrt dauert und dauert, es geht unentwegt weiter bergauf. Hier oben stehen die gelben Bäume noch in Blüte, und wir pflücken einen Strauß.
Dann, an einer Kreuzung, soll es über einen Feldweg weiter gehen, aber da verzichten wir. Trotzdem hat sich die Fahrt hier rauf gelohnt. Ein ganz merkwürdiges Landschaftsbild mit Blick in ein Tal zu verschiedenen Seiten. Dede schaltet zuerst: Die terrassenförmigen Anlagen zur einen Seite, wie Weinbau an der Mosel aussehend, haben nichts mit Wein zu tun. Das ist die Aufforstung mit einheimischen Bäumen nach dem Waldbrand von 2017. Und zur anderen Seite sieht man dessen Wirken. Eine geisterhafte Landschaft. Die Bäume stehen alle noch, sind aber nackt. Die Eukalyptusbäume bestehen nur noch aus Stämmen, die Nadelbäume, mit schwarz-weißen Stämmen, haben keine Blätter mehr, aber die Zapfen hängen immer noch in den nackten Ästen.
22. März (Freitag)
An dem Weg nach Miranda lesen wir am Straßenrand, kurz hinter Espinhal, einen Bauern auf. Er will tatsächlich nach Miranda.Viel mehr ist nicht herauszufinden. Er spricht laut, abgehakt und manchmal wie zu sich selbst, so als wolle er sagen: “Das hat ja gut geklappt heute Morgen.” Am Ortseingang steigt er aus und bedankt sich enthusiastisch. Und lautstark.
Während meines Unterrichts in Miranda steigt Dede zur Kirche rauf und findet heraus, dass der merkwürdige Kirchturm, neben der Kirche stehend, ursprünglich Teil des Kastells war. Sie zeigt sich sehr angetan von Miranda. Die kleinen Gassen, die zur Kirche hinaufführen, seien schön und gepflegt. Und der Ort sei lebendig.
Filomena weist meine Frage, was das denn für ein Bach sei, der da durch Miranda fließt, entrüstet zurück. Das sei kein Bach, sondern ein Fluss, und außerdem sei es nicht einer, sondern zwei: der Dueça (auf dessen Namen ich schon mal gestoßen bin) und der Alheda. Genauso entrüstet ist sie darüber, dass ich Góis, unser heutiges Ziel, als Dorf bezeichne. Es sei eine Stadt, eine vila. Góis ist tatsächlich so etwas wie eine Kreisstadt und hat über 2.000 Einwohner.
Die Fahrt geht über Lousã und dann noch weiter über eine sehr gut ausgebaute Landstraße, die dann völlig übergangslos in eine viel engere, dörfliche Straße übergeht, mit engen Kurven, durch sehr schöne Landschaft und unzählige kleine Dörfer. Es geht am Anfang ständig bergauf, dann ständig bergab.
Über eine Brücke über den Ceira (wieder ein Fluss, über den ich schon mehrmals gekommen bin) gelangt man in den Ort. Hier, an der Brücke, ist ein weiterer Flussstrand angelegt, sehr schön, mit Strömung. Dede hat inzwischen herausgefunden, dass die Öffnungsdaten der Flussstrände jedes Jahr, je nach Wasserstand, neu festgelegt werden. Auch wenn es nicht so aussieht: Es ist nicht ungefährlich, und es gibt überall Aufsicht durch Rettungsschwimmer.
Góis ist ein schöner Ort, und die Fahrt hierher hat sich gelohnt. Alles weiß, Wohnhäuser, Kirchen und auch die kleinen Stadtpaläste.
Auf dem Kirchplatz setze ich mich in die Sonne, während Dede Informationen besorgt. Der Platz hier ist vor gut zehn Jahren erneuert worden. Dass er als Parkplatz herhalten muss, kann man verstehen. Wir haben außerhalb des Ortes, an dem schmalen Streifen zwischen Felswand und Fluss, selbst nur knapp einen Parkplatz gefunden.
Zu dem Platz hinauf sind wir über mehrere Straßen gekommen, die neu gepflastert werden. Dede hat erfahren, dass das durch die Erneuerung der unterirdischen Leitungen erforderlich geworden ist. Es scheint sich um ein größeres Projekt zu handeln.
Auf dem Platz selbst stehen zwei Brunnen, einer, ein älterer, mit Kacheln verkleideter, unter einem Pyramidendach, das ihn schützen soll, ein anderen, neuerer, zu dem ein paar Stufen hinabführen. Hierher kommen Brautpaare und reichen sich über Kreuz jeweils ihre andere, mit dem Wasser des Brunnens befeuchtete Hand. Das garantiere ewige Treue, wird gesagt.
Wir sollten uns auf jeden Fall die beiden Kirchen ansehen, hat der Mann in der Touristeninformation gesagt. Wegen des Kontrasts. Die eine, die des Volks, sei sehr arm, die andere, die der Pfarre, sei sehr reich. Leider können wir nur die eine, die arme ansehen. Sie ist einschiffig und hat wirklich nichts Besonderes aufzuweisen, aber sie steht sehr schön, etwas versetzt, an einer höher gelegenen Seite des Platzes und hat eine schöne Mittelachse, mit Portal, Rosette, Uhr und einer kleinen, spitz zulaufenden Bekrönung, wie ein größerer Wimperg aussehend.
Die andere Kirche, die reiche, an einem Ende des Ortes gelegen, ist geschlossen. Dafür sehen wir uns den daneben gelegenen Friedhof an. Er ist, wie der von Penela, terrassenförmig angelegt, mit einer Mischung aus Einzelgräbern und Mausoleen. Nur am Rande ein paar wenige Urnengräber. Dede fragt sich (und mich), was es denn mit den Mausoleen auf sich habe. Man sieht tatsächlich Särge drinstehen. Liegen die Toten darin? Das kann doch kaum sein. Gibt es vielleicht noch einen inneren Sarg aus Metall? Ich weiß keine Antwort.
Auf den Grabsteinen so etwa ein Dutzend Namen, darunter Duarte, Pereira, Sousa und Almeida, die man auf fast jedem Grabstein findet.
Hinten auf dem Platz neben der Kirche ist ein öffentliches WC. Die asymmetrische Beschilderung – Homens, aber Senhoras – führt uns auf Umwegen zu einer systematischen Korrespondenz zwischen Spanisch und Portugiesisch: hombre > home, nombre > nome, hambre > fame.
Ich treibe zur Eile, wegen des geplanten Mittagessens in Lousã, unnötig, wie sich herausstellt. Bei dem Verlassen von Góis haben wir einen ganz neuen Blick auf den Ortseingang: hinter der Brücke ein Felsen, auf halber Höhe eine Kirche, und ganz oben eine Einsiedelei.
In Lousã geht es auf direktem Wege zur Burg. Oder besser gesagt. zum Burgo. Wir haben nicht reserviert und haben Glück gehabt, überhaupt einen Platz zu bekommen, müssen aber zwanzig Minuten warten. In der Zeit kraxeln wir ein bisschen um die Burg herum, die, wie wir im Reiseführer gelesen haben, die Besonderheit aufweist, dass sie ganz aus Schiefer gemacht ist.
Auch hier gibt es einen Flussstrand, und ein paar Unerschrockene in einer Gruppe von Jugendlichen, die hier herumziehen, steigen unter Gegröhle und Anfeuerungsrufen, mit den Füßen ins Wasser.
Wir gehen auch noch in eine der kleinen Kapellen, die hier auf verschiedenen Niveaus in den Fels gebaut worden sind, insgesamt vier, vermutlich alle irgendeiner Madonna geweiht.
Dann dürfen wir ins Lokal, obwohl unmittelbar vor uns noch eine große spanische Reisegruppe, lauter Männer, eingetreten ist.
Es gibt regionale Küche, und die stellt sich mal wieder als sehr fleischlastig heraus. Und reichhaltig. Wir bestellen Cozido do Talasnal na Broa. Der Wirt empfiehlt uns, nur eine Portion zu bestellen. Und das erweist sich als guter Tipp. Wir bekommen sie auch zu zweit nicht auf.
Das Gericht wird in einem traditionellen Brot serviert und sieht aus wie ein Riesenpilz. Wenn man den Kopf abnimmt, kommt gedünstetes Kraut zum Vorschein, und darunter alle Fleisch- und Wurststücke in großer Auswahl. Der Speisekarte zufolge ist das Fleisch ausschließlich Schweinefleisch, aber Dede bestreitet das. Das Fleisch ist zart und schmackhaft, die reine Köstlichkeit. Das Geheimnis der Küche ist, dass bei allen Gerichten nur wenig frische Zubereitung erforderlich ist. Sonst könnten so viele Gäste wie die spanische Reisegruppe nicht versorgt werden. Bei den Vorspeisen und Nachspeisen kommt das Modul-Prinzip zum Einsatz. Jede einzelne Speise wird in einer kleinen, runden Tonschale serviert, und so kann man alles mögliche miteinander kombinieren.
Eins der Ergebnisse des Restaurantbesuchs ist, dass es am letzten Tag kein Abendessen mehr gibt.
23. März (Samstag)
In aller Herrgottsfrühe zum Bahnhof nach Coimbra. Dede nimmt den ersten Zug, der überhaupt an diesem Tag aus Coimbra abgeht. Am Bahnhof kündet ein einzelner früher Vogel mit lautem, unbekanntem Gesang den Tag an.
Auf dem Rückweg, als es noch dunkel ist, schönes Landschaftsbild mit bläulichem Licht, das hinter den dunklen Bergen erscheint. Die Bäume auf der Bergkuppe sehen wie Scherenschnitte aus.
Dann ein großer Schrecken beim Eintreffen in Estrada de Viavai, von der Rückseite her. Es brennt lichterloh. Aber nicht bei mir. Es ist ein Bauer, der in der frühen Morgenstunde die abgeschnittenen Äste seiner Bäume verbrennt.
24. März (Sonntag)
Stürmischer Wind, und längst nicht mehr so warm wie in den letzten Tagen. Im Gästebuch ein Eintrag, demzufolge noch im Juni an 10 von 13 Tagen geheizt werden musste.
Gegen Mittag klopft es an der Tür. Eine Gruppe von Mädchen verkauft Lose für das Dorffest von Viavai Anfang Mai. Die Patronin ist Nossa Senhora do Pranto, und so heißt auch das Fest. Als Preise gibt es Zicklein, Spanferkel, Schinken und eine Flasche Whisky (in dieser Reihenfolge). Der Hauptpreis ist eine Übernachtung im Hotel Ansiturismo. Ich kaufe ein paar Lose, und sie ziehen zufrieden ab. Sie haben auch einen Flugzettel mit dem Hinweis auf ein Konzert in Viavai am nächsten Samstag, aber da bin ich schon unterwegs.
In Harper Lees To Kill a Mockingbird tritt eine Nachbarin auf, die in ihrem Garten alles wachsen lässt, auch Unkraut, mit einer Ausnahme: nut grass. Dem rückt sie sogar mit Gift zu Leibe. Einfach ausreißen reiche nicht, erklärt sie den Kindern. Das Zeug verbreite sich wie wild. Im Internet finde ich Daten, die das bestätigen: Das Unkraut, Zyperngras auf Deutsch, beeinträchtigt Felder und Plantagen von mindestens 52 Nutzungsarten, es ist das Wildkraut, das sich in mehr Ländern als jedes andere, mindestens 92, ausgebreitet hat, und es nimmt in einer einschlägigen Veröffentlichung unter den “schlimmsten Unkräutern der Welt” Platz 1 ein.
25. März (Montag)
Mariä Empfängnis. Großer Feiertag in Griechenland. Noch neun Monate bis Weihnachten.
Das gute Wetter, mit reichlich Sonnenschein, hält an, entgegen der Vorhersage. Penela gibt sich so freundlich wie nie, lebendiger als sonst. Ich bekomme Auskunft, wo ich einen Friseur finden kann. Nur ein paar Schritte von Zentrum entfernt. Man kommt sofort an die Reihe. Die Friseuse macht die Sache gut und gründlich. Und kassiert dafür 5 €!
Am Nachmittag Motorgeräusch vor der Tür. Ich frage, ob der Wagen stört. Nein. Der Mann ist gekommen, um in dem kleinen gegenüberliegenden Weinfeld zu arbeiten. Arbeiten? Im Moment nur gießen. Es sei in der letzten Zeit sehr trocken gewesen. Stimmt. Nur die kleinen Weinstöcke werden gegossen, die großen brauchen noch kein Wasser. Er macht den Wein selbst, aber nur für den Eigengebrauch, etwa 600-700 Liter. Eine ganze Menge, finde ich. Findet er nicht. Aber selbst trinkt er gar nicht.
Nach einer halben Stunde klopft es. Es ist wieder der Mann, Mario, wie sich herausstellt. Er fragt mich, ob ich Wein wolle. Na klar. Er nimmt mich mit zu sich, nur ein paar Häuser weiter. In einem Vorraum stehen mehrere Fässer und daneben zahllose Korbflaschen. Ich nehme den Rotwein. Er füllt zwei Korbflaschen ab. Ich frage, was er beruflich macht. Er ist Konstrukteur, was immer das genau bedeuten mag, vielleicht so was wie Bauunternehmer. Er baut Häuser in Coimbra und vermietet sie. Die Landwirtschaft, Wein und Öl, macht er nur so nebenbei. Viel zu viel Arbeit. Den Wein verkauft er nicht, er verschenkt ihn. Es gibt ohnehin nicht genug Abnehmer. Der Wein, den ich bekomme, ist zwei Jahre alt. Der ältere, in dem größeren Fass, sei schon nicht mehr genießbar. Als ich ihn frage, was ich ihm schulde, will er von Bezahlung nichts wissen.
26. März (Dienstag)
Beim Laufen höre ich diesmal die richtigen Glocken der Kirche von Viavai, ein rhythmische Abfolge von zwei oder drei Tönen, aber kein Lied, wie das Marienlied von Fatima, das sonst jede halbe Stunde gespielt wird und wohl ein Glockenspiel ist oder aus der Konserve kommt.
Im Unterricht fragt eine der Engländerinnen, was Trocadia! heiße, eine Art Ausruf, den sie irgendwo aufgeschnappt hat. Die Lehrerin ist aufgeschmissen. Sie fragt nach dem Kontext. Es ist beim Abschied gefallen. Es ist Até outro dia!
Eine bestimmende Eigenart Portugals ist der Unterschied zwischen dem entwickelten Küstenstreifen und dem rückständigen Inland. An dem Küstenstreifen leben 80% der Portugiesen, obwohl er nur 30% des Landes einnimmt.
27. März (Mittwoch)
In Coimbra ist es so warm, dass ich mir das erste Eis kaufe. Dabei war das Wetter bis zum Mittag so, dass man am liebsten zuhause geblieben wäre. Dann plötzlicher Umschwung. Das Eis schmeckt hervorragend.
Portugal dos Pequenitos, ein Miniatur-Park, von Filomena empfohlen, liegt auf der anderen Seite des Mondego. Ganz in der Nähe auch das alte St. Clara-Kloster und die Quinta das Lagrimas, zwei zukünftige Ziele.
In Portugal dos Pequenitos ist nicht viel los, obwohl draußen mehrere Reisebusse stehen. Später kommen Gruppen von Grundschulkindern rein. Das geht alles sehr diszipliniert zu, sie gehen in Reihen von jeweils zwei, die sich die Hand geben, hinter der Lehrerin her, und als es einmal ein ganz klein bisschen lauter wird, hält die gleich eine Strafpredigt: Spielen und Besichtigen heiße nicht Lärm machen. Auf der Stelle wird es still.
Man kann auf dem Gelände grob gesprochen drei Teile unterscheiden: die Kolonien, das monumentale Portugal, Häuser der Regionen. Alles sehr schön, aber die Beschilderung ist ganz schlecht.
Die Kolonien haben jeweils einen eigenen Pavillon, in dem Dinge ausgestellt sind. Der größte ist der von Brasilien, und der ist auch der langweiligste. Hier läuft ein Zeichentrickfilm. Sonst gibt es nichts.
Die besten sind die von Angola und Mosambik. Da gibt es auch Kunsthandwerk zu sehen. In Mosambik fällt ein Objekt auf, bei dem Elefanten dargestellt sind, einer nach dem anderen, der Größe nach geordnet. Elefanten im Gänsemarsch so zusagen. Der größte, rechts, verschwindet gerade halb in einem Tunnel. Und das ganze ist aus einem Elefantenzahl geschnitzt! In Angola gibt es lustig aussehende Fische, aus Knochen geschnitzt. Sie scheinen zu lachen.
In São Tomé sieht man Alltagsgegenstände, darunter Fischerwerkzeuge aus Holz und Weide, und in Guinea Bissau Speere und Pfeile für die Jagd, in verblüffender Vielfalt, vor allem, was die Pfeilspitzen angeht. Daneben auch Musikinstrumente, darunter eins, das wie ein Dudelsack aussieht, aber ein Streichinstrument ist, und ein Xylophon, das wirklich aus Holz ist!
In Goa sehr schön gearbeitete, schlanke Geräte aus Messing, Kerzenständer, Figuren von Tieren.
In Timor werden Volksfeste dargestellt, aus Holz und Pappmaché. Man kommt sich wie in China vor: Drachen, Lampions, geschwungene Dächer, Männer mit flachen Hüten und Ho-Chi-Minh- Bärten. Die Beschilderungen der Läden sind aber auf Portugiesisch, und irgendwo erscheint in dieser exotischen Landschaft ein Kreuz.
Man bekommt eine Vorstellung von der Größe und vor allem der Ausdehnung des portugiesischen Kolonialreichs, auch durch eine große Schautafel. Fast alle Entdeckungen wurden um die gleiche Zeit gemacht, um 1500 herum. Man sieht auch die “Logik” der Verteilung der kolonisierten Länder als Folge der Weltumseglungen. So liegt Angola an der Westküste Afrikas, Mosambik an der Ostküste (und sind keine Nachbarn, wie ich dachte), und da nahm man dann eben auf der Weiterreise Mosambik, wo man schon gerade dabei war, auch noch mit.
Die Portugiesen waren natürlich immer die Guten. In Indien wollten sie friedlich Handel treiben, sonst nichts, und dass sie dabei dann Schlachten und Kriege gegen die Inder, gegen die Türken und gegen die Ägypter führen mussten, das lag nur daran, dass die sie nicht in Frieden ließen.
Bei Portugal sind es keine Pavillons, sondern Nachbildungen von Gebäuden, über das ganze Areal verteilt. Hier fehlen vor allem bessere Erklärungen. Man hat bestenfalls kurz etikettiert, was man da sieht.
Von Coimbra ist gleich ein ganzer Platz mit verschiedenen Gebäuden dargestellt, anders zusammengefügt, als sie in der Stadt verteilt sind. Die Nachbildungen sind groß und detailgetreu, und manchmal hat man den Eindruck, das Gebäude selbst vor sich zu haben.
Von Tomar gibt es die Mauer mit dem Manuelinischen Fenster, und Armillarsphäre, Templerkreuz und Königswappen treten an verschiedenen Stellen auf. Ansonsten wenig von dem, was ich schon kenne.
Bei den Häusern der Regionen hätte man erst recht gerne mehr Informationen bekommen. Man kann aber ein Muster erkennen: Viele haben rote, halbrunde Ziegel, die meisten sind zweistöckig, viele haben einen geschützten Raum im Freien, eine Loggia oder eine Veranda. Und sie sind alle verputzt, meist weiß. Von diesem Muster weichen nur zwei Häuser ab: ein Haus aus einem Schieferdorf und ein Haus aus dem Trás-os-Montes, beide einfacher, beide steinsichtig.
Nach einem Spaziergang durch die Innenstadt fahre ich zurück und mache in Penela Halt. Da bekomme ich, was ich in Coimbra vergeblich gesucht habe, eine Badekappe und vorzeigbare Geburtstagskarten. Nach der Badekappe hatte ich in Coimbra in drei Apotheken und sogar in einem Sportgeschäft vergeblich gefragt, in Penela in der Apotheke klappt es auf Anhieb.
28. März (Donnerstag)
Die drei wichtigsten Heiligen in Portugal sind Johannes, Peter und Antonius. Volkstanz, Feuerwerk, Sardinen und Grünkohlsuppe im ganzen Land. Ein volkstümlicher Vierzeiler fasst es so: Lá vem Santo António/Depois São João/Depois vem São Pedro/Para a reinação. Also allgemeine Freude herrscht an diesen drei Tagen.
Praktischerweise erhellen die Heiligen auch eine grammatische Regel: Er heißt Santo, wenn sein Name mit einem Vokal beginnt, São, wenn sein Name mit einem Konsonanten beginnt.
Auf den portugiesischen Münzen sind königliche Siegel abgebildet, aus unterschiedlichen Jahren, aber alle aus dem 12. Jahrhundert. Die sieben Kastelle und die fünf Wappen tauchen auch hier wieder auf, aber man kann die Details kaum erkennen, auch den Unterschied zwischen den einzelnen Siegeln nicht. Die Optik ist aber sehr ansprechend.
29. März (Freitag)
Der 29. März, der Tag, an dem die Briten definitiv die EU verlassen. Das wussten wir seit zwei Jahren, und immer wieder wurde der Termin genannt, auch von der Premierministerin. Jetzt passiert es heute nicht, sondern irgendwann in der Zukunft, wenn überhaupt. Im Radio immer wieder Bürger, die enttäuscht sind (zu Recht) und von der Diktatur der EU sprechen (zu Unrecht). Warum sagt denen niemand, dass GB weder den Euro hat noch bei Schengen mitmacht?
Auf dem Weg nach Miranda nehme ich denselben Bauern mit, den wir auch letzte Woche mitgenommen haben. Als ich das erwähne, antwortet er mit einem Redeschwall, von dem ich nichts verstehe, irgendwas von einer Frau, die ihm auf die Schulter geklopft und ihm ihre Telefonnummer gegeben, die er aber nie wiedergesehen habe. Beim Aussteigen bedankt er sich überschwänglich.
Im Unterricht lerne ich etwas über portugiesische Ostersitten. Am Ostersonntag (oder auch am Ostermontag) zieht der Pfarrer mit Begleitung durch die Dörfer. Er fragt nach dem Befinden und segnet das Haus mit Weihwasser. Den Service gibt es aber nicht umsonst. Man möge Mandeln mit Zuckerguss bereithalten und einen Umschlag mit einer Spende für die Pfarre.
Die Stellung des Personalpronomens ist verzwickt. Ich frage nach den drei theoretisch bestehenden Möglichkeiten: Me pode ajudar? Pode-me ajudar? Pode ajudar-me? Davon ist die letzte kanonisch richtig, die erste (im Spanischen normal) schlichtweg falsch, die andere brasilianisch.
Immer noch offen ist die Frage nach der Bezeichnung der Straßen. Filomena meint, CM stehe für Caminho Municipal. Und warum heißen Straßen auf der Karte N, aber nicht unterwegs?
Was die Särge in den Mausoleen angeht, vermutet Filomena auch, dass die Toten nicht in den Holzsärgen liegen, sondern in einem inneren Sarg aus Metall, aber sie hat sich darüber auch noch keine Gedanken gemacht. Sie berichtet, dass Einäscherungen immer noch selten sind, wenn auch nicht mehr ganz so ungewöhnlich wie vorher. Bis vor kurzem sei das nächste Krematorium in Figueira da Foz gewesen!
Nach dem Unterricht gehe ich bei strahlendem Sonnenschein die steilen Gassen von Miranda rauf, zur Kirche, wie von Dede empfohlen. Man sieht deutlich, dass der jetzige Kirchturm ursprünglich nicht dazugehörte. Er war Teil der alten Festung, wurde dann umgewidmet und zu einem Kirchturm hergerichtet. Jetzt hat man ihn wieder in seinen ursprünglichen Zustand versetzt. Nur die Uhr erinnert noch an das frühere Aussehen.
Interessanter sind die Ausgrabungen, die hier in den letzten Jahren stattgefunden haben. Auch davon hat Dede bereits erzählt. Man hat mittelalterliche Gräber gefunden, Gräber ganz besonderer Art. Sie sind in den Stein gehauen und „maßgeschneidert“. Schon zu Lebzeiten ließ man sich vermessen und dann von einem Steinmetz ein passendes Grab herrichten. Auffällig ist, der Beschilderung zufolge, auch die Ausrichtung der Toten, die nicht der christlichen Tradition der Ostausrichtung folgt. Warum, ist aber wohl nicht geklärt.
30. März (Samstag)
Mit dem Glockenschlag der Kirche von Viavai geht es los. Je weiter Richtung Süden ich komme, umso schlechter wird das Wetter, und unterwegs fallen sogar ein paar Tropfen. In Evora ist es dann aber wieder sonnig und warm.
Es geht Richtung Lissabon, über Tomar und Santarém und einem Ort, der Entroncamento heißt. Ich habe den Namen einmal am Bahnhof in Coimbra gelesen, ohne zu wissen, dass es ein Ortsname war. Hörte sich nach Verspätung an. Tatsächlich hat entroncamento eine Bedeutung: Es heißt ‚Knotenpunkt‘. Ob die Stadt wirklich deshalb so heißt?
Auf einer neu erworbenen CD gibt es Fado-Musik, verschiedene Interpreten. Ziemlich genau das, was man erwartet: getragene Melodien, langgezogene Silben, manchmal Vibration in der Stimme. Das ist alles ganz schön, aber auf Dauer etwas eintönig. Immer wieder kommt palavras vor und mentira und pracer und eu und tu und natürlich amor.
In der Nähe von Lissabon geht es über den breiten Tejo. Es ist so gut wie niemand unterwegs.
Im Radio läuft jetzt ein Popsong. Ich verstehe jedes Wort. Es ist Spanisch. Dann wechselt der Sänger, und es geht auf Portugiesisch weiter. Irgendwann treffen sie sich und singen den Refrain gemeinsam, zweisprachig. Der Text scheint in beiden Sprachen der gleiche zu sein. Ich schnappe auf: „¿Adónde vas? Sin ti no puedo. El tiempo pasa …”
An den Autobahnraststätten wird auch in Portugal abkassiert. Aber die Benutzung des WCs ist umsonst. Auch bei der Maut wird wieder ordentlich ins Portemonnaie gegriffen.
Hinter der Autobahn sitzen Leute am Straßenrand und verkaufen schon frischen Spargel.
Im Autoradio fällt der Name Neckermann. Es geht ums Reiten. Ein Experte spricht über die Vorteile alter Reitpferde. Dann verließen sie ihn.
Dann kommen die mächtigen Stadtmauern von Evora in Sicht. Sie sind komplett erhalten und prägen das Bild der Stadt und das Leben in der Stadt. Die meisten Einwohner leben innerhalb der Stadtmauern, und Autos fahren durch die engen Straßen an den Touristen vorbei bis zur Praça do Giraldo.
Evora hat 50.000 Einwohner und ist, das sind die wichtigsten Eckdaten, Universitätsstadt, UNESCO-Welterbe und Hochburg der Kommunisten, wie der ganze Alentejo. Es hatte seine Hochzeit um den Beginn der Neuzeit herum, als es Königsresidenz war. Mit der Schließung der Universität ging es den Bach runter.
Das Hotel ist modern und liegt direkt hinter einem der mächtigen Stadttore. Es hat eine geschwungene Fassade, passt sich aber in Höhe und Farbe den alten, weiß getünchten Häusern an. Wie sie das hier reingebaut haben, ist ein Rätsel. Ob hier abbruchreife Häuser standen?
Die freundliche junge Frau an der Rezeption lässt ich darauf ein, alles auf Portugiesisch zu erklären, einschließlich des Weges, auf dem ich das Auto in die Altstadt und in die hoteleigene Garage bekomme. Klappt.
Ich mache mich gleich auf den Weg. Unsere Straße, kopfsteingepflastert wie alles andere hier, führt direkt auf die Praça do Giraldo, einem großen, ovalen Platz mit vielen Straßencafés. Hier ist ordentlich was los, Einheimische und Touristen vermischen sich. Die meisten Touristen kommen aus Spanien. Nach Badajoz ist es gerade mal eine Stunde.
Die Stadtmauern ziehen sich in einiger Entfernung fast konzentrisch um den Platz herum. Aus welcher Zeit sie stammen, ist nicht herauszubekommen: römisch, westgotisch, maurisch, portugiesisch? Vielleicht von allem etwas. Sie wirken jedenfalls nicht ganz so alt.
Ich gehe gleich zur Kathedrale. Die ziemlich abweisenden Türme werden ein bisschen aufgehellt durch verschiedene Fenster, vor allem im Nordturm, darunter eins der typisch maurischen Doppelfenster, zwei Hufeisenbögen unter einem gemeinsamen Bogen. Der Südturm ist fast fensterlos, hat dafür ein Glockengeschoss.
Am Portal sind die Figuren der zwölf Apostel am Gewände angebracht, mit den typischen Attributen. Zwei von ihnen sind von den andern abgesetzt, darunter Petrus, der etwas verloren in die Höhe guckt. Die anderen Apostel sehen sich gegenseitig an und scheinen teils miteinander zu kommunizieren. Petrus hat eine deutlich andere Barttracht, so als käme er gerade vom Friseur, der ihm den Bart in feinste kleine Locken gewickelt hat.
Unter den Füßen der Apostel, vor allem links, erscheinen kuriose Motive, darunter zwei Meerjungfrauen und ein Affe, der sich die Seite kratzt.
Die Kathedrale ist siebzig Meter lang und damit die größte Portugals. Sehr schön ist die Granitquaderung, grauer Stein, weiß gefugt. Die zieht sich durch den ganzen Bau: Seitenwände, Bündelpfeiler, Gewölbe, Querschiffarme.
Eine Katastrophe ist dagegen der Chor mit seinem aufdringlichen Marmor. Man kommt sich wie in Bayern vor, und siehe da: Ein bayerischer Baumeister hat diese Bausünde begangen.
In der Mitte des Langhauses ein schwangere Madonna, ein häufiges Motiv in Portugal. Sie hält eine Hand schützend auf ihren Leib. Diese Darstellung der Jungfrau kurz vor der Niederkunft stammt aus Spanien und heißt dort, mit einem geradezu kindlichen Verständnis der runden Form: María de la O. Das gibt es auch als Mädchennamen. Hier in Portugal, wo die Buchstaben Maskulinum sind, heißt sie Nossa Senhora do Ó.
Etwa in der Mitte des Langhauses kann man oben über den Bögen eine skulptierte Büste sehen. Die soll den Baumeister der Kathedrale darstellen. Daneben stehen seine Initialen. Die kann man allerdings von hier aus nicht erkennen.
Dann geht es rauf auf die Terrasse, von Reiseführer ausdrücklich empfohlen, nicht nur wegen des Blicks auf die Stadt, sondern auch, weil man dann den geschuppten Turm über der Vierung und andere kleine, ebenfalls geschuppte Türme direkt vor sich hat. Solche Türme kenne ich aus Kastilien, Zamora oder Soria oder beides.
Man steht gleich vor den Zinnen, die fast das ganze Kathedralendach umfassen, und nicht umsonst wird hier dreisprachig auf die Gefahr hingewiesen, portugiesisch: Perigo. Wieder haben sie mit perigo die kürzere Form vorgezogen gegenüber peligro und pericolo.
Von hier hat man auch einen Blick in den Kreuzgang hinunter. Der sieht eher einfach und etwas rustikal aus, aber wenn man unten ist, gewinnt er durch das schöne Licht, das einfällt. Der Kreuzgang ist einstöckig und soll gotische Bögen haben. Das trifft aber wohl nur auf die an den vier Ecken zu.
An jeder dieser Ecken steht eine Evangelistenfigur, mit ruhigem, würdigen Gesichtsausdruck. Alle halten sie ein aufgeschlagenes Buch mit Text in der Hand und verweisen mit dem Finger darauf.
In einer Ecke das Grabmal des Begründers der Kathedrale, mit Mitra, aber ohne Bischofsstab. Er wird von zwei Engeln gebettet, die eine sehr unbequem aussehende Körperhaltung einnehmen. Einer hat einen krankhaft aussehenden Fußballen.
Auch im Kreuzgang kann man nach oben steigen, und das lohnt sich in erster Linie wegen einer Marmorplatte mit der Abbildung eines Raubritters, Geraldo sem Pavor. Durch eine List eroberte er die Stadt von dem Mauren zurück. Auf der Marmorplatte ist er abgebildet mit Schwert und den abgeschlagenen Köpfen des Kalifen und dessen Tochter, die vorher seine Geliebte gewesen sein soll. Manchmal muss man eben kleinere Konzessionen machen, wenn es um den sozialen Aufstieg geht. Diese entzückende Darstellung sieht man heute im Stadtwappen von Evora!
Dann geht es ins Dommuseum. Dort steht ein riesiger, hölzerner Leuchter in Form eines nach oben weisenden Dreiecks. Der Leuchter hat Platz für 15 Kerzen. Er kam bis zum 2. Vatikanum in der Liturgie der Karwoche zum Einsatz: Mit jedem Psalm oder Lied wurde eine der Kerzen gelöscht, bis Dunkelheit herrschte.
Das Prunkstück des Museums ist eine Elfenbeinmadonna. Sie hält das Jesuskind auf dem Arm. So weit, so gut. Aber: Die Figur lässt sich öffnen, und zum Vorschein kommt ein Triptychon, das in neun Szenen mit ganz winzigen Figuren Szenen aus dem Marienleben darstellt, darunter auch hier, wie schon in Viseu, das Herabkommen des Heiligen Geists. Da ist Maria mitten unter den Jüngern dabei.
Ebenfalls wie in Viseu eine Darstellung der Trinität. Die hat mich damals schon verwundert: Gott Vater sitzt und hält das Kreuz mit dem gekreuzigten Sohn in der Hand. Und der Heilige Geist? Keine über den Duo schwebende Taube zu erkennen. Stattdessen eine Hand im Bart von Gottvater!
Unweit der Kathedrale steht der Templo Romano, nicht ein Diana-Tempel (obwohl er so genannt wird), sondern wohl ein Tempel zur Glorifizierung des Herrschers. Schrecklich viel ist nicht erhalten: ein gutes Dutzend kannelierter Säulen mit großen korinthischen Marmor-Kapitellen und ein Teil des Architravs. Aber der Tempel macht sich gut als Vordergrund für die Kathedrale und die weißen Häuser um sie herum.
Zur anderen Seite ist eine Terrasse mit einem Blick auf die weite, flache Landschaft des Alentejo. Das sieht ganz, ganz anders aus als bei uns im Beira Litoral.
Etwas abseits des Zentrums, aber innerhalb der Stadtmauern liegt die Taberna Quarta-Feira, von Filomena empfohlen. Ohne Reservierung? Keine Chance!
Durch Zufall finde ich dann auf dem Rückweg ein anderes Lokal mit einem kuriosen Namen: ¼ para as 9. Hier ergattere ich einen Platz. Außer einer Asiatin bin ich der einzige Auswärtige. Es ist rappelvoll und laut.
Von dem freundlichen Wirt erfahre ich am Ende den Grund für den kuriosen Namen des Lokals. Die Besitzer hatten das Lokal gerade eingerichtet und suchten nach einem Namen. Da fiel ihr Blick auf eine stehen gebliebene Wanduhr. Auf der war es Viertel vor neun. Da hatten sie einen Namen. Die Uhr hängt immer noch da, nach 42 Jahren. Und zeigt immer noch Viertel vor neun.
Ich gehe noch zu einem weiteren Platz, der in den Reiseführern erwähnt wird: Largo da Porta de Moura. Unterwegs komme ich an der Rua dos Tres Senhores vorbei und an einem Hinweisschild auf ein Lokal mit dem Namen Garfo, ‚Gabel‘.
In der Mitte des Platzes ein Marmorbrunnen, der erst durch die Information in den Reiseführern interessant wird: Die Einfassungen des Beckens sind stark eingekerbt. Hier wurden die Amphoren abgestützt, um sie durch Blechtrichter mit Wasser zu füllen. Habe solche Einkerbungen schon öfter gesehen, aber deren Sinn nie verstanden. Die Becken unterhalb dienten als Viehtränke.
An einem weißen Haus des Platzes ein Ausguck mit deutlich maurisch inspirierter Form. Ein schönes Photomotiv, zumal der Himmel blau ist.
Wenn man den Platz verlässt, kommt man durch zwei römische Stadttore, die man trotz ihrer Größe leicht übersehen kann. Gleich dahinter ein manuelinisches Fenster. Das ist das Haus des Humanisten Garcia de Resende. Er war unter zwei Königen, Joгo II. und Manuel, in unterschiedlichen Funktionen tätig und wurde bekannt als Überbringer eines Geschenks an den neu gewählten Papst Leo X: einen Elefanten.
Die Müdigkeit macht sich bemerkbar, auch wenn nicht zu entscheiden ist, ob es am Kopfsteinpflaster, an der Sonne oder doch am Bier liegt.
31. März (Sonntag)
An einem kühlen, sonnigen Morgen gehe ich durch die menschenleeren Straßen zur Praça do Giraldo zu einem kleinen Frühstück in einem großen Café. Im Schaufenster liegen lauter Köstlichkeiten, deren Namen ich noch nie gehört habe: Folar com Gila, Costas de Aviz, Azevias.
Der Platz hat seine Besonderheit durch seine Asymmetrie: Der Brunnen am einen Ende hat kein Gegengewicht am anderen Ende, die weiße Kirche an einer der Stirnseiten steht etwas versetzt, und Arkadengänge gibt es nur an einer Seite. Die Häuser sind unterschiedlich breit, aber etwa gleich hoch und alle weiß getüncht.
An dem Brunnen sind acht Fratzen angebracht, die das Wasser in das Becken spucken. Sie stehen für die acht Straßen, die auf diesen Platz gehen.
Dieser Platz ist immer der zentrale Platz der Stadt gewesen, und eine in den Boden eingelassene Plakette erwähnt auch die Hexenprozesse und Hexenverbrennungen, die hier stattfanden.
In der Rua da República, die auf diesen Platz geht, sind Häuser in die alte Stadtmauer eingebaut.
Von hier geht es zur Franziskanerkirche und einer der ganz großen Touristenattraktionen Evoras, der Knochenkapelle. Das Motto steht gleich am Eingang: „Nós ossos que aqui estamos – pelos vossos esperamos“. Die Knochen, die uns erwarten, das sind die Knochen von etwa 5000 Toten, die hier, fein säuberlich angeordnet, Wände und Pfeiler „schmücken“. Es liegt eine Art schwarzer Humor in der Art, wie Totenschädel und Knochen zu erkennbaren Mustern zusammengefügt sind. Natürlich ist das ganze gemeint als momento mori, das ist jedenfalls die offizielle Lesart. Es gibt aber auch einen ganz praktischen Grund: Die Kapelle war eine gute Gelegenheit, die übervollen Friedhöfe der Stadt leerzuräumen.
Die Franziskanerkirche liegt am Rande eines Parks. Darin eine Kirche mit maurischen Elementen an der Fassade, die allerdings nur teils zu sehen sind, weil sie gerade restauriert wird. Ich frage einen älteren Herrn, was für eine Kirche das sei. Kirche? Das ist keine Kirche, das ist ein Palast. Der wird meist für Kunstausstellungen genutzt.
Auch noch im Park ebenfalls maurisch wirkende Ruinen, vor allem hintereinander versetzte Bögen. Auf denen haben sich dekorativ ein paar Pfaue platziert. Der Pfau, den ich photographieren will, weigert sich aber, mich anzusehen. Trotzdem alles sehr photogen, und mir kommen Zweifel, ob es sich um „echte“ Ruinen handelt oder ob die bereits als Ruinen in den Park gesetzt wurden.
Ich gehe dann noch an der Igreja da Graça vorbei. Die ist besonders bekannt für ihre „schweren Jungs“. Wirklich ganz ungewöhnlich. Sie hocken oben an der Fassade, zwei rechts, zwei links, und halten Atlanten. Sie sehen nicht gerade heldenhaft-antik aus, sondern eher wie ungeschlachte Steinzeitmenschen.
Auf dem Weg zur Universität komme ich an einer modernen Skulptur vorbei, die aussieht, als wäre sie keine. Leider gibt es keinerlei Beschilderung dazu. Es ist ein Steinsarkophag, in den eine ebenfalls steinerne Leiche eingelassen ist.
Der Weg zur Universität erweist sich als schwierig. Ich bin schon einmal ganz um ein großes Areal herumgegangen, als ich einen weiteren Passanten nach dem Weg frage. Diesmal merke ich es: Die Universität ist heute geschlossen. Man sieht nur ein kleines Stück der Renaissance-Fassade durch zwei Gitter hindurch.
Die Universität war die zweite Portugals. Sie wurde von Pombal geschlossen, aus seiner Ablehnung der nach seiner Ansicht rückständigen Jesuiten heraus. Evora verfiel dann, in einer bemerkenswerten Parallele zu Trier, in den Dornröschenschlaf, bis die Universität nach dem Krieg neugegründet wurde.
Vieles gesehen in Evora, vieles nicht gesehen, aber hier geht es sowieso eher um das Ensemble. Und das ist wirklich schön. Ob man allerdings in der Hauptsaison hier sein wollte?
Auf ruckelndem Kopfsteinpflaster geht es um viele Ecken aus Evora raus. Bald kommt man auf die IP 2, eine gut ausgebaute Landstraße. Es geht durch eine flache Gegend, und die Straße heißt nicht umsonst Ruta da Planicie. Erst kommen Weinfelder in Sicht, ganz kleine Weinstöcke, ganz regelmäßig gesetzt, durch Drähte in Reihen und Quadrate eingeteilt. Später kommen Olivenbäume und Äcker, vermutlich Kartoffeläcker. Dann die ersten Schweine, dann Kühe, dann Schafe, dann ein paar vereinzelte Pferde, alle in gehörigem Abstand voneinander, keine riesigen Herden, aber immerhin. Am besten sind die Kühe vertreten. Von der IP 2 geht auf die kurvenreiche, enge N 2.
Es zieht sich zu, dann ein Blitz am Horizont, und dann geht es los. Regen und Hagel. Es donnert aufs Dach, und es wird mir in dieser gottverlassenen Gegend ganz anders angesichts der von Hagelkörnern weißen und an tiefen Stellen überfluteten Straße. Aber am Horizont bleibt es hell, und nach einer Stunde ist der Spuk vorbei.
Wir lassen Coitos rechts liegen – interessiert uns nicht – und fahren lieber nach Almodôvar. Danach kommt dann bald der Abstieg zur Küste und nach Faro.
Der erste Eindruck von Faro ist nicht so toll. Alles grau, kein erkennbares Stadtbild, und vom Wasser her riecht es schlecht. Was das hier ist, ein Hafenbecken oder eine Lagune oder was immer, wird mir nicht klar. Faro soll einen langen Sandstrand haben, aber der kommt hier nicht in Sicht.
Geparkt habe ich in der Nähe einer weißen Kirche. Die hat einen ehrenwerten Namen: Igreja da Venerável Ordem Terceira de Nossa Senhora do Monte do Carmo de Faro.
In einer riesigen Cafeteria in der Nähe der Kirche kommt es zu einem schönen Missverständnis: Ich beschreibe der Kellnerin ein Gebäck, das ich an der Theke gesehen habe, und sie sagt: Salami? Nein, sage ich, etwas Süßes, zum Kaffee. Ja, sagt sie, die Salami sei süß. Es ist genau das, was ich gemeint habe. Heißt vermutlich Salami wegen der hellen Stückchen im dunklen Teich.
Dann geht es zur Wohnung. Die liegt im achten Stock eines gewöhnlichen Hochhauses in einem Bezirk am Rande des Stadtzentrums, das an Hässlichkeit kaum zu überbieten ist. Aber als sich die Tür zur Wohnung öffnet, ändert sich der Eindruck schlagartig. Alles ist sauber und modern und bequem.
Der Hausherr ist auf Reisen und ich werde von der Hausherrin, Dona Marlene, in Empfang genommen. Ich verstehe alles, was sie sagt, praktisch jedes Wort. Sie lüftet das Geheimnis: Brasilianerin. Alle sagten, sie verstünden sie besser als ihren Ehemann, der Portugiese ist. Die Portugiesen sprächen mehr „nach innen“.
Ich werde durch die ganze Wohnung geführt, auch auf die verschiedenen Balkone: Hochhäuser, Parkplätze, ein Supermarkt, ein Fernsehturm, ein schmaler Grünstreifen entlang der breiten Straße. Am paar Berge am Horizont, und irgendwo in der Ferne kann man das Meer erahnen. Wenn ich es nicht aus Spanien anders wüsste, würde ich mich wundern, dass das als „schöner Ausblick“ gilt.
Es ist noch eine weitere Schülerin der Sprachschule hier untergebracht, ebenfalls eine Deutsche. Eine Bayerin, wie Dona Marlene versichert. Die Bayerin erweist sich später als Schwäbin.
Es ist ihr letzter Abend hier und sie lädt auf ein Glas Sekt zum Abschied ein. Sie spricht fließend Portugiesisch, mit viel Selbstvertrauen, aber ich verstehe kaum ein Wort. Sie spricht wohl auch eher „nach innen“.
Ganz wichtig in der Gastronomie dieser Gegend sind die Sardinen. Detailliert doziert Dona Marlene über die Qualität der Sardinen zu den verschiedenen Jahreszeiten. Am besten seien sie im Juni. Jetzt seien sie noch zu dünn.
Die Hausherrin hat seit drei Jahren Sprachschüler hier, das ganze Jahr über. Der älteste war ein Schweizer. 82. Er hatte sich überlegt, er wolle Portugiesisch lernen. Nur so. Wir finden das alle drei richtig. Die meisten würden ihm (und uns) aber wohl den Vogel zeigen.
1. April (Montag)
Dom Carlos, der Hausherr, stammt aus Lissabon. Dort war er am Wochenende, um seine kranke Mutter zu besuchen. Fünf Stunden mit dem Bus, einem, der an jeder Ecke hält. Auch er hat sintflutartigen Regen unterwegs gehabt. Hier in Faro hat man davon nichts gemerkt.
Die Schwäbin fährt mit mir runter, um mich auf den Weg zu schicken. Im Aufzug treffen wir auf die brasilianische Schwester der Hausherrin. Als die Schwäbin erzählt, sie fahre Weihnachten nach Brasilien, ist sie ganz aus dem Häuschen. Paradise Lost. Wenn es dort so toll ist, warum leben sie dann alle im Ausland?
Die Rua General Humberto Delgado muss die unbekannteste Straße Faros sein. Am Ende, als ich sie finde, stellt sich heraus, dass ich vorher hier in der Gegend und sogar auf der Straße selbst nach ihr gefragt habe. Etwas weiter von hier entfernt hat mir ein älterer Mann gesagt, dies hier wäre die Rua General Humberto Delgado. War es aber nicht. Ich dürfte nicht überrascht sein. Die Leute kennen Straßennamen nicht. Hier und überall. Der Orientierungspunkt ist hier der Mercado Municipal. Nach dem hätte ich fragen müssen. Den kennt jeder. Immerhin ist die ständige Wiederholung des Straßennamens eine gute Übung. Er enthält alle gängigen Ausspracheprobleme außer Nasalen.
In der Schule geht es sehr professionell zu. Der Einstufungstest besteht aus Grammatik, Vokabular, Leseverständnis und Interview. Allerdings geht es bei der Grammatik fast nur um den Konjunktiv, so als ob man ab einem bestimmten Niveau nicht mehr über gestern oder seine Vorlieben spräche oder Fragen stellen würde. Und bei dem Leseverständnis – ein sehr schöner Text über ein junges Mädchen im „Gespräch“ mit seinen Eltern – scheint es nicht darum zu gehen, ob man den Text verstanden hat, sondern darum, ob man die Fragen im Sinne der Lehrerin beantwortet.
Spanischkenntnisse werden nicht so gerne gesehen. Sie gelten als so etwas wie die Erbsünde, mit der man sich infiziert hat. Wenn die rauskommen, bekommt man teils mitleidsvolle, teils vorwurfsvolle Blicke.
Am Ende, nach einer strengen Durchsicht des Tests, geben sie mir Einzelunterricht. Den erteilt eine ältere, sehr lebhafte und gesprächige Dame, Dona Lurdes. Sie stammt aus Lissabon und hat früher in Mosambik gelebt und gearbeitet. Sie hat dort unterrichtet, Portugiesisch und Französisch.
Es geht um verbalen Formen. Was sonst? Darunter denen einer grammatischen Struktur, der ich noch in keiner anderen Sprache begegnet bin: dem persönlichen Infinitiv. Den gibt es neben dem „normalen“, dem unpersönlichen Infinitiv. Gebraucht wird er so ähnlich wie der Konjunktiv. Die Formen sind ganz regelmäßig, aber an die Sache an sich muss man sich erst gewöhnen.
In der Pause trinken wir Kaffee mit einem Schweizer. Er ist schon seit zwei Monaten hier an der Schule und hat als kompletter Anfänger begonnen. Er wohnt außerhalb von Faro, in Tavira, und kommt morgens auf umständlichem Weg mit dem Zug zur Schule. Da, wo er wohnt, spricht kein Mensch Portugiesisch außer dem Jiujitsu-Lehrer, und der kann kaum Englisch und kein Deutsch.
Der Schweizer, Rico, ist auch einer der von anderen romanischen Sprachen Geschädigten und erwischt mich voll bei cambiar. Das gibt es auch im Portugiesischen. Aber nur für den Geldtausch. Sonst heißt es mudar oder trocar. Daran muss man sich erst mal gewöhnen, nachdem man jahrelang cambiar, change, changer, cambiare fürs Wetter, für die Stimmung, für die Kleidung, für Sitten und Gebräuche und alles mögliche andere gebraucht hat.
Rico kennt auch die Schwäbin ganz gut. Und verrät, dass die länger in Brasilien gelebt hat und mit einem Brasilianer verheiratet gewesen ist.
Nach dem Unterricht komme ich an dem Wappen Faros vorbei, vor dem Mercado Municipal angebracht. Dort erscheint kein Raubritter mit abgeschlagenen Köpfen, sondern eine Jungfrau.
Ganz im Stadtzentrum liegt auch das Stadion des SCP. Es hat ebenfalls einen frommen Namen: Sгo Luis.
Das Paladar Farense erteilt gratis die Information über das zu Faro gehörende Adjektiv.
In der Nähe des Marktes ein Geschäft, bei dem es heißt: Compramos a dinheiro. Eine Bar heißt Á da Nazaré. Und das Motto des portugiesischen Lidl ist Mais para si. Lauter Dinge, die ich nicht verstehe.
2. April (Dienstag)
Beim Frühstück frage ich Dom Carlos, ob er zu Benfica oder zu Sporting halte. Nein, für Benfica sei sein Widerspruchsgeist zu groß. Das wäre zu einfach. Für Benfica ist einfach jeder. Kommt mir irgendwie bekannt vor.
Heute herrscht Lehrermangel, und ich habe Unterricht mit Rico, dem Schweizer, zusammen. Er ist sehr kommunikativ und hat das mit dem Portugiesischen gut drauf, hat alles systematisch gelernt und auch alles systematisch geordnet. Als es um unregelmäßige Partizipien geht, kann er wie aus der Pistole geschossen drei nennen, die demselben Muster folgen: pago, gasto, limpo.
Das Beste am Unterricht ist die Pause. Da tritt, bei einem informellen Gespräch, alles zu Tage, was kommunikativ relevant ist, und wir haben die Lehrerin dabei, um entsprechende Fragen zu stellen. Als ich das vorsichtig sage, stimmt sie verblüffenderweise zu. Das Passiv, mit dem wir uns in den letzten zwei Stunden abgeplagt haben, werde sowieso kaum gebraucht.
Auf dem Rückweg von der Schule sehe ich auf einem schrägen Dach einen jungen Schwarzen, der die Ziegel mit einem Strahler reinigt. Ein einziger Balanceakt. Er ist nicht abgesichert und hat lediglich zu einer Seite des Dachs einen Kamin, an dem er sich ab und zu festhalten kann.
Im Unterricht war noch von Immigration die Rede und davon, dass Portugal vor ein paar Jahren Flüchtlinge aus Nordafrika bereitwillig aufgenommen habe. Als ich nach denen aus den ehemaligen Kolonien frage, stellt sich heraus, dass sie drei Jahre lang eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, die aber später nur unter bestimmten Bedingungen verlängert wird. In Angola und Mosambik gäbe es viele, die noch einen alten, längst abgelaufenen portugiesischen Pass hätten. Den würden die Behörden aber in der Regel verlängern.
Am Nachmittag gibt es eine Stadtführung, von der Schule organisiert. Es gibt nichts Aufsehenerregendes zu sehen und nichts Aufregendes zu erfahren, aber wir könnten der jungen Frau, die die Führung macht, stundenlang zuhören. Sie spricht gar nicht sonderlich langsam, aber mit einer so klaren Diktion, dass man so gut wie alles versteht. Unglaublich. Ob sie ein besonderes Sprachtraining bekommen hat?
Wir gehen die Rua Santo Antonio entlang. Das ist die wichtigste Geschäftsstraße Faros, ohne Autoverkehr. Sie hat verschiedenfarbige Muster im Bodenbelag, ein paar Häuser mit schönen Fassaden, ein oder zwei Portale, vor denen wir stehenbleiben, aber all das ist kaum der Rede wert.
Am Ende der Straße steht Aliança, ein vor dem Verfall gerettetes Haus mit einer Art Jugendstilfassade, heute ein Lokal. Es war ursprünglich wohl so eine Art inoffizieller Börse, wo die Fischpreise verhandelt wurden, Treffpunkt der Bürgerschaft zum Austausch von Tagesereignissen und Klatsch und Sitz der Redaktion einer Lokalzeitung. Die konnte den Klatsch dann gleich drucken.
Dann geht es durch den Arco de la Vila in die Altstadt. Das ist das schönste von den drei erhaltenen Stadttoren, die allerdings alle aus der Neuzeit stammen. Durch das Erdbeben von Lissabon und durch den Earl of Essex, der auf dem Weg nach Spanien die Stadt plünderte und in Brand setzte, hat die Stadt viel verloren.
Im rechten Winkel zum Arco de la Vila ist noch ein altes maurisches Stadttor erhalten. Durch dieses Stadttor kam man mit Booten in die Stadt, denn das Meer ging ursprünglich bis hierher.
Hier, auf dem Arco de la Vila, haben sich, wie auf anderen Türmen der Altstadt, Störche niedergelassen. Sie machen durch lautes Klappern auf sich aufmerksam. Ihr Klappern verklingt nicht ungehört: Wir machen alle fleißig Photos.
Über eine kleine Straße geht es zu einem großen Platz, dem Largo da Sé, mit Kathedrale, Priesterseminar und Rathaus. Dieser Platz wurde um die Kathedrale herum angelegt, als Faro Hauptstadt der Algarve wurde.
Wir sehen dann ein paar kleine Häuser, die als typisch für die Algarve gelten. Und kommen dann zur Stadtmauer. Die ist eher niedrig und schmalbrüstig und kaum zur Verteidigung geeignet. Ihre wichtigste Funktion war wohl die des Wachpostens. Gerade als wir auf einen der Türme steigen, fährt ein Zug vorbei, eine Linie, die die ganze Algarveküste entlangfährt, von der spanischen Grenze bis zur Westspitze der Halbinsel.
Auf einem Platz steht die Statue von Afonso III. mit einem anachronistisch aussehenden Marschallstab in der Hand. Seine Herrschaft bedeutete das Ende der Mauren in Portugal. Und auch eine Art endgültige Grenzziehung. Portugal hatte schon damals fast genau dieselbe Ausdehnung wie heute.
An der Stirnseite des Platzes eine ehemalige Kirche, jetzt Museum. Sie wurde zu einer Fabrik in der Zeit der Aufklärung, als man Juden aus Nordafrika zurückholte. Die bauten hier eine Korkfabrik auf, die etwa hundert Menschen in Faro in Arbeit brachte.
Am Rande des Platzes wird ein Haus renoviert. Hier lebte eine Zeitlang ein gewisser Zeca Afonso, ein Dichter, dessen vertonte Lieder, als sie im Radio gespielt wurden, den Auftakt zur Nelkenrevolution gaben.
Am Ende machen wir uns die Dienste unserer jungen Führerin als Sprachmodell noch zu eigen und bekommen eine schöne Demonstration der unterschiedlichen Aussprache von pais, país und paz.
3. April (Mittwoch)
In der Pause bekomme ich eine Erklärung für den Slogan von Lidl: Mais para si. Das scheint sehr formelles Portugiesisch zu sein und bedeutet so was wie ‚Mehr für Sie‘.
Am Nachmittag gibt es eine Führung durch das Museo Etnografico. Der Name ist etwas irreführend. Es ist eher das, was wir als Volkskundemuseum bezeichnen würden.
Anhand einer Karte der Algarve wird die doppelte Zweiteilung erklärt: die zwischen dem dicht besiedelten Küstenstreifen und dem dünn besiedelten Inland und die zwischen dem Sotovento, dem östlichen Küstenstreifen mit Muschelbänken und Sandstränden, und dem Barlavento, der westlichen Felsenküste mit Badebuchten, der klassischen Algarve der Tourismusindustrie.
Es gibt Photos, Wappen, Alltagsgegenstände, Werkzeuge der Fischer und Bauern und ein paar nachgebaute Szenerien. Man ist überrascht, wie ähnlich sich solche Dinge über Ländergrenzen hinweg sind. Bei uns würde es vermutlich einen größeren Herd geben, aber ansonsten sind die Parallelen bis zum Nachttopf hin nicht zu übersehen.
Kork und Weide und Johannisbrot treten immer wieder auf, in unterschiedlichen Kontexten, dazu Salz, das ein wichtiger Wirtschaftsfaktor war und auch noch ist.
Am interessantesten ist der Fischfang. Es werden ingeniöse, effiziente und gleichzeitig grausame Methoden vorgestellt: Thunfisch, der durch Netze unter Wasser in eine bestimmte Richtung geleitet wird und, mit vielen Artgenossen, in ein enges Becken gerät, dessen geringer Sauerstoffgehalt ihn in die Luft springen lässt, wo ihn der Knüppel der Fischer erwartet; Krabben, die in Drahtgeflechte und Tintenfische, die in Keramikgefäße gelockt werden, aus denen sie sich nicht mehr befreien können. Unsere Führerin beschönigt nichts, fügt aber hinzu: Immer noch besser als die ökologisch verheerenden modernen Fangmethoden, bei denen ziellos alles leergefischt wird.
4. April (Donnerstag)
Zwei wichtige Nachrichten am frühen Morgen im Fenster: Die Umweltministerin ist zurückgetreten, und Sporting hat Benfica aus dem Pokal geworfen.
Das Wort für ‚Mannschaft‘, equipa, ist Femininum, aber die Clubs selbst sind Maskulinum und werden, wie im Spanischen, mit Artikel gebraucht: „O Porto criticou o triste espetáculo de falta de fairplay do Benfica.“
In der Pause, die mal wieder das Interessanteste ist, erzählt Rico von einer Variante des Portugiesischen, die im äußersten Nordosten Portugals gesprochen wird (er nennt es eine Sprache, die eine Mischung aus Galicisch und Spanisch sein soll). Diese Variante wird in der Gegend um Miranda do Douro gesprochen, im Trás-os-Montes.
Die Patronatsfeste der drei großen portugiesischen Heiligen – Antonio, Joгo, Pedro – sind alle im Juni. Das ist schon das Beste, was man aus dem Unterricht mitnehmen kann.
Auf dem Rückweg auf den Slogan von Pingo Doce gestoßen: „Sabe bem pagar tгo pouco“. Mit leichter Ambiguität von saber.
Ebenfalls auf dem Rückweg gesehen: „Transferкncias de Dinheiro de modo rápido, simples e seguro“. In der Aufzählung fällt die merkwürdige Form simples noch mehr auf.
Die Dame des Hauses spricht überschwänglich von dem brasilianischen Lokal in Olhгo, in dem ihre Schwester arbeitet. Dabei fällt das Wort rodizio. Das ist ein Lokal, in dem die Kellner abwechselnd verschiedene Fleischsorten an den Tisch bringen. Ich kannte das Wort nicht, konnte er aber auch nicht identifizieren. Wie dieser Tage bei ria erkenne ich ihr /r/ nicht. Ob das eine Spielart des Brasilianischen ist? Dann spricht sie auch von musca, was ich für ein Gericht halte. Das ich nicht kenne. Dann stellt sich heraus, dass sie musica meint.
5. April (Freitag)
Im Unterricht kurze Ausschnitte aus Correio da Manhг und Diario de Noticias gelesen, einer populäreren und einer anspruchsvolleren Zeitung. Ich widerspreche der Behauptung der Lehrerin, dass die populäre Zeitung einfacher zu lesen sei, jedenfalls für einen Ausländer. Sie stimmt zu. Jedenfalls für jemanden, der andere Sprachen kennt.
Zur Zeit der Revolucгo dos Carvos war die Lehrerin, Dona Lurdes, in Mosambik. War bestimmt eine interessante Erfahrung, so ein bewegendes Ereignis in der Heimat aus der Ferne zu beobachten. Ja, das war es, sagt sie. Dazu kam, dass dort die Zeitungen etwas freier berichten konnten.
Als sie von früheren Zeiten spricht, denen, in denen man noch die zweite Person Plural benutzte, sagt sie nos tempos dos meus avós – fünf Wörter in Folge, die auf /s/ enden, mit dem typisch portugiesischen postalveolaren Konsonanten.
Alle – Lehrerin, Mitschüler, Dame des Hauses – sind sich einig: An der Algarve regnet es nicht. Es fallen mal ein paar Tropfen, damit hat es sich dann aber schon. Also mache ich mich trotz der schlechten Wettervorhersage auf den Weg.
Na ja, wenn das kein Regen ist, was da im Laufe des Tages, vor allem bei der Rückfahrt, auf das Auto herabprasselt. Aber an der Algarve regnet es ja nicht. Der ständige Wechsel von Regen und Sonne sorgt aber auf der Rückfahrt für einen prächtigen Regenbogen.
Die Fahrt ans Ende der Welt ist beschwerlich. Der Routenplaner schickt mich über die abwegigsten Strecken. Es geht kaum mal zwei, drei Kilometer geradeaus. Als ich dann aber endlich einen norwegischen Wohnwagen überholt habe, komme ich doch noch an.
Die Gegend ist öde und langweilig. Alles flach, ein paar Grasbüschel, ein paar Feldblumen. Die Durchfahrt durch Albufeira reicht völlig, um zu der Überzeugung zu geraten, dass es seinen schlechten Ruf völlig verdient. Erst als es auf Lagos zugeht, wird es etwas besser.
Unterhaltung bietet der Routenplaner, der Sagres konsequent als Segras ankündigt und V. Bispo (für Villa do Bispo) als Fünfter Bispo.
Am Ortseingang von Sagres eine gelungene Reklame. Ein große rote Reklamewand, auf der einzig steht: Finalmente. Daneben eine Bierflasche mit der Aufschrift Sagres.
Sagres selbst hat keinen Ortskern und hat auch wohl nie einen gehabt. Ein paar Häuser, dazwischen Lokale und Apartmenthotels.
Ich fahre zum Fischerhafen hinunter. Das geparkte Auto schaukelt im Wind hin und her. Trotz des Regens steige ich aus und lasse mir die frische Luft um den Kopf wehen. Im Hafen liegen Fischerboote, in einem etwas erhöht liegenden Lokal machen die Fischer Feierabend – bei Bier und dem Fisch, den sie gerade selbst gefangen haben.
Das einzige nennenswerte Ziel in Sagres ist die Festung. Sie liegt auf einer weit ins Meer hinausgehenden Landzunge, einer Art Kap. Wie schon von allen Seiten angekündigt, kommt man hier erst richtig in den Genuss des Windes. Dagegen ist der unten am Fischerhafen ein mildes Lüftchen.
Man muss sich gegen die Autotür stemmen, um sie überhaupt öffnen zu können. Dann geht es auf die Festung zu. Die Kleidung flattert geräuschvoll am Körper und klatsch ins Gesicht. Man will einen Schritt geradeaus machen, aber der Wind fasst einen an den Beinen, und man macht einen Schritt zur Seite. Dann ist es plötzlich windstill. Kein Lüftchen. Wie kann das sein? Man ist mit dem Staunen noch gar nicht fertig, da packt er einen von hinten und schiebt einen auf die Festung zu.
Die Festung sieht sehr karg aus. Sie ist weitgehend das Resultat eines Neubaus, nachdem die alte Festung durch das Erdbeben von Lissabon zerstört worden war. Das hohe Eingangstor ist noch original.
Man kommt auf einen riesigen Freihof, auf dem sich ein paar Gebäude verlieren. Auf dem Boden gleich hinter dem Eingang ein großer, mit kleinen Steinen bezeichneter Kreis mit 42 Segmenten. Er wurde erst im letzten Jahrhundert entdeckt. Kein Wunder, man würde glatt vorbeilaufen, wenn der Kreis nicht abgesperrt wäre. Er stammt aber wohl aus der großen Zeit von Sagres. Welche Funktion er hatte, nautisch oder astronomisch, ist aber nicht bekannt.
Auf einem befestigten Weg geht es, stets im Kampf mit dem Wind, auf das vordere Ende des Kaps, dem Ende der damals bekannten Welt. Wenn man hier steht, kann man sich tatsächlich einfühlen in die Köpfe derjenigen, die glaubten, jenseits von hier wäre gar nichts mehr. Man hat einen spektakulären Blick auf die Felsen, das Wasser, die Gischt und auf das nahe gelegene Kap Sгo Vicente.
Die große Zeit von Sagres, das war die Zeit von Heinrich dem Seefahrer. Der fuhr nie zur See. Das heißt doch, einmal bis Ceuta ist er gekommen. Seinen Namen hat er aber als Initiator der Seefahrerschule, eines Kreises von Wissenschaftlern, die sich mit der Frage der Entdeckung der Welt beschäftigten, eine fächerübergreifender internationaler Think Tank: Nautiker, Kapitäne, Kartographen, Astronomen, Mathematiker, Schiffsbauer usw. Die sollten herausfinden, wie man an den Küsten Afrikas entlang nach Indien kommen konnte. Es ging nicht nur um Entdeckergeist, sondern um ganz handfeste ökonomische Interessen: Wie konnte man das lukrative Gewürzmonopol der islamischen Kaufleute brechen? Es ging um Pfeffer, aber nicht nur. Ingwer, Zimt, Koriander, Safran, Muskat, Senf, Paprika. Man stelle sich eine Küche vor, die ohne das alles auskommt. Außerdem wurden die Gewürze in der Medizin gebraucht.
Natürlich war technischer Fortschritt nötig, um den Schritt über das Ende der Welt hinaus zu machen. Aber man musste sich auch von den herkömmlichen Vorstellungen befreien: Die Kugelgestalt der Erde war längst bekannt, aber was nutzt das, wenn das Volk den traditionellen Geschichten glaubt? Am Ende der Welt befand sich das Dunkelmeer, in das man kippte, wenn man sich dorthin verirrte. Oder man blieb in der heißen, honigähnlichen Flüssigkeit des südlichen Meers stecken. Oder die riesigen Magnetberge zogen die Nägel aus den Schiffen und ließen sie sinken, und die Seeleute wurden das Opfer gefräßiger Meeresungeheuer. Solche Horrorgeschichten wurden gezielt von arabischen Seeleuten gestreut, um Expeditionen zu verhindern. Sie selbst hatten diese Tradition von den Phöniziern übernommen. Solche Vorstellungen waren tief im kollektiven Bewusstsein verankert, und man musste einen gewöhnlichen Seemann erst mal überzeugen, dass seine Zweifel unberechtigt waren.
Heinrichs Seefahrerschule soll hier gewesen sein, in Sagres, oder auf dem Kap Sгo Vicente. Einen Beleg für diese Lokalisierung gibt es nicht. Wohl aber für die Seefahrerschule selbst. Und den Aufbruch von Portugal in alle Teile der Welt. Mit der Eroberung von Ceuta nahmen die Entdeckungsfahrten ihren Anfang, dann ging es weiter mit Madeira, den Azoren und den Kapverdischen Inseln, alles noch zu Heinrichs Lebzeiten.
Die Zusammenarbeit der Experten seiner Seeschule hatte Erfolg: Astrolabium und Sextant wurden verbessert; den Kapitänen wurde die Angst vor dem geisterhaft immer nach Norden weisenden Kompass genommen; die Kartografie, die sich vor der Aufgabe sah, die Kugelgestalt der Erde auf Papier projizieren könne, wurde verbessert; die Berechnung des Erdumfangs, dessen falsche Einschätzung noch Kolumbus Kalkulationen beeinträchtigte, wurde verbessert; und es wurden neue Schiffe gebaut, Karavellen, die alle Vorteile, aber nicht die Nachteile der alten Koggen hatten. Sie hatten einen breiteren Rumpf und weniger Tiefgang, und so konnte man eng an der Küstenlinie entlangfahren. Und hatten eine große Zahl von Masten, so dass man sowohl quadratische als auch dreieckige Segel setzen konnte.
Auf jeden Fall ein großes Projekt, das einen auch heute noch beeindruckt. Heinrich, der „Einsiedler“, hat ihm vierzig Jahre seines Lebens gewidmet. Er ist auch hier in Sagres gestorben. Zu Lebzeiten galt er fast als Heiliger, tatsächlich war ein wohl eher ein guter Organisator und ein cleverer Geschäftsmann. Aber auch ein Vordenker.
Nach dem Besuch der Festung fahre ich noch zu dem Kap Sгo Vicente, verpasse aber den Bratwurststand, den alle Welt zu kennen scheint.
Auf dem Kap steht ein gedrungener Leuchtturm. Er ist der lichtstärkste Leuchtturm Europas und kann noch aus einer Distanz von neunzig Kilometern gesehen werden. Und das ist auch gut so. Denn diese Ecke gehört zu den meistbefahrenen und gefährlichsten Europas.
Auf dem Rückweg nach Faro geht es, statt an der Küste entlang, landeinwärts. Es lohnt sich! Für die mühselige Fahrt wird man mit wunderschöner, satt grüner Landschaft belohnt, abwechslungsreiche Vegetation und Hänge mit grauen, glatten Felsplatten. Auch hier muss es Waldbrände gegeben haben, aber es sieht nicht so niederschmetternd, nicht so fremd aus wie in Penela. Auffällig ist allerdings der Unterschied zwischen den grünen Hängen der Abhänge auf der einen Seite und den viel kargeren auf der anderen Seite.
Die Fahrt geht in die Serra de Monchique. Zuerst geht es nach Caldas de Monchique, einem in einem engen Felsental gelegenen, etwas mondänen Kurort. Von dort geht es rauf in den eigentlichen Ort, und dort noch mal rauf, über eine steile Treppe, zur Kirche des Ortes. Die hat ein aus Stein geflochtenes Portal, manuelinisch, das besonders deshalb gut zur Geltung kommt, weil die Fassade ansonsten ganz schlicht ist. Die steinernen Schiffstaue enden in fünf strahlenförmig auslaufenden Knoten. Sieht aus wie eine orientalische Kopfbedeckung.
Die Häuser des Ortes lehnen sich an den Hang. In den vielen kleinen, jetzt schon geschlossenen Läden der Dorfstraße sieht man Waren aus Weide und Ton und allerlei Souvenirs.
Über den ganzen Ort verteilt gibt es Skulpturen, wohl von einem lokalen Künstler, oft ganz kleine, einzelne Personen darstellend. Eine größere Skulpturengruppe zeigt einen Mann, der lässig und gleichzeitig Autorität ausstrahlend auf einem Stuhl sitzt, umgeben von allerlei anderen Figuren, meist Kindern, darunter einem Jungen mit einem Vögelchen in der Hand. Leider ist nichts zu erfahren über diese Skulpturen, aber es sieht so aus, als sei hier kein Lehrer, sondern ein Arzt dargestellt.
Die schwarze Wurst, für die der Ort bekannt sein soll, scheint es nirgendwo im Angebot zu geben. Dafür gibt es einen Schnaps, den ich schon des Namens wegen probieren muss. Es ist ein klarer, geruchsloser Schnaps, der ein bisschen wie Trester schmeckt, obwohl er aus Früchten gemacht ist, eben aus denen des medronho, der auf Deutsch irreführenderweise Erdbeerbaum heißt. Den gibt es hier wirklich, im Gegensatz zu Madrid, wo er zwar, wegen der lautlichen Anspielung auf Madrid (madroño) im Wappen erscheint, aber ansonsten unbekannt ist.
6. April (Samstag)
Bei einem Spaziergang durch das Zentrum entdecke ich im Mercado Municipal das von Rico erwähnte Lokal – eher ein Imbissstand – mit dem Namen Cachorros & Pulgas heißt. Dabei stehen die ‚Hündchen‘ für Hot Dogs und die ‚Flöhe‘ für eine Art sandes, wohl so was wie ein bocadillo in Spanien.
Zu der Igreja do Carmo komme ich um Punkt ein Uhr, das ist genau die Zeit, zu der sie samstags schließt. Ich habe aber Zeit, mir ihre schöne Fassade anzusehen.
In dem großen Café nahe der Kirche gibt es im Fernsehen Bilder von Schnee in Portugal: im Trás-os-Montes und in der Serra da Estrela, gar nicht so weit von Viavai. Hier in Faro schneit es zwar nicht, aber das ist auch das einzig Positive, was man über das Wetter sagen kann.
7. April (Sonntag)
Beim Frühstück längere Unterhaltung mit Dona Marlene. Sie hat mich in diesen Tagen mit Tabletten, Sirup, und Tee mit Zimt und Honig versorgt.
Ich schnappe ein oder zwei neue Wörter auf, sehr nützlich. Ansonsten, es bleibt dabei: Wenn ich nicht verstehe, liegt es nicht an unbekannten Wörtern, sondern an bekannten, die ich nicht identifiziere.
Sie erzählt vom Rio Grande in Brasilien. Das sei eine Gegend, wo ich hinreisen solle. Da sehe alles anders aus als im Rest Brasiliens. Die Häuser wie in Deutschland. Ein Ort, den sie erwähnt, heißt Blumenau, und ich mache den Versuch, die Bedeutung des Namens zu erklären.
Ihre Interessen drehen sich ums Essen und den Haushalt, ergänzt durch Nachrichten aus Brasilien. Mit einer Mischung aus Abscheu und Ergötzen erzählt sie von einem Banküberfall, den 16 mit Maschinenpistolen bewaffnete Räuber begangen haben. Die Polizei hat 11 von ihnen erschossen. Viel Mitleid mit denen scheint sie nicht zu haben.
Ich versuche, das Gespräch auf solidere Bahnen zu lenken und frage nach der Wohnung. Die ist ja wie gemacht für so ein Geschäft wie dem mit den Schülern der Sprachschule. Aber sie haben die Wohnung dafür nicht eigens eingerichtet. Die war schon vorher so, als hier ihre Schwester und ihr Neffe wohnten. Als die nach oben zogen, wegen des Gartens (ob ich das richtig verstanden habe?) war diese Wohnung zu groß für zwei und sie suchte nach einer Beschäftigung. Im Internet wurde sie fündig. Bisher hätten sie immer gute Bewertungen bekommen. Das glaube ich sofort. Alle Gäste seien freundlich und sympathisch gewesen, bis auf zwei, eine holländische Alkoholikerin und ein deutscher Student, der sich hier aufgeführt habe, als wohnte hier sonst niemand.
Während zuhause die Sonne scheint, ist er hier ungemütlich. Es regnet und stürmt und wird gar nicht richtig hell.
8. April (Montag)
Die neue Lehrerin, Dona Manuela, macht nächstes Jahr eine Reise nach Deutschland. Aber sie ist nicht sehr glücklich über das Reiseziel. Sie wollte gerne nach Berlin, aber ihre Freundinnen haben sie überredet, an die Mosel zu fahren.
Nach dem Unterricht Mittagessen mit den anderen, darunter einem jungen Inder aus Simbabwe, der gut Deutsch spricht. Er hat ein Jahr in Deutschland gelebt, in der Gegend um Hannover, bei sechs unterschiedlichen Gasteltern. Unterhaltsames Gespräch mit ihm, teils auf Deutsch, teils Englisch, teils Portugiesisch.
Nach dem Essen in die Kathedrale gegangen. Man kann auf steilen Stufen aufs Dach steigen. Von dort sieht man, wie das Meer an verschiedenen Stellen in das Land eintritt und die Rias bildet.
Mit den Knochen haben es die Portugiesen. Auch hier gibt es eine Knochenkapelle, aber ganz anders als die von Évora. Sie befindet sich außerhalb der Kirche, im Freien. Die hintere Wand besteht aus Backsteinen, und die nicht tragenden Stellen sind mit Knochen und ein paar Totenschädel gefüllt. Die Knochen kann man aber kaum erkennen, da man nur ihre Enden sieht.
Die Kirche ist alles andere als schön, außen wie eine Trutzburg, innen ein Stilmix, dem ich nichts abgewinnen kann. Sie hat aber ein paar sehenswerte Ausstattungsstücke. Am auffallendsten ist die Orgel, sehr schön, in Rot gefasst, mit chinesisch inspirierten Landschaftsszenen mit ganz feinen Pinselstrichen.
Kurios in einer Seitenkapelle zwei Figuren von jungen Schwarzen, die einen Kerzenleuchter halten und voller Inbrunst nach oben schauen, eine Hand auf der entblößten Brust. Es hat wohl etwas zu tun mit einer der vielen Madonnen, die eigens für die Schwarzen zuständig war. Um deren Seelenheil musste man sich ja auch kümmern.
Lange stehen bleibe ich vor einem Objekt im Dommuseum, das als einziges keine Beschriftung hat, vielleicht weil keiner weiß, was es ist. Scheint Holz zu sein, glänzt aber bronzen. Es sind geschnitzte, ineinander verschlungene Figuren von Vögeln mit flatternden Flügeln, Blüten und Blättern. Unten eine geschwungene Brücke, in der Mitte ein Pferd, dessen Kopf aus Flammen besteht. Sieht surrealistisch aus. Was kann das sein?
9. April (Dienstag)
Am Morgen habe ich vor dem Weggehen noch so gerade die Chance, von der Dame des Hauses die Namen der portugiesischen Buchstaben zu erfragen, die immer wieder Schwierigkeiten bereiten: h, j, v, w, x, y, z. Das ungeliebte w hat den englischen Namen.
Im Unterricht kommt die Rede auf Literatur, und die Diskussion verselbständigt sich. Von Saramago geht es zu Miguel Torga und dann zu Pessoa. Die Lehrerin nennt ihre Lieblingsautoren: Eça de Queiros, Eugenio de Andrade und natürlich Camôes, den portugiesischen Nationaldichter.
Es geht auch um Sprichwörter. Die sind, wie so oft, ähnlich oder sogar gleich wie in anderen Sprachen: „A cavalo dado nгo se olha o dente“ entspricht ziemlich genau dem geschenkten Gaul, dem man nicht ins Maul schaut, und „Mais vale um passaro na mгo que dois a voar“ hat statt dem Spatzen in der Hand und der Taube auf dem Dach einen Vogel in der Hand und einem Vogel auf dem Dach, drückt aber dieselbe Idee aus.
Am besten ist wieder das, was nur so nebenbei vorkommt, eigentlich ungewollt, vor allem die Aussprache: Ganz einfache Wörter wie se oder que oder menina oder e werden von der Lehrerin anders ausgesprochen als von uns allen.
Nach dem Essen erzählt Rico von seiner unglaublichen Karriere als Hochbegabter, der nach großen schulischen Erfolgen am Ende schulisch strandete und auf Umwegen über eine Kaufmannslehre noch das Abitur nachmachte, als er schon verheiratet war und ein Kind hatte. Er wurde dann durch einen Berufsberater Informatiker und von einem Kunden, einer Rückversicherung abgeworben, die ihm gleich zwei Jahre Südafrika anbot, und danach in jeder Beziehung auf Händen trug. Die Arbeit sei in der ersten Zeit brennend interessant gewesen, aber in den letzten Jahren gar nicht mehr, da nichts mehr entwickelt wurde. Er beschäftigte sich vor allen Dingen mit hohen Risiken wie Erdbeben und Vulkanausbrüchen, und erzählt in dem Zusammenhang, dass das stärkste bisher registrierte Erdbeben in Chile stattgefunden habe. Und dass die Erdbeben in Kalifornien nichts seien im Vergleich zu einer unter der Erde des Yellowstone-Parks schlummernden Erdbebengefahr. Bei einem Ausbruch könnte ganz Nordamerika zerstört werden, der Effekt würde dem von mehreren Atombomben entsprechen. Das sog. Erdbeben von Lissabon, erklärt er, sei eigentlich ein Erdbeben an der Algarve gewesen. Vermutlich war die Algarve zu der Zeit in Mitteleuropa so unbekannt, dass man vom Erdbeben von Lissabon sprach, weil ja schließlich auch Lissabon stark betroffen war.
Am Nachmittag gehen wir mit der Schule ins Museum. Es stellt sich heraus, dass Museo Municipal und Museo Arqueologico ein und dasselbe ist. Es ist in einem alten Nonnenkloster untergebracht. Über dem Kreuzgang sieht man einen weißen Turm mit schmalen Sehschlitzen. Von dort durften die Nonnen hin und wieder sehen, was sich draußen vor den Mauern des Klosters tat. In der Kirche, die auch dem normalen Volk zugänglich war, verfolgten sie die Messe von der Empore aus, die mit einem arabisch inspirierten Holzgitter ausgerüstet ist, durch das man nicht gesehen werden kann.
Das interessanteste Exponat des Museums ist gerade auf Ausleihe in einem anderen Museum, ein länglicher Stein aus der Epoche der Tartessos, dem hier zur Zeit der römischen Eroberung ansässigen Volk. In den Stein eingeritzt sind Schriftzeichen, die Buchstaben ähneln, aus einer Schrift, die nicht identifiziert werden konnte. Präsent sind ein paar andere Steinbrocken, auf denen man die Schriftzeichen aber kaum erkennen kann.
Aus der römischen Zeit gibt es ein längliches Mosaik aus winzigen Steinchen, sehr schön, mit dem Kopf des Oceanus und Resten der Köpfe der vier Winde. Die größte Fläche aber nehmen geometrische Figuren aus bunten Mosaiksteinchen ein. Dies soll eine Straße gewesen sein, aber man kann sich kaum vorstellen, dass man Wagen über ein solch kunstvolles Mosaik hat fahren lassen.
Aus der arabischen Zeit gibt es in erster Linie Haushaltsutensilien, darunter vor allem eine Unzahl von Öllampen. Ich hätte sie glatt für römisch gehalten. Einige sehen aus der Ferne wie Füße aus. Die großen Unterschiede in der Qualität reflektieren soziale Unterschiede.
Oben, wo die Zellen der Nonnen waren, gibt es verschiedene Kunstausstellungen. Unter den Bildern gefallen mir am besten die eines gewissen Carlos Porfirio, wie eine abendliche Straßenszene mit zwei Figuren, die im Halbdunkel neben einer Pferdekutsche stehen. Das gelbliche Licht fällt von einer Laterne außerhalb des Bildes auf das Pflaster und auf die Kleidung der Männer.
Auf dem Rückweg will ich in einem kleinen Laden etwas Brot kaufen, aber die Frau an der Kasse sieht mich hilflos an, als wolle sie sagen: Wie soll ich jetzt diesem Ausländer klarmachen, dass das nicht ist, was er haben will? Dann ist sie geradezu erleichtert, als sie merkt, dass sie Portugiesisch mit mir sprechen kann. Sie erklärt mir, dies Brot enthalte gila. Das wiederum kenne ich nicht, aber ich versichere ihr, dass ich das Wort zu Hause im Wörterbuch nachschlagen werde. Das hält sie für eine gute Lösung und gibt mir erst mal ein anderes Brot. Zuhause erzähle ich dann der Dame des Hauses davon, und sie ringt nach Worten, um mir zu erklären, was gila ist. Am Ende kommt sie auf abobora. Das kenne ich – Kürbis. Aber ich will es noch etwas genauer wissen. Das Wörterbuch erklärt dann gila als ‚Feigen-Kürbis‘. Was immer das sein mag. Jedenfalls nichts, was man normalerweise im Brot erwarten würde.
10. April (Mittwoch)
Am Morgen fragt mich die Dame des Hauses, ob ich noch was zu waschen hätte. Ja, kommt mir sehr gelegen, eine Hose. Als ich ihr das sage, antwortet sie mir mit einem Wort, das ich nicht verstehe. Dann stellt sich heraus, dass ich das „falsche“ Wort benutzt habe, was der Hausherr schmunzelnd zu Kenntnis nimmt. Ich habe pantalon gesagt hätte aber calças sagen müssen. Das /l/in calça ist so stark vokalisiert, dass ich causa verstehe.
Vor dem Unterricht gebe ich das Auto in einer Garage direkt neben der Schule zur Autowäsche ab. Nach dem Unterricht kann ich es abholen, von Hand gereinigt, innen und außen, für 15 €.
Im Unterricht geht es um Umweltverschmutzung. Alle Lehrbücher haben die immer gleichen, langweiligen Themen. Was soll man dazu sagen. Dazu fällt mir schon auf Deutsch nichts mehr ein.
Rico sagt in dem Zusammenhang, dass 40% der Plastikstoffe, die landen, wo sie nicht sein sollten, von Autoreifen herstammen. Erstaunlich, wie wenig bekannt das ist.
Dann wird nach einer Institution in Portugal gefragt, die der Academia Real in Spanien ähnelt. Die Lehrerin windet sich, kann aber die Frage nicht beantworten.
Am Nachmittag nochmal eine Führung. Es geht in zwei Kirchen. Die erste, Sao Pedro, ist traditionellerweise die Kirche der Fischer von Faro. Sie ist gerade renoviert worden und hat ein schönes Äußeres. Innen ist die Kirche alles andere als schön, und es gibt so gut wie nichts zu sehen, und wenn, dann hilft die Führung auch nicht gerade weiter. Ich bemerke höchstens zwei Engel an einem Seitenaltar, die ein Boot in der Hand halten.
Dann geht es zur Carmo-Kirche, gleich auf dem benachbarten Platz. Die schöne spätbarocke Fassade gibt einen ganz falsche Eindruck von der Größe der Kirche. Sie ist erstaunlich klein. Innen wird gerade restauriert, und wir haben nicht viel Gelegenheit, uns umzusehen. Der riesige vergoldete Altar vor der fensterlosen Apsis wäre schon wegen der unübersehbaren Vielzahl von Figuren mehr Aufmerksamkeit wert.
Wir gehen durch die ehemalige Sakristei. Die hat Möbelstücke aus ganz dunklem Holz, vielleicht Ebenholz, einen Tisch mit gedrechselten Enden und einen Archivschrank mit Schubladen mit Messingbeschlägen. Besonders schön die bemalte Holzdecke, in Quadrate aufgeteilt, die alle verschlungene Bänder in gedeckten Farben haben. Jedes Quadrat hat ein Medaillon im Zentrum, mit unterschiedlichen Motiven: eine Sonne, ein Brunnen, eine Krone, ein Baum, ein Stern, ein steinerner Bogen.
Über einen Innenhof geht es dann in die Knochenkapelle. Die ist kleiner als die viel bekanntere in Evora, kann aber fast mit ihr mithalten. Die Muster sind hier immer gleich, an allen Seiten, mit Totenköpfen, die einen Fries bilden und den Flächen Struktur geben, aber hier ist die ganze Kapelle, auch die Decke, mit Knochen ausgefüllt. Die Kapelle stammt aus derselben Epoche wie die in Evora.
Anschließend wird der Vorschlag gemacht, noch irgendwo kurz einzukehren. Gute Idee, aber: Der eine will nicht in der Nähe der Knochenkapelle seinen Kaffee trinken, ein anderer will unbedingt draußen sitzen, eine muss noch schnell in ein Souvenirgeschäft, eine muss noch schnell ihre Tasche ins Hotel bringen, und dann muss die, die sich gerade noch über die anderen beklagt hat, in ein Schreibwarengeschäft. Ich gebe mich geschlagen.
Auf dem Rückweg sagt man mir in einem Café, man habe kleine Gerichte wie bitoque. Erst zuhause finde ich heraus, was das ist: ein Steak mit Spiegelei, Reis und Pommes.
11. April (Donnerstag)
Beim Frühstück kann ich mir, nach all den Klischees der letzten zwei Wochen, die Bemerkung nicht verkneifen, keiner der brasilianischen Fußballer in der Bundesliga, außer Giovanne Elber, habe gut Deutsch gelernt. Ja, aber Deutsch, das sei ja auch eine schwere Sprache, bekomme ich zur Antwort. Dann liegt es also an der Sprache. An den Brasilianern kann es nicht liegen.
Nach dem Unterricht geht es Richtung Osten, nach Villa Real de Santo Antonio, auf dem schnellsten Weg über die Autobahn. Es sind 68 Kilometer, und ich brauche genau eine Stunde. Die Schätzungen gingen heute Morgen beim Frühstück in unterschiedliche Richtungen.
Auf der Autobahn wird die Stadt angekündigt als Cidade do Iluminismo. Das muss ‘Aufklärung’ sein. Habe ich heute im Unterricht noch nach gesucht.
Vor der Ortseinfahrt an einem Kreisverkehr ein Drahtgeflecht, das einen Christusritter darstellt. Später an einem anderen Kreisverkehr ein Mönch, ebenfalls ein Drahtgeflecht.
Villa Real ist absolut sehenswert. Als Beispiel für Stadtplanung. Alle Straßen verlaufen kerzengerade und sind rechtwinklig angelegt. Die heutige Stadt ist ein Ergebnis des Erdbebens von 1755. Nach der Zerstörung des Ortes, der vermutlich nicht mehr als ein Fischerdorf war, wurde die heutige Stadt angelegt, unter Federführung des Marquês de Pombal. Die Stadt ist die kleine Schwester der Baixa von Lissabon. Sümpfe wurden trockengelegt, Baumaterial wurde aus Lissabon angeschafft, und innerhalb von fünf Monaten war die Stadt fertig, auf der Grundlage von vorgefertigten, niedrigen Häusern. Aber, und jetzt wird es erst richtig interessant, die Fischer weigerten sich, in diese Retortenstadt einzuziehen. Sie blieb eine Geisterstadt, bis sie im 19. Jahrhundert wiederentdeckt und bevölkert wurde.
Heute hat man eine schöne Stadt vor sich, mit der Einschränkung, dass sie eindimensional auf touristische Belange ausgerichtet ist. Ich setze mich mit einem Eis auf den schönen zentralen Platz, in den Schatten der Bäume. Es ist richtig warm.
Der Platz ist quadratisch angelegt, mit der Kirche an einer Querseite und einem Obelisken mit Armillarspähre und Königskrone (Villa Real!) in der Mitte. Auf den Obelisken laufen radial weiße Streifen zu, die sich von dem grauen Pflaster abheben.
Überall hört man Spanisch. Die Spanier kommen über die Grenze wie die Luxemburger nach Trier. Hier sind Haushaltswaren und Lebensmittel günstiger. Und das Essen. In den Lokalen wird meist Spanisch gesprochen.
Ich hatte ein Dorf erwartet und keine Stadt und hatte geglaubt, ich könne mal eben zu Fuß über die Grenze gehen. Da hat der Guadiana was dagegen. Der ist hier, kurz vor der Mündung, breit und wasserreich. Es geht nur mit der Fähre oder über die große Brücke auf der Autobahn.
Die zentrale Achse der Stadt führt direkt zum Guadiana hin. Der bildet an zwei Flussabschnitten die Grenze zwischen Spanien und Portugal. Auch damit hat Pombals Plan was zu tun: Er wollte hier eine Stadt etablieren, um den “kleinen Grenzverkehr”, den Schmuggel, in den Griff zu bekommen. Und um ein Gegengewicht zu der spanischen Stadt auf der anderen Flussseite, Ayamonte, zu schaffen.
Ayamonte sieht man auf der gegenüberliegenden Flussseite liegen. Ganz weit rechts kann man die Flussmündung und das offene Meer erahnen. Auf dem breiten Uferboulevard steht eine wunderbare Skulptur von Pombal, aus weißem Stein, vielleicht Kalkstein, aus unregelmäßigen Kuben bestehend. Er sieht ein bisschen wie Sandmännchen aus, mit Strähnen, die auf allen Seiten über seinen Kopf fallen. Man kann kaum entscheiden, wo vorne und hinten ist, allenfalls das angedeutete Schwert gibt einen Hinweis.
Ich fahre auf dem umständlichen Weg über die Autobahn nach Ayamonte, und erledige dort zwei Dinge: das Auto volltanken und die Autobahnlizenz erneuern.
Im Zentrum von Ayamonte sind Strände ausgeschildert, aber die liegen kilometerweit außerhalb der Stadt, und ich bereue es schon, so weit gefahren zu sein. Man kommt dann in eine Art Neustadt, nur für Strandtouristen errichtet. Die ist wie ausgestorben. Am Strand verlieren sich ein paar Menschen beim Ballspiel. Ein paar Liegestühle unter Sonnenschirmen stehen, in Reih und Glied, unbenutzt in der Gegend herum. Ein englisches Ehepaar kommt mir entgegen. Nasse Füße. Die haben mal nachgesehen, wie kalt das Wasser ist.
Auf dem Rückweg komme ich ungewollt über Castro Marim, einen kleiner Ort, ein richtiges Schmuckstück. Ein schöner, unregelmäßiger Platz, ein paar schöne, bunte Häuserreihen, die erhöht gelegene weiße Kirche. Und über allem ein Kastell mit braunen Mauern. Was macht so eine kleine Stadt mit so einem großen Kastell? Castro Marin war der Hauptsitz des Christusritterordens in Portugal, bevor der nach Tomar verlegt wurde.
Castro Marin liegt trotz seines Namens nicht am Meer. Muss aber früh am Meer gelegen haben. Ohne unmittelbarer Lage am Wasser hätten die Römer, auf die der Name zurückgeht, ihr Kastell nicht als castrum marinum bezeichnet. Die Küstenlinie oder der Mündungstrichter des Guadiana haben sich infolge der Erdbebens von Lissabon verlagert.
Auf dem Rückweg bleibt nur noch Zeit für einen Stopp in Tavira, dem dritten schönen Ort, den ich heute sehe. Er ist zweigeteilt, eine ruhige Oberstadt mit Monumenten und Parks, eine geschäftige Unterstadt mit Geschäften und Cafés. Hier ist Englisch angesagt.
In der Oberstadt gibt es ein Unzahl von Kirchen und ein ehemaliges Kloster, ein Riesenbau, der zu einer Pousada umgebaut worden ist, dem portugiesischen Äquivalent zum spanischen Parador. Etwas versteckt, hinter einem maurischen Torbogen, schon in der Nähe der Unterstadt, liegt die Misericordia-Kirche. Die hat ein schönes Renaissance-Portal, das aber restauriert wird. Man kann nur ein paar Figuren an den Gewänden erkennen, darunter Musiker mit Instrumenten, die wie Gitarren aussehen.
Die Einkaufsstraße führt direkt auf den Gilão zu, mit einer älteren, im Ursprung römischen Steinbrücke und einer modernen Holzbrücke für Fußgänger.
12. April (Freitag)
Im Unterricht kommt die Rede auf die Autobahngebühren in Portugal. Rico erzählt, man habe ihm regelmäßig zu viel abgezogen, er habe aber nach längerem Schriftwechsel das Geld zurückbekommen. Sein Auto ist einfach einer falschen, höheren Kategorie zugeordnet worden. Auf Big Brother scheint kein Verlass zu sein. Rico klagt auch über die mangelnde Transparenz. Die Beträge werden abgezogen, aber man bekommt keine Abrechnung und weiß kaum, welcher Betrag für welche Fahrt gilt. Dann kommt es noch heftiger: Die Autobahn, die quer durch die Algarve führt, ist mit EU-Mitteln gebaut worden, mit der Zusage, sie gebührenfrei zu halten. Es wird aber trotzdem kassiert.
Das Lehrbuch hat eine Lektion über Zuwanderung. In dem Zusammenhang erzählt Rico, die Schweiz hätte heute acht Millionen Einwohner, habe aber zur Zeit seiner Kindheit nur vier Millionen Einwohner gehabt. Das ist ganz ungewöhnlich für ein europäisches Land. Ansonsten sind die Einwohnerzahlen eher stabil geblieben.
Als ich aus der Schule gehe, bekomme ich im Vorbeigehen die Antwort der Sekretärin auf die Frage einer Schülerin mit, ob eine Lehrerin am Nachmittag da sein: “É”. So was hätte man mal im Unterricht üben sollen!
Unten sehen wir ein Filmplakat: O Verdadeiro Prémio É Ver Tudo. Das ist das Pronomen tudo, als Gegenstück zu dem Adverb todo.
Das Mittagessen, das letzte gemeinsame, zieht sich in die Länge, so dass ich am Nachmittag nur noch einen Spaziergang am Kai entlang mache. Es ist Ebbe, und es riecht ein bisschen streng vom Meer her, aber kein Vergleich zu dem Tag der Ankunft. Und es ist richtiges Sommerwetter, trocken, heiß und sonnig.
Nach einer Pause in einem Park gehe ich, ohne genau zu wissen, wo ich bin, grob in die Richtung nach Hause. Unterwegs suche ich in einem Supermarkt nach Sekt, finde aber keinen, wohl aber lange Reihen von Wein. Eine Verkäuferin sagt mir, der Sekt sei unter Verschluss und holt mir eine Flasche raus. Dazu kaufe ich folar, einen verpackten Kuchen, der einfach gut aussieht, rund und klein. Er ist jetzt überall hier zu sehen. Zusammen mit dem Sekt ist er ein kleines Geschenk für die Gastfamilie.
Später stellt sich heraus, was das überhaupt ist, dieser folar. Er ist ein Kuchen, den traditionellerweise Paten an Ostern ihren Patenkindern schenken, jedes Jahr, bis zu deren Hochzeit. Im Laufe der Zeit hat sich die Bedeutung von folar erweitert. Es bedeutet jetzt auch ganz allgemein ‘Ostergeschenk’. Auch ein Geldgeschenk ist jetzt folar. Regional gibt es erhebliche Unterschiede in der Form und Zubereitung des folar, wie ich schon am nächsten Tag in Penela feststellen kann.
13. April (Samstag)
Die Rückfahrt wäre ereignislos verlaufen, hätte ich nicht gleich hinter dem Ortsausgang von Faro einen Anhalter mitgenommen. Brite? Nein, Deutscher. Flug verpasst, Freunde weg, kein Geld mehr, Geldkarte funktioniert nicht – der Automat sage ihm immer, er solle die Karte umdrehen – Aufladekabel im Auto eines Freundes liegen lassen. Zu allem Übel ist er an der Algarve auch noch einen Abhang runtergefallen und hat sich richtig wehgetan.
Jetzt soll es nach Lissabon gehen, zur Botschaft. Nach Lissabon fahre ich nicht, aber ich kann ihn ein ganzes Stück in die Richtung bringen.
Ich schlage ihm vor, sein Handy an meinem Zigarettenanzünder mittels der magischen Applikation aufzuladen. Das gehe nicht, er habe eine ganz schmale Buchse an seinem Handy. Ich auch. Aber er habe ein Nokia. Ich auch. Er will es trotzdem nicht versuchen.
Ob es denn an der ganzen Algarve kein deutsches Konsulat gebe, will ich wissen. Nein, nur Lissabon. Das kommt mir erst etwas merkwürdig vor, aber dann erinnere ich mich an Asturien und dass ich von dort nach Madrid gemusst hätte.
Dass er den Flug verpasst hätte, das liege nur an der Polizei. Die habe bei ihm alles durchsucht, selbst die Tabletten. Und die Fluglinie habe ihm keinen Ersatz angeboten. Das findet er nicht richtig, auch wenn der Flug nur 15 € gekostet hätte.
Wo genau an der Algarve er gewesen ist, weiß er nicht mehr. Bei einem deutschen Freund. Die Nachbarn seien sehr nett gewesen, hätte ihm Oliven und Eier geschenkt. “Dann hab ich mir noch en Brot gekauft gehabt.”
Mit den Freunden hat es Ärger gegeben. Er habe seine Stangen Zigaretten verschenkt, und da seien sie sauer gewesen, weil sie ihre nicht mehr verkaufen konnten. Und sie hätten ihn immer wieder gedrängt, medronho zu trinken. Für den würden sie ja in Portugal sogar Schlangen verwenden. Er trinke lieber ein Bier – ganz gepflegt. Und dazu Sauerbraten. Aus Pferdefleisch. Zweieinhalb Kilo. Das werde dann eine ganze Woche eingelegt. “Das hat mir so richtig gemundet.”
Woher ich denn in Deutschland käme, will er wissen. Trier? Da war er schon mal, glaubt er, da gebe es so schöne Fachwerkhäuser.
Er ist aus Marl. Chemische Werke Hüls. 44 Jahre eingezahlt. Aber dann ging nichts mehr. Bandscheibe. Aber auch Schlosser und Schreiner war er. Hat den Knast in Gelsenkirchen gebaut. Und in Ostberlin Geschäfte gemacht. Mit Kabeln. 800 Meter an einem Tag verkauft. Er hatte einen Generalschlüssel zu einem Warenlager, den nicht einmal Honecker hatte. Zweimal links, zweimal rechts schließen, dann hätte keiner mehr reingekonnt außer ihm.
Und Lastwagen. Mit glühenden Reifen durch die Vogesen. 6 Tonnen o.b. aus England nach Deutschland gebracht. Und Inder zwischen den Waren versteckt über die Grenze geschmuggelt.
In Lissabon war er schon einmal. Gefährlich. Neger auf der Straße. Die hätten ihn überfallen, und die Polizei hätte von nichts wissen wollen. In Spanien hat er mal am Strand einen Zusammenstoß mit der Polizei gehabt. Die hätten seinen Gaskocher konfiszieren wollen. Dann hätte einer von ihnen aber nachgegeben. Aber der andere sei zurückgekommen und habe den Gaskocher ausgetreten.
Dann muss ich ihn unterbrechen. Es kommt die Gabelung auf der Autobahn. Ich biege rechts ab, er muss nach links. Was tun? Ich soll ihn an der Raststätte rauslassen. Aber da ist er in der falschen Richtung, und viel Verkehr ist hier auch nicht. Und Trampen in Portugal nicht gerade an der Tagesordnung.
Wir trinken einen Kaffee und sehen uns die Sache auf der Karte an. Es ist wohl besser, wenn ich ihn noch ein Stück mitnehme und dann kurz von der Autobahn abfahre. So kommt er auf eine Nationalstraße, die nach Lissabon führt.
Mir sinkt das Herz, als ich auf einem seiner ausgedruckten Blätter sehe, dass die Botschaft am Wochenende geschlossen ist. Dann sehe ich aber auf einem anderen Blatt, dass es wohl einen Notdienst gibt. Trotzdem. Er muss erst mal dahin finden. Portugiesisch spricht er nicht. Und Englisch auch nicht. “Nur Deutsch.”
Ich setze ihn, wie vereinbart, an der Nationalstraße ab. Und schärfe ihm noch einmal ein, in welche Richtung es geht. Ohne Überzeugung sage ich zum Abschied, er sei ja jetzt einen Schritt weiter. “Zwei Schritte”, sagt er.
Später fällt mir ein, dass ich ihn viel besser nach Santarém mitgenommen und direkt zum Busbahnhof gebracht hätte. So viel weiter ist es von dort nach Lissabon auch nicht.
Dann geht es alleine weiter, mit Station in Santarém. Samstag zur Mittagszeit, trübes Wetter, alles geschlossen, eine wie ausgestorben wirkende Stadt, schon etwas erschöpft von der Fahrt: keine guten Bedingungen, um sich in Santarém zu verlieben. Aber auch bei besseren Bedingungen wäre der Eindruck wohl eher gemischt. Es gibt überall Bauzäune und heruntergekommene Ecken, dann aber taucht plötzlich ein schöner Platz auf, und noch einer, und Kirchenfassaden mit schönen Rosetten.
Die wohl älteste Kirche war Theater und dann Archäologisches Museum und dann Stadtmuseum und ist jetzt wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. Vor einer anderen Kirche, der mit der schönsten Rosette, steht ein monumentales Denkmal für Pedro Álvares Cabral, den Entdecker Brasiliens. Er ist in der Kirche bestattet. Er hält ein Kreuz und ein Schwert in der Hand. Das Schwert ist viel größer als das Kreuz, und das Kreuz hält er hoch erhoben vor sich, so als wolle er damit Dämonen vertreiben.
Über eine breite Straße mit Häusern, die wohl mal was hergegeben haben müssen, geht es auf eine große Esplanade am Ende der Stadt. Das ist das Areal der ehemaligen maurischen Festung. Ein paar Mauerstücke mit Zinnen und Schießscharten sind noch erhalten. Von hier oben sieht man auf die flache Ebene des Ribatejo und auf den Tejo selbst. Der wirkt hier wie ein stehendes Gewässer. Eine lange Brücke führt über ihn.
Hier in der Stadt kann man an verschiedenen Stellen abstimmen, mittels Zigarettenkippen. Es sind zwei Aschenbecher aus Plastik in Zylinderform nebeneinander angebracht. Über jedem steht eine Antwort auf eine Frage, die darüber gestellt wird. Hier kann man zum Beispiel abstimmen, welcher der schönste Park Santaréms ist, der Jardim da Libertade unten in der Stadt oder der Jardim das Portas do Sol hier oben. Der hier liegt knapp in Führung.
In einer schmalen Gasse steht vor einem Café Werbung für Licor de Merda, mit einer kleinen Zeichnung, die keinen Zweifel zulässt, was gemeint ist. Ich gehe rein und frage danach. Die Erklärung für den Namen verstehe ich nicht, wohl aber, dass es ihn schon seit 44 Jahren unter diesem Namen gibt. Er sei aus Milch hergestellt. Zur Sicherheit frage ich noch einmal nach: Milch? Ja, er enthalte Karamell, aber die Basis sei Milch. Nach Karamell schmeckt er wirklich, nach Milch überhaupt nicht.
Bei der Rückfahrt geht es durch einen Ort, der Chamusca heißt. Leider ist nirgendwo eine Information zu dem Ursprung des Namens zu finden. Wer hat da was angesengt?
Es geht über die große Brücke über den Tejo und später über eine schöne, geschlossene, rostbraune Eisenbrücke. Je weiter die Fahrt geht, umso trüber wird das Wetter, und kurz vor der Ankunft fängt es an zu regnen. Das Beira kommt mir jetzt regelrecht alpin und wie eine grüne Oase vor.
14. April (Sonntag)
Im Reiseführer lese ich, dass es gleich zwei deutsche Konsulate an der Algarve gibt, in Faro und in Albufeira, wenn auch nur Honorarkonsulate. Der Reiseführer empfiehlt auch, bei Geldmangel erst alle möglichen anderen Wege auszuprobieren, wie Überweisungen ins Ausland. Die Botschaften handhaben die Gewährung von Krediten sehr restriktiv und nehmen ordentliche Zinsen dafür.
Zufällig stoße ich auf eine Erklärung für den Namen Santarém. Die Stadt ist nach der Heiligen Irene benannt! Wenn man’s weiß, ist es klar.
15. April (Montag)
Die schwarzen Autokennzeichen waren bis 1991 gültig. Dann wurden sie von den weißen abgelöst. Alle Kennzeichen haben drei Gruppen à zwei Zeichen, Zahlen und Buchstaben. Das System begann mit XX-99-11. Dann kam 99-11-XX, jetzt sind sie bei 99-XX-11!
“Zeichne, das macht weniger Lärm.” Sagte Karl Lagerfelds Mutter und klappte das Klavier zu, auf dem er herumklimperte.
In einer kleinen Textsammlung entdeckt: “Quem conta um conto acrescenta um ponto.” Entspricht grob einem englischen Zitat, das mal an der Uni vorkam: “No good story is ever quite true.”
16. April (Dienstag)
Wieder über einen kleinen Unterschied in der Alltagskultur gestolpert. Der Kopfsalat muss gewogen werden. Eier werden hier, wie früher bei uns, im Dutzend verkauft. Warum sich das bei uns wohl geändert hat? Milch und Butter kommen häufig von den Azoren, an der Algarve noch mehr als hier.
Am Abend Stau in Las Rosas! Was ist hier los? Eine Schlange an der Tankstelle, an der ich am Morgen noch der einzige Kunde war, bildet einen Rückstau bis auf die IC3. Selbst der Kreisverkehr ist blockiert. Ein Gefühl wie in Griechenland: Wird das Benzin rationiert? Oder gehen die Preise morgen in die Höhe? Oder wird der Tank noch mal gefüllt, bevor es auf die Reise in die Osterferien geht?
“Besser gut abgeschaut, als schlecht selbst gebaut” (Daniel Düsentrieb, nach Erika Fuchs)
17. April (Mittwoch)
Der nächste Besuch aus der Heimat. In dem Moment, wo der Zug einfährt, hört es zum ersten Mal am Tag für einen Moment zu regnen auf.
Die beiden kennen die Antwort auf die Benzinfrage: Die Tanklastwagenfahrer in Portugal befinden sich im Streik!
Die beiden sind von Porto aus einen Tag ans Meer gefahren, in einen Ort namens Matosinhos, und haben sich dort Räder geliehen, um an der Küste entlang zu fahren. Bestes Wetter, beste Infrastruktur. Kann man sich merken.
Wir machen bei Nieselregen einen Spaziergang durch Coimbra: Casa Nau, Einkaufsstraße, Santa Cruz, zur Sé hinauf und dann zur Uni. Die beiden wundern sich, wie auch schon in Porto, über die vielen verlassenen oder sogar verfallenden Häuser.
Auf dem Weg zur Hütte machen wir Halt in Penela und trinken ein Bier. Dazu gibt es ein wunderbares, auf einer Holzplatte liebevoll angerichtetes Sortiment von Käse und Wurst. Neben verschiedenen Arten von gebratener choriço gibt es auch etwas, was mich an Panhas und Leberbrot erinnert und tatsächlich mit Mehl zubereitet wird. Und auch farinheira heißt.
Den Abend verbringen wir bei Dauerregen in der Hütte. Dabei lerne ich, was mit Bewährung gemeint ist und was Dreiseitenfußball ist. Und welche Vorteile E-Roller haben. Und wie das deutsche Bildungssystem zu retten ist.
18. April (Gründonnerstag)
Entgegen allen Erwartungen und Prognosen ist es am Vormittag richtig schön. Wir gehen einmal um das Grundstück und teilen unsere Begeisterung für verfallene Häusermauern aus Naturstein, die von der Natur in Besitz genommen werden.
Wir machen eine Rundfahrt in der Umgebung: Espinhal, Miranda, Lousã. In der Sonne zeigen sich alle drei von der besten Seite.
An der Burg in Lousã entziffere ich mit Hilfe eines Übersetzungsprogramms eine mehrfaches Wortspiel, angebracht neben verschiedenen Piktogrammen auf einer Tafel, an der Verhaltensweisen für die Umgebung aufgelistet sind: Nada tire, a não ser fotografias – Nada deixe, a não ser pegadas – Nada mate, a não ser o tempo – Lousa conVIDA NATURALmente!
Die beschnittenen Kopfweiden, aus deren Ästen Blätter austreten, lösen unterschiedliche Kommentare aus. Ich finde sie schön, die anderen finden, man solle die Bäume wachsen lassen und nicht in die Natur eingreifen.
In Lousã selbst, wo sich der Himmel langsam zuzieht, fragt uns die Wirtin in einem Café, ob wir Deutsche seien. Es hat ein Busunglück in Madeira gegeben. Eine deutsche Reisegruppe ist betroffen. Die Wirtin erzählt, ihre Tochter lebe in Madeira, in der Nähe der Unglücksstelle. Mit einem typischen Mutterblick, einer Mischung aus Wehmut und Stolz, erzählt sie, dass ihre Tochter Anwältin ist und dort ein eigenes Unternehmen hat.
Vor dem Regen flüchten wir in die Hütte, aber am späten Nachmittag wird es doch wieder schön und wir können einen Spaziergang um das Dorf machen. Es stellt sich heraus, dass ich nicht der einzige bin, der Respekt vor Hunden hat.
Unterwegs fragen wir uns, welche von zwei Baumarten, die hier in vielen Exemplaren am Wegesrand stehen, Korkeichen sind. Bei der einen sind die Blätter (un)passend, bei der anderen die Rinde.
Wir stoßen am Wegesrand auf ein “Ölmuseum”. Es sind verschiedene Instrumente ausgestellt, die in der Ölherstellung zum Einsatz kommen, darunter eine Presse mit einem breiten Holzbalken, ein Mühlstein (weswegen wir zuerst glauben, es habe was mit Brot zu tun), ein großes Rad, das mit Hilfe eines Blasebalgs bewegt wird und ein “Zapfhahn”. Ich bin hier schon mehrmals vorbeigelaufen, ohne das alles zu bemerken.
An dem Schild Taverna in Viavai ist nicht vorbeizukommen. Wir können uns in den Sonnenschein nach draußen setzen und ein Bier trinken. Die beiden können die niedrigen Preise gar nicht fassen.
Als wir uns auf den Weg machen, fragt Pamela nach der Algarve. Auf meine zurückhaltenden Kommentare erklärt ein Engländer: “The prices are too high and the sea is too cold.”
Am Abend geht es ins D. Sesmondo. Reservierung per Internet hat perfekt funktioniert, einschl. Gerichte. Wie immer erstklassige Bedienung und gutes Essen. Nur gibt es die ominösen grelos nicht. Ob das vielleicht saisonal bedingt ist? Aus den Gemüsegärten sind sie auch teilweise verschwunden.
Wir kehren auf dem Rückweg noch kurz bei Pascoal in Carvalhais ein. Wo sind die ganzen Benfica-Anhänger? Sind sie nach dem Ausscheiden auf schnellstem Weg nach Hause gegangen? Oder ist der Fußball diesmal in der Caparica gelaufen? Auf dem Rückweg sehen wir dort eine ganze Reihe Autos stehen.
Wir entschädigen uns für den entgangen Fußball mit der Diskussion der schweren Frage, warum (und ob) es keine Fußballvereine in Deutschland gibt, die Farben im Namen tragen, von denen nicht mindestens eine Weiß ist. Es gibt Rot-Weiß und Schwarz-Weiß und Grün-Weiß und Blau-Weiß, aber es gibt nicht Schwarz-Gelb oder Blau-Rot.
Zuhause gibt es noch eine Lehrstunde zur Berechnung der Ausdehnung von Materialien bei Hitze. Und zu der Frage, wie das zu erklären ist, damit es auch ein Berufsschüler versteht. Ich finde es gar nicht so einfach.
19. April (Karfreitag)
Aprilwetter: In heftigem Regen, der das Autofahren sogar auf der Autobahn erschwert, geht es nach Coimbra. Dort setzen wir uns in ein Straßencafé und essen Eis. Und auf der Rückfahrt regnet es bei Sonnenschein. Der Teufel hat Hochzeit.
Überraschung am Fahrkartenschalter: Der ausgewählte Zug, ein IC, ist ausgebucht, der nächste, ein Alfa, ebenfalls. Feiertagsverkehr? Für den darauf folgenden Zug gibt es Fahrkarten, aber nur noch in der 1. Klasse. Auf jeden Fall müssen wir warten. Wir fahren zurück und gehen über die Brücke auf die andere Seite des Mondego, um einen Blick auf die Ruinen von Santa Clara zu werfen. Wird sich auf jeden Fall lohnen, sich das einmal genauer anzusehen.
Gleich daneben machen wir eine Pause im Pinto d’Ouro, dem ‘Goldenen Küken’. Was an der Theke ausliegt, sieht sehr gut aus, ein Grund, noch mal wiederzukommen. Die beiden nehmen sich davon etwas als Marschverpflegung mit und dampfen dann ab nach Porto und von dort bald ins sonnige Deutschland.
20. April (Samstag)
Unterwegs höre ich im Radio ein Interview mit einer portugiesischen Frau, die durch die halbe Welt trampt und jetzt in Guinea-Bissau ist. Ich kann die Redakteurin viel besser verstehen als sie, und das nicht nur wegen der Tonqualität.
Es geht in den Parque Biológico da Serra de Lousã, der sich nicht etwa in Lousã, sondern in Miranda befindet. Dort in einem Café gibt mir eine Kellnerin genaue Instruktionen, wie ich dorthin komme. Man versteht alles.
In dem Park gibt es ein weitläufiges Tiergehege – nur einheimische Tiere sind vertreten – und eine Ausstellung. Und am Rand der verschlungenen Wege, die Auf und Ab führen, stehen einheimische Bäume mit Etikettierung. Das ist alles sehr schön angelegt. Viele Familien mit jungen Kindern sind unterwegs, aber das Gelände ist groß genug, damit man sich nicht auf die Füße tritt.
In dem Ausstellungsgebäude bin ich fast alleine. Es gibt erst eine Zeitlinie, auf der Meilensteine der Zivilisation eingetragen sind, nach Kontinenten aufgeteilt. Wenn die stimmt, hat Europa die Nase vorn. Nirgends scheint es so alte Kunstwerke wie die Höhlenzeichnungen bei uns zu geben. Der Übergang des Menschen über die Bering-Straße nach Amerika erfolgte erst danach. Die ältesten Zeugnisse in Asien sind Keramikwaren aus Japan, aus der Jomon-Kultur. Dann folgt Jericho als erste Stadtgründung, nur kurz nach dem Beginn der Mammutjagd in Amerika. Die ältesten Kulturen in Amerika sind die in Peru, Oca und Quina. Die ersten städtischen Kulturen in Europa sind die der Minoer in Kreta. Die entstehen etwa zeitgleich mit Stonehenge. Als älteste Schriften werden die Keilschrift im Zweistromland und die ägyptischen Hieroglyphen genannt. Und was ist mit China? Die Vinca-Kultur aus Südosteuropa wird zwar genannt, aber ohne Erwähnung einer Schrift. Sie würde im Zweifelsfalle noch vor Hieroglyphen und Keilschrift liegen.
Die Jahreszahlen sind hier eher vorsichtig geschätzt, bei den Höhlenzeichnungen z.B. 17000. Damit wären sie jünger als sonst oft behauptet.
Dann geht es in einen anderen Raum und auf unsere Gegenwart zu, mit Exponaten aus dem Alltagsleben, aber auch aus der Gesellschaft. Die Objekte sind nach Themen angeordnet, deren gemeinsamer Nenner die Freiheit ist: Libertad de Inovar, Libertad do Pensamento, Libertad de Inventar, Libertad de Produzir usw.
In einem von vielen Dreiecken erscheinen die drei wichtigsten Teile der mediterranen Ernährung: Öl, Brot, Wein. Auf einer Zeitleiste sieht man, was wann erfunden wurde: Getreide vor 12.000 Jahren, Wein vor 10.000 Jahren, Mais vor 7.500 Jahren, Öl vor 5.000 Jahren.
In einem weiteren Dreieck erscheinen Fernglas, Lupe und Mikroskop. Sie stehen für den Willen, weiter zu sehen, Einzelheiten zu sehen, das Unsichtbare zu sehen.
Ein auffälliges Exponat ist eine geradezu monströse Druckmaschine aus verrostetem Eisen, mit Hebeln, Ketten, Riemen und Rohren. Sieht sintflutartig aus, ist aber noch nicht so lange her, dass man so druckte. Statt mit ein paar Klicks auf der Tastatur.
Zum Schluss kommt auch noch etwas zu Miranda. Dabei hilft mir eine kleine, freundliche Aufseherin mit dicker Brille auf die Sprünge: Casa de Gaiato. Was kann das sein? Es ist ein Kindergarten. Miranda hatte den ersten portugiesischen Kindergarten, 1940. Der war der Initiative eines Paters zu verdanken, dessen Bild darüber erscheint. Er gründete auch ein Heim zum Zusammenleben von Erwachsenen jeder Provenienz und jedes Alters, einschließlich von Behinderten, eine Vorstellung, die heute sehr modern klingt.
Schließlich hilft mir die Frau auch noch, den Titel eines weiteren Abschnitts zu verstehen: Triste Vida. Ist es das traurige Leben von Menschen, die in Armut und Elend leben? Nein, es ist einfach die regionale Bezeichnung für eine Schubkarre!
Die Tierschau draußen beginnt mit Nutztieren. Der Reiz liegt darin, dass man verschiedene Arten einer Gattung, in benachbarten Gehegen untergebracht, gut unterscheiden kann. Ich hätte nie gedacht, dass Schweine so unterschiedliche Ohren haben!
Bei zwei Schweine-Rassen, dem Altentejo-Schwein und dem Bisara-Schwein, heißt es, die Tragezeit dauere drei Monate, drei Tage und drei Stunden. Kann das stimmen?
Die dunkelgraue, fast schwarze Bisara-Sau steht draußen, die Jungen, hellgrau mit rosa Flecken, liegen am Eingang der Hütte ineinander verschlungen und übereinander gestapelt.
Beim Truthahn (portugiesisch peru) hat das Männchen einen unschönen, roten Appendix am Hals, der zu allem Übel mit dem Alter auch noch wächst!
An dem Übergang zum eigentlichen Park befindet sich ein Labyrinth. Davor stehen von Grundschülern gebastelte Vogelscheuchen. Erstaunlich, welche Vielfalt hier herrscht. Neben den eher klassischen Typen gibt es ein kurzbeiniges Pferd, nicht größer als ein Hund, aber breit wie ein Bär, mit mittelalterlicher Rüstung, einen Cowboy mit Knarre und einen Zauberer mit Zauberstab. Und Handtasche!
Die Wände des Labyrinths bestehen aus kurz gehaltenen Obstbäumen und Fruchtbäumen, die ineinander übergehen und ein durchgehendes Geflecht bilden: Birnbaum, Pflaumenbaum, Pfirsichbaum, Haselnussbaum, Apfelbaum, Olivenbaum, Feigenbaum, Quittenbaum (marmeleiro) usw. Leider haben die Bäume derzeit weder Blüten noch Früchte.
Über das ganze Gelände verstreut stehen landwirtschaftliche Geräte wie ein Schöpfrad (nora, das gleiche Wort wie für ‘Schwiegertochter’), Geräte zum Säen (vor allem für Mais und Bohnen), die wie Fahrräder ohne Sattel aussehen und beim Säen eine gerade Linie garantierten, und ein Gerät zum Heben von Lasten.
In dem eigentlichen Park sieht man dann wilde Tiere, darunter Braunbären. Die liegen, tief atmend, so dass man die Bewegungen ihres Brustkorbs sieht, in ihrem Gehege. Es heißt, Braunbären seien morgens und abends aktiv. Der Rest des Tages ist Siesta.
In der Voliere gibt ein Milan ein Beispiel seiner Flugkunst. Er hat weite Schwingen, die man ihm, wenn er sitzt, gar nicht zutraut. Einen am Boden sitzenden Uhu, der gelegentlich seinen Kopf dreht, ohne den Rest des Körpers zu bewegen, sehe ich nur, weil andere von ihm ein Photo machen. Sein Gefieder ist eine perfekte Tarnung. Die nachtaktiven Tiere wie Mungo und Marder lassen sich erst recht nicht sehen.
Bei den Mufflons hat es wohl Nachwuchs gegeben. Es gibt Kleine und Kleinste. Sie streiten sich um den Vorrang an der natürlichen Trinkquelle. Die Mufflons sind aufgeklärte Vegetarier. Eigentlich fressen sie Grünzeug, zur Not aber auch Insekten und kleinere Säugetiere.
Bei den Bäumen fällt mir ein Eukalyptus mit sehr breitem Stamm auf. In freier Wildbahn hier bei uns im Wald sind sie viel dünner. Es heißt, das Holz des Eukalyptus werde auch in der Papierproduktion verwendet
Zum Schluss sehe ich in einem abgetrennten Gehege eine dreibeinige Ziege. Sie hat das gesunde Vorderbein als Stütze quergestellt und quält sich, nach vorne gebeugt, mühsam vom Stall zur Trinkschale. Für einen Moment ist man überwältigt von Mitgefühl mit dem Leiden der Kreatur.
21. April (Ostersonntag)
In Saramagos Memorial do Convento taucht unter den von der Inquisition Angeklagten ein gewisser Manuel Mateus auf, der mit Spitznamen Saramago heißt. In der Übersetzung lautet sein Spitzname Hederich. Damit geht natürlich die Anspielung auf den Namen des Autors verloren, der Selbstbezug, wohl auch zu verstehen als Anspielung auf die Anfeindungen, denen Saramago in der Salazar-Zeit in Portugal ausgesetzt war. Dass saramago nebenbei auch den Hederich bezeichnet, eine zu den Kreuzblütlern gehörige Pflanze, ist dabei wenig relevant.
Beim portugiesischen Alphabet ist bei der Nennung des Buchstabens <q> Vorsicht geboten. Er heißt /ke/, nicht /ku/, wie im Spanischen. Im Portugiesischen ist cu ein eher derbes Wort für das Hinterteil – spanisch culo.
22. April (Montag)
Beim Laufen steht am Straßenrand ein Mann und wartet. Er macht eine anerkennende Geste. Er heißt Elder. “Até outro dia!”
Kurz vor der Hütte ein Mann mit Sichel auf einer Wiese. Er muss meine Frage, was er da mache, ziemlich dämlich finden. Gras schneiden, sieht doch jeder. Für seine Tiere? Ja. Für Ziegen? Ja. Für die Ziege. Singular.
23. April (Dienstag)
Tag des Buches beginnt mit Lektüre: O Meu Pé de Laranja Lima. Ein Jugendbuch. Das trifft sich gut. Die Erwachsenen erklären dem Jungen etwas, was mir genauso nützlich ist. Portuga, der väterliche Freund von Zézé, erzählt von seiner Kindheit und erwähnt dabei parreiras. Er schiebt sofort die Erklärung hinterher, dass das die “Bäume der Weintrauben” seien. Weinreben. Ohne die Erklärung hätte ich es mit pereira verwechselt, ‘Birnbaum’.
In einer anderen Passage spricht Portuga von der Herstellung von Käse. Für Zézé klingt es nicht wie queijos, sondern wie caijos. Genau der Laut, der mir seit drei Monaten Rätsel aufgibt.
Durch eine Mail kommt mir wieder Göttingen in Erinnerung. Das ist ein französischer Chanson, von einer Sängerin, die Vorbehalte gegen Deutschland hatte und dort erst nicht auftreten wollte. Sie fand zuerst ihre Vorbehalte bestätigt, revidierte sie dann aber. Und das fand seinen Ausdruck in dem Lied. Die Mitschülerin, die mich in Faro darauf aufmerksam machte, kam aus Göttingen.
Heute wird es gar nicht richtig hell. Und es regnet. Und wenn es mal nicht regnet, hagelt es. Immerhin gab das Gelegenheit zu einem Photo, das zu einem der Klassiker der Reise werden kann, gemacht durch das Fenster des Cafés in Penela. Ein trister Anblick, aber so trist, dass es auch wieder schön ist. Ein Farbphoto, das wie ein Schwarz-Weiß-Photo aussieht.
In dem Café probiere ich ein Gebäckstück, broihna, ein kompaktes Gebäckstück, nicht allzu süß, mit Rosinen und Zitronat. Das Wort ist wohl von broa abgeleitet, aber es schmeckt nicht danach.
In einer Zeitungskolumne lese ich, dass Portugal in dreißig Jahren nur noch sechs Millionen Einwohner haben wird, von denen 70% über 65 Jahre sein werden. Bei aller Vorsicht solchen Prognosen gegenüber: Das will was heißen!
24. April (Mittwoch)
Die durchschnittliche Niederschlagsmenge pro Jahr in Portugal (1014 mm) ist höher als die in Deutschland (658 mm). Das erfahre ich ja jetzt hautnah. Dafür sind aber nicht mehr Tage pro Jahr nötig als in Deutschland. Davon ist hier nicht so viel zu merken. Die regionalen Unterschiede sind in Portugal vermutlich größer als in Deutschland. Coimbra liegt etwa im Durchschnitt. Statistisch gesehen ist es hier wärmer als in Deutschland (15,7° # 9,7°), und es gibt auch mehr Sonnenstunden (2463 # 1615). Die Realität will momentan von der Statistik wohl nichts wissen.
In dem Fenster eines Cafés in Penela sehe ich eine Anzeige für eine zu vermietende Wohnung. Da erscheint T3, wie in vielen Wohnungsanzeigen. Bezieht sich wohl auf die Zahl der Zimmer.
Im Fernsehen heißt es, die Portugiesen hätten noch nie so viel geklagt wie 2018. Aber Klage ist hier, anders als ich es erst verstanden habe, wohl im rechtlichen Sinne gemeint: Noch nie sind so viele Klagen bei Gericht eingegangen
25. April (Donnerstag)
Feiertag. Freiheitstag. Jahrestag der Nelkenrevolution. Die Geschäfte sind geschlossen, aber sonst merkt man wenig davon. Hier im Dorf geht das Leben ohnehin seinen ländlichen Gang, mit Traktoren und Motorsägen. Auch die Hunde stellen wegen des Feiertags ihr Bellen nicht ein.
Auch auf Nachfrage ist nicht herauszufinden, ob irgendwo etwas Aufregendes stattfindet. Nur ein paar Reden und Zeremonien. Bei dem Regen hat man ohnehin keine große Lust auf Aktivitäten außer Haus.
26. April (Freitag)
Am Morgen kurzer Auftritt der Sonne. Sehr willkommen nach den grauen Tagen. Auf dem Weg nach Miranda aber wieder überwältigender Eindruck der nebelverhangenen Berge, ohne Sonne.
Wieder steht der alte Mann am Straßenrand. Fast hat man den Eindruck, er habe auf mich gewartet. Er scheint sich an mich erinnern zu können, und auch an Dede, nach der er sich erkundigt. Ich lasse ihn am Ortseingang raus und lüfte erst mal kräftig durch.
In einem Café in Miranda sehe ich ein Plakat mit der Aufschrift Tabaco Aquecido. Das Wort kommt mir von der Heizung her bekannt vor, aquecimento. Das müssen elektronische Zigaretten sein.
Im Unterricht geht es um die Nelkenrevolution. Wir hören Grandola Vila Morena, das Lied, das Lied, das eine Art geheimer Auftakt zur Revolution war. Die eigentlich keine war, sondern ein Staatsstreich. Zur Revolution, wenn das denn überhaupt das richtige Wort ist, wurde sie erst durch die Zustimmung des Volkes. Das Volk war zunehmend gegen das Regime eingestellt, vor allem wohl wegen der Kolonialkriege. Portugal hatte seine Kolonien immer noch nicht in die Freiheit entlassen. Aber die konnten nur mit gewaltiger Militärpräsenz im Zaun gehalten werden. Alle portugiesischen jungen Männer mussten vier Jahre lang zum Militär, zwei Jahre hier in Portugal, zwei Jahre in die Kolonien. Viele kamen verstümmelt oder erkrankt zurück. Filomena kannte einen jungen Mann, der scheinbar gesund zurückkehrte, aber dann erkrankte, als Spätfolge des Einsatzes, und an der Krankheit verstarb. Das Lied hat einen nicht sonderlich anspruchsvollen, auf den ersten Blick unpolitischen Text, aber mit suggestiven Wörtern wie povo, fraternidade, igualdade versehen. Im Hintergrund hört man marschierende Soldaten.
Bei den Wohnungsanzeigen, erfahre ich, steht T3 für Tipologia 3. Das bedeutet drei Zimmer, Küche, Bad und Wohnzimmer nicht eingeschlossen.
In dem Laden in Miranda löse ich mit meinem Makkaroni-Portugiesisch allerlei staunende Gesichter aus. Dabei will ich nur wissen, welche Kartoffeln für meinen Zweck am besten sind. Ich versuche es am Ende mit tortilla, aber die ist hier unbekannt. Unglaublich, dass die politische Grenze hier auch eine so harte kulinarische Grenze ist.
Auf dem Rückweg sehe ich Wanderer, eine große Gruppe, weit auseinandergezogen. Schon bei der Hinfahrt habe ich welche gesehen. Sie scheinen alle zusammenzugehören, denn sie sind irgendwie uniformiert. Wo kommen sie plötzlich her? Bisher habe ich hier nur ganz vereinzelt mal ein einzelnes Paar von Wanderern gesehen, mehr nicht. Dann geht mir plötzlich ein Licht auf: Fatima! Ab dem 13. Mai geht es dort so richtig los.
Dann mache ich Halt in der Bäckerei in Espinhal. Statt des Bäckers steht eine kleine, alte Frau hinter der Theke. An der lehnt sich ein ebenso alter Mann an. Er fragt mich, ob ich Engländer sei. Nein. Dann wird er richtig gesprächig. Er hat als junger Mann in Deutschland gearbeitet, in Freiburg, bei einer Firma, die Uhren herstellt. Den Namen kann ich nicht identifizieren, wie ich überhaupt Schwierigkeiten habe, seine deutschen Brocken, von denen im Laufe des Gesprächs immer mehr zum Vorschein kommen, zu verstehen. Am längsten dauert es bei ballaballa. Seine Zeit in Deutschland ist bereits vierzig oder gar fünfzig Jahre her, er war noch ohne seine Frau da. Es stellt sich heraus, dass die beiden die Eltern des Bäckers und der Bäckersfrau sind, die mit dem Brotwagen über die Dörfer fährt. Die fange ich am Nachmittag ab und gebe ihr ein paar Schokoladeneier für ihre Eltern mit auf den Weg.
Die Aufseherin im Schwimmbad wohnt in Espinhal und kennt natürlich auch die Bäckersleute. Sie selbst hat eine Bar in Venta dos Moinhos, ganz in der Nähe der Hütte. Sie betreibt die Bar zusammen mit ihrer Tochter und ihrer Enkelin. Sie erzählt noch was von unserem Dorf, das ich aber nicht verstehe, außer, dass sie glaubt, mich schon mal gesehen zu haben.
Es kommt zu einem verrückten Missverständnis, weil ich glaube, sie wäre Spanierin. Als sie mein ungläubiges Gesicht sieht, wiederholt sie noch einmal: Espinhal. Sie ist aus Espinhal. Das klingt so anders, als ich es ausspreche, dass ich es nicht wiedererkenne.
Im Schwimmbecken wieder eine Gruppe Behinderter. Sie trainieren, mit Schwimmreifen und anderen Hilfsmitteln versehen, unter der Anleitung einer jungen Schwimmlehrerin, die sich mit ausholenden Gesten Ausdruck verschafft. Sie halten sich nur in dem Bereich auf, in dem man noch stehen kann. Am Ende dürfen sie von der Seite aus einen Kopfsprung ins Wasser machen, aber daran beteiligen sich nur die Männer.
27. April (Samstag)
Längeren Film zur Entstehung von Life of Brian gesehen, einschließlich der Kontroverse, die der Film auslöste. Die Produktion war gefährdet, nachdem EMI plötzlich ausgestiegen war. Da sprang George Harrison ein, völlig unerwarteterweise. Er verpfändete sein Londoner Haus. Er wollte einfach den Film gerne sehen. Eine religiöse Organisation, Nationwide Festival of Light, unter Führung einer gewissen Mary Whitehouse, mobilisierte dann gegen die angebliche Blasphemie des Films. Er wurde in mehreren Ländern verboten, u.a. in Norwegen. In Schweden warb man für den Film mit dem Motto: Dieser Film ist so witzig, dass er in Norwegen verboten ist. In England wurde es den einzelnen Gemeinden überlassen, ob der Film gezeigt wurde. Im Interview sieht man einen Bürgermeister, der sich für das Verbot ausgesprochen hatte. Wegen der Bewegung von Festival of Light. Ob er selbst den Film gesehen habe, wurde er gefragt. Nein. Was er von Festival of Light wisse, wurde er weiter gefragt. Nichts. Sehr solide Grundlage für ein Verbot. John Cleese argumentiert, der Film mache sich nicht über das Christentum oder gar über Christus lustig, sondern über Menschen, die nicht selbständig denken, über dogmatische Christen und Juden. Das trifft die Sache wohl ziemlich genau.
Beim Laufen eine alte Frau gesehen: Mit der einen Hand hielt sie die Hacke über der Schulter fest, mit der anderen den Krückstock.
Am Nachmittag geht es nach Santiago da Guarda, einem seit einiger Zeit auf Eis liegenden Tipp Filomenas folgend. Der Weg führt durch eine fruchtbare Ebene mit großen Olivenbäumen und kleinen Weinstöcken. Manchmal wirkt es irgendwie einsam, aber immer wieder taucht ein einzelnes Gehöft oder ein Straßendorf auf. Portugal, zumindest dieser Teil, ist ziemlich zersiedelt. Ob es hier überhaupt einen Bebauungsplan gibt oder gab?
Dann kommt plötzlich ein Turm in Sicht, der wie ein Wachturm von der DDR-Grenze aussieht. Es ist ein Kirchturm, frei stehend, der zu einer modernen Kirche gehört, die auch im Ruhrgebiet stehen könnte. Und da besser hinpassen würde als in die portugiesische Provinz. An der Fassade steht in ganz großen Lettern Fünfziger Jahre.
In der Cafeteria des Ortes laufen im Fernsehen Berichte über die bevorstehenden spanischen Wahlen. Auch in Spanien macht sich jetzt die Rechte breit, mit einer unerträglich pathetischen Rhetorik. Da ist vom Selbstmord Spaniens die Rede. Bei den anderen Parteien wird die Gefahr von Rechts heraufbeschworen und es wird geltend gemacht, wie bei jeden Wahlen, dies seien die wichtigsten Wahlen, die es jemals gegeben habe. Glaubt das wirklich jemand?
Das Mädchen hinter der Theke hat keine Ahnung, was ich meine, als ich nach dem Complexo Monumental frage. Da hinten sei irgendwo ein alter Turm. Ja, genau, das ist es, der alte Turm.
Der Turm, quadratisch und nicht so hoch, aber imposant, mit wenigen schmalen Fenstern, die ungleichmäßig auf die vier Seiten verteilt sind, ist das portugiesische Pendant zum Frankenturm. Scheint auch die gleiche Epoche zu sein. Innen ist er ebenso leer wie der Frankenturm. Auf einem modernen Eisengerüst steigt man über drei Etagen auf das Dach. Ob der originale Turm auch drei Etagen hatte? Und wie kam man überhaupt da hinauf?
Die Anlage heißt Complexo Monumental, weil man unter der Residenz des Conde de Castelo Melhor, zu dem der Turm gehört, erst vor wenigen Jahren eine römische Villa gefunden hat. Die wichtigsten Überbleibsel sind Mosaike, insgesamt siebzehn, auf ein ziemlich großes Areal verteilt. Die Mosaike sind sehr schön, aber es gibt so gut wie keine Information. Selbst die Entstehungszeit kann man nur von ein paar ausgestellten Objekten ableiten: sehr spät, 4. oder 5. Jahrhundert. So sieht es auch aus. Es sind keine Figuren abgebildet, wohl aber sehr schön gestaltete Blätter verschiedener Größe und Farbe. Ansonsten gibt es viele Bänder und Linien, die oft verwinkelt sind, und geometrische Formen: Dreiecke in Dreiecken, Rhomben in Rhomben, alles mit ganz kleinen Mosaiksteinchen gemacht. Bei einem der Dreiecke möchte man fast das Auge Gottes erkennen. Dies muss ja wohl schon die christliche Periode gewesen sein, aber ob es damals dieses Bild schon gab?
Auf dem Rückweg mache ich kurz Halt an einer Kirche, bei dessen Kirchturm sind Kreuz, Hahn und Lautsprecher auf dem Dach vereinen. Gegenüber ein schönes, mit roten Ziegeln gedecktes Haus, und daneben sein unbewohnter Zwilling, bei dem das Dach langsam in sich zusammen sackt.
28. April (Sonntag)
Zum ersten Mal gesehen oder wenigstens zum erstem Mal bewusst wahrgenommen: eine Frau mit langem, dem ganzen Nacken bedeckenden Kopftuch und langem, schwarzem Mantel. So sitzt sie ausgerechnet am Beckenrand des Schwimmbads, mit schwarzen Straßenschuhen. Vor sich ihre kleine Tochter, im Badeanzug. Die schickt sie in das Lehrschwimmbecken. Dann dirigiert sie, mit strenger Miene, ihren Mann und ihre beiden Söhne im Wasser. Später taucht sie wieder auf. Sie hat sich ausgezogen. Jetzt trägt sie eine Art Sturmhaube, die nur das Gesicht frei lässt, und einen knöchellangen, grauen Umhang, ohne Schnitt.
Auf dem Weg nach Coimbra kommen mir wieder Wanderer entgegen. Sie bestätigen meine Vermutung, dass Fatima das Ziel ist, denn sie gehen in diese Richtung, kommen aber aus einer anderen Richtung als die Wanderer am Freitag. Die Armen müssen die schreckliche, verkehrsreiche IC2 entlang, mit reichlich Lastwagenverkehr, auf einem schmalen Seitenstreifen, der nur durch eine Markierung von der Fahrbahn getrennt ist. Das sieht für mich auch gefährlich aus. Mühsam schleppen sie sich weiter. Ausgerechnet heute ist es richtig warm.
Ich parke, einer Empfehlung Filomenas folgend, diesmal auf der anderen Seite, im Forum, einem weiteren Einkaufszentrum. Die Architektur nimmt Bezug auf ältere Bauwerke Coimbras, am besten zu erkennen an dem Turm, der den Turm der Universität aufnimmt. Wie hat man nur diesen diesen riesigen Bau hier an den steilen Abhang bekommen?
In einer Cafeteria gleich gegenüber von Santa Clara lasse ich mir von einer freundlichen Kellnerin eine Spezialität Coimbras empfehlen, tentugal, nach dem gleichnamigen Ort benannt. Schmeckt gut, aber auch nicht wesentlich anders als die anderen Spezialitäten.
Obwohl das Kloster dem Café gleich gegenüber liegt, erreicht man es auf umständlichen Wegen von hinten, über die Rampe eines modernen Anbaus. Der Mann am Empfang schaltet von Englisch auf Portugiesisch um und erzählt, hier werde viel Englisch und Französisch eingesetzt und gelegentlich auch Spanisch. Am Deutschen hat er sich auch versucht, aber es schien ihm sehr schwer. Ein paar Ausdrücke hat er aber noch drauf.
Ich habe mich auf einen kurzen Besuch eingestellt und wollte nur mal durch die Ruinen der Kirche laufen, aber es gibt, neben Photographien und Filmen, vor allem eine sehr gut dokumentierte Ausstellung über die Geschichte des Klosters. Alle Beschriftungen sind auf Portugiesisch, aber man kann es gut verstehen.
Es beginnt mit dem Bild eines italienischen Malers aus dem 17. Jahrhundert. Da kann man auf dieser Seite des Mondego nur das Franziskanerkloster und eben Santa Clara sehen. Sonst alles unbebautes Land. Der Maler versah das Bild mit dem Vermerk, das Kloster erleide regelmäßige Überschwemmungen und es müsse damit gerechnet werden, dass es einst aufgegeben werden würde. So kam es dann auch.
Ein Thema ist das Kloster als Begräbnisstätte. Hier gab es klare, eher unchristliche Hierarchien: Je höher der Stand, umso näher an der Apsis wurde man bestattet. Später sehe ich auch im Kreuzgang Grabplatten, an der an die Kirche angrenzenden Seite.
Die Klarissinnen wurden im Habit begraben, mit einer Vielzahl von Nadeln. Was deren Funktion war, ist nicht herauszubekommen. Über die Tote wurde Kalk gestreut, wohl aus hygienischen Gründen.
Eine große Rolle spielte die Klosterapotheke: Infusionen, Pillen, Pulver, Pomaden, Salben, Öle wurden aus hier einheimischen Kräutern, aus Drogen aus dem Orient, aus Wasser, Wein und Olivenöl hergestellt, aus Zucker, Honig, Wachs und sogar aus Tierexkrementen. Man sieht sehr schöne Gefäße und Behältnisse ausgestellt, die man sich ohne Weiteres ins eigene Heim stellen würde: große, grüne, lasierte Krüge, kleinere, blau-weiße Kännchen und Schüsselchen, mit Verzierungen wie dem Osterlamm oder dem königlichen Wappen.
In der Medizin herrschten die Lehren von Hippokrates, Galen und Avicenna vor. Einer der wichtigsten Mediziner der Universität Coimbra war auch der Vater mehrerer Töchter, die hier im Klarissenkloster waren. Für Verbindung zur akademischen Welt war also gesorgt.
Der Gesundheitszustand der Klosterinsassen war nicht gut. Die Feuchtigkeit. die Kälte (ich weiß, was gemeint ist!) und die langen Stunden des Verharrens im Gebet forderten ihren Tribut. Trotzdem war die durchschnittliche Lebenserwartung 50 Jahre, mehr als außerhalb des Klosters. Spätere Untersuchungen der Knochen ergaben Osteoporose und Arthritis als gängige Krankheiten. Man sieht einen Knochen ausgestellt, der in der Nähe des Gelenks ein regelrechtes Loch hat. Sieht es in meinem Knie aus so aus?
Als Nachweis der Hygiene im Kloster sind ein paar winzige Geräte ausgestellt, ein Kamm aus Holz, ein Ohrenreiniger aus Knochen und Nagelreiniger aus Metall. Was war mit den Zähnen?
1561 veranlasste die Königin auf Bitte der Äbtissin eine Untersuchung des Gesundheitszustands der Klosterbewohnerinnen. Wohl als Folge davon gab es eine päpstliche Sondererlaubnis. Dem Kloster war der Konsum von Fleisch das ganze Jahr über gestattet. Aufgrund eines königlichen Privilegs durfte das Kloster mehrere Hundert Hammel pro Jahr kaufen, und das Kloster durfte sich einen eigenen Metzger halten. Auch “exotische” Zutaten wie Bohnen, Zucker, Senf, Pfeffer und Truthahn wurden verwendet.
Ab dem 16. Jahrhundert war Zucker in großen Mengen zu haben. Honig und Eier gab es aus Verpachtungen, und so entstand die Tradition von Santa Clara des Zubereitens von Gebäck. Das erklärt auch, dass alles, was man in Coimbra – und ganz allgemein in Portugal – bekommt, immer ganz ähnlich schmeckt. Die Besonderheit, heißt es, soll hier gewesen sein, dass das Gebäck im Backofen zubereitet und nicht gebraten wurde!
Im Kloster wurde viel Wasser getrunken. Aber Abgaben an das Kloster wurden oft in Form von Wein abgegolten. Und den musste ja auch jemand trinken. Eine große Anzahl fein gestalteter Tonkrüge ist hier ausgestellt, am schönsten irdenen Gefäße mit Verzierungen in weißen Linien.
Zum Klosterleben gehörte auch der Aberglaube: Amulette gab es zuhauf, und auch Kreuzen und Medaillen, wenn auch mit religiösen Motiven versehen, wurden magische Eigenschaften zugeschrieben. Eine besondere Rolle kam den sog. figas zu, Amuletten in Faustform. Es gab doppelte und vierfache und auch ein sechsfaches, das einzige auf der Welt. Die figa, eine Faust, die Klitoris und Penis darstellt, ist im Ursprung eine obszöne Figur, in Portugal und Brasilien wurde sie entschärft und gilt als Glücksbringer. Ob die Nonnen wussten, womit sie es dabei zu tun hatten?
Ebenso gehörte Schmuck zum Klosterleben. In der Abgeschiedenheit der Klausur trug man Ketten und Ringe. Einzelne, schön gestaltete Exemplare sind hier ausgestellt, aus Gagat, Bernstein, Glas, sogar aus Gold.
Durch einen päpstlichen Erlass wurde die Ordensregel von Santa Clara außer Kraft gesetzt, derzufolge kein Besitz notwendig war, um ins Kloster einzutreten. Denn, so die päpstliche Logik, im Gegensatz zu den Franziskanern, ihrem männlichen Pendant, durften die Klarissen ja nicht betteln gehen. Das war die Grundlage des Reichtums des Klosters. Dazu kamen Erbschaften, Vermächtnisse, Ruhegehälter, Einkünfte, Schenkungen, Spenden. Da kam einiges zusammen. Das Geld wurde in einer hier ausgestellten hölzernen Truhe aufbewahrt, mit drei Schlössern mit verschiedenen Schlüsseln. Einen davon hatte die Äbtissin, einen die Stellvertreterin, einen die Schreiberin. Mit dem Vertrauen war es nicht weit her.
Die Klostergemeinschaft war verblüffend breit angelegt. Unter den Nonnen unterschieden sich die ranghöheren professas von den niedrigeren conversas, die sich auch äußerlich durch schwarze bzw. weiße Ordenstracht unterschieden. Die professas mussten lateinische Gebete sagen, die conversas brauchten nur das Vaterunser können. Außer den Schwestern gab es Dienstmägde und Sklavinnen, und außerdem wohnten Laien im Kloster, Jungfrauen und Witwen. Die einen waren hier zur Vorbereitung auf das Leben draußen, die anderen kamen hierher nach Abschluss des Lebens draußen.
Am Ende sieht man noch ein Modell des Klosters. Ein ummauerter Bezirk, an dessen einer Seite ein paar Bürgerhäuser standen – die Nähe des Klosters war bestimmt eine privilegierte Lage – und an dessen anderer Seite das kleine Franziskanerkloster lag. Die Franziskaner waren für die Seelsorge zuständig. Außer der Kirche sieht man einen Kräutergarten, den Kreuzgang, einen weiteren Innenhof sowie die Wohngebäude.
Dann geht es raus zur Kirche. Sobald man ins Freie tritt, hat man Santa Clara a Velha, die Ruine, vor sich, und Santa Clara a Nova, den wuchtigen Neubau oben auf dem Hügel neben sich.
Die Klosterkirche ist durch die vielen Überschwemmungen immer weiter in den Boden versackt und liegt jetzt mehrere Meter unter dem Straßenniveau. Ganz genau verstehe ich es nicht, aber man hat wohl irgendwann in die Kirche ein zweites Stockwerk eingezogen, weil unten nichts mehr ging. Oben ist ein barocker Bogen mit Verzierungen angebracht, unter dem ursprünglich der Sarkophag der Rainha Isabel stand.
Das Betreten der Ruine beschert einen außergewöhnlich schönen Anblick: Die Fensterscheiben fehlen und das Dach über der Apsis fehlt, und so strömt von allen Seiten das helle Tageslicht in den eigentlich dunklen Raum. Besonders schön der Blick hinauf zu den Rosetten und zu den hohen, durch Stäbe zweigeteilte Fenster. Der Eintritt hätte sich schon dafür gelohnt.
Nicht weit entfernt von Santa Clara liegt die Quinta das Lagrimas, dem Ort, in dem die heimlichen Treffen von Dom Pedro und Inês de Castro stattfanden, dem portugiesischen Thronfolger und der spanischen Kammerfrau seiner Königin, bis ihre schicksalshafte Liebe durch Pedros Vater gewaltsam beendet wurde. Als sie getötet wurde, soll ihr Blut die Fonte dos Amores hier im Park rot gefärbt haben. Neben dieser Quelle gibt es noch die Fonte das Lagrimas, die dem Park ihren Namen gibt. Auch die bringt man in Legenden mit dem Liebespaar in Verbindung.
Der Park ist etwas verwildert und bezieht gerade daraus seinen Reiz. Was gar nicht passen will sind ein Golfkurs und ein modernes Amphitheater, auf die man bei dem Rundgang stößt. Aber sonst ist es sehr schön, wild romantisch, mit verschlungenen Wegen und üppiger Vegetation. Der Park ist irgendwann zu einem Botanischen Garten im Miniformat gemacht worden, mit exotischen Bäumen aus aller Welt, darunter ein Riesenexemplar einer Sequoia und ein Riesenexemplar einer Feige, mit Luftwurzeln, die von den Ästen herunter wachsen und ein dicken überirdischen Wurzelgeflecht gebildet haben.
Auch hier an der Kasse eine äußerst freundliche Begrüßung, durch eine Frau, die erzählt, dass in der Schule ihrer Kinder Deutsch eine Option neben Französisch als zweite Fremdsprache ist. Die deutschen Verben seien aber sehr schwer. Na ja, die portugiesischen haben es auch in sich.
Dann geht es zurück zum Forum, etwas mühsam nach all den Besichtigungen. Dort versuche ich bei Fnac mein Glück mit portugiesischer Musik. Es sind Empfehlungen des Reiseführers, gefiltert von Filomena. Und was für ein Glück ich habe: hervorragende, fachkundige und äußerst freundliche Beratung durch einen jungen Mann. Der macht sich sogar die Mühe, die beiden CDs zu öffnen, um zu sehen, ob sie Texte enthalten. Tun sie. Ein Kollege, den er kurz um Rat fragt, mischt sich in die Unterhaltung ein, ein notorischer Fußballfan. Er hat auch mal Deutsch gelernt und kann noch ein paar Sätze sagen, ganz gut sogar. Es entspinnt sich eine längere Unterhaltung, meist, aber nicht ausschließlich über Fußball. Am Ende ziehe ich hoch zufrieden mit meinen beiden CDs ab, Mariza (Schlager) und Madredeus (Folkore).
Irgendwann ist in dem Gespräch das Wort chato aufgetaucht, und sie wetten, dass ich das Wort nicht kenne. Sie haben recht, ich kann mich nicht erinnern, obwohl es in einem Lehrbuch vorkommt: ‘öde’, ‘langweilig’, ‘nervig’. Ich verstehe aber sowieso nicht, worauf sie sich damit beziehen. Zu ihren Gunsten nehme ich an, dass sie nicht mich meinen.
Von Coimbra geht es nach Rabaçal. Da findet heute der Mercado do Queijo statt. Der Käse von Rabaçal ist offensichtlich in ganz Portugal bekannt.
Kurz vor der Ortseinfahrt sehe ich einem Hinweisschild zum ersten Mal das portugiesische Wort für Bodenschwellen: lombas. Es heißt, sie seien aus Brasilien, wo sie schon lange eingesetzt wurden, nach Portugal gekommen, ein erfolgreicher Export, denn hier gibt es sie überall, auf großen wie auf kleinen Straßen. Im Deutschen scheint Bremsschwellen ein gängiger Begriff zu sein, der aber in Konkurrenz zu Bodenschwellen, Fahrbahnschwellen, Temposchwellen und Geschwindigkeitshügel steht. Es gibt weitere Begriffe, die spezifische Erscheinungsformen der Bodenschwellen benennen: Moabiter Kissen, Kölner Teller, Delfter Hügel. Im Englischen heißen sie sehr bildlich sleeping policeman.
Normalerweise findet der Markt, kombiniert mit einem römischen Fest, in der Villa Romana des Ortes statt, aber dieses Jahr hat man es wegen des Regens nicht gewagt und stattdessen ein großes Festzelt aufgebaut. Über ein verschlammtes Feld gelangt man dorthin. Das Auto habe ich außerhalb der Ortseinfahrt lassen müssen, alles ist vollgeparkt.
Schon von weitem hört man Musik. Auf der Bühne des Zeltes eine folkloristische Gruppe aus einem Ort der Umgebung: wirbelnde Röcke, stampfende Absätze, klatschende Hände. Es sind lauter Paare auf der Bühne, und die Geschwindigkeit, mit der sie sich drehen, ist atemberaubend und löst begeisterte Zurufe aus. Dann defilieren sie die Bühne herunter, und die nächste Gruppe tritt auf. Musikalisch geht es unverändert weiter, schneller, einfacher Rhythmus, Akkordeons, die den Klang so sehr dominieren, dass die anderen Instrumente gar nicht zur Geltung kommen, außer der Trommel mit ihrem eintönigen Schlag, diesmal von einer alten Frau geschlagen. Die Kostüme sind diesmal aufwendiger, einheitlich, mit weißen Hemden und Blusen und roten Westen, die Frauen mit seidenen Kopftüchern, alle in Grün und Rot natürlich. Jetzt wird nicht in Paaren getanzt, sondern es werden immer wieder neue Kreise gebildet, außen und innen, mal nur Männer und nur Frauen, mal gemischt. Das geht so schnell, dass man mit den Augen kaum folgen kann. Bei der dritten Gruppe kommt dann noch Gesang dazu, aber der ist nicht dazu angetan, weiter zuzuhören.
Ich gehe einmal durch das Zelt. Von Käse wenig zu sehen. Dafür alle möglichen Handarbeiten, viel Gesticktes, und Produkte aus den Dörfern der Umgebung: Wein, Öl, Brot.
Draußen sind auch noch ein paar Stände aufgebaut. Hier gibt es mehr Käse. Dann höre ich, wie mich jemand ruft. Filomena. Sie steht abseits, im Schatten eines Baumes. Daneben ihr Mann und zwei englische Ehepaare. Eine der Frauen kommt freitags, wenn ich gehe. Wir kennen uns nur vom Grüßen her. Sie und ihr Mann sind seit zwei Jahren in Portugal, in einem schönen Dorf in der Nähe von Miranda. Sie wollen permanent in Portugal bleiben. Sie bemüht sich sehr, ein paar Sätze auf Portugiesisch zu sagen, kann sich aber nicht vom Englischen trennen und übersetzt, was sie sagen will, mühsam Wort für Wort. Sie habe noch nie eine Fremdsprache gelernt, sagt sie, und das mit dem Maskulinum und Femininum sei doch sehr verwirrend.
Filomena führt uns dann zu dem besten Käsestand, und ich kaufe reichlich ein, so sehr, dass ich am Ende noch einen zusätzlich bekomme. Dieser Käse kommt aus der Käsefabrik hier in Rabaçal. Die Engländer kennen die Fabrik. Dort kann man auch Käse kaufen. Zu günstigen Preisen. Man solle nach segundo fragen. Das ist Ware, die nicht ganz perfekt und deshalb nicht etikettiert ist. Dann führt uns Filomena auch noch zu dem Weinstand, an dem die Winzerin aus Penela steht. Sie produziert den Encosta da Criveira, den ich schon zuhause und im Lokal getrunken habe. Ich bekomme ein Kärtchen mit, um dort mal die Weinkellerei zu besichtigen.
Auf ich mich auf den Rückweg mache, ist es immer noch sommerlich warm. Der Weg führt über eine einsame Landstraße. An einem schmalen Feldweg steht ein blaues Schild: Camino de Santiago.
Am Wegesrand Feld- und Wiesenblumen zuhauf, darunter roter Klatschmohn, eine Erinnerung an meine Kindheit.
29. April (Montag)
Radiodiskussion über die Preppers gehört. Das hört sich alles immer sehr rational an, ist aber im Grunde verrückt, eine Bewegung, die sich vormacht, sie könne sich gegen Gefahren schützen, und besser schützen als der Staat es kann. Gegen Vulkanausbruch, Meteoriteneinschlag, Virenausbruch oder Terroranschlag ist kein Kraut gewachsen. Da nutzt es auch nichts, wenn man sich vierzehn Tage lang in einem Bunker mit Wasser und Konserven einbuddeln kann. Der Staat tut alles, um Systemversagen zu verhindern, und wir können eine Wette eingehen, dass es nicht eintreten wird, bei der die Wettchancen gut stehen. Bei den Preppers hat man den Verdacht, dass sie eigentlich Freude an dem Szenario haben. Das Nachdenken über den Ernstfall, sich in die Situation versetzen, das Gefühl zu haben, gerüstet zu sein, das alles macht Spaß. Es hat was von Selbsttest und Abenteuer, es ist ein bisschen wie Pfadfinder für Erwachsene. Insgeheim steckt hinter der Furcht vor der Katastrophe eine Sehnsucht nach der Katastrophe, eine Sehnsucht nach dem Aufbrechen des regulierten Lebens.
Am Nachmittag mache ich einen Spaziergang nach Viavai. Erst geht es die steile Gasse durch den Ort hinunter, dann die “Hauptstraße” rauf. Dort stehen die neueren und besseren Häuser, in der Gasse gibt es alles, von Ruine bis Neubau. Ich sehe einen Mann auf einem Feld mit einer Hacke und eine Frau, die an den Blättern der Blumen in ihrem Vorgarten herumzupft. Sonst keine Menschenseele. Nur die Hunde sind wach. Es ist wie ein akustischer Spießrutenlauf. Wenn der eine fertig ist, ist der nächste dran. Nur ein Hund, vor dem ein Schild als Cão Bravo warnt, verschläft die Gelegenheit. Erst als ich schon hundert Meter weiter bin, fängt es plötzlich an, hinter mir her zu bellen.
Auf dem Rückweg bleibt eine füllige, kleine Frau im Auto neben mir stehen. Sie heißt Rosa. Und ist eine sehr gute Freundin von Hannah, der Vermieterin. In ganz einfacher Sprache, besonders deutlich und langsam, erklärt sie mir, dass sie in den nächsten Tagen vorbeikommen werde, um die Gräser im Garten der Hütte zu mähen. Wir tauschen ein paar Belanglosigkeiten aus. Beim Abschied drückt sie mir fest die Hand.
30. April (Dienstag)
Im Schwimmbad am Vormittag sechs alte Frauen. Sie stehen im Wasser und bewegen sich nicht vom Fleck, außer, um neue Grüppchen zu bilden. Bis zum Ende tut keine von ihnen einen einzigen Schwimmzug. Den alten Römern hätte es gefallen. Die hätten es auch so gemacht.
Kleine Hürde in der Kommunikation. Ich frage die Frau an der Kasse, wie das Café in Venta dos Moinhos heißt, das sie betreibt, und sie nennt mir auch einen Namen, aber ihren eigenen, nicht den des Cafés. Jedenfalls erkenne ich darin keinen der Namen der Cafés in Venta dos Moinhos. Die Frage ist zweideutig im Portugiesischen. Dieser Tage bin ich bei einem Versuch in einer düsteren Bar gelandet, die wenig einladend war.
Bei der Fahrt aus dem Ort sehe ich Dona Luzia vor ihrem Haus auf dem Boden sitzen. Sie macht sich an Gräsern zu schaffen, die seit Tagen gemäht an einem kleinen Abhang liegen. Das ist, wie sie mir erklärt, für den Kanarienvogel.
Es geht wieder nach Coimbra, zu dem zum Museum umgestalteten Wohnhaus von Miguel Torga, dem Schriftsteller, auf den ich jetzt schon verschiedentlich gestoßen bin. Es liegt in einem ruhigen Wohnviertel, an einem Wendehammer, umgeben von ähnlichen Häusern, zweistöckig, mit Garten und Veranda.
Ich werde von einer älteren, auf jung gemachten, sehr elegant gekleideten Frau mit ungewöhnlich schönen Augen in Empfang genommen, Dina. Ihre erste Frage ist, ob ich Spanier sei. Ich gehe als Lehrer durch und brauche keinen Eintritt zu zahlen.
Dina zeigt mir einen Film und führt mich dann selbst durch das Haus. Es ist seit 2004 Museum. Es geht durch einen Empfangsraum, ein Gästezimmer, das Zimmer der einzigen Tochter, das Schlafzimmer, das Arbeitszimmer. Alles ist praktisch erhalten, wie es ursprünglich war, nur unten, wo jetzt das Büro ist, sind die Küche und ein weiterer Raum geopfert worden.
Torga sei immer sehr bescheiden gewesen, habe das einfache Leben dem Luxus bevorzugt, sagt sie. Aber das Haus ist kein Haus armer Leute und sehr stilvoll eingerichtet. Alle Räume ähneln sich irgendwie. Überall gibt es alte Möbel, Kunstwerke und Keramikgefäße, alle vom Feinsten. Die Keramikgefäße stammen u.a. aus Coimbra. Dina bestätigt, dass Coimbra auch heute noch für seine Keramik bekannt sei. Die Kunstwerke, Skulpturen und Bilder – Sankt Martin, die Hl. Katharina, eine Pietà, eine Dornenkrönung – hat meist religiöse Motive. Torga selbst habe eine sehr spirituelle Seite gehabt, sei aber im Grunde nicht religiös im herkömmlichen Sinne gewesen.
Torga wäre am liebsten selbst Künstler geworden, und dass er Talent hatte, sieht man an einem Selbstporträt, einer Zeichnung. Seine scharfen Gesichtszüge sind gut eingefangen, und man bekommt eine Ahnung von der großen Ernsthaftigkeit des Mannes.
In einem Raum hängt ein Porträt seiner Frau, einer (französischsprachigen) Belgierin, einer Literaturwissenschaftlerin. Auch die einzige Tochter ist heute Literaturwissenschaftlerin. Sie ist mit Büchern groß geworden.
Auch klassische Musik hatte einen hohen Stellenwert für Torga, vor allem Bach. In einer Vitrine sind verschiedene Schallplatten ausgestellt.
In dem Empfangsraum traf sich Torga mit seinen wenigen Freunden. Er sei eher schüchtern, eher zurückhaltend gewesen, wenn auch nicht ungesellig. Dabei wurde ordentlich aufgetischt. Der Wein stammte immer vom Douro, aus seiner Heimat. Ein Besucher erinnert sich daran, wie hier ein portugiesisches Gericht serviert wurde, wie er es später nie wieder gegessen habe. Und er erinnert sich an eine kontroverse, zugespitzte Diskussionen, bei der es aber immer friedlich zuging, die nie ins Persönliche ging.
In Gesellschaft von Freunden rauchte Torga auch gerne und viel. Dabei war er von Haus aus Mediziner, Hals-, Nasen- und Ohrenarzt. Er stammte aus einer armen Familie aus Trás-os-Montes. Von den Eltern wurde er nach Brasilien zu einem Onkel geschickt, und der ermöglichte ihm das Studium, hier in Coimbra.
Miguel Torga ist ein Pseudonym. Er hieß eigentlich Adolfo Correira Rocha. Das Pseudonym ist wohlbedacht und bezeichnet zwei wichtige Seiten seines Charakters: die Wertschätzung von Spanien und die Wertschätzung seiner ländlichen Heimat. Der Vorname ist nach seinen Lieblingsautoren, Cervantes und Unamuno, gewählt. Der Nachname bedeutet ‘Heidekraut’, eine typische Pflanze des Trás-os-Montes. Vielleicht spielte auch beim Vornamen die Herkunft eine Rolle: Torga stammte aus S. Martino de Anta.
Man bekommt einen sehr guten Eindruck von der Persönlichkeit des Mannes. Aber die Literatur kommt etwas zu kurz. Er hat wohl vor allem Lyrik geschrieben, aber auch Erzählungen, dazu Tagebücher und eine kuriose fiktive Autobiographie, A Criação do Mundo, in der er sein eigenes Leben ironisch nach dem Muster der Erschaffung der Welt erzählt. Wie hat er es nur geschafft, Beruf und Hobby, Medizin und Literatur, miteinander zu vereinbaren?
Er hat wohl auch selbst Aufnahmen einiger seiner Gedichte gemacht – in einer Vitrine sind CDs und Schallplatten ausgestellt – aber hier kann ich der Erklärung nicht ganz folgen. Es hat wohl einen regimekritischen Schallplattenverlag gegeben, bei dem sich niemand zu veröffentlichen traute, bis Torga es wagte.
Ich verlasse das Haus in guter Stimmung. Es war eine schöne Besichtigung, und es ist, auch wenn es am Morgen nicht so aussah, wieder richtig heiß geworden.
1. Mai (Mittwoch)
Der 1. Mai war in der Weimarer Republik Feiertag gewesen, aber nur einmal. Die Nationalsozialisten machten ihn dann zum Feiertag und sogar zu einem mit Lohnfortzahlung. Damit hatten sie eine alte Forderung der Arbeiterbewegung erfüllt. Am Tag danach wurden die Gewerkschaften aufgelöst, die Arbeiterbewegung erhielt einen Schlag. Der Maifeiertag blieb erhalten, wurde aber ganz im Sinne der völkischen Ideologie umgedeutet.
Schon am frühen Morgen hört man in der Ferne die Motorsäge. Seit Wochen sind schon die Waldarbeiten, einschließlich der Arbeiten am Straßenrand im Gange. Inzwischen habe ich den Eindruck, dass es dabei nicht nur darum geht, die Fahrbahn freizuhalten, sondern dass es auch dem Brandschutz dient. Wenn die Seitenstreifen von Bäumen frei sind, kann vielleicht die Straße als Schneise dienen. Bei den Arbeiten kommen moderne Maschinen zum Einsatz, die die abgeholzten Stämme auf der Stelle in gleich große Stücke schneiden. Sie stehen in einem kuriosen Kontrast zu der Platthacke, die die Bauern hier in ihrem Gemüsegarten benutzen.
Am Nachmittag mache ich einen zweiten Versuch mit dem Lokal der Bademeisterin aus Penela in Venda dos Moinhos, diesmal in der Aldeia dos Sabores. Wieder kein Treffer. Die Frau hinter der Theke kennt die Bademeisterin nicht. Aber was für ein himmelweiter Unterschied zu der abweisenden Atmosphäre dieser Tage in der schäbigen Bar. Die Frau ist freundlich und gesprächig und weist mich auch gleich auf die bevorstehende Festa in Viavai hin. Der wichtigste Tag sei der Sonntag, und damit hat sie auch schon meine wichtigste Frage beantwortet. Sie fragt auch nach einer Frau mit einem englischen Namen, die in Estrada de Viavai wohnt, aber die kenne ich nicht. Dafür kennt sie die Handvoll Portugiesen, die ich kenne. Am Ende verbessert sie auch noch sehr freundlich meinen Abschiedsgruß.
Die Parteizentrale von Vox in Madrid liegt am Margaret-Thatcher-Platz? Welche Stadt kommt nur auf die wahnwitzige Idee, einen Platz nach ihr zu benennen? Und welche Partei kommt auf die wahnwitzige Idee, ihre Parteizentrale ausgerechnet dahin zu verlegen?
Hugo von Cluny war in Canossa dabei. Er vermittelte sogar. Ohne sein Einwirken, heißt es, hätte der Papst sich vermutlich auf kein Gespräch eingelassen.
Die durchschnittliche Verweildauer eines Besuchers des Louvre vor der Mona Lisa beträgt eine Minute. Die Landschaft hinter der Mona Lisa ist zweigeteilt, zur einen Seite hin karg und trocken, zur anderen Seite hin feucht und florierend. Die Mona Lisa blickt zu dieser Seite.
Nach dem Schwimmbad gehe ich ins Bigodes in Penela, einer ganz gewöhnlichen Taverne, in der Mittagessen serviert wird. Es geht hier nach dem Motto zu: keine überflüssigen Worte. Auf die typischen Floskeln der Begrüßung und des Bedankens wird verzichtet. Wenn die Bedienung einen Teller abräumt, macht sie sich nicht verbal bemerkbar, sondern klopft dem Gast auf den Oberarm.
Bis auf eine einsame Frau sind nur Männer im Speiseraum, aber für die Bedienung ist eine Frau zuständig. Mir gegenüber sitzen zwölf Männer an einem langen Tisch, die meisten müssten sich in ihrer beruflichen Laufbahn auf der Zielgeraden befinden.
Vielleicht sind sie Angestellte der Stadtverwaltung oben an der Burg und sind Stammgäste. Jedenfalls werden sie zuvorkommend bedient und bekommen köstlich aussehende Speisen, die den anderen Gästen verwehrt bleiben. Zum Kaffee bekommen sie Gin, Kognak und Likör, alles zur unbegrenzten Selbstbedienung in Flaschen auf den Tisch gestellt. Die meisten Männer trinken die scharfen Getränke nicht pur, sondern bessern ihren Kaffee damit auf.
Die sechs Brillenträger sitzen auf einer Seite, auf der anderen diejenigen, die keine Brille tragen. Da kann man sich als einsamer Gast Gedanken darüber machen, ob das Zufall ist oder welcher Faktor da eine Rolle spielen mag.
Als die nicht sehr gesprächige Kellnerin auf meine Frage nach einem Bild an der Wand nicht so richtig eingeht, steht einer der Männer auf und führt mich nach draußen. Er zeigt auf eine moderne Statue auf der Terrasse: Dom Pedro. Nicht etwa der König, sondern der erste “Herr” von Penela. Dem gilt hier wohl große Verehrung. Es stammt aus der Zeit der ersten Dynastie.
Der Mann lüftet das Geheimnis um die Gruppe von Männern: ein Freundeskreis. Sie treffen sich jeden Donnerstag hier zum Essen, seit 1995. Noch sind sie alle am Leben.
Meinen Kaffee trinke ich in dem moderneren Café ein paar Schritte weiter. Heute kann man unbesorgt draußen sitzen, im T-Shirt. So fällt mein Blick zum ersten Mal auf den Namen des Cafés: Mina. Statt einer Erklärung nimmt mich die Kellnerin mit ins Café und zeigt mir hinter einer Glasscheibe einen Wasserlauf, eine unterirdische Quelle, die unter dem Haus verläuft. Kein Mensch scheint zu wissen, wohin sie führt. Auf diese unterirdische Quelle verweist der Name Mina.
3. Mai (Freitag)
Im Unterricht stellt sich heraus, dass Filomena als Kind auch noch Miguel Torga kannte. Er verkehrte sogar in ihrem Elternhaus. Bevor er das Haus in Coimbra baute, wohnte und arbeitete er in Miranda.
Eine sprachliche Frage, die zu Verwirrung geführt hat, klärt sich auf: Es gibt sowohl ao sabado/à sexta als auch no sabado/na sexta! Einmal für gewohnheitsmäßige, einmal für einmalige Ereignisse. Aber schon am nächsten Tag finde ich in einem Text nas terças. Die Verwirrung ist wiederhergestellt.
Es stellt sich heraus, dass internet Femininum ist, im Gegensatz zum Spanischen. Dafür ist computador Maskulinum, ebenfalls im Gegensatz zum Spanischen.
Noch eine Frage wird beantwortet: Der Satz, mit dem ich so gerungen habe, Devia ter a convidado, ist zweideutig, wie im Deutschen auch: Ich hätte sie einladen sollen und Ich hätte Sie einladen sollen. Im Englischen dagegen nicht: I should have invited her und I should have invited you. Wenn man im Deutschen und im Portugiesischen duzt, wird auch hier desambiguiert: Devia ter te convidado und Ich hätte dich einladen sollen.
Nach dem Unterricht fahre ich bei hellem Sonnenschein nach Coimbra, über eine einsame Landstraße, über die ich noch nie gekommen bin. Unterwegs sieht man aus kürzerer Entfernung als sonst die rätselhafte kahle Stelle mitten in einem Hügel, die ich schon so oft gesehen habe. Es scheint eine Aufforstung zu sein. Von hier aus sieht man nicht nur den braunen Boden, sondern auch die Setzlinge.
Auf einer Dorfstraße geht seelenruhig ein Mann mit Schubkarre vor mir her. Aus der anderen Richtung kommt ein Sattelschlepper, und es bildet sich eine Schlange, die das Dorf wohl noch nie gesehen hat.
An einer alten Mauer in diesem Dorf ist eine etwas abgeblätterte Malerei angebracht: die portugiesische Flagge und daneben das Wort Portugal. Wie gemacht für den Einband eines Photoalbums.
In Coimbra bleibe ich wieder auf dieser Flussseite und fahre nach Santa Clara a Nova rauf. Oben ein ausgesprochen schönes Wohnviertel um eine Pfarrkirche herum. Das Kloster ist nur ein paar Schritte entfernt. Von unten sieht es wie eine Kaserne aus, und es ist heute auch eine! Aber hier oben hat man einen ganz anderen Eindruck, da einem nicht die Breitseite des Klosters verpasst wird, sondern der Innenhof vor der Kirche. Ganz ansehnlich.
Besichtigen kann man nur den Kreuzgang und die Kirche. Braucht man nicht gesehen zu haben. Der Kreuzgang, sehr späten Datums, ist ein bisschen zu mächtig, und die Kirche zu dunkel und ein bisschen erdrückend.
Danach geht es zu Fuß über die Landstraße zu einem Aussichtspunkt, im Valle do Inferno. Das Tal liegt ganz weit oben und hat nichts Höllisches. Wie man wohl auf den Namen gekommen ist? Der mühsame Weg hier rauf über die Landstraße lohnt sich eigentlich nicht. Die Altstadt ist zu weit, als dass man etwas erkennen könnte, und das gesamte Panorama ist von der Terrasse Klosters aus viel schöner. Einzig die moderne Brücke, auch nach der Heiligen benannt, kommt von hier aus gut zur Geltung.
Ich fahre noch zu einem weiteren im Reiseführer erwähnten Aussichtspunkt, Lapa dos Estois. Der ist das Gegenprogramm, ganz unten, direkt am Mondego gelegen, nicht so leicht zu finden. Auch die städtischen Gärtner, die gerade bei der Mittagspause sind, haben davon noch nie gehört. Aber dann kommt einer, der es kennt.
Das Gelände gehört der GNR, der portugiesischen Sicherheitspolizei, die nominell Teil der Streitkräfte ist. Und mit militärischer Disziplin geht es hier auch zu. Es gibt eine Schranke am Eingang und einen Polizisten, der streng über den Eintritt wacht. Seine ernste Miene hellt sich langsam auf, als er merkt, dass ich nur einen Blick auf die Stadt werfen will und dass ich ihn und seine Instruktionen verstehe. Man muss einen Ausweis vorlegen und bekommt eine Lizenz zur Besichtigung ausgestellt.
Was man dann sieht, ist ganz anders als erwartet: ein Park mit verschlungenen Wegen und heimeligen Eckchen und wuchernden Pflanzen, der gar nichts Militärisches hat. Der Blick auf die Stadt ist allerdings durch den dichten Wuchs verstellt.
Am Ausgangspunkt, oben, hat man dagegen einen ungewöhnlichen Blick auf die moderne Brücke im Hintergrund und drei klassischen Statuen im Vordergrund. Hier oben stehen sich zwei Pavillons auf einem grünen Platz gegenüber. Auf einem arbeiten zwei Männer, die ungeschützt und offensichtlich gelassen ganz oben auf dem spitz zulaufenden Dach stehen. Aus dem anderen kommt eine kleine, rundliche Frau und ruft mir etwas zu. Ich glaube, sie will mich wegschicken, aber das Gegenteil ist der Fall. Sie will mir ihren Pavillon zeigen. Ohne Unterlass redet sie auf mich ein und scheint sich nichts darauf zu machen, dass ich die Hälfte nicht verstehe. Stolz zeigt sie mir die Photogalerie der Kommandanten. Sie kennt sie alle. Seit 35 Jahren arbeitet sie schon hier. Dann zeigt sie mir noch eine kleine Kapelle in einem Seitenraum, mit einer naiven Dornenkrönung über dem Altar und allen möglichen Figürchen und Kerzchen. Als ich schon auf dem Weg nach draußen bin, ruft sie mir hinterher und winkt mich zu ihr. Sie gibt mir eine Flasche Wasser und demonstriert, dass sie noch ungeöffnet ist. Dabei strahlt sie über das ganze Gesicht. Ich bringe nichts heraus als ein müdes Obrigado und verabschiede mich, aber als ich ein paar Schritte entfernt bin, kommt sie hinter mir her: Sie hat noch eine Flasche Wasser für mich. Garantiert ungeöffnet.
4. Mai (Samstag)
Bis um vier Uhr am Morgen hörte man die Musik von der Bühne in Viavai, vom Patronatsfest. Es schallt nur leise herüber und ist eher dazu angetan, einen in den Schlaf zu wiegen als einem den Schlaf zu rauben.
Am Vormittag um zehn hört man schon wieder Musik. Eine Gruppe zieht von Haus zu Haus und lässt sich bewirten. Mit Wein.
In der Metzgerei vor mir eine Frau, die eine ordentliche Portion Schweinsohren kauft. Gehört hier zum Alltag. Eine andere Frau bekommt eine große Tüte, die nicht an der Theke, sondern hinten im Schlachtraum gefüllt wurde. Scheinen Innereien zu sein. Zu viel fürs Mittagessen. Sind vielleicht für die Haustiere bestimmt?
Wieder ein erfolgloser Versuch, jemanden im Auto mitzunehmen. Noch kein Portugiese hat bisher das Angebot angenommen. Diesmal schleppt sich eine alte Frau mit zwei schweren Einkauftüten in der Mittagshitze die Landstraße rauf. Es sind noch mehrere Kilometer bis Viavai. Trotzdem nimmt sie mein Angebot nicht an, reagiert sogar fast verstimmt, als ich ein zweites Mal frage.
5. Mai (Sonntag)
Schon mit Dede wollte ich einmal nach São João do Deserto, diesmal klappt es. Ich lasse mich auch von dem Schotterweg nicht abschrecken, in den die sich unendlich den Berg hinaufschraubende Straße übergeht. Von hier aus ist es gar nicht mehr weit, aber angesichts des schmalen Wegs und des tiefen Abgrunds zur einen Seite atmet man doch einmal durch, wenn man ankommt.
Hier ist man ganz oben. Selbst die auf den Kuppen der Berge stehenden Windräder sind ein ganzes Stück tiefer. Man sieht hinunter und in die Weite. Dabei erkennt man, wie dicht besiedelt die Gegend doch ist, obwohl es hier einsam und verlassen ist. Überall, wo kein bewaldeter Abhang ist, sind Häuser, Dörfer, Städte.
Hier oben steht ein großer, klobiger Felsbrocken unvermittelt in der Landschaft herum. Auf ihm gibt es eine Aussichtsplattform. Aber auch von “unten” hat man einen guten Blick. Und der ist eher schöner, weil man einen dichten Untergrund von gelben und violetten Bodenpflanzen unter sich und verschiedene Gesteinsblöcke vor sich hat.
Anschließend will ich nach Lamas, aber der Routenplaner erkennt es nicht, und so fahre ich ins Mina in Penela und mache eine Kaffeepause. Ich frage die Kellnerin nach dem Weg, aber die tut sich schwer damit. Da schaltet sich ein älterer Herr ein – mit Sakko, bei diesem Wetter! – und erklärt mir den Weg. Dies sei seine Heimat, erzählt er mir. Er wohne in Brasilien, seit 53 Jahren, komme aber jedes Jahr hierher. Und es sei immer dasselbe: Wenn er von der Hitze flüchte, gerate er in die Hitze, wenn er von der Kälte flüchte, gerate er in die Kälte. Er nimmt eine Serviette und macht darauf eine Zeichnung, die nur einen Kreis für einen Kreisverkehr und ein paar Linien für Straßen enthält. Damit kann ich wenig anfangen, zumal er weiter auf mich einredet. Er sei früher oft mit dem Fahrrad nach Lamas gefahren und ob ich in dem Hotel wohne und ob ich nicht besser über die Autobahn fahren würde. Er beschreibt dann genau, wie ich am Ende fahren muss, aber ich weiß immer noch nicht, wie ich am Anfang hier aus Penela rauskomme. Nachdem wir uns zunächst auf Miranda und Lousã als grobe Richtung entschieden haben, fängt er jetzt an, was von Coimbra zu faseln. Spätestens da gebe ich die Hoffnung auf. Die 53 Jahre Abwesenheit scheinen ihren Tribut zu fordern.
Soweit ich kann, versuche ich dennoch, seinen Instruktionen zu folgen. Dabei gerate ich auf eine ausgesprochen schöne, einsame Landstraße, mit viel Licht und Schatten und Feldern und Bäumen. Es geht immer Richtung Miranda, und dann taucht plötzlich ein Schild nach Coimbra auf, und plötzlich bin ich in Lamas. Der Brasilianer aus dem Café hat alles perfekt erklärt. Heimlich leiste ich Abbitte bei ihm.
Die Ortseinfahrt ist gesperrt, aber man kann parken und zu Fuß in den Ort gehen. Schon an der ersten Kreuzung stoße ich auf die Vorbereitungen für die Prozession am Abend. Männer und Frauen sind dabei, den ganzen Prozessionsweg entlang einen Blumenteppich auszulegen. Es gibt einen etwa einen Meter breiten Streifen mit Kreidezeichnungen für die Motive, die hier entstehen sollen. Der Rest wird mit fein gehacktem Grünzeug ausgelegt. Auf kleinen Lieferwagen werden Hunderte von Kästen mit Material angeliefert, schon farblich geordnet. Der fertige Teil des Teppichs wird von einem auf und ab fahrenden Traktor bewässert. Meistens sind es Männer, die das Material anschleppen, und Frauen, die, auf dem Boden kniend, die Bilder anfertigen. Genau an der Kreuzung entsteht gerade an einem Kreis ein Teppich mit der Inschrift Virgem do Pranto, der lokalen Gottheit, deren Fest der Anlass für die Prozession ist. Der Teppich verläuft weiter die Dorfstraße nach unten. Nichts ahnend, gehe ich in die andere Richtung, zur Dorfmitte hin, und komme aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Der Teppich will gar kein Ende nehmen. Er schlängelt sich die Dorfstraße hinauf, weiter und weiter. Die Motive umfassen Kreuze, Kelche, konzentrische Kreise, Sterne, Schleifen, Dreiecke, das PX. Dazwischen einzelne Wörter: Mãe, Paz, Amor usw. und Lamas. Auch ABC und 1,2,3,4 erscheinen irgendwo. Alles individuell gestaltet. Kein Motiv wiederholt sich. Der Teppich geht bis zur Dorfkirche, die am Ende der Dorfstraße liegt. Auf den letzten Metern ist der Saum des Teppichs mit Mandarinen geschmückt.
Ich gehe einmal um die Kirche herum, damit ich den Teppich nicht betreten muss und gehe auf der anderen Seite wieder hinunter, am passend benannten Café Flor vorbei. Eine Frau, die gerade den Abfall wegbringt, erzählt, dass am Abend nach der Prozession die Straßenreinigung von Miranda komme und alles wegkehre. Wir überbieten uns gegenseitig dabei, das zu bedauern. So viel Arbeit! Gar nicht auszudenken, wenn schlechtes Wetter ist und Regen und Wind den mühsam erstellten Teppich verschwinden lassen. Diese Sorge entfällt aber dieses Jahr. Die Frau wiederholt ein Wort, das ich erst nicht verstehe: devocão. Als ich es endlich verstehe, kommen mir unwillkürlich die Bilder von der Queima das Fitas in den Sinn, das Fest der frisch diplomierten Akademiker, das in diesen Tagen in Coimbra stattfindet. Da geht es hedonistisch zu, laut und spektakulär, mit dem Verspritzen von Bier und Sekt als wichtigstem Ritual. Dagegen ist mir, bei aller Skepsis gegenüber dieser Art von naiver Volksfrömmigkeit, die Ergebenheit, die hier in Lamas in der gemeinsamen Arbeit am Blumenteppich zum Ausdruck kommt, lieber.
Dann geht es mit Verspätung zurück nach Viavai. Als ich ankomme, ist die Messe im vollen Gange. Sie wird über Lautsprecher nach außen übertragen. Beim Näherkommen kann man aufgrund einzelner Wörter wie pão, calice, meu corpo und derramado por vos erkennen, dass sie gerade bei der Wandlung sind.
Die Kirche ist so voll, dass nicht alle reinpassen, und das erinnert mich an ein Wortspiel eines Kaplans aus der Schulzeit, das uns als Kindern gefiel: “Wenn alle reingehen, gehen nicht alle rein. Weil aber nicht alle reingehen, gehen alle rein.”
Die draußen Wartenden, Frauen im Sonntagsstaat und Männer in Alltagsklamotten, verfolgen die Messe, die einen mehr, die anderen weniger aufmerksam. Ständig werden Kleinkinder zum Abküssen herumgereicht. Gefragt werden sie nicht.
Vor dem Ende der Messe bringe ich mich am Straßenrand in Stellung, neben dem Imbisswagen. Laut Anzeige gibt es dort Pipocas – Churros – Waffles – Maças de Amor. Und Farturas Recheadas. Das hört sich für mich immer nach Überfluss an, es ist aber Spritzgebäck. Sieht auch nicht viel anders als churros aus. Bleibt noch zu klären, was mit pipocas gemeint ist. Das Internet weiß Bescheid: Popcorn
Dann kommt die Prozession. Allen voran der Träger des Wimpels der Pfarre, mit dem Abbild der Dorfheiligen, Nossa Senhora do Pranto. Trotz des Namens sieht man sie nicht weinen. Der Mann hat mit dem aufkommenden Wind zu kämpfen. Dahinter kommen blumengeschmückte Tragaltäre mit kitschigen Heiligenfiguren, jeweils von vier jungen Leuten mit weißen Umhängen getragen. Neben ihnen eine Mutter mit Wasserflaschen für den Notfall. Dann kommen Kreuze und Fahnen, und dann, unter einem Baldachin, der Pfarrer, mit Kreuz in der einen und Wasserflasche in der anderen Hand, Plastik. Am Ende kommt die Blaskapelle, meist junge Leute. Sie machen ihre Sache ausgesprochen gut. Dahinter das Volk. Es geht einmal um den Block und dann von hinten wieder zur Kirche zurück. Der Abschluss der Prozession wird mit Böllerschüssen markiert.
Dann kommt eine Versteigerung. Alles geht weg, vom Hocker bis zum Gin. Wäre gute Übung im Zahlenverständnis, aber die Zahlen sind zu niedrig. Wäre besser gewesen mit Escudos statt Euros.
Dann kommt Volkstanz. Gar nicht so anders als letzte Woche in Rabaçal, aber mit langsameren Rhythmen und langsameren Bewegungen. Man dreht sich bedächtig um sich selbst und um den Partner. Die Kostüme sind individuell gestaltet, Hauptsache alt. Ist alles ganz schön anzuhören und anzusehen, aber nach drei, vier Runden ist der Bedarf gedeckt.
6. Mai (Montag)
An der Tankstelle abseits der Autobahn ein junger Mann mit einem verkrüppelten Arm. Er scheint überall gleichzeitig zu sein. In einem Moment lädt er noch Gasflaschen auf ein Auto, im nächsten sitzt er an der Kasse. Er kennt Deutschland. Hamburg und .. wie hieß das denn noch mal? – ach ja, Mainz und .. und … Düsseldorf.
Das Ziel ist Mafra. Dessen Palast, genauer gesagt seine Erbauung, ist Gegenstand von Memorial do Convento von Saramago. Das ist der wichtigste Grund für die Besichtigung. Der Palast von Mafra ist das portugiesische Gegenstück zum spanischen Escorial: Palast und Kloster gleichzeitig, riesige Dimensionen, nahe der Hauptstadt gelegen, Resultat eines Gelübdes. Im Falle von Mafra ging es um den Thronfolger, der ausblieb. Nach drei Jahren Ehe noch kein Nachwuchs. Nach dem Gelübde wurde die Königin umgehend schwanger. In dem Roman wird angedeutet, dass der Franziskanermönch, der den König in der Frage der Kinderlosigkeit beriet, schon wusste, dass die Königin ein Kind erwartete und das Wissen ausnutzte, um endlich ein angemessenes Kloster zu bekommen. Wobei am Ende der Bau kaum “angemessen” war. So ein Riesending ausgerechnet für die bescheidenen Franziskaner! Auf jeden Fall hat das Gelübde gewirkt: Die Königin wurde umgehend schwanger. Das erste Kind war zwar nur eine Tochter, Barbara, die später Königin von Spanien werden sollte, aber dann kam noch eine ganze Kinderschar hinterher, einschließlich des gewünschten Thronfolgers.
Der Bau wurde 1717 begonnen, und es waren teilweise bis zu 50.000 Bauarbeiter gleichzeitig im Einsatz, bewacht von 7.000 Soldaten. Bei dem Bau gab es 1388 tote Bauarbeiter.
Die Pension in Mafra liegt auf der Rua Pedro Julião. Sie ist benannt nach Johannes XXI., dem bisher einzigen portugiesischen Papst.
Von hier aus führt eine eher schmale Straße mit eher niedrigen Häusern direkt auf den Palast zu. Dessen breite Front von hier aus gar nicht ganz zu sehen ist.
Dann kommt der große Vorplatz und man kann die Fassade in ihrer Gänze sehen. Es gibt eine ganze Reihe von Elementen, die sie auflockern: die beiden Eckpavillons, mit einer flachen Zwiebelkuppel ausgestattet, sind etwas erhöht, ebenso der Dreiecksgiebel über dem Portal der Basilika und die beiden Glockentürme, und die dazwischenliegenden Trakte des Palasts haben Lisenen und Balustraden. Der Eindruck ist anders als beim strengen Escorial.
Immer wieder wird die Zahl 4500 zitiert, um die Ausmaße des Palasts zu illustrieren. Er hat insgesamt 4500 Fenster und Türen. Dass man nicht alles besichtigen kann, ist verständlich, aber was man besichtigen kann, ist am Ende doch etwas mager.
Der Kreuzgang unten, klassizistisch, ist nicht ein Ort, an dem man unbedingt lange verweilen muss, aber man hat von hier den besten Blick auf die Vierungskuppel.
Im ersten Stock sind ein paar Klosterräume zu besichtigen, im zweiten Räume des Palasts. Eigentlich war das Kloster nur für 13 Mönche bestimmt. Am Ende wurden es 300.
Im Kloster besichtigt man die Räume der ehemaligen Krankenstation. Hier ist eine Art Sakralmuseum untergebracht. In der Mitte des langgestreckten Raums eine Gruppe aus Terrakotta, die die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Sie ist besonders hier, im Franziskanerkloster, von Bedeutung, aber auf das Motiv trifft man immer wieder in Portugal. Es geht um sechs Franziskanermönche, die von Italien auf die Iberische Halbinsel kamen. Einer blieb krank in Aragon zurück, die anderen kamen über Portugal nach Sevilla, von wo sie nach Marokko verbannt wurden. Dort wurden sie hingerichtet. Die Figurengruppe fängt genau diesen Moment ein. Entgegen aller historischen Wahrscheinlichkeit übernimmt der König selbst die Enthauptung. Er trägt ein farbiges, goldgesäumtes Gewand und eine goldene Krone und setzt sich damit von den Mönchen in ihren braunen Kutten ab. Der König holt gerade aus, um dem am Boden knienden Mönch den Kopf abzuschlagen, zwei Mönche stehen betend daneben, ihr Schicksal erwartend, zwei liegen am Boden, mit abgeschlagenen Köpfen. Das sind die Mártires de Marrocos, ein in Portugal häufig auftretendes Motiv.
Dann kommen Zellen der Kranken und der Krankenpfleger, mit schönen, dunklen Möbeln aus Eiche und einem Holz aus Brasilien, vinhaticu. Man sieht eine Schreibstube, Pritschen mit einem länglichen Schlitz in der Mitte und ein Bett mit hohen Seitenwänden. Das war für Kranke im Delirium und für Irre. In einer Eckzelle die Statue eines Franziskanermönche, deren Schatten an die Wand projiziert wird. Die Szene bleibt mir noch lange in Erinnerung.
Dann kommt die Küche. An den Wänden hängen Töpfe und Kannen aus Kupfer, der Größe nach geordnet, und in den Schränken stehen Becher und Kannen aus Keramik, weiß, jedes einzelne Teil mit der Aufschrift Mafra.
Dann kommt ein großer, länglicher Raum. Es war der Raum für Schwerkranke. Jeder war in einem eigenen, gekachelten Kubikel links und rechts des Gangs untergebracht. An der Stirnseite ein Altar. Sonntags wurden die Betten aus den Kubikeln in den Gang geschoben, so dass die Kranken die Messe verfolgen konnten. Praktischerweise führt eine Treppe am Ende des Raums gleich in den Friedhof.
Oben sind Teile des Palasts zu besichtigen. Eine lange Flucht von 230 Metern mit unendlich vielen Sälen zeiht sich an der Palastfront entlang, zur einen Seite die Gemächer der Königin, zur anderen die des Königs. Beide hatten eine eigenen Küche und eine eigene Kapelle.
Am Schnittpunkt der beiden Teile sieht man zu einer Seite auf das Zentrum des Platzes vor dem Palast hin, zur anderen Seite in die Basilika hinunter.
Die Beschilderung hier oben ist ausgesprochen schlecht. Wenn etwas beschrieben ist, bezieht es sich oft auf etwas, was im nächsten oder übernächsten Saal steht. Bei den Deckengemälden gibt es zwei interessante Motive: In dem Königssaal erscheint die Szene des von Phaeton fehlgeleiteten Sonnenwagens. Ob der König sich geschmeichelt fühlte? Aus einer späteren Zeit stammt eine Reverenz an die Fruchtbarkeit. Das Gemälde wurde von João VI. in Auftrag gegeben. Er hatte das gleiche Problem wie sein Vorgänger: kein Nachwuchs. Da der Palast schon stand, ließ er das Gemälde anbringen. Ebenfalls mit durchschlagendem Erfolg. Er hatte neue Kinder.
Von dem Erbauer und seiner Königin wurde der Palast am Ende kaum bewohnt. War doch wohl ein bisschen zu grandios geraten. Die Nachfolger bewohnten fast ausschließlich den “gemütlicheren” Südflügel. Hier sieht man auch, dass das königliche Leben sich großbürgerlichen Formen anpasste. Es gibt ein Musikzimmer, ein Spielzimmer und ein Jagdzimmer, und die Möbel sehen einfacher und bequemer aus. Im Spielzimmer steht neben konventionellen Billardtischen ein chinesischer Billardtisch, eine ganz andere Sache, mit Stangen und Figuren. Sieht ein bisschen aus wie eine edle Variante von Tischfußball.
Im Jagdzimmer stehen Möbel – Tische, Stühle, Hocker – die mit Tierhaut überzogen und mit Gehörn geschmückt sind, ein merkwürdiger Anblick. Der portugiesische Text spricht Möbeln nach deutschem Geschmack, der englische von Möbeln nach österreichischem Geschmack.
Zu den Objekten, die hier ausgestellt sind, gehört ein rundes Ding aus Gusseisen mit einer Kurbel. Hier hilft die Erklärung ausnahmsweise mal: Es ist ein Gerät zum Reinigen und Schleifen von Messern, aus England importiert. Bei einem anderen Objekt fehlt jede Beschreibung: Eine Truhe, mit einem samtenen, roten Einsatz mit Löchern unterschiedlicher Größe. Könnte eine Truhe für den Transport von Geschirr sein, eine Art königlicher Picknickkorb.
Zum Schluss, ganz am Ende eines Flügels, die Bibliothek. Sie ist etwas schlichter gehalten als die viel berühmtere in Coimbra, kann es aber mit ihr aufnehmen. Die Bücherschränke haben Rocaille-Dekoration, und alles ist in Pastellfarben gehalten. Auch die Marmorplatten auf dem Boden, die ein Muster bilden, sind in Pastellfarben gehalten.
Die Bibliothek umfasst 40.000 Bände, alle in Leder gebunden. Es gibt Erstdrucke von Horaz, Cäsar und Cicero und Erstausgaben von Camoes und Gil Vicente. Dazu Inkunabeln, darunter eine Nürnberger Chronik. Leider hat man davon herzlich wenig. Man darf nur ein paar Meter in die Bibliothek hinein, angeblich wegen des Fußbodens, und die Querarme der Bibliothek im hinteren Teil kann man nur erahnen. Schade.
In einer Vitrine am Eingang sieht man drei Skelette von Fledermäusen. Von ihren lebendigen Verwandten soll es hier 3.000 geben.
Im dem Raum vor der Bibliothek sind einige Bücher ausgestellt, mit aufgeschlagenen Seiten. Sie stammen alle aus der französischen Enzyklopädie, mit technischen Zeichnungen und Erklärungen zu allen möglichen Wissensgebieten: Uhrmacherei, Glockengießerei, Navigation, Artillerie. Alles offensichtlich mit der größten Detailfreude und der größten Präzision festgehalten. So etwas wie der Beginn systematischer Wissenschaft. In einer Zeichnung sieht man ein schräg stehendes, langes Doppelgestell unter freiem Himmel. Drum herum die Experten, aber auch Leute aus dem Volk. Ich denke erst an eine primitive Flugmaschine, aber es ist ein Fernrohr!
Bei einer Pause lese ich in einem Café in der Zeitung, dass ein Festwagen bei der Queima das Fitas in Coimbra einen Skandal ausgelöst hat durch sein Motto Alcoholocausto, dass in Dänemark eine rechtsradikale Partei die nötigen Unterschriften zur Teilnahme an den Parlamentswahlen gesammelt hat, dass, einer Untersuchung zufolge, nur die Hälfte der portugiesischen Autofahrer den Blinker beim Abbiegen setzt (so viele?) und dass das 8:1 von Sporting gegen Belenenses einer der höchsten Auswärtssiege überhaupt in der Geschichte der Primeira Liga ist.
Am Nachmittag, beim zweiten Versuch, ist die Basilika geöffnet. Man hat den Eindruck, dass sie dem Petersdom nachempfunden ist. Die Kirche hat gleich 6 Orgeln und 45 Emporen, einige wie Theaterlogen aussehend.
Im Narthex stehen in Nischen riesige Skulpturen. Alle werden überragt von Sebastian, nur mit Lendentuch bekleidet, muskulös. Sieht er aus wie ein antiker Heros als ein Heiliger. Wenn nicht Sebastian dranstünde, käme man nicht darauf.
Alle Skulpturen mit leidenschaftlichen Gesten oder leidenschaftlichen Blicken, viele mit Buch. Einer, Bernhard, tritt mit dem Fuß auf sein Buch, zwischen dessen Seiten ein Drache zerdrückt wird. Vinzenz sieht man mit Feder oder Zweig in der Hand und vornehm Neben Benedikt liegt die Mitra am Boden. Das hat bestimmt eine Bedeutung, vielleicht ist es ein Hinweis auf den Verzicht auf die Bischofswürde. Die Serie von Skulpturen setzt sich in den Seitenkapellen vor, die durch einen Gang miteinander verbunden sind.
Das schöne Wetter bringt mich bald wieder ins Freie. Bei einem Spaziergang durch ein Wohnviertel stoße ich auf O Galo da Manha, einen Schnellimbiss, und dann auf ein chinesisches Lokal mit dem Namen Mei Mei. Ob das auch ein Wortspiel ist?
Dann stoße ich auf einen kuriosen architektonischen Kontrast: Auf einer Straßenseite ein schönes, zweistöckiges Wohnhaus, traditionell, mit zweiläufiger Treppe und Veranden, mit Fliesen an der Fassade, und gleich gegenüber ein modernes Verwaltungsgebäude, eine Art Bürgerzentrum, Fassade in Schwarz (Fenster) und Weiß (Mauer), sieht auch, als wenn die Fassade aus länglichen Streifen bestünde.
Ganz in der Nähe des Palasts, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, liegt das Sete Sóis, ein Restaurant, das in allen Reiseführern empfohlen wird. Der Name, ‚Siebensonnen‘, ist der des Protagonisten aus Memorial do Convento. Das Restaurant hat montags geschlossen. Notgedrungen gerate ich in ein Restaurant ganz in der Nähe der Pension, João da Vila Velha, das von außen ganz unscheinbar, kaum als Restaurant zu erkennen ist. Aber es ist ein Volltreffer: einfache, geschmackvolle Einrichtung, freundliche Bedienung, hauseigenes Bier, eine richtig geschmackvolle Alternative zu den etwas nichtssagenden anderen portugiesischen Bieren, eine handgeschriebene Speisekarte mit großer Auswahl. Ich lande bei Favas, einen wunderbaren Eintopf mit dicken Bohnen. Hierher könnte man immer wieder zurückkehren und die ganze Speisekarte ausprobieren. Die steht unter dem Motto Cozihna tradicional portuguesa.
7. Mai (Dienstag)
Die sehr gesprächige und ebenso freundliche Wirtin der Pension erklärt, für Deutsche sei es einfacher, Spanisch als Portugiesisch zu lernen, für Franzosen sei es einfacher, Portugiesisch als Spanisch zu lernen. Ziemlich gewagte Thesen, die auf nicht viel mehr als ein oder zwei Lauten beruhen, aber es ist eine Freude, ihr zuzuhören. Zumal sie so deutlich spricht, dass ich sie gut verstehen kann.
Durch ungewöhnlich dichten Verkehr geht es zum Flughafen nach Lissabon. Der Flug ist pünktlich, aber der Weg vom Flugzeug zum Ausgang nimmt viel Zeit in Anspruch. Aber dann kommen die beiden gut gelaunt an. Alles hat am Ende reibungslos geklappt.
Über die fast leere Autobahn geht es durch immer stärker werdenden Regen Richtung Penela. Als wir an der Hütte ankommen, hat es fast aufgehört zu regnen, und als die Koffer ausgepackt sind, können wir sogar einen Spaziergang machen.
Wir gehen auf dem Hinweg die Landstraße entlang und entdecken dabei eine Häuschen, das ehedem etwas dargestellt haben muss und wohl so etwas wie das Warenlager der Straßenwacht gewesen ist. Auf dem Rückweg finden wir einen schöneren Weg, abseits der Landstraße, durch Gagos. Große Beachtung finden die Rosen und Zitronen einerseits und die verschiedenen Kanaldeckel andererseits.
In dem Café erklärt die freundliche Bäckersfrau mit großer Liebe zum Detail die Ingredienzien der verschiedenen Gebäckstücke, die wir bestellen. Eins davon heißt tigelada, abgeleitet von tigela, ‘Schüsselchen’. Damit ist das runde Gefäß aus Steingut gemeint, in dem jede tigelada einzeln zubereitet wird.
Gegen Abend fahren wir nach Penela. Nach kurzem Zwischenstopp am Friedhof und an der Burg geht es ins Mina. Dort bestellen wir die bereits bekannte Käse- und Wurstplatte. Alles kommt in Scheiben, nur inmitten der Wurst ist eine wohl aus Versehen zerbröselte Masse. Die Kellnerin erklärt, was es ist: linguiça – Bratwurst.
8. Mai (Mittwoch)
Kleine Tagestour mit den Stationen Espinhal (Kreuzweg), Lousã (Burg) und Miranda (Parque Biológico). Obwohl bekannt, fallen wieder ein paar interessante Kleinigkeiten für mich dabei ab: die Beleuchtung und die Nummerierung der Stationen auf dem Kreuzweg, ein Sägewerk mit einem Sheddach, eine Kapelle in Lousã, die São Paio geweiht ist. Das ist Pelayo, ein Heiliger aus der ganz frühen Zeit der Reconquista, aber nicht identisch mit dem Gründer des Königreichs Asturien. Und dann ein Café in einem kleinen Park zwischen Burg und Stadt, in dem wir draußen sitzen können. Guter Tipp für künftige Besucher.
Im Pascoal gibt es ein üppiges Abendessen, mit besonders schmackhaftem Hähnchen. Am Nebentisch Briten, die mit einer Bäuerin, die ihnen Brot und Eier bringt, Portugiesisch sprechen. Sie schaffen zu dritt zwei Flaschen Weißwein.
9. Mai (Donnerstag)
Beim Brötchenkauf in der Aldeia dos Sabores sehe ich zum ersten Mal den Bäckermeister selbst auftauchen. Es scheint hier, einschließlich der Kuchen, alles im Hause angefertigt zu werden.
Beim Frühstück endet die Diskussion über die Tiefe der Hütte im Verhältnis zur Größe des Grundstücks mit dem kategorischen Satz: “Ich kann euch nicht die ganze Bauordnung erklären. Dafür haben wir keine Zeit.”
Auf dem Weg nach Coimbra sehen wir am Straßenrand, wie die von den Straßenarbeitern abgeschnittenen Äste und Zweige geschreddert werden.
Auf der IC2 kommen uns Fatima-Plilger in Scharen entgegen. Auch in Coimbra, wo an mehreren Stellen das Emblem von Fatima in den Bürgersteig eingelassen ist, sehen wir welche. Sie dürften noch 80 Kilometer vor sich haben, und es scheint immer der Schnellstraße entlang zu gehen. Dort sind inzwischen schon einzelne Versorgungsstationen für Notfälle aufgebaut. Wir fragen uns, wo die alle übernachten sollen.
Wir besorgen zuerst die Fahrkarten für Sonntag und gehen dann in die Altstadt. In Santa Cruz ist gerade Messe. Wir bekommen ein portugiesisches Vaterunser mit, aber ich kann nicht entscheiden, ob es sich um die “katholische” oder die “evangelische” Version handelt.
Wir gehen über den Mondego Richtung Santa Clara und verlieren uns in einer langen Diskussion darüber, in welche Richtung er fließt. Die Zeichnung der Karte auf die Wirklichkeit zu übertragen ist gar nicht so einfach.
In den Doces Conventuais teilen wir uns zum Kaffee pastel de nata, queijada und pastel de Tentúgal. Und ich lerne das Wort abatanado als Bezeichnung für “unseren” Kaffee.
Auf dem Weg zur Uni rauf sehe ich zum ersten Mal die Beschriftung an der sitzenden Statue einer Frau mit Wasserkrug: A Tricana de Coimbra. Bei ihr handelt es sich um eine typische Volksfigur, die oft Gegenstand von Literatur und von Fado-Liedern ist. Sie trägt Rock, Schürze, Bluse, Kopftuch sowie ein übereinandergeschlagenes Schultertuch, den xaile. Den Wasserkrug trug sie bei sich, wenn sie unterwegs zum Mondego war, um Wasser zu holen.
Ich erfahre, dass die ganz schmalen eisernen Abflussrinnen für das Regenwasser in dem Pflaster die Erfindung eines deutschen Architekten sind, der mal im Dunstkreis der Familie auftauchte.
Das ohnehin nicht glorreiche Wetter wird immer schlechter. Die Stadt liegt unter einer dichten Dunstwolke, selbst die Ponte Santa Rainha Isabel ist kaum zu sehen. Die beiden lassen sich aber die gute Laune nicht nehmen und zeigen sich von der Anlage hier oben, vor allem dem Innenhof des Museums, sehr angetan.
Nachdem ich mich noch mal vergewissert habe, dass die Statue im Innenhof der Universität João III. und nicht Dinis darstellt, finden wir dessen Statue auf der anderen Seite des Universitätsplatzes. Und gleich dahinter die Escadas Monumentais, die ich schon immer finden wollte. Wenn man diesen Weg nimmt, hat man einen schönen Rundweg und kommt wieder bei Santa Cruz aus.
Dort machen die beiden die Besichtigung ohne mich und erinnern mich im Anschluss an bereits vergessene Teile des Klosters wie den Kapitelsaal und das, was man im Deutschen wohl Reliquienkammer nennen würde, das santuário. Allerdings handelt es sich hier um mehr als eine Kammer.
Als wir zurückgehen, wird an einer Apotheke 19° angezeigt. Gar nicht so kalt, wie man meinen sollte.
Auf dem Rückweg besorgen wir ein paar Kleinigkeiten im Minipreço in Penela. Die Kassiererin fragt uns, ob es uns gefallen habe. Was? Die Burg. Sie hat uns gestern in Lousã gesehen.
10. Mai (Freitag)
Im Café in Miranda sehen wir, wie Pflegestationen für die Pilger von Fatima am Straßenrand aufgebaut worden sind.
Im Unterricht ein Beispiel für Fado aus Lissabon und eins für Fado aus Coimbra gehört. Der Fado aus Lissabon ist fröhlicher, hat schnellere Rhythmen und handelt von ganz gewöhnlichen Alltagsdingen, u.a. von portugiesischen Speisen. In einem Lied reimt caracois auf espanhois. Der Fado von Coimbra ist gefühlvoller, langsamer. Wir sehen eine Aufnahme von der Serenade bei der Queima das Fitas, bei der den zuhörenden Studenten, den frisch diplomierten, die Tränen fließen, angesichts der Erinnerung an die Studienjahre und deren bevorstehendem Ende. Wohl ein klassischer Fall von saudade. Der Fado von Coimbra wird nur von Männern gesungen. Ganz einfach deshalb, dass er aus der studentischen Tradition kommt.
Die Holtener haben inzwischen Miranda in Augenschein genommen und sind sehr angetan. Sie sind über die Treppen nach oben zur Kirche gegangen, aber über einen anderen Weg hinunter gekommen.
Wir fahren weiter nach Tomar. Der Regen vom Morgen hat aufgehört, die Wolken verziehen sich allmählich, und im Laufe des Tages wird es immer wärmer.
Im Zentrum von Tomar stoßen wir auf ein Lokal, das Tabuleiro heißt und auf weitere Hinweise auf die Festa dos Tabuleiros im Juli, bei denen Mädchen ein längliches, mit Broten und Blumen beladenes Tablett auf dem Kopf tragen, das genauso hoch wie sie selbst sein muss, eine Reminiszenz an die Christusritter, die, so die Tradition, das Volk mit solchen guten Gaben verwöhnten. Wir sehen Plakate und Abbildungen und eine Figur in der Stadtkirche, die so einem tabuleiro im Kleinformat nachbildet. Beim Verlassen der Stadt sehen wir dann an einem Kreisverkehr eine Skulptur mit diesem Thema. Die würde bestimmt ziemlich rätselhaft wirken, wenn man nicht wüsste, worum es geht.
Wir gehen in die Synagoge und erhalten ein Faltblatt auf Deutsch, das vor allem die Geschichte der Synagoge kurz charakterisiert. Sie war nur wenige Jahrzehnte als Synagoge im Dienst, denn bald nach der Errichtung wurden die Juden ausgewiesen oder zur Konversion gezwungen. Später wurde die Synagoge von einem Privatmann gekauft und war zu verschiedenen Zeiten Gefängnis, Scheune, Weinkeller und Warenlager, aber auch Kirche. Zur Zeit, als sie Gefängnis war, durften einem königlichen Erlass zufolge die Neuchristen Tomars nicht gefangengenommen und in der ehemaligen Synagoge eingesperrt werden.
Wir setzen uns in ein Straßencafé auf der Praça da República. Über den Platz kommen junge Leute mit orangefarbenen Westen und Fahnen. Diesmal keine Pilger, wie wir zuerst meinen, sondern Anhänger der PSD, der trotz ihres sozialdemokratischen Namens liberal-konservativen Partei Portugals. Die Europawahlen rücken näher.
Im Convento de Cristo, wo wir uns im Februar noch fast alleine verloren haben, muss man jetzt an der Kasse Schlange stehen. Aber alles verteilt sich sehr schnell auf dem riesigen Gelände. Mir kommen einige Dinge wieder ins Gedächtnis, und wir entdecken ein oder zwei neue Dinge, darunter einen Heizraum am Ende der Zellen des Dormitoriums. Hier wurde Feuer gemacht, und die Wärme wurde durch einen Schacht am hinteren Ende der Zellen weitergeleitet. Oben runde Öffnungen in der Decke, durch die, wenn alles gutging, nur der Qualm, nicht auch die Wärme entschwand. Gleich gegenüber ist eine Mönchszelle geöffnet, von der aus man eine ungehinderte Sicht auf das Manuelinische Fenster hat, besser als von dem Balkon, auf dem alle stehen. Die vielen Motive stellen immer wieder Rätsel auf, aber man kann bei längerem Hingucken Seetang, Korallen, Ankerseile, Taue usw. identifizieren. Bei einer Führung wird u.a. auf Auberginen verwiesen, die hier dargestellt sein sollen, weil sie auf den Schiffen als Mittel gegen Skorbut mitgeführt wurden. Das hört sich ziemlich abenteuerlich an. Die Gürtelschnalle hat in dieser Interpretation nichts mit dem Hosenbandorden zu tun, sondern steht für die Adeligen. Einleuchtender ist die Interpretation des Gesamtbildes, bei dem aus den Tiefen des Meeres Dinge “hervorwachsen” wie die seemännischen Hilfsmittel, die dann wiederum von Königskrone und Ritterkreuz überragt werden.
Der Führer verweist auch auf Säulen vor dem Fenster, die einst einen weiteren Innenhof trugen. Was machte der mit dem Fenster? Er verdeckte es! Offensichtlich war es einem der Nachfolger von Manuel nicht so lieb, die Erinnerung an ihn wachzuhalten.
Am Abend sehen wir im Dom Sesnando in Penela, wie Vorbereitungen zu einer professionellen Weinprobe getroffen werden. Jeder Winzer bringt einen Wein mit, der anonym verkostet wird. Alle sind mit einer Schürze und einer Medaille ausgestattet. Leider sind wir zu früh dran, um die Probe mitzubekommen.
11. Mai (Samstag)
Als ich im Café ein Stück Kuchen mitnehme, macht ein Mann an der Theke eine Geste der Zustimmung. Dann sagt er mir einen portugiesischen Ausspruch, in dem süß und bitter vorkommt, den ich aber nicht verstehe. Die Bäckerin schüttet ihm ein großzügiges Glas Weinbrand ein. Auch süß.
Als ich die Bäckerei verlasse, sagt die Bäckerfrau: “Good morning.”
Nach Miranda fahre ich alleine. Filomena hat die Besichtigung eines Klosters organisiert. Ich kenne nicht einmal dessen Namen.
Ich habe mit einer Handvoll Teilnehmer gerechnet, aber wir sind weit über dreißig, ein französisches und ein holländisches Ehepaar, sonst lauter Briten. Wie bei jeder Gruppe gibt es den unvermeidlichen Fragesteller. Die Rolle übernimmt hier der Holländer. Er lässt keine Erklärung so stehen. Seine Frau stellt keine einzige Frage.
Zum Kloster hin geht es im Konvoi, jeder in seinem eigenen Wagen. Ob das gutgeht? Ich habe da so meine Zweifel. Und als wir auf halber Höhe sind, halten wir dann tatsächlich an, weil einer verlorengegangen ist. Filomena macht sich auf die Suche. Am Ende mit Erfolg.
Es geht beständig bergauf, sechs oder sieben Kilometer lang, und der Aufstieg endet mit einem ungewöhnlichen Blick von dem großen Klosterplatz aus in die weite Landschaft. Die hat etwas von Toskana.
Wir werden in Empfang genommen von einem Mitglied des Freundeskreises des Klosters. Neben ihm eine junge Kunststudentin, die einen Teil der Führung übernehmen wird. Wenn das Mädchen spricht, verstehe ich so gut wie alles, wenn der Mann spricht, knapp die Hälfte. Filomena übersetzt. Das ist eine wunderbare Übung.
Wir stehen vor dem Eingang des Klosters, das eine breite, weitgehend schmucklose Front hat. Der Mann begrüßt uns und stellt eine Frage: “Kennen Sie Schmied?” Wer ist Schmied? Habe ich da richtig gehört. Meine Verwirrung wird noch größer, als ja sagen. Sie wohnen hier in der Nähe. Während der Führung geht mir die Frage im Kopf herum, bis ich später auf einem Schild die Antwort finde: Das Kloster heißt Santa María de Semide.
Das Kloster wurde von dem mir aus Coimbra bekannten Joaquim António de Aguiar, dem Mata-Frades, aufgelöst. Die Nonnen durften aber vorerst verbleiben. Als die letzte Nonne starb, war es das endgültige Ende des Klosters. In den ehemaligen Klosterräumen ist jetzt eine Art Jugendheim untergebracht, ein Heim für Jugendliche aus schwierigen Familienverhältnissen.
Das Kloster geht auf die Gründungszeit Portugals zurück. Der erste Abt war der Bruder des Bischofs von Coimbra. Es war zu zuerst ein Mönchskloster, wurde dann aber bald zum Nonnenkloster. Von dem ursprünglichen Bau ist nichts mehr übrig. Das Kloster hat drei schwere Brände hinter sich, den letzten davon vor gerade mal dreißig Jahren. Dabei sind Teile des Klosterbezirks zerstört worden, deren Ruinen wir später sehen. Was man jetzt sieht, stammt weitgehend aus dem 17. Jahrhundert.
Trotz des Namens scheint Benedikt der Patron des Klosters zu sein. Man begegnet ihm immer wieder, oft an der Seite seiner Zwillingsschwester Scholastika. Die wird, wie hier, häufig mit einer Taube dargestellt.
Wir gehen zuerst in den Raum, durch den die Nonnen die Kirche betraten, vom Kloster aus. Die Seitenwände sind mit schönen Kacheln ausgelegt, braun-blau, was dem Vernehmen nach typsich für Coimbra ist.
Dann kommen wir in den höher gelegenen Chor, von dem aus sie die Messe verfolgten. Über dem Chorgestühl über jedem Betstuhl ein Bild auf Holz. Jedes stellt einen anderen Orden dar. Leider wird da sehr schnell drüber hinweggegangen. Da hätte ich gerne mehr erfahren. Auf den ersten Blick sieht man keine großen Unterschiede.
Wir gehen in die Kirche und sehen das gerade restaurierte Altarbild. Der Unterschied zu den beiden an den Seiten befindlichen, noch nicht restaurierten Altarbildern ist frappierend.
Den schönsten Blick hat man, wenn man sich umdreht: Durch das Gitter, das die beiden Bereiche der Kirche trennt, sieht man auf den Chor und die wunderbare Orgel an dessen Ende.
Zu den interessantesten Ausstattungsstücken gehören zwei Bilder mit demselben Motiv, dem der jungen Maria, die lesen lernt, einmal vor ihrer Mutter Anna, die ihr ein Buch zeigt, einmal in Gesellschaft anderer junger Mädchen. Schön sind auch ein Bild von Santiago mit einem Pilgerhut, der wie ein Cowboyhut aussieht und eine Statue von Josef, der das Jesuskind zärtlich auf dem Arm hält.
Gleich mehrere bekannte Speisen gehen auf dieses Kloster zurück, sind von den Nonnen hier erfunden worden, darunter die chanfana und die sopa casamento. Da gibt es einen Zusammenhang. Die chanfana wurde traditionellerweise bei Hochzeiten serviert, und die Suppe gab es dann am Tag danach mit Brot aus den Resten der chanfana. Zu den Süßspeisen aus Semide gehört die nabada. Sie ist eine der ältesten klösterlichen Süßspeisen und die einzige, die kein Ei enthält. Alle anderen enthielten Ei, und zwar Eigelb, weil die Nonnen das Eiweiß zum Stärken ihrer Kutten benutzten.
Als ich zurückkomme, haben die beiden einen gewaltigen Spaziergang in der Sonne hinter sich, einen großen Bogen über Viavai mit Rückkehr von der anderen Seite über Gagos und einem Zwischenstopp bei Pamela. Dort haben sie auch den Wohnwagen gesehen, den ich noch nicht kenne.
Am Abend kommt noch eine überraschende Nachricht: Die Eigentümer wollen das Haus verkaufen. Auch wenn es überraschend kommt, wundern tut es mich nicht. Ich habe immer wieder überlegt, ob es sich lohnt, ein Wochenendhaus in größerer Entfernung zu haben, das man nur gelegentlich benutzt. Der Aufwand ist doch ziemlich groß. So ein Haus kann zu einer Bürde werden. Man hat das Gefühl, mal wieder hinfahren zu müssen, damit es sich lohnt.
12. Mai (Sonntag)
Schon um sieben Uhr am Morgen hört man den ersten Traktor durch den Ort fahren.
Es ist windig, so windig, dass man nicht glauben mag, dass dies einer der schönsten, wärmsten und sonnigsten Tage der Zeit werden könne. Wird es dann aber.
Mit gepackten Koffern geht es nach Coimbra. Dort machen wir noch eine kleine Rundtour mit kurzem Halt in Santa Clara und dem Blick auf die sonnenbeschienene Stadt. Wir identifizieren nach etwas Suche die Kathedrale und den Marktplatz und die Ruinen von Santa Clara. Mitten auf dem Mondego gibt es eine Wasserfontäne.
Der Zug kommt pünktlich und die beiden fahren los mit ein bisschen Wehmut, aber auch mit Vorfreude auf ein paar Tage in der Sonne in Porto.
Auf dem Rückweg lasse ich Revue passieren, was ich in diesen Tagen alles entdeckt, was ich gelernt habe: dass die Hütte sowohl einen Feuerlöscher als auch eine Feuerdecke hat, dass man die portugiesische Fahne der Taverne von Viavai von der Hütte aus sehen kann und wie die Hütte von der Taverne aus aussieht. Und dann: dass der unbekannte Waldweg, der von unterhalb der Hütte abgeht, Richtung Penela führt und dass der Weg durch Gagos eine schönere Alternative ist, wenn man zur IC3 will. Und dann: dass hier in Portugal die Strom- und Laternenmasten aus Beton, nicht aus Stahl sind, dass die “Bälle” an den Stromleitungen Warnungen für Flugzeuge sind, dass Coimbra einen Flughafen hat und dass mir in Lissabon die Vinzenz-Kirche durch Lappen gegangen ist. Und dann: wie Pfingstblumen aussehen und wie die Kapuzinerkresse aussieht, dass es hier weniger Löwenzahn als bei uns gibt, dass die Mandarinen im Garten schon essbar sind, dass ein Baum im Garten ohne Blüten und Früchte ein Feigenbaum ist und dass es sich bei den anderen Obstbäumen um einen Pflaumenbaum und einen Pfirsichbaum handelt. Die Pfirsiche sind hart, mit pelzigem Überzug, die Pflaumen haben einen senkrechten Spalt, an denen sie zu erkennen sind. Und dann lerne ich noch, dass im portugiesischen Vaterunser (wie im übrigen auch im englischen) die Erde vor dem Himmel genannt wird. Im Deutschen ist es anders herum. Ob das einen, wenn auch noch so kleinen Bedeutungsunterschied macht?
Heute ist der große Tag für die Pilger in Fatima, der Abend vor dem 13. Mai. Am Vormittag haben wir unterwegs immer noch ein paar Nachzügler gesehen. Die schaffen es wohl nicht mehr, heute anzukommen. Vielleicht wollen sie es auch gar nicht.
13. Mai (Montag)
Nach zwei dramatischen Aufholjagden und einer ganz knappen Entscheidung stehen die Teilnehmer der Endspiele bei den europäischen Pokalwettbewerben fest: Alle vier kommen aus England. So etwas hat es noch nie gegeben. Jetzt fahren die englischen Mannschaften nach Kiew bzw. nach Baku, um dort ihre Endspiele auszutragen.
14. Mai (Dienstag)
Auf dem Weg nach Ansião zwei braune Raubvögel auf der IC3, die sich an irgendetwas auf dem Straßenpflaster zu schaffen machen.
Auf den Feldern wird hier überall gespritzt. Heute eine Frau auf einem Feld, die mit der Spritzpistole hantiert und einen Schutzanzug trägt wie die, die man auf dem Mond trägt.
In Ansião sehe ich ein in eine Häuserwand eingelassene Kachel mit der alten Schreibweise Anciao, genauso wie Penella in Penela.
Im Café Diogo bestelle ich einen Kaffee. Als ich bica sage, lacht die Kellnerin. Warum? Die Engländer sagten immer espresso.
Das Café Diogo hat eine Fiale, die sich als Bicafé klassifiziert. Ist das ein Hinweis darauf, dass es eine Fiale ist oder darauf, dass es zwei Funktionen wie Cafeteria und Taverne hat?
Wie bei uns: Sobald es mal warm wird, setzen die Klagen über die Hitze ein.
Bei der Post muss man eine Nummer ziehen, wie in Schweden. In Penela wird das meist umgangen, da es keine nennenswerten Schlangen gibt, aber hier ist es nötig. Kein schlechtes System, nur muss man wissen, dass man eine Nummer ziehen muss.
An der Wand hängt ein Plakat. Es ist von pesquitas die Rede, der Suche im Internet. Da wo wir surfen, da fischen die Portugiesen.
Ich stoße auf ein Denkmal (XVII) ohne Figur für einen General, der Verdienste in der Guerra da Restauracão hatte und auch von Bedeutung für Ansião war. Die lange Inschrift ist komplett in Latein. Unter Guerra da Restauracão versteht man den Krieg gegen Spanien zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit Portugals, das in Personalunion von den Königen von Spanien regiert wurde. ganz unberechtigt war der Anspruch Spaniens nicht: Der letzte König aus dem Hause Avis hatte Philipp II. testamentarisch zu seinem Nachfolger bestimmt. Der war außerdem ein Enkel Manuels und mit der Tochter Joãos III. Was den Aufstand (1640) aus portugiesischer Sicht auslöste, war die Verletzung der Portugal zugestandenen Rechte durch die Spanier. Außerdem war die wirtschaftliche Lage nicht gerade rosig. Endgültig bestätigt wurde die Unabhängigkeit Portugals im Vertrag von Lissabon (1668). Wieder was dazugelernt.
15. Mai (Mittwoch)
Durch den Aufschub vom 1. April (Aprilscherz) auf den 31. Oktober (Halloween) hat die Diskussion über den Brexit etwas an Fahrt verloren, aber sie ist noch da. Ein Leser stellt eine provokative Frage, die ich auch schon immer stellen wollte: “Können Sie mir ein einziges Gesetz nennen, das gegen die Stimmen der Briten (bzw. der britischen Regierung) angenommen wurde? Die Briten, auf dieses Detail sollte man die Brexit-Befürworter mal hinweisen, sitzen auch in Brüssel, u.a. im EU-Rat. Da können sie eigentlich alle Reformen und Gesetze blockieren. Bei den meisten gilt weiterhin Einstimmigkeit, und auch bei denen mit qualifizierter Mehrheit geht es kaum ohne die britische Zustimmung. Wenn man sich als Brite darüber beschwert, dass man aus Brüssel regiert wird, dann ist das so, als wenn sich ein Hamburger darüber beschwerte, aus Berlin regiert zu werden oder ein Turiner aus Rom. Die aus Leeds, Torquai, Norwich und Chesterfield werden auch demnächst “aus London” regiert werden.
Oh Demokratie, wo führst du uns eines Tages noch hin, wenn die Götter den da tatsächlich in sein Amt gewählt haben?” (Aristophanes, Die Vögel)
16. Mai (Donnerstag)
In einer Monographie gelesen, dass unter den meist gesprochenen Sprachen der Welt Spanisch den 4. Rang belegt, Portugiesisch den 8., Deutsch den 12. Dabei hat Portugiesisch knapp doppelt so viele Muttersprachler (um die geht es) als Deutsch und Spanisch etwa doppelt so viele wie Portugiesisch. Die Statistiken sind nicht so klar, wie man meinen könnte. Diese Zahlen basieren auf einer (leicht adaptierten) Erfassung von 2005. Seitdem hat die Bevölkerung in vielen der betroffenen Länder zugenommen. Außerdem ist es nicht immer so einfach zu entscheiden, was Erst- und was Zweitsprache ist. Diese Statistik berücksichtigt auch Migranten in europäischen Ländern. Das lässt ein paar interessante Details zum Vorschein kommen: In Frankreich gibt es mehr Portugiesen (genauer gesagt: Portugiesisch-Sprechende) als in Mosambik. Und selbst als Zweitsprache ist Portugiesisch dort dürftig vertreten, etwas 1 Million von insgesamt 23 Millionen. In Frankreich gibt es mehr Portugiesen als Spanier, in Luxemburg auch, in Belgien ist es ungefähr gleich, in Deutschland und in der Schweiz gibt es mehr Spanier. Auffällig ist der ganz geringe Anteil beider in England. Spanier gibt es da so gut wie keine.
Wieder so ein abrupter Wetterwechsel. Von Temperaturen um 30° auf Temperaturen um 15°, von wolkenlosem Himmel auf dichte Wolken.
17. Mai (Freitag)
Am Morgen gehen die Lichter aus. Es scheint das ganze Dorf zu sein, nicht nur die Hütte.
Wieder nehme ich den alten Mann mit nach Miranda. Unterwegs lesen wir noch einen Freund von ihm auf, der auch auf dem Weg dorthin ist. Der setzt sich schweigend nach hinten, während mein Freund in bewährter Weise auf mich einredet. Wenn ich richtig verstehe, will er mir ein Haus zum Kauf anbieten.
Im Unterricht erklärt Filomena den Unterschied zwischen tosta und torrada. Anders als man meinen könnte, ist es die torrada, die unserem Toast entspricht. Bei fava (‘Saubohne’) und feijão (‘Bohne’) ist die Unterscheidung nicht so einfach. Auf die Farbe ist kein Verlass, da gibt es allerlei Variation, und die Form ist auch ähnlich.
Auch hier in der Gegend gibt es Orte, die mit dem Artikel stehen. Kannte ich bisher nur von Porto. Zu diesen Orten gehören Rabaçal und Lousã. Man sagt also em Miranda, aber no Rabaçal und na Lousã.
Filomena vermutet, dass das Wort Bicafé in Lousã ein Wortspiel mit bica und café sein könnte. Leuchtet ein!
Als ich zurückkomme, ist immer noch kein Strom da, aber Dona Lucia versichert mir, das ganze Dorf sei betroffen. Es ist wohl ein Eukalyptusbaum auf eine Stromleitung gefallen. Wie lange es dauert, wisse man nicht. Abwarten und Tee trinken. Dafür gibt es ja das Gas.
Vielleicht ist das ja der tatsächliche Grund für das Kappen der Bäume am Straßenrand. Hat am Ende weder was mit den Straßen noch mit den Waldbränden zu tun.
Ich gehe zur Taverne in Viavai, und siehe da, dort läuft der Fernseher. Howard sagt, der Strom sei gerade in dem Moment wiedergekommen, als ich in die Taverne kam. Glück gehabt. Zur Feier gibt es einen Kaffee.
Kurz darauf kommen Ian und Pamela. Die beiden erzählen, dass sie schon in einer praia fluvial waren, am Montag. Da war ja noch Sommer. Das Wasser sei, nachdem man einmal drin war, gar nicht so kalt gewesen.
18. Mai (Samstag)
Eine rätselhafte Passage in dem brasilianischen Jugendroman, den ich lese, löst sich auf, als sich herausstellt, dass papagaio nicht nur den Vogel bezeichnet, sondern auch einen Drachen. Der Junge lässt einen Drachen steigen!
Einer Umfrage zufolge betrinken sich Briten mehr als alle anderen. Bei näherem Hinsehen ist die Sache nicht mehr ganz so klar wie es in den Schlagzeilen klingt. Die Umfrage ist “nur” in 38 Ländern gemacht worden und beruht auf Angaben der Betroffenen. Wie gut können sie sich erinnern? Was versteht der eine, was der andere unter betrunken sein? Für mich überraschend, dass Indien unter den ersten zehn und Deutschland fast ganz am Ende der Tabelle liegt. Nach überraschender die allgemein hohe Zahl: Briten betrinken sich danach 51 Mal pro Jahr, der Durchschnitt in allen Ländern liegt bei 33 Mal! Fast dreimal pro Monat! Gleichzeitig steigt, auch im UK, die Alkoholabstinenz, besonders unter jungen Leuten. Diejenigen, die trinken, trinken aber oft unmäßig.
19. Mai (Sonntag)
Bob Hawke, der jetzt verstorbene ehemalig Premierminister Australiens, stellte während seines Studiums in Oxford einen Weltrekord auf: Er trank ein Yard Bier (1,4 Liter) in 11 Sekunden. Er zeigte sich auch als Premierminister gerne mit Zigarre und Bierglas. Einerseits oft politisch inkorrekt, andererseits ein engagierter Politiker, immer mit Sicht auf Minderheiten, Unterprivilegierte, Randgruppen. Vor seiner dritten Wahl sagte er, dass am Ende seiner der nächsten Legislaturperiode kein australisches Kind mehr in Armut leben würde. Da hatte er die Messlatte zu hoch gelegt.
20. Mai (Montag)
Durch die Lektüre über das Portugiesische werden einige Merkmale klarer, die mir hier und da mal aufgefallen waren, vor allem die regelmäßigen Entsprechungen zu anderen Sprachen. Die kurzen Wörter erklären sich häufig durch den Wegfall von /l/: calente > caente > quente, candela > candeea > candeia, dolore > door > dor, colore > coor > cor, populu > popoo > povo. Der Ausgangspunkt ist hier das Vulgärlatein. Die Veränderungen setzten vermutlich im 10. Jahrhundert ein, noch bevor es schriftliche Zeugnisse in portugiesischer Sprache gab. Auch Verbformen wie sair oder voar erklären sich so.
Im Autoradio Wahlwerbung, erst die PSD (unsere CDU), dann die CDS (unsere AfD). Lauter vage, allgemeinverbindliche Dinge, die genauso gut von anderen Parteien kommen könnten (vorausgesetzt, ich habe das alles richtig verstanden). Das allermeiste, außer den Waldbränden der CDS, könnte auch als Wahlwerbung für Parteien aus anderen Ländern übernommen werden. Und dann wundern sie sich über Politikverdrossenheit.
In der Apotheke mit vier Verkäufern und acht Kunden sind fast alle kleiner als ich. Die Portugiesen sind nicht gerade Riesen, die älteren schon gar nicht und die vom Lande auch nicht.
Im Café lese ich, dass Benfica zum zweiten Mal in Folge Meister geworden ist. Zwei Mal in Folge geht ja noch, sieben Mal in Folge ist pure Langeweile. Sie haben zwar nur einen knappen Vorsprung vor dem FC Porto, aber eine unglaubliche Anzahl von Toren geschossen, über 100.
21. Mai (Dienstag)
Im Sprachkurs neben einer jungen Slowakin gesessen, die mit einem Portugiesen verheiratet ist und momentan im Hause von dessen Großeltern hier in der Nähe wohnen. Auf lange Sicht wollen sie nach Porto oder Lissabon. Seine Eltern leben in Südafrika, mit einem Haus in Johannesburg und einem im Süden, direkt am Strand gelegen. Da haben sie im Winter drei Monate verbracht. Nicht schlecht. Ihr Portugiesisch ist richtig gut, und sie vermutet sofort, dass ich kein Brite bin. Warum? Aussprache.
22. Mail (Mittwoch)
Am Anfang der Reise stand die Frage, ob Rio schon mal die Hauptstadt Portugals war. Bei der Lektüre jetzt eine Antwort gefunden. Die lautet: nein. Rio war Königsresidenz von 1808-1820. Der König hatte sich, angesichts der napoleonischen Präsenz auf der Iberischen Halbinsel – Joseph Bonaparte war spanischer König von 1807-1814 – nach Brasilien verdrückt. Zur Hauptstadt wurde Rio deshalb nicht.
Wieder Wahlwerbung im Radio, diesmal von der PDR. Da wird wenigstens etwas über Portugal ausgesagt. Der wichtigste Punkt ist die Ungleichheit, Ungleichheit zwischen Metropolen und Provinz, Ungleichheit zwischen Küstenlinie und Inland. Die EU-Mittel kämen fast ausschließlich den großen Metropolen zugute, wird geklagt. Da gebe es die meisten Wähler.
23. Mai (Donnerstag)
Um halb sechs am Morgen ist es noch stockdunkel und ganz still. Dann melden sich die ersten Singvögel, fast gleichzeitig mit dem Hahn, und dann wird es schnell Tag.
Was ist wohl der beste Standort für das Museu Nacional Ferroviário? Da haben die Portugiesen es einfach gehabt. Kann es dafür eine bessere Wahl geben als ein Ort, der ‘Knotenpunkt’ heißt? Sonst gibt es nicht so viel zu sehen in Entroncamento, also fahre ich auf direktem Weg zum Museum. Der Weg führt passenderweise über eine breite Eisenbahnbrücke. Das Museum lässt fast keine Wünsche offen: Die Angestellten sind sehr, sehr freundlich und hilfsbereit, die Exponate sind interessant, die Gestaltung ist ansprechend, die Beschilderung ausgezeichnet. Wenn man nach einem Manko suchen wollte: Man hätte gerne etwas mehr über soziale Fragen erfahren: Wie anstrengend war die Arbeit, wie gefährlich? Wie war die Bezahlung, wie war die Absicherung? War der Staat der Arbeitgeber? Gab es Gewerkschaften, Streiks, Konkurrenzdenken?
Gleich zu Anfang erfährt man, dass die erste portugiesische Eisenbahn zwischen Lissabon und Carregado verlief. Sie wurde 1857 eröffnet. Das ist sehr früh, meine ich, aber tatsächlich war Portugal hinter den meisten europäischen Staaten zurück, und auch Brasilien war Portugal um zwei Jahre voraus. Die erste russische Eisenbahn gab es um 1838. Hier steht aber nicht Russland, sondern mit einem wunderbaren Anachronismus, URSS. Was die Russen der Zeit wohl gesagt hätten, wenn man ihnen vorausgesagt hat, dass aus dem Zarenreich mal eine Räterepublik werden würde?
Es geht beim Museum von Klein zu Groß. Am Ende stehen die Lokomotiven, am Anfang stehen Einzelteile der Lokomotiven (im Portugiesischen locomotiva, nicht locomotora), und zwar der alten Dampfloks: Kessel, Ventile, Gasometer, Laternen, Pfeifen, Tachometer. Besonders angetan hat es mir ein rätselhaftes Gerät, mit dem man durch einen Abflusshahn Sand auf die Schienen streuen konnte, mit der gewünschten Dosierung. Das verstärkte den Halt der Räder. In demselben Raum steht eine Liliput-Eisenbahn, wie eine Spielzeugeisenbahn, aber zehnmal so groß, groß genug, um sich draufzusetzen. Die war ein Geschenk des französischen Königs an sein Patenkind, den portugiesischen Thronfolger. Das Geschenk wirkte nach. Der Thronfolger wurde als König, Pedro V., ein großer Förderer der Eisenbahn.
Dann kommen mehrere Säle, in denen es um das Reisen geht. Am Anfang steht ein schöner, hölzerner Kasten mit 78 schmalen Fächern für Fahrkarten. Die sehen aus, wie die Bahnsteigkarten meiner Kindheit. Jede einzelne ist nummeriert, auf jeder ist das Reiseziel gleich mit drauf. Dann gibt es Utensilien des Schaffners wie eine Hüfttasche mit Fächern für die unterschiedlichen Münzen. Und dann das Wandtelefon eines Bahnhofsvorstehers, mit Hörer zum Einhängen, Kurbel und zwei Schellen. Wie schon bei allen Exponaten bisher fällt mir die gute Qualität der Materialien auf: Leder, Holz, Messing.
Es gibt dann noch Schilder von Bahnhöfen, darunter eins, das es jetzt noch in Coimbra B gibt an der Stelle, wo man die Gleise überschreitet: Pare, escute e olhe. Wie ein Lektion über den portugiesischen Imperativ.
An verschiedenen Stellen sind Kacheln ausgestellt, die die Fassaden der Bahnhöfe oder die Wände der Bahnhofshallen verkleidet sind. Sie sind nicht nur schön, sondern auch praktisch: lassen sich leicht reinigen und schützen die Wände.
Draußen stehen auf einem Gleis aneinander gekoppelt ein Salonwagen, ein Speisewagen, ein Schlafwagen der neueren Generation. Der Salonwagen hat eine Hülle aus Wellblech, die eine Schutzfunktion hat. Mir kommt diese Art von Waggon bekannt vor, aus einem anderen Land, aber ich weiß nicht, wo. Das Wellblech ist nach unten hin abgerundet und schützt auch die Unterseite. Diese Art von Waggon nennt man offensichtlich saia comprida, ‘langer Rock’.
Über eine Brücke geht es dann in eine runde Halle. Dort sind, schön im Halbkreis präsentiert, mehr als ein Dutzend alter Lokomotiven ausgestellt, chronologisch in umgekehrter Reihenfolge. Die älteste, ein englisches Fabrikat, stammt von 1857. Es gibt auch deutsche und belgische Fabrikate. Der Schornstein ist manchmal hinten, manchmal vorne. Einige Lokomotiven sind ganz kurz geraten. Die ziehen keine Wagen. Sie werden zur Instandhaltung und Reparatur der Strecken eingesetzt.
Dann geht es in ein riesiges Depot, wo weitere Fahrzeuge ausgestellt sind, darunter einen Waggon für den Zahlmeister, einen Waggon für den Arzt. Beide hatten einen regelmäßigen Fahrplan, um zu den Bahnangestellten und den Gleisarbeitern zu kommen.
Dann gibt es einen zweistöckigen Waggon mit Gittern an der Seite, zur Luftzufuhr. Solche Waggons dienten zum Viehtransport.
Kurios sind Gefährte auf vier Rädern, das ältere mit Pedalen betrieben, das neuere motorisiert. Dort sitzt man auf einem Fahrradsattel bzw. einer Holzbank und fährt die Gleise entlang. Mit diesen Geräten bewegten sich Ingenieure, Inspektoren und Bahnhofsvorsteher.
Am Ende steht der der Königliche Zug, der Comboio Real, zwei Waggons aus unterschiedlichen Epochen. Der ältere hat noch die geschwungenen Formen der alten Pferdekutschen, der neuere ist sachlicher, mit rechteckigen Fenstern und geradem Abschluss. Die Waggons sind sehr hoch, und als ich mich gerade frage, wie man da rein kommt, sehe ich, dass der Einstieg hinten ist. Über ein Treppchen geht es auf eine schmale Plattform. Auf der konnte man vermutlich auch während der Fahrt stehen. Wunderbare Vorstellung!
Mein nächstes Ziel nach dem Museum ist, wie sollte es anders sein, der Bahnhof. Auf dem Weg dorthin komme ich über eine Straße mit Bäumen auf beiden Seiten. Eigentlich nichts Spektakuläres. Aber ich halte an, um ein Photo zu machen. Die Bäume sehen aus, als wären sie beim Frisör gewesen und hätten sich die Haare färben lassen – violett!
Am Bahnhof – welch besseren Ort kann es für ein Photo vom Ortsschild Entroncamento geben, steht passenderweise gleich ein Zug auf den Gleisen. Er kommt mit aufs Photo.
Im Supermarkt sehe ich bei den Milchspeisen zum ersten Mal etwas, wonach ich schon mal Ausschau gehalten habe, nur aus Neugier: Queijo Quark.
An der Kasse drängt sich eine Frau wortlos von hinten an mir vorbei und schubst mich dabei sogar ein bisschen zur Seite. Das hätte sie mal in England machen sollen!
Ein Spieler von Sporting wurde von der Polizei angehalten. Er war auf der Gegenfahrbahn unterwegs, als Geisterfahrer. Es stellte sich heraus, dass er keinen Führerschein hatte, die Prüfung auch nie abgelegt hat. Trotzdem ist er zum Training immer mit dem Auto gefahren. Das Verfahren steht noch aus, aber jetzt steht erst einmal die Frage an, ob er am Sonntag im Pokalendspiel eingesetzt werden soll. In der Zeitung wird das kontrovers diskutiert.
Ein Artikel ist überschrieben Eleições euroqué? Der Artikel beklagt das portugiesische Desinteresse an den Wahlen, das diesmal noch größer zu sein scheint als sonst. Dabei ist Portugal noch unter den ersten zehn, was das Interesse an den Europawahlen angeht!
Es wird heiß. In der Zeitung ist von einer Hitzewelle die Rede, die über das Land kommt. Drei Wochen lang, Ende Mai, Anfang Juni.
24. Mai (Freitag)
Vor dem Markt in Miranda steht auf einem Schild: Exceto feirantes. Das sind die Markthändler. Verwandt mit feira in den portugiesischen Wochentagen.
Der Unterricht dient wieder ausschließlich der Klärung von Fragen. Es stellt sich heraus, dass man aus Reis auch Mehl machen kann. Das erklärt den Namen der Bolos de arroz, einem der Klassiker der portugiesischen Cafés.
Die Bezeichnung Sopa de pedra für die mächtige Suppe aus Almeirim hat nichts damit zu tun, dass sie wie ein Stein im Magen liegt, sondern geht auf eine Legende um einen Mönch zurück, die ich vor einiger Zeit selbst gelesen habe. Hatte aber die Verbindung nicht hergestellt.
Was ich in der Nähe von Lissabon immer auf Schildern gesehen habe, CRIL, ist kein besonderer Ort wie eine Sportanlage oder ein Kulturzentrum, sondern einfach die Bezeichnung der Ringstraße um Lissabon herum.
Es klärt sich auch auf, dass ich bei der Bestellung des Orangensaft, der dann nicht frisch gepresst daherkam, nichts falsch gemacht habe. Es war einfach ein Missverständnis: natural kann sich auf frisch gepresst beziehen oder auf die Temperatur, wie beim Mineralwasser, wo es das Gegenstück zu fresco ist. Sowieso verwirrend, weil im Spanischen natural beim Mineralwasser bedeutet, dass es ohne Kohlensäure ist.
Wir diskutieren Emma abenteuerliche These zum Gebrauch der Artikel bei Ortsnamen. Danach haben werden die Ortsnamen mit Artikel gebraucht, die eine Bedeutung haben, wie Porto. Meine Gegenthese, dass alle Ortsnamen eine Bedeutung haben, hat sie nicht gelten lassen. Etwas differenzierter gesagt: Es ist nicht immer eindeutig, ob Ortsnamen eine Bedeutung haben. Wie wäre es im Deutschen mit Bielefeld, Münster, Köln, Oberhausen? Welche von denen hätten einen Artikel. Und die portugiesischen Orte, die wir besprochen haben, halten der Behauptung auch nicht stand: Was die Bedeutung von Rabaçal und Lousã sein soll, wusste sie auch nicht. Und ob Casal und Casais oder Carvalhal bzw. Carvalhais mit Artikel gebraucht werden, darüber scheint es keine Einigkeit zu geben.
Am Mittag gehe ich, einem Tipp Filomenas folgend, ins Viridi in Penela. Das habe ich bisher völlig ignoriert. Es liegt in der Unterstadt an einem modern gestalteten Platz, in einem Pavillon aus Holz und Glas, der kleine Bruder von D. Sesnado sozusagen. Dort gibt es eine sämige, etwas fad schmeckende aus Kichererbsen (grão-de-bico) und einen gut schmeckenden Salat mit Rucola, Walnüssen, Apfelscheiben, Nudeln und Käse aus Rabaçal.
In der portugiesischen Sprachgeschichte steht, dass die Orthographie teilweise noch die frühere Aussprache widerspiegelt. Das sieht man an passo und paço, an fazer und casa, an bolacha und caixa. Die heutige Schreibweise ist nicht sehr konsistent. Und kann sogar irreführend sein: Sousa hat keinen Diphthong, und das erste <s> ist stimmlos, das zweite stimmhaft. Eine Unregelmäßigkeit gibt es auch in frequente und quente, mit ausgesprochenem bzw. stummem /u/, aber das liegt daran, dass man das Trema, das frequente ursprünglich hatte, abgeschafft hat.
25. Mai (Samstag)
In einer Übung gefunden: Der Zuckerhut heißt auf Portugiesisch Pão de Açucar!
Die privaten Obstverkäufer am Straßenrand bieten jetzt Kirschen an, in rauen Mengen.
In Coimbra verbinde ich das Abholen eines Buchs mit dem Kauf einer Mütze. Erst als ich rausgehe, sehe ich, dass ich bei H&M war. Zum ersten Mal überhaupt was da gekauft.
Zur Universität rauf gehe ich diesmal über die Escadas Monumentáis. Vorher mache ich am Fuße der Treppe Pause in einem Café, um Kraft zu tanken. Die Kellnerin bietet mir verschiedene Sachen an, die ich schon kenne, zeigt aber am Ende auf eine rundes, dickes, mit Karamell überzogenes Gebäck. Sieht nicht gerade nach leichter Kost aus. Als sie meine Frage beantwortet, wie das heiße, müssen wir beide lachen: Bomba!
Oben kann ich einem amerikanischen Touristenpaar erklären, wo sie hier sind und was sich da hinter dem Eingangsportal verbirgt. Als ich fertig bin, sagt die Frau Obrigado!
Mein Ziel ist nur ein paar Schritte entfernt, das Machado de Castro. Auf dem Weg dahin kann ich endlich konstatieren, dass die Sé Nova hier oben liegt. Sie ist die Kirche, die ich für die Jesuitenkirche gehalten habe. Nicht zu Unrecht. Das war sie früher.
Im Museum gehe ich schnurstracks in die Abteilung der Pombalinischen Reformen. Das gibt es aber nicht allzu viel. Hatte ich falsch in Erinnerung. Ein paar “Gemälde” aus Kacheln, auf denen die neuen Gebäude der Universität zu sehen sind, Sternwarte und Chemie, klassizistisch, aber nicht streng klassizistisch. Es heißt, Pombal habe bei seinen Reformen die volle Unterstützung des Rektor der Universität gehabt, sowohl, was die Gebäude als auch, was die Statuten angeht.
Am interessantesten ist ein großformatiges Buch mit Ausführungen von Pombal, alles in Handschrift, gestochen geschrieben, mit ganz gerader Linienführung. Man könnte vor Neid erblassen. Auffällig, dass noch Großschreibung von Substantiven (und anderen “wichtigen” Wörtern) vorherrscht. Abweichend die Schreibweise von magestade, topographia und huma (für uma)!
Gleich nebenan die Abteilung für Kacheln und Porzellan. Bei den Kacheln kann man sehr gut die Entwicklung sehen. Die ersten haben noch Relief! Meistens werden “Bilder”, quadratisch, aus einer Reihe gleich aussehender, aber im Detail doch nicht ganz identischer Kacheln – es ist alles Handarbeit! – präsentiert, mit ineinandergreifenden Quadraten oder verschlungenen Bändern. Das sieht noch sehr arabisch aus. Später werden die Kacheln dann flach, und es entstehen ganze Bilder. Einerseits ganze Szenen wie eine mit Flussufer und Schwänen, Enten, Bäumen, andererseits Bilder, die persische Teppiche nachahmen. Die Szene mit dem Flussufer stammt nicht aus einem Privathaushalt, sondern aus der Kirche. Sie war ein Altarvorsatz! Offensichtlich hat es irgendwann ein Verbot des Gebrauchs von Teppichen in Kirchen gegeben. Deren Stelle haben dann die Kacheln eingenommen. In der Privatkapelle eines Bischofs sehe ich später als Altarvorsatz die Szene des Raubs des Ganymeds!
Die erste Keramik kam über Spanien nach Portugal. Dorthin war sie durch ägyptische Kunsthandwerker gekommen! Erst kürzlich hat man das Geheimnis der glänzenden Oberflächen entdeckt: Es gibt eine hauchdünne Glasschicht, in die Kupfer Silber eingearbeitet ist!
Dann kommen flämische Töpfer nach Portugal, und die produzieren ganz andere, einfachere Keramik, oft ganz weiß, manchmal mit blauen Verzierungen. Alles in einfachen Formen.
In der nächsten Generation wird die Bemalung dann immer aufwändiger. Ein Teller zeigt das Porträt einer Frau, das von Picasso stammen könnte. Die Formen werden immer komplizierter. Auffällig ein Siphon in der Form einer Schlange, die einen “Buckel” macht. Oder ein Tintenfass mit Schublade.
Dann macht sich französischer Einfluss geltend. Die Keramik hält auch Einzug in die Küche. Es gibt ein Buttergefäß mit abnehmbarer Kuh und eine Terrine mit abnehmbarem Schweinekopf.
Am Ende wird die Keramik immer bunter und kapriziöser, und endet dann mit anthropomorphen, funktionslosen Figuren in purem Kitsch.
Auf dem Rückweg in die Innenstadt komme ich, über steile Gassen, in ein alternatives Studentenviertel, mit vielen unorthodoxen Beschriftungen und Bemalungen. An einer Wand innerhalb eines Verkehrsschilds ein Teufel, der auf einem Haufen Erde Blumen züchtet.
Im Minipreço in Penela stehen vor dem Eingang in den Supermarkt uniformierte Leute, die einem eine Plastiktüte hinhalten. Ich brauche eine Zeit, um zu verstehen, worum es geht. Armenspeise. Man wird gebeten, ein paar Artikel zu kaufen und sie zur Verfügung zu stellen. Besonders wichtig sind Zucker, Öl, Pasta, Thunfisch, Kekse. Die gefüllten Tüten werden hier gesammelt, und der Inhalt wird in der Markthalle in Coimbra verteilt.
26. Mai (Sonntag)
Zum ersten Mal zum Baden zu einer Praia fluvial gefahren, nach Foz de Alge, dem Tipp Pamelas folgend. Das Wasser ist wirklich kalt, noch kälter als erwartet, aber wenn man drin ist, geht es. An der Oberfläche ist es wärmer als darunter, und die Temperatur wechselt ständig, von Meter zu Meter fast, mal wird es kälter, mal wärmer.
Am Uferrand sind nur Angler. Am Anfang traue ich mich fast gar nicht, ins Wasser zu gehen, aber eine Nachfrage ergibt nur Achselzucken. Hier kann jeder machen, was er will. An einer kleinen Bootsanlegestelle kommt man gut ins Wasser rein.
Der Fluss ist tiefblau und hier so breit, dass man glaubt, an einem See zu sein. Man sieht auch nicht, wohin er fließt, und es scheint gar keine Strömung zu geben, aber meine Ente treibt dann doch plötzlich ab und nähert sich den Anglern. Ich muss sie retten, bevor sie am Angelhaken landet.
Über mir fliegen kleine, wunderschöne Vögel aufgeregt hin und her, scheinbar ohne Sinn und Zweck, mit einem Affenzahn, mal ganz nah an der Wasseroberfläche entlangsegelnd, mal zum Ufer aufsteigend. Sie haben braune Flügel und einen schwarzen Körper – oder umgekehrt, das ist so schnell gar nicht auszumachen.
Auf der Fahrt hierher kommen mir auf der einsamen Landstraße plötzlich Motorräder entgegen, keine großen Maschinen, sondern Motorroller und Mopeds und so was. Es kommt eine ganze Kohorte, bestimmt über hundert. Immer wieder gibt es eine Lücke, und dann kommen wieder welche. Sonderlich diszipliniert fahren sie nicht, und ich muss aufpassen, dass ich beim Ausweichen nicht die staunenden Männer überfahre, die ihnen in den Dörfern hinterhersehen. Als ich abbiege, kommen mir noch ein paar Nachzügler entgegen. Und dann kommen Autos, ältere Modelle, meist noch mit schwarzen Nummernschildern, keine eigentlichen Oldtimer, aber welche, die es werden wollen. Sie fahren schnell, so als wenn es ein Rennen wäre, und schneiden die Kurven. Einen sonderlich großen Wohlfühlfaktor hat das nicht – für sie vielleicht, für mich nicht.
Auf der Fahrt zurück komme ich wieder durch bizarre Landschaften, durch ein tief eingeschnittenes Tal mit Hängen zu beiden Seiten. Ganze Hänge scheinen voller Stangen zu stehen. Es sind die Stämme der von dem Waldbrand abgetöteten Bäume. Kein Zweig, kein Ast, kein Blatt zu sehen. Dann zwischendurch satt grüne Pflanzen und verbrannte Bäume, an deren Stämmen von unten her wieder dichtes Grün kommt, das sich um den Stamm der oben noch nackten Bäume wickelt. An der Böschung bunte Feld- und Wiesenpflanzen, viel Gelb, aber auch Violett und Rot. Und dann ganz vereinzelt wieder so eine Pinie, die alles verloren hat bis auf einige Zapfen. Das merkwürdigste Bild kommt auf dem Rückweg, wo die abgebrannten Bäume die Bergkuppe überragen und vor dem blauen Himmel violett leuchten. Surrealistisch.
Surrealistisch auch, nur ein paar Meter weiter, hier in der gottverlassenen Gegend: ein Bügelbrett am Straßenrand.
27. Mai (Montag)
Mario, der Nachbar, macht sich in seinem Weingarten zu schaffen. Das mit der kommenden Hitzewelle, die drei Wochen anhalten soll, stimme nicht, meint er. Nur eine Woche. Für Sonntag seien 14° angekündigt.
Das Klima habe sich verändert in den letzten Jahrzehnten. Er findet es besorgniserregend. Alles komme früher. Die Oliven habe er früher im Dezember geerntet, jetzt im Oktober. Bei den Apfelsinen sei es ähnlich. Ich frage nach den Bäumen, die jetzt noch Apfelsinen tragen. Andere Sorte. Und wie ist es mit den Kirschen, die es jetzt überall gibt. Auch früher als früher. Er sagt auch etwas über die Wassertemperatur, aber ich kann nicht ganz folgen. Die scheint wohl heute an der Algarve in einer bestimmten Jahreszeit zu niedrig, an der Westküste zu einer bestimmten Jahreszeit zu hoch zu sein.
Im Café lese ich in der Zeitung etwas über die portugiesischen Europawahlen. Die PS hat deutlich gewonnen. Es gibt insgesamt 20 Wahlbezirke (einer davon ist Coimbra), und die PS hat in 18 davon gewonnen. Nur in Bragança ist die PSD vorn, ganz knapp. Und in Madeira ganz deutlich. Die beiden großen Parteien haben hier also noch ganz gut abgeschnitten, insgesamt haben sie über 50%, könnten also noch eine Große Koalition bilden. Das könnte im Hinblick auf die Parlamentswahlen im Oktober relevant sein. Trotzdem haben sie insgesamt nur etwas über 50%. Wer sind die anderen? Auffällig ist auch die große Zahl der ungültigen und die der leeren Wahlzettel.
In einem Lied von Mariza höre ich immer I don’t know where mitten im portugiesischen Text. So oft ich auch höre, sie singt immer I don’t know where. Klingt überhaupt nicht portugiesisch. Dann stellt sich heraus, was sie wirklich singt: É ou não é.
28. Mai (Dienstag)
Bei Milton beschwert sich Adam nach der Vertreibung aus dem Paradies: Habe ich dich gebeten, Schöpfer, aus der Erde mich, den Menschen, zum machen? Habe ich dich gebeten, mich aus der Dunkelheit hierher in dieses Paradies zu verpflanzen?
Pedro de Magalhães de Gándavo ist der klingende Namen eines portugiesischen Autors der frühen Neuzeit. Er veröffentlichte ein zweisprachiges Werk, auf Portugiesisch und Spanisch, mit einem Dialog zwischen einem Spanier, Falencio, und einem Portugiesen, Petronio. Jeder von beiden vertritt die These, seine Sprache stünde dem Lateinischen näher als die andere. Der Spanier verweist auf portugiesische Wörter wie hontem, pessoa oder dores, die weiter vom Lateinischen entfernt sind als ihre spanischen Entsprechungen ayer, persona und dolores. Der Portugiese verweist auf pluma, lexos oder temprano, die weiter vom lateinischen Muster entfernt seien als ihre portugiesischen Entsprechungen penna, longe und cedo. Außerdem verweist er, ohne den Begriff zu nennen, auf spanischen Diphthonge in Wörtern wie tierra, muerte oder cierto und auf das, was er Aspiration nennt, die regelmäßig auftrete in Wörtern wie hado, huir oder hazer. Dort habe das Portugiesische das lateinische /f/ bewahrt hat: fado, fugir, fazer. Ein wunderbarer Dialog, der uns ein Fenster in das Denken dieser Zeit gewährt. Warum, fragt man sich, ist es so begehrenswert, dem Lateinischen nahe zu sein, warum muss es geradezu einen Wettbewerb darum geben, wer dem Lateinischen näher ist. Das ist etwa so, als würde man heute dem Englischen vorwerfen, es habe sich mehr von der germanischen Wurzel entfernt als das Deutsche. Man könnte ja die Sache auf den Kopf stellen und sagen: Meine Sprache ist “weiter” als deine, sie ist selbständiger, sie hat mehr eigenen Charakter als deine. Aber das ließ das Denken der Zeit nicht zu. Der Vorbildcharakter des Lateinischen wog zu schwer. Zweitens kann man sich fragen, warum ein Portugiese auf die Idee kommt, ein zweisprachiges Werk zu veröffentlichen. Er könnte den Spanier ja auch einfach Portugiesisch sprechen lassen. Dass er es nicht tut, ist in gewisser Weise eine Reverenz an das Spanische, die wiederum im Gegensatz zu dem Ausgang des Dialogs steht. Denn hier geht der Portugiese wohl als Sieger hervor, er hatte mehr und bessere, weil systematischere Beispiele vorzubringen. Warum also der Rückgriff auf das Spanische? Der Dialog entstand zu einer Zeit, als Spanisch die Kultursprache in Portugal war, auch am portugiesischen Hof. Portugal wurde von 1580-1640 in Personalunion von den spanischen Königen regiert. Portugiesische Autoren, auch die ganz großen, publizierten auf Portugiesisch wie auf Spanisch. Es gab zwar auch Opposition, Opposition von Humanisten, die sich nicht vor den spanischen Karren spannen ließen wie Antonio Ferreira, der sich weigerte, auf Spanisch zu veröffentlichen. Aber das war die Ausnahme. Das gegenteilige Ende verkörpert Jorge de Montemor, der ganz auf seine Sprache verzichtete und seinen Namen in Montemayor abänderte. Ganz glatt ging das alles aber nicht vonstatten, kein Wunder. Gewollt oder ungewollt schlichen sich portugiesische Konstruktionen wie der persönliche Infinitiv ins Spanische ein, und um das portugiesische Gefühl der saudade auszudrücken, für das sie kein angemessenes spanisches Wort fanden, prägten die portugiesischen Autoren das Wort saludad.
29. Mai (Mittwoch)
Früher Aufbruch. Resultat: Schon um acht in Óbidos angekommen. Obwohl es fast 150 km sind.
Unterwegs im Radio eine Sendung über ein Literaturtreffen gehört. Es geht um Lesegewohnheiten, und es wird ein Buch besprochen. Dabei ist immer wieder von pragas die Rede. Plagen? Wird mir nicht klar. Zwischendurch kommt immer wieder mal ein Beitrag eines “Chors”, eines Chors, der nicht singt, sondern so eine Art Sprechgesang macht, mit Klatschen und Rufen zwischendurch und wohl auch erfundenen Wörtern. Eine Frau, die in dem Chor mitsingt, wird befragt. Sie mache es vor allem, um sich an den Klang der portugiesischen Wörter zu gewöhnen. Offensichtlich mit Erfolg. Sie ist Französin und hat eine ausgezeichnete Aussprache. Am Ende bekomme ich noch ein Zitat mit: O peixe mais dificil de pescar é
o peço de sabonete em la banheira.
Vor der Einfahrt nach Óbidos hat man von der erhöht liegenden Straße einen schönen Blick auf die Stadt: Kastell, Stadtmauer, weiß getünchte Häuser. Ein Vorzeigestädtchen.
Dieser schöne Eindruck bestätigt sich, sobald man in die Stadt kommt, durch ein Tor in der Stadtmauer. Das ist alles sehr, sehr schön. Ich bin früh angereist, um den empfohlenen Gang der Stadtmauer entlang zu machen, bevor es richtig heiß und bevor es voll wird, aber der Zugang zur Mauer an dem Stadttor ist gesperrt. Ich gehe an der Stadtmauer entlang und versuche es immer wieder – ohne Erfolg. In einem Café weist man mir den Weg, aber auch da ist nichts. In dem Café, in dem es noch leer ist, bekomme ich auch gleich zu spüren, dass es hier “europäische” Preise gibt. Aber auch der Zugang, den die Kellnerin mir empfohlen hat, ist abgesperrt. Am Ende, als die Touristeninformation öffnet, erfahre ich, dass die gesamte Stadtmauer gesperrt ist. Auch das schönste Stadttor, das ein eigenes Sanktuarium enthält, ist wegen Bauarbeiten geschlossen. Warum es darauf nicht einen einzigen Hinweis in der Stadt gibt, ist mir unverständlich. Auch an den Museen und Kirchen gibt es keine Öffnungszeiten. Und das in einer Stadt, die vom Tourismus lebt.
Die zentrale Straße des Ortes, die Rua Direita, schmal, mit Kopfsteinpflaster, verläuft mehr oder weniger gerade und endet vor einer Kirche, die keine mehr ist. Heute ist hier eine Buchhandlung untergebracht. Die meisten Touristen kommen hierher, um sich fotografieren zu lassen, nicht, um Bücher zu kaufen. Óbidos präsentiert sich insgesamt als Bücherstadt und hat auch ein Bücherfestival.
In einem Regal sehe ich ein Buch über Goethe und Pessoa und dann die Teoria Nova da Saudade und dann eine Buch mit einem Potpourri von Materialien über Sprache mit dem Titel Por amor à língua portuguesa. Einen eigenen Bücherstand hat Saramago. Ich blättere in seiner Viagem a Portugal herum und lese eine Seite über das Museu Municipal von Óbidos. Was da steht, stimmt aber nicht überein mit dem, was ich dort später sehe. Auf jeden Fall liest sich das gut, besser als der Roman, mit dem ich mich zuhause abquäle.
An der Rua Direita, aber stark abfallend davon, liegt der zentrale Platz des Ortes, die Praça Santa Maria, mit historischen Gebäuden zu drei Seiten und einem Brunnen zur anderen Seite. Oben, vom Platz aus gut zu sehen, steht auf der Rua Direita, der pelourinho, der hier aber nicht, wie ich dachte, der Schandpfahl ist, sondern einfach eine Säule mit dem Wappen der Königin. Sie ist bedeckt mit einem Netz. Das ist Teil des Wappens der Königin Leonora. Es erinnert, wie es heißt, an den Tod ihres Sohnes und an das Netz, in dem Fischer seinen toten Körper bargen. Die Königin zog sich nach Óbidos zurück, um den Tod ihres Sohnes zu betrauern. Schon seit der Zeit von D. Diniz, der seiner Gattin Isabel den Ort zum Geschenk machte, “gehörte” Óbidos den Königsgattinnen, bis ins 19. Jahrhundert hinein.
An der gegenüberliegenden Seite des Platzes liegt Santa Maria, eine an drei Seiten von oben bis unten mit blau-weißen Kacheln vertäfelte Kirche. Die Kacheln haben verschlungen Blumengewinde, auf denen allerlei Nackedeis sitzen. Irgendwo taucht das furchterregende Gesichts eines Pans auf, den ich erst für einen Affen und dann für einen Löwen halte. Und dann, in der Mitte jeder der großen Flächen, unvermittelt, ein Medaillon mit dem Porträt eines Heiligen.
Ganz oben eine ganze Serie von stark verdunkelten Gemälden von Josefa de Óbidos, der aus dem Ort stammenden Künstlerin. Von unten kann man fast nichts erkennen.
Vorne, an der Seite, etwas schwer zugänglich, ein Renaissance-Grabmal, sehr schön, in einen architektonischen Rahmen mit Säulen und Architraven eingefasst, eine Pietà mit zwei trauernden Gestalten davor. Eine reibt sich mit dem Tuch die Tränen trocken. Im den Rahmen sind ernste Gestalten eingefügt, die mit der zentralen Szene nichts zu tun haben.
Etwas weiter eine weitere, kleinere Kirche, ebenfalls mit Kacheln, hier in Blau und Gelb. Hinten stehen, an die Wand gelehnt, zwei riesige schmucklose Prozessionskreuze. Es sieht so aus, als wäre das eine der Schatten des anderen.
In dem kleinen Museu Municipal gibt es gleich zu Anfang ein Bild der Josefa de Óbidos. Sehr gelungen. Es ist das Porträt eines Bekannten ihres Vaters (1630), mit dunklem Umhang, auf der dunklen rechten Seite des Bildes positioniert. Hier stechen nur der blasse Teint des Gesichts, der weiße Kragen und ein rotes und ein weißes Band eines Buches heraus, das er in der einen Hand hält. Die andere Hand wird ihm von einem Engel gehalten, der in der Luft zu schweben scheint und in der hellen linken Seite des Bildes erscheint. Der Engel deutet auf eine Lichtquelle oben im Bild. Von dort kommt … ja was? Zuversicht? Glückseligkeit? Heilsversprechen? Inspiration?
Das schönste Exponat ist eine Kreuzigung aus Ebenholz, Elfenbein und Messing, eine Art Pyramide, an deren unterster Stufe Adam und Eva stehen, rechts und links neben einem stilisierten Baum. Sie sehen ziemlich verloren aus. Adam trägt nur einen Lendenschurz, Eva gar nichts und bedeckt sich die Scham mit einer Hand. An der Seite sind alle möglichen anderen, nicht zu identifizierenden Figuren angebracht, die Pyramide hinaufsteigend, immer im Zweierpack. Sie haben Frisuren, auch die Männer, als hätten sie gerade eine Dauerwelle bekommen. Oben unter dem Kreuz zwei Figuren, von denen der Mann wie ein Gelehrter der Zeit aussieht, der gerade auf dem Weg zum Seminar ist.
Im Kellergeschoss des Museums, ganz unscheinbar neben dem WC, liegen Kopfsteine von Gräbern, oft nur teilweise erhalten. In alle ist der Davidstern eingraviert. Man vermutet, dass es sich um die Gräber von konvertierten Juden handelt und dass der Davidstern eine Reminiszenz an ihren ehemaligen Glauben ist. Von der Zeit her passt es, die Grabsteine stammen aus dem 16. Jahrhundert.
Es ist inzwischen voll geworden in der Stadt. Vor den Stadtmauern parken ganze Reisebusse. Man kann Óbidos leider in einer Tagesfahrt von Lissabon aus gut erreichen.
Vor der Buchhandlung steht ein Käfer Cabriolet mit heruntergelassenem Verdeck, und der Versuchung, sich davor photographieren zu lassen, können vor allem die asiatischen Touristen kaum widerstehen.
In den Souvenirgeschäften wird überall der Likör angeboten, für den der Ort berühmt ist, ginja, Sauerkirsche. Man trinkt ihn aus kleinen Schokoladengefäßen, die man anschließend aufisst. Eine moderne Form der Abfallvermeidung.
Es wird Zeit, dass ich das Weite suche. Auf dem Rückweg führt mich der Routenplaner über eine andere Strecke und torpediert damit mein Vorhaben, in Tomar Halt zu machen. Dann schickt er mich von der Autobahn runter und dann wieder drauf, mit dem Ergebnis, dass ich von Norden her zurückkomme. Ich mache aus der Not eine Tugend und mache Halt zum Mittagessen in Santo Amaro, in dem gleichnamigen Lokal, an dem ich schon so oft vorbeigekommen bin und das auch von Filomena erwähnt wurde. Es ist hier richtig was los. Im Speisesaal sind alle Plätze besetzt, und in der Kneipe selbst ergattere ich gerade einen freien Platz. Es gibt Hähnchen, ganz klein gehackte Knochenstücke, an denen gar nicht viel Fleisch ist. Aber das hat ganz einen ganz intensiven Geschmack. Die Hähnchenstücke werden in einer Soße mit Möhren und Oliven serviert und mit Kartoffeln und Muscheln als Beilage! Dazu, zu dem heißen Tag passend, ein kaltes Bier.
30. Mai (Donnerstag)
Das Portugiesische unterscheidet zwischen Mauer und Mauer. Es heißt Muro de Berlim, aber Muralha de China.
Es ist sehr heiß in diesen Tagen, vor allem am Nachmittag. Bei einem Spaziergang auf dem Weg zurück von der Aldeia dos Sabores überhole ich zwei alte Frauen, die eine, mit Kopftuch und Stock, ein paar Meter hinter der anderen her. Die trägt Käppi und hält unter dem Arm einen Büschel Gras. Ob das für die Tiere sei, frage ich. Ja. Ziegen? Nein, Schafe. Dann kann ich aber nicht mehr folgen. Irgendwas mit einer Kooperative, für die sie die Schafe hält. Die beiden lamentieren, dass die jungen Leute hier wegziehen, hier sei es doch so schön und so ruhig, verstehen aber, dass es hier keine Arbeitsmöglichkeiten gibt. Wir sprechen auch über die Hitze. Die macht ihnen zu schaffen, vor allem der älteren. Wie machen sie das mit dem Einkauf? Ein Wagen komme vorbei, der habe alles. Am Schluss erlauben sie mir, nachdem sie ihr Staunen überwunden haben, ein Photo von ihnen zu machen.
Auf dem Weg zur Taberna in Viavai sehe ich vor einem Haus ein kleines Mädchen, mit Kleidchen und Hut, ganz sommerlich gekleidet. Sie spielt in einem Sandkasten, ohne Kasten, es ist einfach ein Haufen Sand. Sie hat nur den Sand, ein paar Steine und ein abgebrochenes Stück Styropor, und das genügt. Sie ist ganz und gar in ihr Spiel vertieft, nimmt die Außenwelt nicht wahr.
Ich gehe über einen steilen Weg, den ich bisher noch nicht kannte. Obwohl es eine Abkürzung ist, komme ich ziemlich erschöpft in der Taberna an. Nach einem Wasser trinke ich dann doch ein Bier. Die letzte Neuigkeit: Pamela und Ian wollen die Taberna verkaufen. Sie habe lange genug gearbeitet, meint sie. Jetzt gerade wartet sie auf eine Bestätigung aus England, wo sie eine sündhaft teure Anzeige aufgegeben haben, in einer Zeitschrift, die von Kneipenbesitzern gelesen wird.
Anfang Juni hat sie einen indischen Abend, aber der ist schon ausgebucht, mit Warteliste. Bei der Gelegenheit lerne ich die Bedeutung von caril, das schon so oft aufgetaucht ist, gestern noch auf der Speisekarte in Santo Amaro. Es bedeutet ‘Curry’. Das portugiesische Curry, sagt sie, sei ganz anders als das indische.
Später finde ich in einer Sprachgeschichte eine einleuchtende Erklärung für eine Beobachtung, die ich im Laufe der Zeit immer wieder gemacht habe: Ich höre mal primeiro, mal primero, mal primairo, und zusätzlich alle möglichen Zwischenstufen, die keiner der drei Alternativen zuzuordnen sind. Die Portugiesen, die ich gefragt habe, waren überfragt und wussten verständlicherweise auch selbst nicht, welche Variante sie benutzen. Die Erklärung ist wie folgt: Es gibt im Portugiesischen, von einem nicht genau zu bestimmenden Zeitpunkt an, eine Tendenz zur Monophthongisierung von
/ei/ zu /e/, parallel zu der von /ou/ zu /o/. Diese zweite hat sich weitgehend durchgesetzt und erfasst ganz Portugal, bis auf den Norden. Bei der ersten ist es aber nicht so. Sie ist nicht in die Standardsprache eingedrungen, einfach weil die Dialektgrenze anders verläuft und Lissabon außen vor lässt. Aber von Lissabon aus, wo sich der Diphthong erhalten hatte, verbreitete sich im 20. Jahrhundert allmählich der Wechsel von /ei/ zu /ai/. In der Standardsprache sind heute beide Varianten vertreten. Ich mache den Test im Internet. Pons hat ganz eindeutig primairo, Leo hat primeiro, Langenscheidt ein nicht ganz deutliches primairo, bei Reverso hört sich die Zitatform eher wie primairo an, die Aussprache in den Beispielen eher wie primeiro, bei Linguee ist es ganz klar primeiro. Die Form mit dem Monophthong taucht nirgendwo auf.
31. Mai (Freitag)
Armazéns heißt der Ort, an der sich die Salinen von Figueira da Foz befinden. Das Wort bezeichnet die Blockhütten am Rande der Salinen, in denen das Salz zwischengelagert wird (nd in dem wohl auch Arbeitsgeräte stehen). Wir gehen später am Museums in eine hinein, und bei dem Spaziergang sehe ich sie überall am Wegesrand.
Das Museum öffnet seine Pforte, genau in dem Moment, wo ich ankomme. Glück gehabt. Doppelt Glück gehabt, denn die beiden Frauen, die mich in Empfang nehmen, sind ausgesprochen freundlich.
Es gibt zuerst einen Film, der, etwas zu umständlich und nicht immer ganz klar, den Jahresrhythmus der Salzgewinnung darstellt. Zuerst sieht man Männer, die, barfüßig, mit breiten Schiebern das Wasser aus den länglichen Auffangbecken abziehen. Das muss der Herbst sein, nach der Ernte in den Sommermonaten. Danach sieht man, wie Erdklumpen auf einen Wagen verladen werden. Diese Erde kommt als Dünger in der Landwirtschaft zum Einsatz. Die muss doch wohl salzig sein, überlege ich, aber das scheint kein Nachteil zu sein. Dann kommen, auch das per Handarbeit, schwere Walzen zum Einsatz, nach deren Arbeit der Boden fest, glatt und ohne Risse ist. Dann wird mittels einer Schleuse – auch die wird per Hand geöffnet – Wasser eingelassen. Das Wasser kommt aus dem Mündungsdelta des Mondego, nicht direkt aus dem Meer. Aber das Salzwasser des Meeres ist hier eingetreten. Dies wird wohl etwa am Jahresanfang passieren. Das Wasser trocknet dann langsam ab, aber nur zum Teil. Im nächsten Arbeitsschritt muss wieder Wasser entfernt werden, so wie am Anfang, nur dass jetzt das Salz zum Vorschein kommt. Das wird dann auf Schaufelbagger geschippt und landet am Ende in der Blockhütte.
In dem kleinen Museum sind einige Werkzeuge ausgestellt, vor allem Schaufeln und ähnliche Geräte, alle aus Holz, mit denen das Salz bewegt wird. Daneben ein Korb von der Art, mit denen früher das Salz transportiert wurde, auf dem Kopf von Frauen. Man sieht auch den Ring aus Tuch, den sie unter dem Korb auf dem Kopf trugen. Das Salz in solchen Körben wog 20 kg, und die Frauen, lange Röcke tragend, nahmen nicht einmal die Hände zur Hilfe beim Transport. Man sieht dann noch ein merkwürdiges Gerät, eine Waage, die wie eine Wippe aussieht. Diese Waage diente zur Bestimmung des Salzgehalts des Wassers. Da gibt es einige Variation. Durchschnittlich gibt es 35 g Salz auf einen Liter Meereswasser.
Es gibt einige Schautafeln, darunter eine, die die verschiedenen Salzgewinnungsstationen in Portugal anzeigt, mehr als ein Dutzend, alle in Meeresnähe, oft an Flussmündungen: Minho, Douro, Mondego, Tejo, Sado. Daneben eine Schautafel, die zeigt, wie stark die Salzgewinnung in den letzten vierzig Jahren zurückgegangen ist. Radikal. An allen Orten. Nur noch ein Bruchteil wird gewonnen. Woran das liegt wird nicht erklärt. Ausländische Konkurrenz? Andere Herstellungsweisen?
Am Ende kann man durch ein Mikroskop ein Salzkristall sehen. Einleuchtend, dass es Kristall heißt!
Von oben auf der Terrasse des Museums hat man einen guten Blick auf die Salinen mit ihren regelmäßigen Rechtecken. Salz kann man noch keins sehen, obwohl in einigen nicht mehr viel Wasser ist, andere sind noch ganz überflutet. Wird wohl Zeit, dass die Sonne ihre Aufgabe erfüllt. Einige sehen aus, als wenn sie eine Zementschicht hätten. Die sind wohl leer geblieben. Aber man sieht, welche gute Arbeit die Walzen verrichten.
Hin und wieder sieht man Arbeiter, die sich in den Salinen zu schaffen machen, aber was genau sie da tun, erschließt sich mir nicht.
Es geht über Planken und dann über einen Rundweg, mal ganz schmal, mal breiter mit Bambus zu beiden Seiten. Man entfernt sich immer mehr von den Salinen, aber immer wieder taucht Wasser auf, mal ein toter Flussarm, mal fließendes Gewässer, mal eine Lagune.
Vögel gibt es nicht viele zu sehen. Vielleicht ist es die falsche Jahreszeit, vielleicht ist es die falsche Tageszeit. Hier scheinen viele Vögel zu überwintern, die jetzt weiter im Norden sind.
Erst als es schon wieder auf das Museum zugeht, wird es etwas lebendiger. Aus dem hohen Gras hört man Vogelstimmen. Das muss der Nachwuchs sein, der nach Nahrung verlangt. Dann kommt eine Lagune, in der eine ganze Kolonie von Flamingos steht, aber aber anderen Ende der Lagune, nicht gut zu erkennen. Dann sehe ich kleine, schnelle Vögel, die wahre Kunststücke im Fliegen vollbringen. Man kommt mit dem Auge nicht hinterher, geschweige denn mit der Kamera. Dann kommt ein ganz in Weiß gekleideter Vogel und dann eine ganze Schar von schwarz-weißen mit elegantem Flug. Auch mit dem Faltblatt, auf dem die Vögel sitzend beschrieben sind, kann ich keinen einzigen identifizieren.
Die Landschaft hier, platt wie in Norddeutschland, hat nichts Aufregendes, aber es gibt immer wieder mal eine schöne Szene mit Wasser, Hecken und Blockhütte.
Auf dem Rückweg geht es über eine andere Strecke, die durch Dörfer mit merkwürdigen Namen führt: Casas Brancas, Guia, Venda de Brasil, Desgracia.
Am Abend wird es um die Hütte herum plötzlich laut. Motorengeräusch. Es kommt immer näher. Das ist Victor, der von Hannah damit beauftragte Mann, den hohen Gräsern im Garten zu Leibe zu rücken. Wir haben uns vorgestellt, dass jemand mit Sense angerückt kommt. Ja, denkste! Dicker Schutzanzug, großer, den ganzen Kopf bedeckender Helm aus Plexiglas, schwere Handschuhe und Motorsense.
Am Abend vor dem Sonnenuntergang fahre ich nach Penela und trinke auf der Terrasse des Mina ein Bier. Am Nebentisch zwei junge Spanier, die eine Kontroverse zu haben scheinen. Sie sprechen sich gegenseitig mit tío an. Das kommt in jedem zweiten Satz vor.
1. Juni (Samstag)
Am Morgen taucht Victor wieder auf. Er ist gestern nicht ganz fertig geworden. Zwischendurch kommt er rein, um sich das Gesicht zu waschen. Er hat die Agave gekürzt, radikal, und dabei ein paar Spritzer abgekommen. Bei einigen Agavenarten, erklärt er, kann das sehr unangenehm sein, Pickel oder sogar Geschwüre verursachen. Er macht diese Arbeit am Wochenende “nur zum Spaß”, erklärt er mir. Während der Woche arbeitet er außerhalb dieser Region, um Nazaré herum, in der Straßenwart. Da geht es insgesamt um den Erhalt der Straßen, nicht nur um das Kürzen des Gestrüpps. Am Wochenende widmet er sich hier zu Hause solchen Arbeiten. Ohne Druck. Ein Genuss.
Im Radio gehört, dass viele junge Briten keine Uhr mehr lesen können, jedenfalls nicht eine mit Ziffernblatt. Die meisten können es wohl noch, müssen aber zumindest einen Moment überlegen, wie einige derer, mit denen auf der Straße ein Test gemacht wird. Eine junge Frau sagt ganz unumwunden, sie könne es nicht und kenne auch eine ganze Reihe anderer, die es nicht können. Der Report kommt ohne Nostalgie aus, es wird konstatiert, dass sich etwas verändert. Mehr nicht. Und das ist auch richtig so. Warum sollte man sich mit dem komplizierten Entziffern beschäftigen, wenn man ständig und überall elektronische Zeitangaben zur Verfügung hat?
Unter Mao wurde in China der “Kampf gegen die vier Plagen” ausgerufen: Ratten, Fliegen, Mücken und Spatzen sollten eliminiert werden. Die Kampagne ist in China auch als “Großer Spatzenkrieg” bekannt. Den Spatzen sollte es an den Kragen gehen, weil sie für die Missernten verantwortlich waren. Sie fraßen die Saat von den Feldern. Das Volk zog mit Trommeln und Töpfen durch die Gegend und vertrieb die Spatzen mit Lärm und plünderte die Nester der Spatzen. Nicht bedacht wurde, dass die Spatzen nicht nur die Saat, sondern auch Schädlinge fraßen, vor allem Heuschrecken. Von ihren Feinden, den Spatzen, befreit, machten sich die Heuschrecken über die Saat her und vertilgten mehr als die Spatzen vorher.
Das ist jetzt wieder aktuell bei dem Kampf gegen die Mücken. 99% der Mücken, die Malaria übertragen können, sind ausgerottet, aber die Wissenschaftler wollen nicht alle Mücken ausrotten. Warum nicht? Mücken sind, auch wenn sie nicht schädlich sind, auf jeden Fall lästig. Weg damit! So einfach ist es nicht. Mücken sind auch Bestäuber, besonders da wichtig, wo es keine anderen gibt wie in der Arktis, die eine der höchsten Mückendichten auf dem Planeten hat. Und sie dienen auch als Nahrungsquelle für andere Tiere.
“Das Wetter ist so grauenvoll wie mein moralischer und körperlicher Zustand. Il faut en finir.” Das notiert Klaus Mann in seinem Tagebuch. Die Depression, die ihn ein Leben lang begleitet hat, wird durch die politische Situation erschwert. Und die Verlage in Deutschland lehnen die Veröffentlichung seiner Werke ab. Seine Freunde sind tot oder nicht erreichbar. Und seine Schwester Erika hat sich immer mehr dem Vater zugewandt, dem “Zauberer”. Im Koffer, stets griffbereit, hat er das Spritzbesteck und ein Päckchen mit Schlaftabletten, von einer New Yorker Drogerie nach Cannes geschickt. Ob er seiner lebenslangen Todessehnsucht nachgibt, ob es nur eine Hilfeschrei ist, ob er nur aus Versehen zu viele Tabletten nimmt, ist nicht eindeutig nachzuweisen. Aber: kein Ort, keine Liebe, keine Anerkennung. Gründe hatte er, sich das Leben zu nehmen.
2. Juni (Sonntag)
EXPO Miranda ist der etwas großspurige Name einer Ausstellung, die an diesem Wochenende stattfindet. Ich treffe mich mit Filomena und ihrem Mann sowie drei Engländern dort.
Als ich am Eingang warte, fällt mein Blick auf einen Schriftzug an einem der Pavillons: O que é que se bebe aqui? Wie fürs Lehrbuch geschaffen.
Der frühe Treffpunkt fürs Mittagessen hat mich überrascht, hat aber seinen Grund in der Ruhe, mit der man es dabei in Portugal angehen lässt. Zweieinhalb Stunden sitzen wir zusammen.
Es sind lauter improvisierte Lokale, betrieben von Vereinen oder Gruppierungen, in unserem Fall von einem Sportverein aus Pereira. Filomena ist hier bekannt.
Ich halte mich ein bisschen an Filomenas Mann, um Portugiesisch sprechen zu können. Er ist Techniker, mit Sprachen hat er nicht so viel zu tun, kommt aber mit Englisch ganz gut zurecht.
Es entwickelt sich ein abwechslungsreiches, portugiesisch-englisches Gespräch mit vielen Anekdoten. Alle scheinen sich schon seit ewigen Zeiten zu kennen, und Filomena war auch bei den Engländern in England schon mehrmals zuhause. Sie erzählt auch von einer Arbeit in einem Hotel im Schwarzwald, bei der sie mit ganz anderen Varianten des Deutschen konfrontiert wurde als in Halle. Der Schwarzwald heißt auf Portugiesisch Floresta Negra. Hier taucht wieder, gegen alle Erwartungen, negro statt preto auf.
Zwischendurch kommt eine kugelrunde Frau an unseren Tisch, eine Bekannte von Filomena und eine der Köchinnen hier. Sie hat als junge Frau in Deutschland gelebt, in Bremen, und spricht immer noch ganz passabel Deutsch, obwohl das mehr als dreißig Jahre her ist.
Eins der englischen Ehepaare lebt halb in England, halb in Portugal. Sie sind mit einem Wohnwagen unterwegs. Um hierherzukommen, nehmen sie Fähre nach Santander. Lange Überfahrt, aber verkürzte Autofahrt.
Komischerweise teilen die Engländer meine Einschätzung nicht, dass in Portugal alles billig sei. Sie finden, die Preise seien etwa so wie in England. Aber mir kommt England sehr teuer vor. Ob es an dem Pfund-Kurs liegt?
Auch nicht ganz einig sind wir uns bei der Fahrweise der Portugiesen. Die Engländer finden, hier werde sehr schnell gefahren. Finde ich eigentlich nicht.
Ich kann zum ersten Mal migas probieren, altes Weißbrot, in einer Brühe mit Knoblauch und Kräutern eingeweicht, eigentlich ein Armengericht, aber nicht, wenn es mit so einer Portion Fleisch serviert wird wie hier. Das Gericht heißt sarrabulho, geschmorte Fleischstücke von verschiedenen Tieren sowie Stücke von morcela.
Bei der Suppe bin ich mir mit den Engländern einig, dass sie in Portugal nie warm genug serviert wird. Hier ist es anders.
Zum Nachtisch gibt es Milchreis. Ich werde gezwungen, den zu essen, als vermeintlich portugiesische Spezialität, dabei habe ich ihn als Kind schon nicht gerne gegessen. Es ergibt sich eine lebhafte Diskussion darüber, ob man für Milchreis anderen Reis verwende als für Reis als Beilage. Natürlich tut man das, finden wir. Natürlich nicht, finden die Portugiesen.
Beim Bestellen des Kaffees lerne ich curto und cheio zur Unterscheidung eines kleineren und eines größeren Kaffees, wobei der größere wohl nur mehr Wasser hat, dennoch aber mehr Koffein, weil das bei mehr Wasser nicht verdünnt wird wie der Geschmack, sondern sich ausweitet.
Filomena bestellt carioca limão. Es ist überhaupt nicht das, was ich vermute, nämlich ein Kaffee mit Alkoholspritzern, sondern heißes Wasser mit Zitrone.
Dann kommt der Wirt, also der Vereinsvorsitzende, mit einem Likör. Schmeckt gut. Aber wir können ihn nicht identifizieren. Das sei funcho, erfahren wir. Ja, aber was ist funcho? Filomena ringt nach dem entsprechenden Wort. Wird in Deutschland viel als Tee getrunken. Pfefferminze? Nein. Roibos? Nein. Hagebutte? Nein. Das Internet schafft Abhilfe: Fenchel.
Als es ums Bezahlen geht, schnappe ich einen Ausdruck auf, den ich schon lange gesucht habe: Quando for possível. Sehr nützlich, unbedingt merken. Ich habe Filomena schon mal danach gefragt, aber im Kontext des Unterrichts fiel ihr nichts ein, jetzt, in der authentischen Kommunikationssituation, kommt es wie von selbst.
Wir gehen dann über die EXPO. Es ist eine kleine Kirmes, erweitert um eine Unzahl von kleinen Pavillons, die von Unternehmen, Amateuren und Vereinen betrieben werden. Die Pavillons sind in der Markthalle und gruppieren sich drum herum. Es gibt alles von Holzöfen über künstliche Blumen und bestickte Kissenbezüge bis zu Kirschen und Honig. Sportvereine präsentieren ihre Pokale, der Verein zur Bekämpfung von Krebs verteilt Informationen, die Gesellschaft der Freunde des Theaters wirbt um Mitglieder, die Aldeias de Xisto werben um Touristen. Das ist alles nicht so stimulierend, und wir schleppen uns allzu langsam über das Gelände. Das Essen und die Hitze fordern ihren Tribut.
Einer der Engländer fragt mich, ob es so etwas bei uns auch gebe, und ich kann die Frage nicht beantworten. Vielleicht. Aber, wenn es so was gibt, geht man da zuhause vermutlich nicht hin.
Zuhause entdecke ich noch was bei der Lektüre: Die “merkwürdige” Form des Substantivs conteúdo erklärt sich dadurch, dass die zweite Konjugation, die Verben auf -er, das Partizip ursprünglich auf –udo bildeten! Der Wechsel scheint sich zu Beginn der Neuzeit vollzogen zu haben. Eine ganze Zeitlang bestehen beide Formen nebeneinander. Die meisten von den Verben abgeleiteten Substantive und Adjektive vollzogen den Wechsel mit, und conteúdo bildet eine der wenigen Ausnahmen.
3. Juni (Montag)
Bei der Lektüre auf das Wort salsa gestoßen. Es heißt nicht, was es zu heißen scheint, sondern ‘Petersilie’! Starker Kontrast zu persil, perejil, parsley, persilja, prezzemolo, петрушка, Petersilie, die alle einer Wurzel zu entstammen scheinen. Einzig μαϊντανός scheint herauszufallen, aber es ist nur die volkstümlichere Bezeichnung der Pflanze, die “eigentlich” πετροσέλινον heißt. Bei der Gelegenheit gelernt, dass darin Sellerie steckt!
Nach dem Einkauf bei Pingo Doce sehe ich bei den Behältern für Recycling einen mit der Aufschrift tampas. Das sind Kronenkorken!
Als ich vom Einkauf wiederkomme, macht sich Mario auf dem Weinfeld nebenan zu schaffen. Er muss wieder die jungen Weinstöcke gießen. Jedes Jahr pflanze er zwanzig neue. Alles viel Arbeit. Dieser Tage sei er auch schon mit der Spritzpistole dran gewesen. Auf Chemie verzichten könnten sie hier nicht. Für einen biologischen Weinanbau fehlten die Grundlagen. Er achte aber darauf, nur die Blätter, nicht die Trauben zu spritzen. Sonst gehe das zu Lasten der Qualität. Ob man das so gut trennen kann, frage ich mich. Und der Boden wird ja auf jeden Fall belastet, ob durch Blätter oder Trauben.
Am Nachmittag fahre ich nach Louçainha, zum Schwimmen in der praia fluvial. Kein Mensch weit und breit. Kaum Sonne, aber es ist noch ziemlich warm. Das Wasser ist eiskalt, vielleicht noch kälter als das in Foz de Alge. Louçainha liegt auch ein ganzes Stück höher. Dort, in Foz de Alge, sei das Wasser jetzt kälter als vor ein paar Wochen, als sie zum ersten Mal drin war, hat mir Pamela erklärt. Sie hätten jetzt die Schleusen geöffnet, um Wasser reinzulassen, und das komme aus den kalten Gebirgsbächen. Hier sind zwar keine Schleusen zu sehen, aber an einem Ende rauscht ein Bach in das Becken.
4. Juni (Dienstag)
Endlich klappt es mit der Autowäsche. Und es stellt sich heraus, dass es beim letzten Mal nur deshalb nicht geklappt hat, weil ich mich zu dämlich angestellt hab. Das System – Autowäsche mit dem Hochdruckreiniger – ist perfekt. Es ist wie eine große Spritzpistole. Für schmutzige Stellen kann man den Druck erhöhen. Nach zwei Minuten ist das Auto sauber – ohne Schaum, ohne Bürsten, ohne Lappen, ohne Waschstraße – für einen Euro!
Vor dem Unterricht sehe ich im Café in der Zeitung eine Schlagzeile, die ich nicht verstehe. Irgendwas mit Handys, die konfisziert wurden. Im Artikel wird es dann klar: Es geht um die Handys von Gefängnisinsassen. Die dürfen keine haben, haben aber welche. Klar. Die Zeitung fragt, warum man nicht einfach die Verbindung zum Internet kappt. Frage ich mich auch.
Lissabon heißt es, rücke näher an Madrid ran. Es wird eine neue Straße gebaut, die IC31, und die soll den Weg – oder die Fahrtzeit – verkürzen.
Ein ehemaliger spanischer Fußballspieler, Reyes, ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Er fuhr 237 km/h. Zwei Cousins, die auch im Auto saßen, kamen ebenfalls um Leben. Ein anderer Fußballer, Cañizares, hat sich jetzt zu Wort gemeldet und gesagt, Reyes verdiene nicht das Heldenbegräbnis, das er jetzt in seiner Heimatstadt bekommt. Mit 237 km/ durch die Gegend zu fahren, sei nicht heldenhaft. Die Folge ist eine wilde öffentliche Diskussion.
Im Unterricht korrigiert Emma, stets auf der Suche nach einem Fehler, meine Schreibweise von taberna. Es müsse taverna sein. Jetzt bin ich ganz verwirrt. Das verfolgt mich schon seit der Ankunft hier. In Viavai steht auf dem Hinweisschild Taberna Viavai. Ganz sicher. Und ich meine, das auch schon woanders gesehen zu haben. Auf dem Tisch vor mir liegt ein Wörterbuch. Ich schlage nach. Und finde: taberna. Jetzt ist Emma verwirrt. Nach ein paar Minuten kommt sie mit ihrem Handy und zeigt mir ihre Recherche: beide Schreibweisen statthaft. Später im Internet finde ich verschiedene Seiten, die sich genau mit dieser Frage beschäftigen. Alle bestätigen, dass es beide Schreibweisen gibt, die meisten geben taberna den Vorzug, weil es näher am lateinischen Original ist.
Am Nachmittag Coimbra B. Lismore, die nächste Besucherin. Kommt gut gelaunt an, wieder hat alles bis auf eine kleine Verspätung gut geklappt.
Nach der Ankunft an der Hütte machen wir den obligatorischen Spaziergang ums Dorf. Dabei fällt Lismore an einem Häusergiebel eine merkwürdige Inschrift, die ich bisher immer übersehen habe. Zahlen und ein paar nicht identifizierbare Zeichen, die Buchstaben eines unbekannten Alphabets sein könnten.
5. Juni (Mittwoch)
Am Morgen entdeckt Lismore, dass ein vermeintlicher Federballschläger tatsächlich keiner ist, sondern ein Fliegenfänger. Muss aufgeladen werden. Habe ich noch nie gesehen.
Wolken, Sonne, Regen, Wind, von allem ein bisschen. Nicht so schön, wie man es im Juni in Portugal erwartet, aber besser als es die Vorhersage erwarten ließ.
Wir fahren zur Burg nach Lousã und auf dem Rückweg nach Espinhal. Dort fragt ein portugiesisches Ehepaar nach dem Weg zum Wasserfall. Ob man da noch auf anderem Wege hinkommen könne. Sie sind mit dem Wohnwagen unterwegs, und der Weg zum Wasserfall ist zu schmal. Wir haben beide dasselbe Gefühle: Sie möchten am liebsten mit uns hinfahren. Das machen wir dann auch. Eine gute Gelegenheit, Portugiesisch zu sprechen und zu hören. Dafür bietet vor allem die gesprächige Frau reichlich Gelegenheit. Die beiden kommen aus Setúbal. Heute ist erst der zweite Tag der Reise. Gestern waren sie in Batalha, gleich geht es nach Lousã weiter.
Als die Frau merkt, dass Lismore Spanisch spricht, sagt sie, sie spreche portunhol, ein Begriff, den ich ein paar Tage später in einem Buch wiederfinde.
Wir parken und wandern den schmalen Weg entlang, den ich schon kenne. Diesmal schaffe ich es ein bisschen weiter als beim letzten Mal und sehe eine Art Wasserfall. Auch wenn der nicht spektakulär ist: Die Felsen, das Moos, das Wasser, das satte Grün, die Brücke – das hat was.
Als wir wieder am Startpunkt sind, ist der portugiesische Mann verloren gegangen. Kann man ihn nicht per Handy kontaktieren? Die Frau hat beide Handys in ihrer Tasche. Der Mann hat keine Hand frei, denn er photographiert. Ich werde in seine Richtung geschickt, und bald kommt er mir schon entgegen. Er ist noch ein paar Meter weiter gegangen und hat den “richtigen” Wasserfall gesehen. Und versteht die Aufregung gar nicht. Seine Frau war besorgt, weil er hohen Blutdruck hat.
Wir fahren weiter zum Supermarkt und kaufen da ein Kraut, das wir nicht identifizieren können. Die Kassiererin sagt, was es ist: hortelã. Ich zerbreche mir den Kopf, das Wort kam gestern noch einem Text vor, aber ich kann mich nicht erinnern. Es ist Minze.
Bei einem Abendspaziergang sehen wir ein gerodetes Stück Wald, auf dem diese merkwürdigen, grün-blauen Pflanzen wachsen, die man hier aus der Ferne überall sieht. Jetzt können wir sie von Nahem inspizieren. Sind das Setzlinge neuer Bäume, die die gerodeten Eukalyptusbäume ersetzen? Ist das eine Aufforstung im Sinne der Förderung einheimischer Bäume? Nein, auf den zweiten Blick sieht man, dass die Triebe aus den Baumstümpfen herauswachsen! Und die Geruchsprobe bestätigt es: Es sind neue Eukalyptusbäume. Mit dem Austreiben neuer Triebe wird die Erneuerung des Bestands erreicht.
6. Juni (Donnerstag)
Der Herbst ist wieder da. Dabei kommen wir in Coimbra noch glimpflich davon, aber später ist es hier sehr trüb. Der Ofen kommt zum Einsatz – im Juni!
In Coimbra werden oben an der Uni Kulis verkauft, in den Farben der verschiedenen Fakultäten, mit einem Doktorhut als Druckknopf.
Optimal ist anders: Das Café, das ich für die Pause ausgesucht habe, ist falsch (keine Atmosphäre, keine Leute, die man beobachten kann), mir fehlt die Geduld für Schaufenster und Geschäfte, die Auswahl im Mercado Municipal ist mickrig, die Kasse im Supermarkt ist lang und das Wetter ist schlecht.
Das Internet beantwortet einige Fragen hinsichtlich der Eukalyptusbäume. Der Baum selbst, heißt es, sei nicht das Problem, sondern seine intensive Nutzung. Zur Zeit ist ein Viertel des portugiesischen Waldes in der Hand des Eukalyptus. Dessen Anteil ist gewachsen zu Lasten der Kiefer – der Seekiefer.
Der Eukalyptusbaum, besonders der Blaue Eukalyptus, der später fast ausschließlich in Portugal angebaut wurde, war von Beginn an ein Gewinner. Er wuchs schnell und hatte keine Feinde – die hatte er in der Neuen Welt zurückgelassen. Und er drängte die Anopheles-Mücke und damit die Malaria zurück. Keine schlechte Bilanz.
Der Eukalyptusbaum wurde ab 1850 in Portugal heimisch, erst als exotischer Blickfang in Parks. Dann gab es die erste große Anlage, in Coimbra, aus Bodenschutzgründen. Dann wurde der Eukalyptus wegen seiner Fähigkeit zur Aufnahme von Wasser bei der Trockenlegung von Sümpfen eingesetzt. Das Holz kam als Bauholz, für Schienenschwellen und beim Bootsbau zum Einsatz. Und dann kam der endgültige Siegeszug durch die Papierindustrie.
Schon im 18. Jahrhundert hatte ein deutscher Forschungsreisender, Graf von Hoffmannsegg, bemerkt, dass in der Serra de Lousã die alten Eichenwälder zurückgegangen waren. Um dieses Manko auszugleichen, pflanzte man in großem Maße den Eukalyptusbaum an. Und in Abrantes, eine Autostunde von hier, entstand “Nova Australia”, die größte Eukalyptusplantage Europas.
Was man bei all dem Eifer nicht bedacht hatte: Der Eukalyptusbaum gewinnt im Wald das Rennen um die Höhe. Und nimmt anderen Pflanzen Licht, Wasser und Nahrung. Auch Bauern mit Feldern in der Nähe von Eukalyptusplantagen klagen über den Rückkehr der Erträge. Und der Eukalyptus ist natürlich für die Waldbrände mitverantwortlich. Auch deshalb, weil sich brennende Rindenteile bei Brand lösen und bis zu drei Kilometer weit fliegen können und damit das Feuer verbreiten. Pedrógrão Grande, das Zentrum des Waldbrands von 2017, liegt nur eine halbe Autostunde von hier entfernt. Was kann man tun? Eine Lösung besteht in Mosaikwälder mit ökologischen Korridoren. Aber das Gegenteil ist der Fall. Einige Landstriche in Portugal sind vollständig mit Eukalyptus zugewachsen. Zu verlockend ist die Hoffnung auf schnelles Geld.
7. Juni (Freitag)
Im brasilianischen Portugiesisch gibt es eine besondere Verwendung von pois não. Man benutzt es zur Bestätigung: Pode me dar uma informacão? – Pois não. Das heißt ja, kann ich.
Ich erfahre, dass Orchidee, aus dem Französischen zu uns gekommen, von griechisch órchis abgeleitet ist, ‘Hoden’. Sie ist benannt nach ihren hodenförmigen Wurzelknollen. Weiterhin erfahre ich in diesen Tagen, dass Sucre die Hauptstadt Boliviens ist, dass man in Deutschland neben dem deutschen Pass jetzt jede andere Staatsbürgerschaft annehmen kann und dass der amerikanische Präsident denselben Wettlauf durch die Gremien machen muss, um als Präsidentschaftskandidat aufgestellt zu werden.
8. Juni (Samstag)
In Tomar ist das Wetter besser als hier und besser als angekündigt. Hier reicht der Mix aus Sonne und Wind immerhin zum Wäschetrocknen.
Während Lismore sich das Convento do Cristo ansieht, lese ich Zeitung: Diario de Noticias, die “anspruchsvollere” Zeitung. Sie hat einen Leitartikel über drei Amerikanerinnen portugiesischer Herkunft, die Trump stürzen wollen. Drinnen ein längeres Interview mit einem deutschen Wissenschaftler, der in einem neuen Buch die Anfänge der Menschheit beschreibt, die Vorstellung aller elf Kandidaten für den Vorsitz der Tories, eine Chronik der Tore von CR7, ein Artikel über Banksys Kampf gegen das System und den Kampf des Systems gegen Banksy. Die gesamte Beilage handelt von Santo Antonio, dem universalen “portugiesischen” Heiligen. Dem bekanntesten Portugiesen der Welt. Oder sollte Ronaldo was dagegen haben?
Bei einem Spaziergang sehe ich eine Art Fries unter dem Dachvorsprung eines historischen Hauses, zwei Reihen von rundlichen Aufsätzen, etwas unregelmäßig – nein, zu unregelmäßig für einen Fries. Dann höre ich Vogelstimmen. Es sind Schwalbennester. Die Eltern fliegen aufgeregt zu den Nestern hin und füttern ihren Nachwuchs, um dann sofort wieder wegzufliegen.
9. Juni (Sonntag)
“Ich bin der Geist, der stets verneint…” Wenn ich, um nach Miranda zu kommen, den Schildern nach Miranda folgen will, werde ich zurückgepfiffen und in eine andere Richtung geleitet (um dann wieder zurückzukehren). Halb eins für den Aufbruch zur Taverne in Viavai ist zu spät (“Zwölf Uhr!”), in Viavai wird dann über die lange Wartezeit geklagt. Der Waschschnellgang, den ich vorschlage, ist nicht gut genug, 30° reichen nicht, es müssen 40° sein, und dann gibt es Klagen wegen der Dauer des Waschvorgangs (“Da darf doch nicht wahr sein!” – “Nein, nicht schon wieder!”).
Zufrieden ist anders: Der Bahnhof in Porto ist mickrig (“So groß wie Weinheim”), das Angebot im Intermarché ist nicht gut genug (“Bei Rewe gibt es mehr”), das Fehlen von Getreidefeldern wird bemängelt (“Die müssen doch irgendwo mal was anbauen”), ebenso wie das von Almwiesen (“Überall nur Gestrüpp”), die portugiesische Art der Müllentsorgung entspricht nicht deutschen Standards (“Bei uns wird …”), die Temperaturen sind zu niedrig (“20° – dafür fährt man nach Portugal, im Sommer!”), die Waschmaschine ist minderwertig, weil sie nicht die Restlaufzeit anzeigt und das Ende des Waschgangs anzeigt, der Eisdielenbesitzer wird gerügt, weil er die Sonderwünsche nicht sofort versteht, der Cappuccino hat zu viel Sahne, ich gehe auf der falschen Straßenseite, ins falsche Café, ins falsche Lokal, das Essen in Semide, das die Engländer so gelobt haben, ist mittelmäßig (“Durchschnittskost”). Immerhin: Positiv wird vermerkt, dass in Portugal so gut wie gar nicht gehupt wird. Stimmt.
10. Juni (Montag)
Portugal-Tag, der eigentliche portugiesische Nationalfeiertag, der Todestag von Camôes. Zufällig stoße ich ausgerechnet heute bei der Lektüre auf das Wort camôes, dessen Sinn sich aber nicht ohne Weiteres erschließt. Auch in den Wörterbüchern ist nichts zu finden. Scheint aber so was wie ‘scheel’ zu bedeuten. Wäre ja witzig, wenn so der Nationaldichter hieße!
Die Frage aus Deutschland, welche Traditionen und Festivitäten es denn heute gebe, kann ich nicht beantworten. Aus einem Zeitungsartikel könnte man herauslesen, dass es ein Wochenende ist, das man für Ausflüge nutzt. Traditionen scheint es eher in Verbindung mit den Tagen der großen Heiligen zu geben, João, Pedro und Antonio.
Verrückt: Von Portugals Sieg in der Nations League erfahre ich durch eine SMS von zuhause! 1:0 gegen die Niederlande.
Neben falschen Freunden gibt es auch gute Freunde. Ein Autor spricht in dieser Hinsicht von “relativ guten Freunden”, wie Finger und finger. Das gilt praktisch für alle guten Freunde im Portugiesischen. Auch falsche Freunde sind ja oft “relativ falsche Freunde”, wie Direktion und dirección.
Wir fahren nach Osso da Baleia, dem, nach Auskunft der Vermieterin, nächstgelegenem Strand. Die Ansage, 45 Minuten, erweist sich aber als viel zu optimistisch. Kein Wunder. Es sind 65 Kilometer, davon keiner über die Autobahn.
Der Strand ist durch Dünen von dem Hinterland abgetrennt. Sieht wie an der Nordsee aus. Tiefblaues Wasser, heller, weicher Sand, am Himmel nur ein paar weiße Wölkchen, keine Sonnenschirme, keine Umkleidekabinen, kein Kiosk. Weit und breit kein Haus zu sehen, ganz in der Ferne, an einer Bucht, erahnt man Figueira-da-Foz.
Ein Angler steht unbeweglich im Wasser, ein Kind spielt, unter Aufsicht der Mutter, im Sand und mit dem Sand. Später sieht man die beiden beim Muschelsammeln.
Das Wasser ist zu kalt, um reinzuspringen, und außerdem ist die Strömung ganz schön stark, aber mit den Füßen rein ist eine Wohltat, und am Strand Entlanglaufen auch.
Wir fahren anschließend noch nach Figueira-da-Foz. Der Weg Richtung Strand ist abgesperrt, ein Radrennen. Auf ziemlich umständlichen Wegen finden wir dann den Weg und auch einen Parkplatz. Wir setzen uns in eine kleine Bar und gehen dann über die Holzplanken bis zum Wasser. Hier gibt es alles, was des Strandurlaubers Herz begehrt, aber man kann sich trotzdem kaum vorstellen, was hier im Sommer los sein soll.
Auf dem Rückweg geht es über die N111, übers Land. Es ist ganz flach, eine größere Ebene, mit Reisfeldern und Maisfeldern.
Wir kommen über Montemor und machen einen Photostopp wegen des Blicks auf die Stadt von der Stadtgrenze aus. Die gewaltige Stadtmauer auf dem aus der Ebene herausragenden Hügel – das hat was. Die Stadtmauer muss einst wohl einen zweiten Ring gehabt haben. Es läuft noch eine Wehrmauer gerade den Hügel runter.
Vielleicht sollte man doch noch mal hinfahren.
In Montemor kaufen wir ein paar Kleinigkeiten im Intermarché. Endlich wird mir klar, was es mit den Musketieren auf sich hat, mit denen die Kette Werbung macht: Familien mit drei Kindern (und mehr) bekommen einen Rabatt von 10%.
Erst am Abend komme ich darauf, nachzuschlagen, was Osso da Baleia heißt – ‘Walfischknochen’. Klar. Auf der Leitung gestanden.
11. Juni (Dienstag)
Vettel, erfahre ich, kann in Heppenheim im Fitnessstudio in aller Ruhe trainieren, ohne gestört zu werden.
Eins der Lehrbücher hat einen Vokabeltrainer, auf CD. Das deutsche Wort wird vorgegeben, und dann soll man die portugiesische Entsprechung in die Lücke sprechen: statt > em vez de. Missverständnis. Es ist Stadt > cidade. Das größere Problem liegt aber woanders: Es wird die Zitierform des isolierten Wortes genannt, viel zu emphatisch, klingt in verbundener Rede ganz anders: estudante hat normalerweise weder vorne noch hinten einen Vokal.
In älteren Texten stößt man gelegentlich im Zusammenhang mit Geld auf tostão. Ich dachte, das wäre die kleinere Einheit unter dem escudo, aber das ist der centavo. Was ist dann tostão? Ungefähr das, was bei uns der Groschen war, die Bezeichnung einer Münze, der 10-Centavo-Münze. Auf die wurde der Name übertragen, der ursprünglich eine Goldmünze aus der frühen Neuzeit bezeichnete, aus der Epoche Manuels I. Auf der Vorderseite befand sich ein Porträt, ein großer Kopf. Das Wort tostão kam über das Französische ins Portugiesische, und ins Französische über das Italienische: testone. Ein Großkopferter!
Der Tankwart sagt Obrigado, als ich meine Rechnung begleiche, und als ich ihm ein Trinkgeld in die Hand drücke Obrigadinho!
Im Unterricht teilt einer der Engländer seine Beobachtung mit, dass die Portugiesen dazu neigen, einem auf Konsonant endenden Wort, vor allem bei Ortsnamen, einen (schwachen) Vokal hinzuzufügen: Tomar-e, Pombal-e. Ist mir noch nicht aufgefallen, ergänzt sich aber phantastisch mit der entgegengesetzten Tendenz, unbetonte Vokale am Wortende (und auch am Wortanfang und überhaupt überall) zu eliminieren: estudante, estive, verão, pessoa.
Am Abend gehen wir in das Fado-Lokal im Zentrum von Coimbra. Ich bin schon oft dran vorbeigekommen, habe aber immer nach etwas “Authentischerem” gesucht. Ist aber gut, kurzweilig und informativ, auch wenn fast ausschließlich Ausländer da sind. Der kleine Raum ist voll besetzt, ca. 30 Zuhörer. Es gibt instrumentale und vokale Stücke, die von der Universität, vom Abschied, von der Freiheit, vor allem aber von Coimbra handeln. Von den Liedern verstehe ich nur einzelne Wörter: vento, sorriso, bandeira, capa negra, levar para a vida. Von der Erklärungen verstehe ich fast alles, von der Frau, die durch das Programm führt noch mehr als von den Sängern.
Über den Ursprung des Fado gibt es drei Theorien: von brasilianischen Studenten im 19. Jahrhundert nach Coimbra gebracht, von Lissabon nach Coimbra gekommen, um hier seine Eigenheit zu entwickeln, von dem mittelalterlichen Troubadouren abstammend.
In Coimbra wird der Fado immer von Studenten und ehemaligen Studenten (hier bei uns wohl ausschließlich ehemalige Studenten), die in der schwarzen Toga auftreten. Wir haben zwei Musiker und zwei Sänger, der erste mit einer angenehmeren, der zweite mit einer kräftigeren Stimme. Die Musiker spielen Gitarre und Portugiesische Gitarre, wobei die durch ihren etwas metallenen Klang die andere nicht so richtig zur Geltung kommen lässt.
Entgegen der Tradition von Coimbra lässt man uns klatschen, es ist vermutlich vergebliche Liebesmüh, die Touristen davon abzuhalten. Bei einem Lied wird aber die Serenadentradition des Fado vorgeführt – klassische Situation mit dem Sänger unter dem Fenster der Angebeteten – und statt Klatschens um dreimaliges Husten gebeten. So verlangte es die Tradition von Beistehenden, während die Frau, wollte sie ein positives Signal aussenden, dreimal das Licht aus- und anschalten musste. Gut, dass es schon elektrisches Licht gab.
Schönes sprachliches Detail bei der Aufforderung, beim letzten Lied, beim angeblich bekanntesten portugiesischen Liedes der Welt (das ich natürlich nicht kenne) mitzusingen. Der Text lautet la-la-la-la. Als der Sänger die Instruktionen gibt, tut er das mit einem velaren /l/. Und outet sich damit als Portugiese.
12. Juni (Mittwoch)
In der gestern in Coimbra gekauften Geschichte Portugals gelesen, dass Lissabon erst 1911 seine erste Universität bekommen hat, nachdem es im Mittelalter mehrmals zwischen Lissabon und Coimbra hin und her ging, von 1290 bis 1537. Meistens waren es Unruhen, die die Verlegung in die andere Stadt verursachten. War es wildes Studentenleben oder politischer Protest? Vielleicht beides.
13. Juni (Donnerstag)
Gedicht von Fernando Pessoa, in einem Lehrbuch gefunden: Todas as cartas de amor são ridículas. Não seriam cartas de amor se não fossem ridículas. Também escrevi em meu tempo cartas de amor, como as outras, ridículas. As cartas de amor, se há amor, têm de ser ridículas.
14. Juni (Freitag)
Nächtliche Ruhestörung, aber nicht durch bellende Hunde, sondern durch ein Geräusch in der Hütte, das wie das Piepsen eines eingeschlossenen Vogels klingt. Oder piepsen Mäuse so? Ich stehe auf und gehe der Sache auf den Grund. Das Geräusch ist zu regelmäßig und zu mechanisch, um von einem Tier zu kommen, aber es ist nicht zu lokalisieren. Kommt es aus dem Kamin, kommt es aus dem Fernseher? Es klingt nach Warnung. Als ich schon fast aufgeben will, entdecke ich hinter einem Pfeiler einen Rauchmelder. Er vermeldet aber keinen Rauch, sondern einfach, dass die Batterie leer ist. Als ich sie herausnehme, kehrt wieder Ruhe ein.
In einem Lehrbuchdialog achte ich zum ersten Mal auf die portugiesische Aussprache von queria und wende das im Café in Miranda gleich an. Filomena erwischt mich in dem Café und erklärt mir gleich, wie das Gebäck heißt, dass ich aufs Geratewohl bestellt habe: arrufada oder pão de Deus. Wo wir schon dabei sind, erklärt sie mir auch, dass aus Tentúgal gleich zwei Gebäckstücke kommen, das längliche, das ich kenne, und ein sternenförmiges, das, wie sie findet, besser schmeckt. In Tentúgal gibt es ein Café, in dem man bei der Zubereitung zugucken kann.
In der Zeitung habe ich von einem Gärtner gelesen, der jedes Jahr um diese Zeit 50.000 Exemplare von einer Pflanze, rundlich, mit dichtem Kopf, verkauft. Es handelt sich um Basilikum, und zwar manjericos, nicht identisch mit dem Küchenkraut, manjericão. Jedes Jahr am 13. Juni, dem Fest des Santo Antonio, schenkt man sich manjericos, versehen mit einem Fähnchen, auf dem ein Vierzeiler steht. Einer populären Vorstellung zufolge ist es gefährlich, mit der Nase am manjericos zu riechen, lebensgefährlich. Im Internet sieht man Passanten, die von einem Fernsehteam auf der Straße interviewt werden. Die meisten lassen sie Hand vorsichtig über den Kopf der Pflanze gleiten und führen dann die Hand an die Nase. Aber nicht alle sind mit dieser Tradition vertraut, und viele riechen einfach mit der Nase. Tot umfallen sieht man keinen. Die meisten, aber nicht alle kennen die Verbindung von manjerito und Santo Antonio.
Der etwas merkwürdige Name eines kleinen Ladens in der Innenstadt Coimbras, Trouxa Mocha, reimt sich, auch wenn es nicht so aussieht. Das scheint auch das wichtigste Motiv für die Namensgebung zu sein, denn viel Sinn ergibt das nicht. Mit trouxa bezeichnet man ein Bündel, und an dieser Stelle ist das wohl ein Hinweis auf das Bündel, das die Frauen Coimbras auf dem Kopf trugen, wenn sie zur Wasserstelle gingen. Aber wie es sich mit mocha verträgt, ist nicht klar. Bis das Internet Aufschluss gibt: trouxa-mocha ist eine umgangssprachliche Variante von trouxe-mouxe, ‘drunter und drüber’, abgeleitet von span. troche y moche.
15. Juni (Samstag)
Ich überlasse die Hütte den Vermietern und tausche sie für ein Wochenende gegen ein Hotel in Tomar ein. Dort ist es, wider alle Vorhersagen, sonnig und warm. In der Fußgängerzone sehe ich einen Sicherungskasten, der blau angestrichen ist und einen Richtungshinweis für den Weg nach Santiago enthält und einen, der weiß angestrichen ist und eine Partitur und das stilisierte Porträt eines Sängers und eines Sängerin enthält.
Im Café Dianjo gibt es lustige Toilettenzeichen: Ein Mann und eine Frau, die ein dringendes Bedürfnis haben, stehen mit gekreuzten Beinen vor der verschlossenen Toilette. Erinnert mich an Peter Sellers in The Party. Und daran, dass jemand gesagt hat, das sei die Bestätigung von Einsteins Theorie der Relativität der Zeit: eine Minute hinter, eine Minute vor der verschlossenen Toilettentür.
Ich gehe zielstrebig zum Museu dos Fósforos, einem Tipp von Filomena. Es befindet sich am Rande der Altstadt in dem ehemaligen Franziskanerkloster. Man kommt in einen Innenhof mit riesigen, dicht beblätterten, intensiv riechenden Kastanien.
An einer Seite des Innenhofs liegt unauffällig der Eingang zum Museum. Der Eintritt ist frei. In einer Flucht von gleich großen Räumen gibt es hier Streichholzschachteln zu sehen, nichts als Streichholzschachteln, zu Tausenden und Abertausenden, alle hinter Glas.
In der kleinen Einführung heißt es, dass das Feuermachen bis Mitte des 19. Jahrhunderts auch bei dem effizientesten Methode, dem Feuerstein, noch zwischen drei und dreißig Minuten dauerte. Einem Briten, John Walker, gelang es dann, eine Mischung chemischer Substanzen zum Brennen zu bringen, und diese Methode wurde dann von einem Schweden – natürlich, ich wusste, das Schweden hier vorkommen würde – perfektioniert, einem Mann namens Pasch.
In Portugal gab es 1895 eine große Zahl von Fabriken, die Streichhölzer herstellten. Die wurden dann in einem staatlichen Konzern zusammengefasst. Dessen Monopol wurde dann 1926 wieder aufgehoben. Es entstanden drei unabhängige Unternehmen, von denen später zwei fusionierten und von Schweden aufgekauft wurden. Bleibt noch eine portugiesische.
In der ersten Vitrine sind die beiden Streichholzschachteln, eigentlich keine Schachteln, sondern Hefte, so wie man sie früher hatte, präsentiert: eins mit dem Porträt der jungen englischen Königin, eins mit dem königlichen Wappen.
Die restliche Sammlung ist dann nach Ländern sortiert. Hätte man auch anders machen können, nach Formen und Motiven, aber auch so ist es interessant. Erklärungen gibt es keine – nur Streichholzschachteln.
Neben den klassischen Schachteln gibt es die genannten Hefte und dann alle möglichen anderen Formen, Zylinder und Quader, in allen erdenklichen Größen. Die kleinsten Schachteln sind vielleicht so groß wie eine Fingerkuppe.
Es sind alle Länder vertreten, die man sich vorstellen kann: Japan, Honduras, Bahrain, Pakistan, Togo, Neuseeland, Liechtenstein usw. Man müsste sich anstrengen, um eins zu finden, das nicht vertreten ist. Der Vatikan vielleicht?
Motive aus der Kunst tauchen immer wieder auf, Klassiker, El Greco, Velázquez, natürlich die Mona Lisa, aber kaum moderne Kunst. Fußball ist auch ein wiederkehrendes Thema, bei Italien die WM im eigenen Lande, bei Spanien Serien von Streichholzschachteln, die die Spieler einer ganzen Mannschaft zeigen.
Italien hat auch ganz kleine, verzierte Schachteln, mit Relief, in winzigen Linien, silbern und golden glänzend, werden Kosmetika dargestellt: Bürste, Spiegel, Parfüm.
Portugal hat die Küchenthematik. Der Name eines Gerichts plus Bild erscheint auf der Vorderseite, auf der Rückseite das Rezept.
Portugal hat auch eine Abteilung mit politischer Propaganda, meist von politischen Parteien: Vota Soares! Portugal vai ganhar! Povo está com MEA.
Es gibt Streichholzschachteln aus Russland und aus der Sowjetunion. Die kommen erstaunlicherweise ohne Propaganda aus, wie auch die aus der DDR. Da spielt Berlin die Vorreiterrolle.
Aus der Bundesrepublik gibt es Serie von Streichholzschachteln – von REWE oder Vege herausgegeben – mit Musikinstrumenten und den Wappen von Städten, darunter Duisburg, Koblenz und Bielefeld.
Auch unter República Federal da Alemanha eingeordnet ist eine Streichholzschachtel mit drei verschiedenfarbigen Streifen und der Aufschrift: Ein Volk – Ein Reich – Ein Führer.
Nach dem Museum gehe ich noch in die Klosterkirche, die noch erhalten ist, nichts Besonderes auf den ersten Blick, barock, dreischiffig, aber mit Kapellen in den Seitenschiffen, wie ein einheitlicher Raum wirkend. In einer der Seitenkapellen ein beleuchteter, goldener Tabernakel mit der Darstellung der Szene in Emmaus.
Im Chor dann aber der Hammer: Erhöht, hinter dem Altar, eine überdimensionale Kreuzigungsszene, mit lebensgroßen Figuren: die drei Trauernden, römische Soldaten mit Lanzen, am Rande Figuren, die mit der Vorgeschichte zu haben könnten, vielleicht Pontius Pilatus, vor allem aber, zu den Seiten Jesus‘, die beiden Schächer. Warum wird das eigentlich so selten dargestellt? Die Szene hat etwas Großartiges. Leider kann man sie nur aus der Distanz ansehen.
Ich gehe zum Auto zurück und fahre, statt zum Hotel, den Schildern nach, die zum Aqueducto dos Pegхes führen. Absolut lohnenswert. Der Aquädukt zieht sich mit einer eleganten Windung durch das einsame Tal. Wunderbar. Er ist fünf Kilometer lang und wurde während der spanischen Herrschaft zur Wasserversorgung des Konvents gebaut. An den höheren Stellen ist der Aquädukt einstöckig, im Tal zweistöckig, da ruht er auf spitz zulaufenden Arkaden.
Die Sonne zeichnet die Silhouette des Aquädukts auf das Straßenpflaster. Das ist ein schönes Photomotiv, aber auch die Ansichten von etwas weiter entfernt, wo man den Aquädukt ganz gradlinig verlaufen sieht, mit der Sonne im Hintergrund und dem Grün der Pflanzen, das auf den Arkaden zum Vortritt kommt.
Die einzelnen Bögen stehen in einem Abstand von ungefähr fünf Metern, und in größeren Abständen gibt es eine Art Wachhaus. Auf eins davon kann man raufsteigen und den Aquädukt von oben sehen. Neben der Rinne für das Wasser verläuft parallel in schmaler Weg, da passen keine zwei nebeneinander. Vermutlich zur Kontrolle und für Ausbesserungsarbeiten. Auf der Wasserrinne liegen quer einzelne Steinquader, die sie zudecken. So war es ursprünglich vermutlich überall. Das Wasser wurde sauber gehalten. Beeindruckend.
Einen guten Blick auf den Konvent hat man von etwas weiter unterhalb, auf halber Höhe zur Stadt. Da ist man etwa auf der Höhe des Konvents. Sehr schön kommt hier auch die außerhalb des Konvents liegende Kapelle zur Geltung. Die haben wir bei einem der Besuche in Tomar gesehen, wussten aber nicht, was es war. Es ist die Capella de Nossa Senhora da Conceiçгo, ein Bau aus der frühen Neuzeit.
Dann geht es endlich zum Hotel, dem Hotel dos Templários. Das ist ziemlich genau das Gegenteil von der Hütte in Estrada de Viavai. Hat auch Swimmingpool und Fitnessraum. Von beidem mache ich Gebrauch. Beim Swimmingpool erinnere ich mich an den Ausspruch „Es geht doch nichts über ein Rechteck“ und stimme vollen Herzens zu. Entschädigt wird man mit einem Blick direkt vom Wasser auf den Hügel mit den Convento de Cristo.
Zum Essen geht es in ein ganz einfaches Lokal, das Pica Pau Amarelo, ein Familienbetrieb, in dem nur Einheimische verkehren. Frau kocht, Mann serviert. In dem kleinen Raum, einem ehemaligen Wohnzimmer, drängen sich, bis direkt zum Ausgang, kleine, quadratische Tische. Insgesamt vielleicht 25 Plätze, davon 20 besetzt.
An der Wand hängt aller möglicher Krimskrams, aber die untere Hälfte hat sehr schöne Kacheln, weiß, mit blauen Ranken.
Alle bekommen das Menü, einheitlich, nur bei der Hauptspeise kann man wählen. Ich sage, ich wollte Fleisch, keinen Fisch. Fleisch hätten sie nicht, sagt der Mann. Es ist Hähnchen. Das zählt nicht als Fleisch.
Zum ersten Mal überhaupt, nach fünf Monaten, höre ich, dass jemand você sagt. Eine Frau gebraucht es, als sie den Wirt anspricht.
Beim Nachtisch fällt mir auf, dass auch sobremesa ein falscher Freund ist. Im Portugiesischen ist es der Nachtisch, im Spanischen kommt die sobremesa erst nach dem Nachtisch.
Am Abend verliere ich mich noch ein bisschen und photographiere ein paar historische Fenster. Und sehe mir bereits bekannte Dinge mit neuen Augen an: Das Areal mit den ehemaligen Getreide- und Ölmühlen an der Alten Brücke, Levada, ist ein Stück Land, das dem Fluss abgerungen wurde, zu der Zeit, als Dom Henrique (das ist der Seefahrer) Großmeisters des Ordens war. Er ist auch derjenige, der i der großen Statue vor dem Park erscheint. Der Name Levada kommt von dem Wort levada, ‚Mühlenbach‘.
Auch die leeren Bögen in der Nähe der Neuen Brücke stammen aus seiner Zeit. Hier sollten Häuser für seine Gefolgschaft entstehen. Ob die Häuser gegenüber, die auch solche Bögen haben, die vollendete Version dieses Bauvorhabens sind oder aus einer späteren Zeit stammen, ist nicht klar. Der Komplex hat den Namen Estaus. Ob das was bedeutet, ist nicht herauszufinden.
Gleich gegenüber befindet sich ein längliches Haus, die Casa de Cubos. Der Broschüre zufolge ist sie ein moderner Pinselstrich innerhalb des historischen Zentrums. Davon ist aber nichts zu sehen. Das Haus stammt aus derselben Zeit und war einst ein Lagerhaus des Ordens. Inzwischen ist es umgebaut und in ein Museum verwandelt worden, und dieser Umbau hat verschiedene Architekturpreise eingeheimst. Aber das ist von außen nicht zu sehen. Und das Museum hat am Wochenende geschlossen.
In dem Park vor dem Hotel, dem Parque Mouchão, eine moderne Statue von zwei Männern. Sie sitzen auf einer Parkbank und scheinen in ein anregendes Gespräch verwickelt zu sein. Beide, Fernando Lopes-Graça, Komponist, und Fernando Araújo Ferreira, stammen aus Tomar. Das Geburtshaus von Lopes-Graça ist heute auch Museum.
16. Juni (Sonntag)
Nach dem Frühstück fahre ich zur Ermida de Nossa Senhora da Piedade, erhöht gelegen, mit schönem, aber von Bäumen verstelltem Blick auf die Altstadt und auf das Convento. Innen gibt es nichts zu sehen, ein überwölbte, mit Kacheln verkleidete Apsis mit dem typischen kitschigen Madonnenbild. Von außen ist die Kapelle ganz hübsch, schlicht, mit dem typisch portugiesischen Schutzdach. Hierher führt auch ein Fußweg, vermutlich direkt von der Stadt aus, über eine Vielzahl von Stufen.
Dann geht es zur Capella de Nossa Senhora da Conceiçгo, auf demselben Hügel wie das Convento, aber etwas niedriger gelegen. Hier ist kein Mensch, genauso wenig wie oben an der Ermida. Man kommt sich wie in Italien vor: ein niedriger, fast quadratischer Bau aus rechteckigen Sandsteinblöcken, schmale, rechteckige Fenster mit geraden Einfassungen und Giebeldreiecken, unter dem Dach Voluten. Renaissance pur, vielleicht bis auf die Rosette über dem Eingang, dem einzigen runden Gestaltungsteil. Leider verrammelt und verriegelt. Die Kapelle ist schön, aber ihre eigentliche Wirkung erreicht sie aus der Ferne.
Am späten Nachmittag kommen dann die Portugal-Fahrerinnen an, trotz der anstrengenden Tour guter Dinge und sofort bereit für einen Stadtrundgang. Schon nach ein paar Schritten sind wir beim Mouchão, dem (nachgebauten) Wasserrad arabischer Prägung im Parque Mouchão. Das hat mir immer ein Rätsel aufgegeben: Wie kommt man nur an das Wasser, das da geschöpft wird? Die beiden wissen die Antwort: gar nicht. Es geht nicht um Wasserschöpfen, sondern um Wasserkraft. Mit solchen Rädern wurden die Getreide- und Ölmühlen der Levada angetrieben. Und die auf den einzelnen Speichen angebrachten Keramikgefäße, die das Wasser aufnehmen und dann wieder ausschütten, dienen nur der Beschleunigung!
In der Synagoge findet gerade eine Führung statt, auf Hebräisch. Ich erfahre von den beiden, dass diese Synagoge Teil eines Verbundes von Synagogen auf der Iberischen Halbinsel ist, die besondere Bedeutung hatten. Ein jüdischer Kulturverein kümmert sich anscheinend um diese Synagogen und führt die Reisen und Besichtigungen durch.
Geöffnet ist dagegen Santa Iría, gleich hinter der Brücke Richtung Neustadt, die Kapelle der Stadtheiligen, die im Nabão ertränkt worden ist. Es ist zum ersten Mal, dass ich sie geöffnet vorfinde. Man ist beim Eintritt verwirrt, weil man die Apsis direkt vor seiner Nase vermutet, sie ist aber links. Schön sind die Kacheln im Langhaus, wenn man das denn so nennen kann: blau-gelb-weiß, alles florale Motive.
Wir beenden den Stadtrundgang bei einem Kaffee auf der Praça da República. Da erfahre ich, dass die erste, wirklich allzu eng gestrickte Route stark abgeändert wurde. Unter anderem wurden Batalha und Alcobaça gestrichen. Immerhin haben die beiden in zwei Tagen, Vila Viçosa, Évora, Arraiolos und Estremoz besichtigt, aber von hier aus geht es dann für den Rest der Zeit nach Lissabon. Besonders interessant war es in Arraiolos, dem Ort, der für seine kunstvollen Teppiche bekannt ist. Die beiden haben sogar zwei Teppiche gekauft, Läufer eher, nicht zu groß für das Fluggepäck. Die Teppichherstellung in Arraiolos, erfahre ich, geht auf das 17. Jahrhundert zurück. Mann kann vier Phasen unterscheiden: eine erste mit persischem Motiven und leuchtenden Farben, eine zweite mit volkstümlichen Motiven und gedeckten Farben, eine dritte mit großen Blumen in wenigen Farben. Bis dahin wurde das Handwerk von Mutter zu Tochter weitergegeben, dann drohte es auszusterben. Jetzt erlebt es aber eine Renaissance, mit einer bunten Mischung von Motiven. Die beiden haben sich verschiedene Läden angesehen und dann bei einer Frau gekauft, die dem Papst bei einer größeren Audienz einen Teppich überreicht und eine der Lissabonner Straßenbahnen ausgestattet hat.
Die beiden haben am Straßenrand Kirschen gekauft, eine ganze Kiste. Wo kommen die Kirschen nur her? Kirschbäume sind weit und breit keine zu sehen. Dem Internet zufolge ist das wichtigste Anbaugebiet für Kirschen in Portugal die Serra da Estrela. Wir spekulieren aber auch darüber, ob sie nicht vielleicht aus Gewächshäusern kommen – oder gar aus Spanien.
Meine Erfahrungen mit dem Wetter hier in Portugal werden mit Überraschung zur Kenntnis genommen. Weniger Überraschung löst die Erfahrung aus, dass keine engen Kontakte entstanden sind. Die beiden haben die Portugiesen als meist freundliche, aber auch zurückhaltende und eher herbe Menschen kennengelernt. Beide haben schon ausgiebige Reiseerfahrungen in Portugal und darüber hinaus portugiesische Kontakte in der Heimat.
Die Casa das Ratas, die ich voreilig für das Abendessen vorgeschlagen hatte, macht Betriebsferien. Seit heute. Gestern war sie noch geöffnet. Wir sehen uns auf der Fußgängerstraße um und stellen zu unserer Verblüffung fest, dass alles geschlossen ist, auch das Café Paraiso, wo ich gestern um diese Zeit noch ein Bier getrunken habe. Sonntagabend scheint kein Ausgehabend zu sein.
Wir finden dann aber einen Platz im Bela Vista, wo man unter Arkaden und Ranken draußen sitzt und wirklich einen schönen Blick auf den Fluss und die Alte Brücke hat. Wir bestellen drei verschiedene Gerichte, Bacalhau, Cabrito Asado und ein Gericht, in dessen Name das Wort espiritual vorkommt. Es stellt sich heraus, dass es Fleisch mit Muscheln ist. Die beiden finden hier ihr Urteil über die portugiesische Küche bestätigt: ordentlich, aber nichts für Feinschmecker. Und hier, in einem typischen Touristenlokal, sind die Preise auch etwas höher. Der Wein, der als “lokal” angekündigt wird, ist aus dem Alentejo und höchstens durchschnittlich. Trotzdem ein schöner, langer Abend mit stimulierenden Gesprächen.
17. Juni (Montag)
Beim Frühstück sind wir uns angesichts des Buffets einig, dass nichts über die alte Form des Frühstücks mit Bedienung geht. Gibt es heute nur noch selten, am ehesten in Privatpensionen. Oder beim B&B in England.
Beim Buffet ist auch die Quitten-Marmelade vertreten, und wir sprechen über das irreführende Wort marmelada. Die Frage, wie das denn auf Spanisch heißt, kann ich nicht beantworten. Vergessen. Das Wort kommt auch später nicht und ich muss es nachschlagen: membrillo.
Zum Abschluss werde ich mit Geschenken überschüttet, verschiedene mit Bezug auf Trier. Passt zur bevorstehenden Rückkehr.
Auf dem Rückweg, über die Landstraße, habe ich eine BMW-Fahrerin vor mir, die immer wieder, völlig unvorhersehbar, beschleunigt und verlangsamt und außerdem nicht geradeaus fahren kann. Macht das Überholen schwierig.
Diesmal achte ich auf die genaue Distanz: Es sind nur 45 km zur Hütte, wenig mehr als nach Coimbra.
Die Fahrt führt durch ein Dorf mit dem Namen Freixo, und schon wieder habe ich die Bedeutung vergessen. Das Wörterbuch weiß die Antwort: Esche.
In allen Lehrbüchern gibt es eine Lektion über die Uhrzeit, und trotzdem beherrsche ich das nicht. Es kommt einfach nicht vor. Noch nie hat mich jemand nach der Uhrzeit gefragt, und ich habe auch noch niemanden gefragt. Angesichts des allgegenwärtigen Handys erübrigt sich das vielleicht.
Der Himmel ist bedeckt, den ganzen Tag über kaum ein Sonnenschein, obwohl es sommerlich warm ist.
Am Nachmittag gibt es eine Autorenlesung, besser gesagt ein Treffen mit einer Autorin, einer gewissen Jan Carlson, einer nordirischen Autorin. Die Veranstaltung ist Teil eines größeren Literaturfestivals, das hier in diesen Tagen an verschiedenen Orten stattfindet. Beachtlich, dass sie das hier in dieser gottverlassenen Gegend auf die Beine gestellt haben.
Das Treffen findet im Hotel des Parque Biológico in Miranda statt. Als ich ankomme, ist noch keiner da, und an der Rezeption weiß man von nichts, aber später klärt sich alles auf.
Vor dem WC Piktogramme, wie ich sie vor vielen Jahren mal im Ausland, in Russland wahrscheinlich, gesehen habe, ganz einfach, nur geometrische Formen, Dreieck und Kreis, unterschiedlich angeordnet, und eine ganz kurze Linie, und trotzdem sofort als Mann bzw. Frau identifizierbar.
Jan Carson ist eine nicht übermäßig schlanke Frau mit hellblondem Pony, knallroten Lippen und einer ebenso knallroten Halskette mit großen Elementen aus Holz.
Bevor es losgeht, höre ich, wie sie mit einer Frau aus Kalifornien spricht. Sie erwähnt, dass sie länger in Portland, Oregon, gelebt hat. Und ich habe erst im letzten Moment mein T-Shirt aus “Bridgetown” gegen einen anständigen Pullover eingetauscht.
Sie sagt, Portland, Budapest und Belfast seien Städte, die durch den Fluss in zwei sehr unterschiedliche Hälften getrennt würden. Gute Beobachtung, kann ich für Portland und Budapest bestätigen. Aber in London, sagt sie, sei das anders. Das liege am Verlauf der Themse, die schlängele sich so durch die Stadt. Blühender Unsinn! Londons Süden ist historisch und sozial ganz anders als der Norden, und der schlängelnde Fluss hat daran nichts geändert.
Als es dann offiziell losgeht, erzählt sie zuerst von ihrem Leben. Sie spricht mit einem markanten irischen Akzent: buildings sind beldings, sixty-six ist sexty-sex, out ist oit, music ist musak, weeks sind wakes, books sind bocks, ground ist grind, leave ist lave, history ist hestory. Man kann zwar (fast) alles verstehen, aber manchmal erst im “Nachhinein”, nachdem man ein Wort auf den zweiten Blick identifiziert und dann den Satz neu aufgerollt hat.
Sie ist in einer presbyterianischen Familie aufgewachsen, in der es nichts zu lachen gab: “No dance, no drinks, not much fun.” Sie fasst die Atmosphäre in dem Wort dour zusammen. Deshalb die vielen Auslandserfahrungen, der Ausbruch aus der engen Welt des Elternhauses, die Flucht nach Portland, die dann erst die versöhnliche Rückkehr nach Nordirland ermöglicht hat. Sie lebt jetzt im Osten Belfasts, wieder in einer sehr protestantischen Gegend. Belfast sei jetzt, seit dem Good Friday Agreement, lebenswert. Auch wenn die Gewalt immer noch in der Luft liege. Sie findet, es ist ein Mikrokosmos, in dem sich alle Probleme der Welt spiegeln. Das ist doch vielleicht ein bisschen zu hoch gegriffen, und letztlich auch eine Form von Lokalpatriotismus, aber man sieht, dass sie sich mit ihrer Stadt identifiziert.
Die Segregation halte an. Die meisten Kinder gingen auf konfessionell geprägte Schulen, über 90%, ihr Neffe und ihre Nichte nicht, sie gehören zu den Ausnahmen, und mit ihnen verbindet sie heute mehr als mit ihren Eltern. Die wiederum lebten in einer völlig anderen Welt als ihre Enkel.
Sie hat den Eintritt in die Gesellschaft von Künstlern (und anderen kreativen Menschen) als befreiend empfunden, weil dort Konfession keine Rolle spiele, und überhaupt Einordnungen dieser Art nicht. Das ist dann doch vielleicht etwas naiv gedacht. Aber man kann sich vorstellen, dass es dort etwas anders zugeht als in einem streng presbyterianischen Haus.
Ein Engländer will wissen, ob die “Europäer” denn das Nordirland-Problem verstünden. Nein, sagt sie, sie wäre schon froh, wenn die Briten das täten. Das sei aber nicht der Fall. Als Beispiel nennt sie die Weigerung der Briten, Pfund-Noten anzunehmen, die von der Bank in Nordirland ausgegeben wurden. Ist mir mit schottischen Geldscheinen auch schon passiert.
Wie kommt das Thema Demenz in ihre Bücher? Sie erzählt, drei ihrer vier Großeltern hätten Demenz (gehabt), und so sei sie mit dem Thema ganz unmittelbar in Berührung gekommen. Heute führt sie kleinere Veranstaltungen mit Demenzkranken durch. Sie erzählt, wie die kranken Menschen ein Wort paraphrasieren, auf das sie nicht kommen. Das erscheint ihr viel “poetischer” als das konventionelle Wort. Eine Kranke, die wie viele andere Margaret heißt, stellt sich als Marsbar vor und sagt ihr, sie könne sie Mars nennen. Ihren Namen, Jan, ersetzt eine der Kranken durch eine kreisende Geste, die auf ihre roten Lippen verweist.
Sie betont, wie wichtig Musik und Berührung seien. Eine der alten Frauen schlage immer mit einer Hand auf den Platz auf dem Sofa neben ihr, so lange bis sie, Jan, ihre Hand nehme. Dann sei es gut.
In den Büchern schlägt sich das Thema in der Form von Charakteren nieder, die an Demenz leiden. Sie berichtet auch von einem universitären Projekt, das sich der Untersuchung von Büchern widmet, in denen Demenz ein Thema ist.
Ob es Übersetzungen ihrer Texte gebe, wird sie gefragt. Ja, ein paar, darunter Kroatisch und Chinesisch. Den Balkan erwähnt sie immer wieder, da verstehe man Nordirland. Im Oktober fährt sie zur Buchmesse nach Frankfurt und hofft, einen Verlag zu finden, der etwas auf Deutsch publiziert.
Sie erzählt, wie wichtig es ist, ein Honorar zu bekommen, wenn man etwas veröffentlicht hat. Der erste Scheck, der ihr in den USA ausgestellt wurde, belief sich auf drei Dollar. Als sie den Scheck dann einlösen wollte, habe die Bank dafür eine Gebühr verlangt, zwei Dollar.
Die wenigen Passagen, die sie liest, hören sich nach schlichten Alltagserfahrungen an und passen nicht so ganz zu dem Etikett Magischer Realismus, das sie sich selbst verpasst. Trotzdem: eine interessante Erfahrung.
18. Juni (Dienstag)
Im Unterricht erzählt Emma von einem jungen deutschen Geschäftsmann in England, der, gefragt wie es so laufe, gesagt haben soll: “I have my finger in every tart.” Ob man daraus ableiten kann, dass man die Finger von den Redewendungen lassen soll? Da kann ich nicht zustimmen. Wo gesägt wird, fliegen auch Späne.
Von einem Mitschüler, John, werde ich auf einen weiteren falschen Freund aufmerksam gemacht: pasta. Das heißt ‘Tasche’.
John hat früher Russisch unterrichtet. Er habe seinen Schülern immer gesagt: Keine Sorge, das Alphabet, das euch jetzt so verschreckt, werdet ihr in ein paar Wochen nicht mehr als das größte Problem ansehen. Recht hat er.
Als ich im Intermarché am Gemüsestand steht, spricht mich auf einmal jemand an. Es ist Paul, ein weiterer Mitschüler. Er wirft mir einen Ball zu, indem er, genau nach dem Muster der Übung im Unterricht, den Nebensatz vorgibt, den ich dann mit dem Hauptsatz vervollständige.
Es regnet und stürmt, und der Himmel ist wolkenverhangen. Es will gar nicht richtig hell werden.
19. Juni (Mittwoch)
Falsche Freunde sind eine Sache, ähnlich klingende Wörter eine andere. Beide können das Verständnis erschweren. Wie heute morgen bei der Lektüre, als ich bei queixo, ‘Kinn’ an queijo, ‘Käse’ dachte. Ergab irgendwie keinen Sinn.
Beim Laufen komme ich an einem Mann vorbei, der unter einem Vordach steht. Er zeigt mit dem Finger nach oben und sagt: “Chove.” Ja, das war mir auch schon aufgefallen. Der Regen hat auch etwas Gutes: Die meisten Hunde haben sich verkrochen und beachten mich nicht.
In Portugal werden jetzt auch wieder Ziegen gegen den Waldbrand eingesetzt. Sie werden engagiert, um den Wald “aufzuräumen”.
Am Geldautomaten in Coimbra, bei Lidl direkt im Laden, gibt es wieder nur lauter kleine Scheine. Wüsste nicht, dass ich schon mal einen Fünfziger bekommen hätte.
Dann geht es zum Bahnhof. Die nächste Besucherin, die Vivera. Sie hat eine Hinreise mit Hindernissen hinter sich: Langes Warten im Flugzeug auf den Start, dann Absage des Flugs, Unterbringung in Hotels und Neustart am Tag darauf. Die Billigfluglinie verteilt nicht einmal Wasser an die Passagiere, die aus dem Flugzeug hinauskomplimentiert wurden und auf die Zuweisung des Hotels warteten. Die Ausgaben für Taxi und Hotel müssen die Passagiere leisten und dann bei der Fluglinie zurückfordern.
Kurz nach der Ankunft des Zugs kommt für einen Moment wenigstens ein Sonnenstrahl durch. Wenigstens regnet es nicht mehr. Die Vivera ist sofort sehr angetan von der Gegend – und von der Hütte ebenso.
Unterwegs sehen wir gleich mehrmals einen Laster, der abgeschälte Korkrinde geladen hat. Die Vivera hat einen Blick für so was.
20. Juni (Donnerstag)
Instruktiver Rundgang um das Dorf. Am Ende kann ich Pfirsich und Feige identifizieren, nur mit der Walnuss hapert es noch. Wir pflücken eine Walnuss und öffnen sie. Vorsicht: Gibt braune Finger! Ich erfahre, dass man die Walnuss auch zum Färben gebrauchen kann.
Außer Pfirsichen und Feigen und Walnüssen sehen wir Birnen, Mirabellen, Pflaumen, Zitronen, Apfelsinen, Quitten und Mispeln. Bei denen ist es ausnahmsweise an mir, sie zu identifizieren.
Nicht zu identifizieren ist ein Baum mit auffälligem Accessoire, gelblichen, kätzchenähnlichen Blütenständen, die aus den einzelnen Blättern heraustreten. Wie schmale Flaschenputzer. Es gibt zwei Varianten davon, eine mit hängenden, eine mit stehenden Strängen. Wir müssen das Trierer Orakel dazu befragen. Die Antwort kommt postwendend: Kastanien.
Unklar bleibt die Verwendung von abgeschnittenen Plastikflaschen, die den Pflöcken eines Weinfeldes aufgepfropft sind. Woanders sieht man sie auf die Pflanzen aufgepfropft. Erinnert mich an Griechenland, genauso wie die Mispeln und die Wachhunde.
Wir reiben an Minze und Fenchel und Rosmarin und sehen in den Gemüsegärten Rote Bete, Kürbis, Zucchini, Salat, Zwiebeln, Bohnen und Tomaten. Die Zwiebeln blühen, mit einer runden Blüte, die wie die große Schwester des Löwenzahns aussieht.
Das Bete in Rote Bete, erfahre ich, ist von Lateinisch beta abgeleitet, ‘rote Rübe’. Rote Bete ist also doppelt gemoppelt. Dass die Schreibweise Bete, wie die Vivera behauptet, richtig sei und die andere falsch, bestätigt der Duden nicht. Der erlaubt beide Schreibweisen.
Unter den Blumen gefällt mir besonders das Wandelröschen. Es hat seinen Namen nicht umsonst. Es blüht im inneren Ring gelb, während sie sich zum äußeren Rand hin mit zunehmendem Alter in kräftiger werdendem Orange präsentiert. Hier kann man an einem Strauch gut die verschiedenen Phasen erkennen.
Daneben gibt es Blumen zu sehen, die auf so klingende Namen wie Bougainvillea, Skabiosen, Agapanthus und Hortensien hören.
Am schönsten für mich eine Biene, die sich an den merkwürdigen Bäumen zu schaffen macht und an den Hinterbeinen gelbe Pollen kleben hat, ganz deutlich zu sehen.
Am Nachmittag stoßen wir in Penela auf der Dorfstraße auf Frauen, die gerade dabei sind, letzte Hand anzulegen an einem Blumenteppich. Wofür wird der gemacht? Ganz einfach: Corpo de Deus. Na klar, heute ist Fronleichnam! Und schon kommt die Prozession an, als ob sie nur auf uns gewartet hätte. Vorher drückt eine der Frauen der Vivera noch zwei Lavendelzweige in die Hand.
Jung und Alt sind bei der Prozession vertreten, die Kinder in Weiß, die Amtsträger in Rot, eine Bruderschaft in Schwarz. Einige haben sich in Schale geschmissen, Frauen balancieren auf Stöckelschuhen über das Kopfsteinpflaster, andere tragen Alltagskleidung. Die Blaskapelle bildet das Ende der Prozession. Im Moment gibt es aber nur eine rhythmische Untermalung der Prozession mit Trommelschlägen, später hören wir die Musik aus dem Tal.
Wir gehen ins Mina und bestellen die klassische Käse- und Wurstplatte. Am Nebentisch vier junge Leute, die sich zu ihrem Bier kleine Dinger in den Mund stecken, oval, gelb. Die können wir auf der Speisekarte nicht identifizieren. Die vier sagen uns das portugiesische Wort, tremoço, und helfen dann, als ich auf dem Schlauch stehe, mit englischen Erklärungen und schneller Internetsuche: Lupinen. Die isst man hier wie bei uns Erdnüsse zum Bier. Man isst nur den Kern. Den kann man mühsam aus der Schale herauspulen oder man steckt die Lupine in den Mund und holt mit den Zähnen den Kern heraus.
21. Juni (Freitag)
Im Vertrag von Tordesillas sollte eigentlich die Demarkationslinie zwischen dem spanischen und dem portugiesischen Herrschaftsbereich weiter östlich liegen. Dann wäre ganz Südamerika spanisch geworden. Auf Drängen des portugiesischen Königs, João II., wurden dann aus 100 Leguas westlich der Kapverdischen Inseln 370 Leguas. So kam Brasilien zu Portugal. Die Portugiesen konnten damit allerdings nicht viel anfangen, denn Brasilien lieferte anfangs nur das Holz, das dem Land seinen Namen gab. Also brachte man europäische Pflanzen, Tiere und Geräte nach Brasilien und führte dort die Landwirtschaft ein. Brasilien war bis dahin ein Land der Sammler gewesen.
Vor dem Café in Miranda ein Werbeplakat für Eis: “Vem lanchar um gelado.” Auch wenn es nicht dasselbe bedeutet, könnte lanchar von lunch kommen.
Filomena findet, ich hätte wirklich Pech gehabt. Um diese Zeit müsse es viel wärmer sein und sonniger. Emma meinte dagegen gestern, letztes Jahr sei das Wetter noch schlechter gewesen.
Die Kirschen kommen tatsächlich, wie von den Tomar-Fahrern vermutet, aus der Serra de Estrela, hauptsächlich aus einem Ort mit dem Namen Fundão. Es ist mit dem Auto doch ein ganzes Stück von hier entfernt.
Am Nachmittag fahren wir bei wunderbarem Wetter nach Montemor, in erster Linie wegen der Photos. Von der anderen Seite, von außerhalb der Stadt, hat man einen phantastischen Blick auf das Castelo, aber die Photos sind enttäuschend. Sie fangen den Anblick nicht richtig ein.
Die Rolltreppe zum Castelo rauf finden wir nicht, aber es geht auch so ohne große Mühe. Es ist nicht so weit wie man von unten glauben sollte.
Wir kommen an einem Wohnhaus vorbei, an dessen Front entlang auf niedriger Höhe ein Gedicht angebracht ist, in einer sehr schönen Schriftart: “Se quiseres fazer azul, pega num pedaço de céu, e mete-o numa panela grande” lautet der Anfang.
Oben im Castelo eine große Gruppe von Schulkindern, mit selbstgebastelten Kronen. Sie sind laut und gleichzeitig diszipliniert.
Das Castelo stammt aus der ersten Zeit der Kämpfe gegen die Mauren und konnte zu seiner Zeit bis zu 5.000 Menschen aufnehmen, den kompletten Ort. Auf dem Hang gibt es eine Verlängerung der Burg, die einen Vorhof bildet. Der war für die Menschen (und Tiere!) der Nachbardörfer. Die dienten wohl als so eine Art Puffer gegen die Feinde.
Von hier oben hat man einen guten Blick auf die Umgebung. Zu drei Seiten hin, bis weit in die Ferne, Reisfelder. Einige sind dicht bewachsen, bei anderen schimmert das Wasser durch.
Die Burgkapelle ist in ihrer Grundstruktur romanisch, weist aber viele Veränderungen aus späteren Zeiten auf. Besonders schön sind die gedrechselten manuelinischen Säulen und bunte Kacheln, ganz hinten in der Kirche, leicht zu übersehen, mit schönen, abwechselnden Mustern, die einen Kreis und ein Rechteck bilden.
Wir gehen in die Stadt hinunter, auf der Suche nach Nossa Senhora dos Anjos. Dort ist in einem Prachtgrab Diogo de Azambuja begraben, ein alter Haudegen, der drei portugiesischen Königen diente und noch mit 76 Jahren an der Eroberung Safis teilnahm. Danach hatte er dann genug und zog sich in sein Montemor zurück.
Das Problem ist, dass die Kirchen des Ortes nicht bezeichnet und verschlossen sind. Wir werden zu verschiedenen Stellen geschickt, um einen Schlüssel abzuholen, aber am Ende wird aus alledem nichts. Ein Mann am Straßenrand erklärt uns schließlich, dass die Kirche, die wir suchen, außerhalb des Ortes liege. Wir hätten unser Glück fälschlicherweise bei Sao Martinho, bei der Igreja da Misericórdia und bei der Igreja de Santa Maria da Alcáçova versucht. Wir geben es auf.
Immerhin sind wir bei der Suche auf den ausgesprochen schönen Platz im Zentrum gestoßen, die natürlich Praça da República heißt. Hier ist auch die Touristeninformation, aber die ist geschlossen, und so erfahren wir auch nichts über Fernão Mendes Pinto, einen weiteren bemerkenswerten Sohn der Stadt, einem der ersten europäischen Japan-Reisenden.
Auf verschlungenen Wegen geht es nach Tentúgal. Dort soll man in einer Konditorei bei der Fertigung des berühmten Gebäcks von Tentúgal zusehen können. Wir finden die Konditorei nicht, stoßen aber am Ortsausgang auf einen distinguiert aussehenden Fußgänger, der sofort weiß, was wir meinen und den Weg perfekt erklärt, so perfekt, dass ich mich verfahre. Als wir wieder ins Zentrum zurückkommen, sehen wir den Mann von vorher an der Kreuzung stehen, fast so, als würde er uns erwarten. Er weist uns wieder den Weg. Diesmal klappt es. Als wir nach der Besichtigung den Ort verlassen, steht er immer noch da an der Kreuzung. Ich halte kurz an und biete ihm ein Stück Gebäck an, aber er lehnt ab. Freundlich, aber bestimmt.
Die Konditorei, stellt sich heraus, ist keine. Es ist eine Art Fabrik, aber in einem Wohnhaus untergebracht. Ein freundlicher junger Mann empfängt uns. Zwei Frauen, eine ältere, eine jüngere, fertigen, im Stehen, in einem Tempo, als ob sie im Akkord arbeiteten, das Gebäck, und zwar das längliche. Sie legen mehrere hauchdünne, durchscheinende Platten aus Blätterteig übereinander und bepinseln sie mit Flüssigkeiten aus zwei Behältern. Was ist denn das, bitte? Eigelb und Butter. Die bestrichenen Platten werden dann mit ein paar Griffen zusammengefaltet, und fertig. Bei der Geschwindigkeit müssen sie Tausende am Tag fertigen. Die ältere der beiden Frauen macht diese Arbeit seit 45 Jahren!
Wir kaufen eine Schachtel von dem Gebäck und bekommen zum Probieren ein anderes Gebäck mit Mandeln. In der Ecke liegen die anderen, spitzen, aus Eiweiß gefertigten Gebäckstücke, die man mit Tentúgal verbindet. Wir nehmen unsere Beute mit nach Hause und probieren sie bei einem Kaffee.
Am Abend bei Pascoal in Carvalhais sehe ich zum ersten Mal den Holländer wieder, der uns damals mitgenommen hat. Neben ihm seine Frau. Er erinnert sich an mich, und wir kommen sofort ins Gespräch. Sie hören mich mit der Wirtin reden und sind überrascht über meine paar Brocken Portugiesisch. Jetzt erinnere ich mich, dass er damals gesagt hat, er habe es mit dem Portugiesischen versucht, aber aufgegeben. Jetzt machen sie aber einen neuen Anlauf: Sie erteilen der Tochter der Wirtin Unterricht in Holländisch und bekommen von ihr Portugiesisch! Perfekt.
22. Juni (Samstag)
Die Vivera vermeldet mit Stolz eine neue Entdeckung im Garten, eine Pflanze, die sie vom Bad aus gesehen hat. Deren Früchte hat sie aus der Distanz erst für Oliven gehalten, dann aber entschieden, dass es so große Oliven nicht gibt. Inzwischen hat sie sie längst identifiziert. Ich werde hingeführt und muss raten. Die Früchte sind eher groß, oval und gelblich. Die Vivera ergötzt sich an meinem Unwissen. Ich werde aber nicht erlöst, bevor ich dreimal danebengeraten habe. Dann kommt die Erlösung: Es ist die Passionsfrucht. Obwohl die Früchte eher groß sind, handelt es sich um keinen Baum und auch keinen Strauch, sondern um eine Blume. Die hat sich um die Äste eines Olivenbaumes gewickelt. Man sieht ein paar unreife Früchte und ein paar, die noch in der Mache sind. Die Blüte – es sind nur insgesamt zwei zu sehen – ist ausnehmend schön. Da braucht man kein Gartenfreund zu sein, um ins Schwärmen zu geraten.
Eine Nachbarin, die uns beobachtet, erklärt, wie das auf Portugiesisch heißt: maracujá. Die Vivera wendet ein, Maracuja und Passionsfrucht seien nicht identisch, und das stimmt, aber das bedeutet nicht, dass die portugiesische Bezeichnung “falsch” ist. Das Portugiesische fasst vielleicht einfach beide Bäume unter einem Oberbegriff zusammen und differenziert anders.
Auch der Kaktus, der doch keine Agave ist, blüht, in Orange und Rot, und man sieht auch hier die ersten Früchte kommen. Erinnert mich an Griechenland, wo ich sie am Straßenrand geerntet habe.
Als wir uns später auf den Weg zum Café machen, sieht die Vivera an der Ruine gegenüber reife Passionsfrüchte. Wir ernten ein paar. Sie sind leicht wie Tischtennisbälle und innen hohl, bis auf ein paar Kerne. Die isst man.
Als wir die Straße in Gagos überqueren, läuft uns eine Portugiesin hinterher, der wir vorher mit ihrer Schubkarre begegnet sind. Ob wir ins Café wollten? Ja. Sie zeigt in die andere Richtung. Ich glaube zuerst, sie wolle uns auf die Landstraße schicken, aber dann stellt sich heraus, dass sie uns zu einem anderen Café schicken will. Das sei näher. Hier gibt es ein Café, in dieser Einöde? Ja, uns da könne man auch zu Abend essen. Ich verspreche, es beim nächsten Mal zu probieren.
Immer wieder erstaunlich: In Portugal ist praktisch keine ungesalzene Butter zu bekommen. Vielleicht kommt in der portugiesischen Küche Butter nie in Verbindung mit Süßem.
Die Kaffeemaschine, die hier steht, heißt French Press oder Pressstempelkanne. Sie geht auf das 19. Jahrhundert und Frankreich zurück, wurde aber erst später von einem italienischen Designer entworfen und dann von einem dänischen Unternehmen vertrieben. Die Methode soll den Vorteil haben, mehr Substanzen zur Wirkung kommen zu lassen als der Filter, weil das gesamte Wasser mit dem gesamten Kaffee in Kontakt ist. Es gibt einen ganzen Haufen von Regeln, an die man sich bei der Zubereitung halten soll.
23. Juni (Sonntag)
Pünktlich zum Sommeranfang kommen Regen und Kälte zurück, nachdem es mal zwei Tage schöne gewesen ist. Derweil kommt nach Deutschland eine Hitzewelle.
Noch eine Entdeckung beim Gebrauch der Artikel: Auch bei Erdteilen gibt es Variation. Es heißt na Europa aber em África.
Durcheinander auch bei den spanischen Königen während der Zeit der Personalunion: Mit Felipe I ist Felipe II gemeint. Der erste spanische Felipe, Felipe el Hermoso, wird nicht mitgezählt. spanische Felipe III ist also der portugiesische Felipe II.
Am Nachmittag bei trübem Wetter nach Lousã. Die im Dunst liegenden Hügel um die Burg herum haben ihren besonderen Reiz, und die Baumstämme mit Flechten liefern bei der Nässe auch ein wunderbares Photomotiv, aber auf den Dauerregen könnte man schon verzichten.
Im Zentrum ein Plakat mit einer Ankündigung: Festas em Honra de S. Silvestre. Noch hängen geblieben vom letzten Jahr? Nee. Kommt noch. S. Silvestre ist hier erst am 6. Juli dran. Ob das ein anderer Silvester oder ein anderer Gedenktag ist, ist nicht rauszukriegen. “Unser” Silvester ist ein ganz früher Papst, aus der Zeit Konstantins, und der 31. Dezember ist sein Todestag.
Hier im Zentrum ist es verdächtig still. Ob das Fest abgesagt worden ist? Filomena zufolge finden hier heute die marchas populares statt, farbenfreudige Umzüge mit Marsch, Gesang und Tanz. Aber in den Straßen des Zentrums tut sich nichts, und auch die Essstände werden gerade erst aufgebaut. An einem Stand liegt ein großes Tier, ohne Kopf und Beine. Wir können es nicht identifizieren. Was ist denn das? Etwas entsetzt sagt der Grillmeister: ein Schwein! Das wird jetzt gerade auf den Grill gelegt, es wird über dem Feuer gedreht wie das Osterlamm in Griechenland. Da das eigentliche Fest erst um zehn Uhr losgeht, fahren wir enttäuscht nach Hause. Das ist zulange in den durchnässten Klamotten.
24. Juni (Montag)
Beispiel wie aus dem Lehrbuch gefunden für den Gebrauch der Artikel bei Ortsnamen. In der Geschichte Portugals wird aufgezählt, wo man im 18. Jahrhundert Textilfabriken errichtet hat: no Fundão, na Covilhã, em Portalegre.
In einer Regenpause fahren wir die Serpentinen rauf Richtung São João do Deserto. Zum ersten Mal während der ganzen Zeit sehe ich Rehe: zwei Kitze auf der Straße, die angesichts des Autos in zwei Richtungen auseinander stieben, eine den Abhang rauf, das andere den Abhang runter.
Wir machen den unvermeidlichen Halt an der Kreuzung. Wir gehen die Straße runter bis zu den Terrassen, und dann kommt ein Augenöffner: Hier sind keine einheimischen Bäume angepflanzt, auch das sind alles Eukalypten. Ich bin regelrecht enttäuscht. Wenn man nah genug dran ist, kann man sie deutlich erkennen. Auch unsere Vermutung, es handele sich um zwei verschiedene Arten, können wir über Bord werfen. Es ist immer der Blaueukalyptus, in verschiedenen Altersstadien. Er verliert im Laufe der Zeit die bläuliche Färbung, und die Blätter werden schmaler und länger.
Wir fahren auf gut Glück die Straße weiter runter und kommen auf ganz schmalen Straßen, ohne jemandem zu begegnen, durch das Waldbrandgebiet. In der Dichte habe ich es noch nicht erlebt. Kilometerweit erstreckt sich das Gebiet, mit allen Variationen: völlig verkohlte Bäume, die wie ein Mahnmal des Waldbrands aussehen, dann deren Gegenstücke, Kiefern, bei denen alles erhalten ist, Äste, Zweige und Zapfen, aber ohne jedes Grün (sind die endgültig tot?), Bäume, die oben nackt sind und ungefähr bis zur Mitte von dichtem Grün umwickelte Stämme haben, Kiefern, die aussehen wie der schwarz-weiße Mikado-Stab, mit einem geschälten Stamm, Eukalypten, die aussehen, wie eine halb aufgegessene Banane, die aus der Pelle herausguckt, dann die gespenstischen Bohnenstangen, Bäume, bei denen nur der Stamm stehen geblieben ist, zu Hunderten hintereinander stehend. Völlig verwirrend ist das Nebeneinander von dichter Vegetation und verbrannter Erde.
Wir landen auf einem Holzweg und haben die Orientierung verloren, aber irgendwann kommt wieder ein Hinweisschild auf Espinhal und eine Straße mit Mittelstreifen. Trotzdem kein Zeichen von Zivilisation weit und breit. Es geht beständig bergab, und bald sind keine Spuren vom Waldbrand mehr zu sehen. Es kommen wieder Kastanien in Sicht, dazu Ahorn und Bäume, die auch die Vivera nicht identifizieren kann, vielleicht Steineichen. Dann auf einmal mitten in dieser üppigen Vegetation wieder vereinzelte verbrannte Bäume. Wie das passiert ist, ohne dass die Umgebung in Mitleidenschaft gezogen wurde, bleibt ein Rätsel, genauso wie die Frage, warum kaum ein Baum umgefallen ist. Die meisten stehen wie Mustersoldaten weiterhin in Reih und Glied, wenn auch leblos.
Wir fahren ins Mina nach Penela. Die Tageszeitung, die dort ausliegt, titelt Queda do desemprego poupa 1,5 mil milhôes. Wie viel ist das? Dürften 1,5 Milliarden sein. Die spart der Staat ein, weil die Arbeitslosenzahl rückläufig ist.
In der BBC, mitten in einer Nachrichtensendung, fremde Sprachen. Sie haben Mitschnitte aus Nachrichtensendungen anderer Länder gemacht und hintereinander gehängt. Alle handeln von der Hitzewelle. Portugal ist nicht dabei.
25. Juni (Dienstag)
Der Tag beginnt mit Dauerregen. Sechs Stunden ununterbrochen. Vor dem Unterricht besorge ich in einer Apotheke in Ansião Kopfschmerztabletten. Ich weiß nicht, was Packung heißt, aber die freundliche kleine Apothekerin hilft aus: embalagem. Wäre ich nicht drauf gekommen. Hört sich eher nach Verpackung an.
Am Nachmittag, als es aufhört, entschließen wir uns, zur Küste zu fahren. Die Sonne kommt zwar erst heraus, als wir am Abend nach Hause zurückkehren, aber es ist wenigstens trocken und warm.
Diesmal finde ich den Weg auf Anhieb. Angesichts des nahenden Meeres gerät die Vivera ins Schwärmen. Und ist so begeistert, dass sie auf einer der Holzplanken, die zum Strand führen, hinfällt und sich das Knie aufschürft. Sofort sind die Jungs von der Ersten Hilfe zur Stelle. Die Wunde wird gereinigt und mit Jod behandelt. Dafür gibt es einen eigenen kleinen Pavillon. Drei Männer stehen um sie herum und beobachten den Vorgang. Alle sind außerordentlich freundlich.
Dass hier überhaupt jemand ist, war bisher noch nicht vorgekommen. Auch am Strand ist es belebter als sonst, vor allem wegen einer großen Gruppe von Kindergartenkindern. Die werden von ihren Betreuern ans Wasser geführt, hüpfen fröhlich und aufgeregt in dem dünnen Wasser herum, das die Flut über den Sand spült und “baden” am Ende in der kleinen Lagune, die sich gebildet hat.
Es gibt aber auch ein paar Erwachsene am Strand, darunter “Sonnenanbeter” auf einem Liegestuhl. Offensichtlich kann man auch braun werden, wenn kein Sonnenstrahl zu sehen ist.
Da ich jemanden habe, der auf meine Klamotten aufpasst, laufe ich ein ganzes Stück den Strand entlang, bis zu der Stelle, wo er scheinbar aufhört. Ist aber nicht der Fall. Die Küste macht hier nur einen Bogen. Sie ist scheinbar unendlich.
Das Wasser ist fühlbar wärmer als noch letzte Woche, aber weiterhin traut sich keiner rein außer ein paar Surfern im Neoprenanzug.
Wir essen zum Abschluss noch ein Eis in der kleinen Bar, die jetzt auch geöffnet hat. Ein paar Tische sind besetzt, lauter Portugiesen, darunter ein einzelner portugiesischer Mann, noch sehr jung, der es der Vivera angetan hat.
Auf dem Rückweg machen wir Halt an der Straße und sehen uns beeindruckt die Verwüstungen des Waldbrands an. Irgendwie findet man es merkwürdig, dass das Feuer so nahe am Wasser gewütet hat. Hier sind es reine Kiefernwälder, die zerstört worden sind, die verkohlten Stämme stehen Spalier mit den Kiefernzapfen, die wie tote Vögel aussehen. Aus der Distanz betrachtet könnte das auch ein modernes Kunstwerk sein.
Wir fragen uns, warum die Bäume stehengeblieben sind und was wohl bei einem neuen Brand passieren würde. Und: Kann hier noch mal was wachsen? Es ist kein Blatt zu sehen, im Gegensatz zu den Waldgebieten mit Eukalyptus. Da wächst überall alles schnell nach.
An der Kreuzung bietet sich uns noch ein besonders bizarres Bild. Hier sind einige Baumriesen, ausgerechnet die größten, umgekippt. Sie sehen auch wie ein zerstörtes, umgekipptes Schiffsbug. Und zwischen ihnen ein Baumstamm, der wie ein überdimensionaler Zahnstocher aussieht.
Zuhause improvisieren wir ein Abendessen aus Resten. Die Vivera erzählt von Saramagos Stadt der Blinden, die sie gerade verschlingt. Wie alle, die ich kenne, findet sie den Roman fesselnd und verstörend. Die Erzählung macht Lust aufs Lesen. Das Setting erinnert mich an Die Pest von Camus.
Am Telefon sagt eine Freundin der Vivera, sie solle nicht so geizig sein. “Ich? Ich bin doch nicht geizig!” Ein Lehrbuchbeispiel für den Unterschied von Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung.
Die Vivera schickt ihren Enkel Photos vom Strand. Nach mehreren Photos kommt die Reaktion: “Reicht!”
26. Juni (Mittwoch)
In der Bäckerei zeige ich auf die Brötchen und sage duas e duas. Die Bäckersfrau, ohne die Absicht, mich zu korrigieren, wiederholt den Auftrag: dois e dois. Dass das Bezugswort, carcaça, weiblich ist, scheint hier keine Rolle zu spielen. Es ist einfach ein Zahlwort.
Ich mache mich selbständig und begebe mich auf Wanderung. Endlich mal den Rundweg von der Burg in Lousã machen. Steht schon seit Februar auf dem Programm.
Der Weg unten am Haus ist versperrt. Zwei Bauern aus dem Dorf oder aus der Umgebung sind gerade dabei, Vorkehrungen zu treffen, um die Sickergrube zu leeren. Offensichtlich haben die Vermieter bei ihrem Besuch daran gedacht und es in Auftrag gegeben, während ich es vor mir hergeschoben habe. Das Gespräch mit ihnen ist wie eine Hörverständnisübung für Fortgeschrittene.
Ihre Sprache, das Laute und Abrupte, erinnert mich an meinen Mann aus Sandoiera, der freitags so gerne mit mir fährt. Und prompt steht er dort. Fortsetzung der Hörverständnisübung. Es stellt sich heraus, dass er nicht etwa zum Betteln nach Miranda fährt, sondern zum Einkaufen. In Sandoiera gibt es keinen Laden. Kommt mir bekannt vor. Aber gerüstet für den Einkauf scheint er nicht zu sein, jedenfalls habe ich ihn noch nie mit einer Tüte oder einem Korb gesehen. Und die könnte er auch kaum tragen. In einer Hand hält er seinen Krückstock. Nicht so leicht, ohne Auto sich zu versorgen in dieser Einöde. Er war 36 Jahre lang verheiratet, erzählt er. Ist er Witwer? Nein, die Frau ist wohl abgehauen. Erwähnt irgendwas von einem Prozess. “Aber das Haus gehört mir.” Die Menschen sind überall gleich.
In Lousã mache ich mich gleich auf den Weg. Die Berge hängen im Dunst, kein Sonnenstrahl zu sehen.
Der Weg ist so gut ausgeschildert, dass sogar ich mich nicht verlaufe. Zwei Linien heißt Geradeaus!, ein Winkelhaken heißt Abbiegen!, ein Kreuz heißt Falsch!
Auf dem ganzen Weg begleitet einen das Rauschen des unsichtbaren Baches, und auf dem ganzen Weg kommt einem keine Menschenseele entgegen. Manchmal öffnet sich der Blick und man sieht, mitten in all dem Grün, als Blickfang auf der anderen Seite des Tals oder ganz unten im Tal eine weiße Kapelle.
Es fängt gut an, ein breiter, bequemer Spazierweg, wenn auch steil aufwärts vom ersten Schritt an. Der Weg wird dann immer enger. Es geht an einem alten Wasserwerk vorbei, das heute als Wohnhaus fungiert. Dort werde ich von dem obligatorischen Kettenhund unfreundlich begrüßt.
Aus dem Weg wird ein Pfad, immer unwegsamer, steiniger. Man muss auf den teils glatten, teils spitzen Steinen mächtig aufpassen, nicht hinzufallen, und manchmal wird der nächste Schritt zu einem Balanceakt. Zwischendurch bleibe ich stehen und singe ein Loblied auf die Wanderschuhe. Ganz übel wird es dann auf dem Rückweg. Da geht es bergab, über die inzwischen glatt gewordenen Steine. Man kann sich nirgendwo festhalten, und als ich wieder ebenen Boden unten an der Burg unter den Füßen habe, kann man das Aufatmen hören.
Der Weg führt von der Burg nach Talasnal und dann wieder zur Burg, auf einer anderen Strecke. Am Wegesrand irgendein dorniges Zeug, Gräser, Blumen und vor allem Farn. An einigen Stellen ist er ganz vertrocknet, wer weiß warum. Alles andere ist in üppigem Grün.
An einer Stelle stehen zwei Baumstümpfe Spalier. Der eine ist auch von innen ganz verkohlt. Ob es hier auch gebrannt hat? Oder ob der Baum einen Blitz abbekommen hat, der aber kein Feuer verursacht hat?
In Talasnal kommt mir ein Arbeiter mit einer elektrischen Schubkarre entgegen. Er bleibt stehen, will wohl einen Plausch halten. Ob er den Weg ausbessere? Nein, es geht um die Häuser. Um diese Zeit sind ein paar tatsächlich von Sommertouristen bewohnt, und man scheint noch mehr als Ferienwohnungen herzurichten. Reizvoller, jedenfalls auf ihre Art, sind die Ruinen der Schieferhäuser unten vor dem proper herausgeputzten Ortseingang.
In gehe in dieselbe Taverne, wo wir im Februar den freundlichen Bauarbeiten begegnet sind. Dasselbe Mädchen wir damals hinter der Theke. Ich ziehe mit meinem Kaffee nach oben. Dort sitzen zwei deutschen Turteltäubchen und sechs portugiesische Männer, alle sportlich gekleidet, alle jung, alle mit Bart. Ihnen wird ein üppiges Frühstück serviert.
Obwohl es nur fünf Kilometer sind, brauche ich zwei Stunden und komme nicht mehr ganz frisch zuhause an.
Am Abend gehen wir in das Lokal in Santo Amaro. Diesmal bekommen wir einen Platz im Restaurant selbst. Das macht einen ganz anderen Eindruck. Alle Tische sind eingedeckt, aber als wir kommen, ist nur ein englischen Ehepaar dort. Als wir schon fast aufbrechen, füllt es sich.
Die Vivera versucht sich am Tintenfisch, schwankt aber zwischen chocos (Sepia) und lulas (Kalmar). Wir fragen die junge Kellnerin nach dem Unterschied und entscheidet sich dann für die chocos. Deren Fleisch ist zart und weiß. Man kann die Füße gut identifizieren. Und das, was daneben liegt, ist das ein Auge? Nein, wohl nicht. Jedenfalls lerne ich bei der Gelegenheit die Begriff homolog und analog aus der Biologie kennen. Das Auge des Tintenfisches ist hinsichtlich der Evolution nicht verwandt mit dem menschlichen Auge, hat aber eine ähnlich Funktion (analog). Die Hand eines Menschen und die Hand eines Pferd sind dagegen verwandt, aber haben nicht mehr dieselbe Funktion (homolog).
27. Juni (Donnerstag)
Nach dem Transfer nach Coimbra B fahre ich sofort weiter nach Luso. Da bin ich schon fast auf halbem Wege.
Die Fahrt geht über Mealhada, in ganz Portugal bekannt, obwohl es keine Sehenswürdigkeiten hat. Es gibt hier die höchste Konzentration von Restaurants in ganz Portugal. Sie reihen sich alle der nicht gerade einladenden Estrada Nacional auf. Sie sind berühmt wegen ihrer Spanferkelgerichte.
Bald erreicht man Luso, einen etwas heruntergekommenen Kurort, dem man noch seine einstige Größe ansieht. Die verspielte Architektur der Häuser, mit spitzen Dächern, Erkern, Mansarden, Türmen und Türmchen spricht eine deutliche Sprache: Jahrhundertwende.
An der Bücherei des Ortes wird in einem Plakat auf eine Aktion zur Förderung des Lesens aufmerksam gemacht. An den Bäumen im Zentrum “wachsen” Lesefrüchte, kurze Texte, die in einer Plastikhülle an den Ästen hängen.
Im ehemaligen Casino, mit Eisenverzierung an den Fenstern, ist eine kleine Ausstellung untergebracht. Es gibt u.a. eine Sammlung der Werbeplakate für Luso von 1920-2008 und eine Vitrine mit den Flaschen des Mineralwassers aus Luso, dem bekanntesten in Portugal. Da sieht man in erster Linie, wie Glas von Plastik abgelöst wurde.
Außerdem gibt es Einrichtungsgegenstände und Geräte aus dem Kurbetrieb, darunter eine Bügelmaschine mit zwei hölzernen Rollen und ein gar nicht so anders aussehende Maschine zum Mahlen von Getreide. Darüber hinaus gibt es alte Kassen und Schreibmaschinen und eine Kammer mit medizinischen Geräten, die eher wie eine Folterkammer aussieht.
In einer kleinen Dokumentation kann man etwas über die Ursprünge des Kurorts lesen. Das Wasser und seine heilende Wirkung wurden zuerst von einem Arzt am Königshof beschrieben, dem Leibarzt von João V. Ein lokaler Arzt brachte das Wasser dann zum ersten Mal zur Anwendung. Der Durchbruch kam, als sich Maria I., die Königin, hier behandeln ließ. Der Ort wuchs, immer mehr Kurgäste kamen, und Mealhada wurde eigens als Verwaltungsort für Luso gegründet.
Als ich wieder draußen bin, sehe ich, wie sich eine alte Frau mühselig die Straße hinauf schleppt, mit sechs leeren Wasserflaschen in der Hand, Zwei-Liter-Flaschen. Sie geht zur Quelle und trifft dort auf lauter Gleichgesinnte. Die Bewohner versorgen sich hier mit Wasser. Das läuft reichlich, und man kann sich bedienen. Auf einer Hinweistafel heißt es allerdings, man dürfe nur so viel Wasser entnehmen, wie man selbst mit den Händen tragen könne. Nicht alle scheinen sich daran zu halten. Sie haben kleine Schubkarren oder Wagen dabei. Ich frage mich, wie die alte Frau das Wasser wohl nach Hause bekommt, kann aber nicht weiter beobachten, ohne dass es indiskret würde.
An der Schautafel erfährt man auch, dass die Weinbauregion hier die Bairrada ist. Der sind wir vor Monaten mal, in Coimbra, begegnet. Der Name ist von barro abgeleitet, ‘Lehm’, und daraus wurden auch die porösen Krüge hergestellt, die das Wasser kühl hielten. Die alten Weinstöcke hatten auch ihre Funktion: Mit ihnen wurden die Öfen befeuert, auf denen das Spanferkel gebraten wurden.
Ich mache mich auf den Weg in den Wald, den Wald von Buçaco, meinem eigentlichen Ziel. Der ist von hier aus zu Fuß zu erreichen. Es ist eine kurze Strecke, aber es geht schon in der Stadt steil bergauf und dann einen einsamen Weg entlang. Ich begegne wieder mal niemandem. Die meisten fahren mit dem Auto in den Wald. Kostenpflichtig.
Der Wald von Buçaco wurde schon im frühen Mittelalter von Benediktiner-Mönchen angelegt und später von den Karmeliter-Mönchen des hier entstandenen Klosters gepflegt. Sie pflanzten Tausende verschiedener Bäume an, einheimische und auswärtige.
Die Bäume sind nicht gekennzeichnet, es ist wirklich ein Wald, kein Park. Trotzdem bin ich etwas enttäuscht. Ich hatte etwas anderes erwartet. Man kann eigentlich nur sehen, dass alles komplett durcheinander angepflanzt wurde.
Immer wieder stößt man auf künstlich angelegte Weiher, Grotten, Kapellen und Brunnen. Der schönste ist der mit dem Namen Fonte Fria. Bei dem kommt das Wasser, zwischen einer doppelläufigen Treppe, von ganz oben hinunter.
Der Wald ist unaufgeräumt. Baumstümpfe und Baumkrüppel stehen am Wegesrand, Stämme und Äste liegen auf den Weg, verdorrtes Holz liegt auf dem Waldboden, an einigen Stellen ist es zu einem Haufen aufgeschichtet. Was wie Absicht aussieht, ist tatsächlich die Folge des Zyklons von 2013. Auf einer Schautafel wird klagend erwähnt, der portugiesische Staat, heute der Eigentümer des Waldes, habe sich da schön rausgehalten. Nur Freiwillige hätten dafür gesorgt, dass der Wald jetzt überhaupt wieder begehbar ist.
Eine Zeitland kann ich den Schildern folgen, bis ich an einen erhöht liegenden Aussichtspunkt mit einem Kreuz komme. Dahinter eine Mauer, durch deren Tore man in die Ferne sieht, eine Ansicht, die mich an ein Gemälde von Velázquez erinnert. Die Gegend, auf die man blickt, ist erstaunlich eben.
Dann verlaufe ich mich und bin am Ende, auch wenn ich die Highlights nicht gesehen habe, darunter den ältesten und den höchsten Baum von Buçaco, froh, auf die gepflasterte Straße zu kommen, die in einem weiten Bogen in die Stadt zurückführt. Die Straße nimmt oben ihren Ausgang bei einem Koloss von Bau, einem ehemaligen Königspalast, jetzt Hotel, im Zuckerbäckerstil. Den haben die Bragancas hierher gesetzt, als sie noch einmal so richtig auf die Kacke hauen wollten, vielleicht schon im Vorgefühl ihres baldigen Untergangs. König Carlos, der Erbauer, wurde 1908 zusammen mit dem Kronprinz, Dom Luis Felipe, ermordet.
28. Juni (Freitag)
Im Unterricht gehen wir der Sache mit den Artikeln bei Erdteilen nach. Nur Afrika hat keinen, alle anderen haben einen. Da kommt man mit “Logik” nicht weiter.
Filomena nennt in diesem Zusammenhang auch Pombal. Das wird von Nachrichtensprechern gelegentlich mit einem Artikel versehen, vielleicht deshalb, weil pombal auch Appellativ ist und als solcher eine eigene Bedeutung hat, ‘Taubenschlag’. Hier in der Gegend wird es ohne Artikel gebraucht.
Am Telefon kann man sich in Portugal tatsächlich mit Está? und mit Estou? melden. Auch da versagt die Logik.
Saramagos Stadt der Blinden heißt auf Portugiesisch Ensaio sobre a cegueira!
Am Nachmittag mal wieder zum Abholen nach Coimbra B. Es ist sonnig und warm!
29. Juni (Samstag)
Während calza im Italienischen ‘Strumpf’ bedeutet, bedeutet calça (meist Plural) im Portugiesischen ‘Hose’. Im Spanischen ist calzado ‘Schuhwerk’ und calcetín ‘Socke’. Was ist wohl der gemeinsame Ursprung? Und was hat spanisch calzada, ‘Fahrbahndecke’, damit zu tun?
Nach dem obligatorischen Rundgang ums Dorf am Vormittag geht am Nachmittag nach Penela. Die Sonne ist herausgekommen, aber es ist windig und wolkig, und die Temperaturen liegen weit unter denen von Deutschland und Frankreich. An der Burg sehen wir nachgebaute Wurfgeschosse, Katapulte, mit denen auf ingeniösen Weise Steine auf die Angreifer vor der Burg geschleudert wurden.
Die Kellnerin des Mina überbietet sich selbst an Freundlichkeit, als sie uns mil folhas und queijada (mit leichtem Orangengeschmack) serviert. Sie macht jetzt erst einmal Ferien, an der Algarve, in Portimão. Danach will sie sich um das pastel de feijão kümmern, nach dem ich gefragt habe. Es ist mit mit Bohnenmehl gemacht und keine Seltenheit in Portugal.
Wir versuchen, darauf zu kommen, wofür wohl TAP steht, kommen aber nicht drauf. Dabei ist es ganz naheliegend: Transportes Aereos Portugueses.
Zum ersten Mal verstehe ich etwas, was Portugiesen untereinander sagen, auch wenn es nur zwei magere Sätze sind. Eine Frau, die mit ihren Kindern aus dem Auto steigt, fragt drei Frauen an einem Tisch, ob sie das Auto dort parken könne. Sie seien zum ersten Mal hier.
Am Abend im Santo Amaro erkennt mich die Kellnerin auf den ersten Blick und weist uns denselben Platz zu. Die Essenszeiten der Portugiesen verschieben sich am Wochenende weiter nach hinten. Das Lokal ist noch fast leer, als wir aufbrechen, obwohl viele Plätze reserviert sind.
Während es gegenüber bacalhau gibt, bekomme ich endlich mal die francesinha, die ‘Kleine Französin’, die ich immer für einen Appetithappen gehalten habe. Ist sie aber nicht. Die Kellnerin erklärt, die francesinha sei das typische Gericht von Porto. Die francesinha ist im Grunde ein Toast, auf dem und unter dem alles liegt, was die Küche gerade hergibt: Schinken, Käse, Wurst, Rindfleisch. Das Ganze schwimmt in einer braunen Soße aus Bier, Tomaten und Senf. Und oben drauf ein Spiegelei.
30. Juni (Sonntag)
Am Nachmittag, als doch noch ein Sonnenstrahl herauskommt, fahren wir nach Coimbra. Auf dem schon zur Gewohnheit gewordenen Rundgang sehen wir ein merkwürdiges Ladenschild: Quebra o galho. Scheint keinen Sinn zu ergeben. Jemand bricht einen Ast? Das Internet weiß Bescheid: Es ist eine Redewendung. Sie bedeutet ‘jemandem einen Gefallen tun’, ‘jemandem aus der Patsche helfen’, ‘improvisieren’. Als Kompositum, quebra galho, bedeutet es ‘Gelegenheitsarbeit’, ‘Job’.
In einer der Gassen stoßen wir auf ein (inzwischen geschlossenes) Lokal, das Funchal, benannt nach der Hauptstadt Madeiras.Der Name ist Programm: Hier gibt es (oder gab es) Speisen aus Madeira. In dem Moment fällt uns der Name auf: Madeira. Die Insel heißt tatsächlich ‘Holz’. Sie war mit dichten Wäldern bewachsen, Wäldern von Lorbeerbäumen. Das veranlasste die Portugiesen, ihr diesen Namen zu geben. Es gibt aber schon ältere Dokumente, die von einer Isla de Legname sprechen. Damit war vermutlich auch Madeira gemeint.
Zuhause sehen wir auch nach, was es mit dem Flughafen von Coimbra auf sich hat, den man immer wieder ausgeschildert sieht. Gar nichts. Es ist ein Flugplatz für Privatflugzeuge. Es gibt keine regelmäßigen Flüge.
Auf dem Platz oben in Penela steht die etwas merkwürdige Figur von Dom Pedro, auf die mich damals ein Einheimischer aufmerksam gemacht hat. Wer ist eigentlich dieser Dom Pedro? Er trägt eine Krone, aber von König war damals nicht die Rede, lediglich davon, dass er der “zweiten Dynastie” angehörte. Das muss die von Avis sein. Es stellt sich heraus, dass dieser Dom Pedro einer der Söhne von João I. ist und damit Bruder des Seefahrers. Ich muss also sein Grabmal in Batalha gesehen haben. Die Krone trägt er wohl als Herzog von Coimbra. Er war der erste seiner Art. Seine Biographie hört sich richtig interessant an. Vor allem wegen seiner Reise zu den “sieben Enden der Welt”. Die brachte ihn zwar nicht ganz ans Ende der Welt, aber immerhin nach Kastilien, Böhmen, Ungarn, Zypern, Palästina, Rom, Konstantinopel, Alexandria, Kairo, Paris, Dänemark und London. Eine Grand Tour, wie sie sich die Engländer nur hätten erträumen können. Ein Exemplar von Marco Polos Reisebericht und eine Weltkarte von Kaiser Sigismund, die er unterwegs abgestaubt hatte, übergab er seinem Bruder für dessen Think Tank in Sagres. In Portugal begann er eine Rolle zu spielen, als sein Bruder Duarte, der König, starb und seinen minderjährigen Sohn als Thronfolger hinterließ, mit der Maßgabe, dessen Mutter solle Regentin werden. Da mischte sich Peter ein, mit dem Resultat eines lebenslangen Tauziehens um Macht und Einfluss zwischen den dreien.
1. Juli (Montag)
In dem Schreibwarengeschäft in Penela rutscht mir nach einiger Zeit mal wieder ancora heraus und später, als ich in einem Café einen Kellner fast umrenne, Perdón.
Die Angestellte im Schreibwarengeschäft gibt mir ungewollt sprachliche Hilfestellung. Als ich frage, ob alles in Ordnung sei, antwortet sie: E consigo?
Wir fahren über die abgelegene Route von Penela nach Miranda. Auf dem ganzen Weg kommt uns kein Auto entgegen. Die Strecke kommt mir diesmal, mit ihren verschiedenen Grüntönen, den Wiesen zur einen, den Felsen zur anderen Seite, noch schöner vor als beim letzten Mal. Der Weg führt an einem Dorf namens Retorta vorbei.
Dann geht es zum Wasserfall. Auch hier kein Mensch, auch hier schöne Natur, vor allem durch den Kontrast zwischen dem verkrüppelten und dem grünen Holz. Eine Dornenhecke hat sich einen alten, vertrockneten Verwandten als Stütze ausgesucht und breitet sich mit üppigem Grün darüber aus. Auf der anderen Seite des Bachs ein alter Baumstumpf, der wie eine überdimensionale Kröte aussieht. Überall sieht man hier jetzt auch die Sträucher mit den grauen wolligen Blüten, die ein bisschen wie Kätzchen aussehen.
Wir fahren zum Essen nach Miranda. Wir haben die Wahl zwischen zwei Lokalen mit kuriosen Namen, die sich gegenüberliegen: Oficina do Frango und Estação de Sabores. Der Geschmacksbahnhof hat aber montags geschlossen, also geht es in die Hähnchenwerkstatt.
Rappelvoll. Bis auf den letzten Platz besetzt. Lauter Einheimische, mit Ausnahme eines englischen Ehepaars. Wir brauchen aber nur zehn Minuten zu warten. Das Essen ist gut, reichlich, ganz bodenständige Küche.
Danach fahren wir nach Miranda auf einen Kaffee, draußen vor dem Café. Entgegen allen Erwartungen scheint heute die Sonne.
Ich bekomme ein Photo von dem Fanshop vom SCP, das belegt, dass der Verein das Wort Lissabon nicht im Namen trägt.
2. Juli (Dienstag)
Transfer nach Coimbra B diesmal über die Autobahn. Die Strecke ist kürzer, aber unwesentlich kürzer.
Widersprüchliche Informationen gefunden über die Aussprache von Cascais. Ist ein <s> stimmlos und das andere stimmhaft? Wenn ja, welche Regel liegt da zugrunde?
Als Portugal Republik wurde, waren allen anderen europäischen Länder außer Frankreich und der Schweiz noch Monarchien. Das war allerdings auch der Fall, und noch früher, als Spanien zwischenzeitlich eine Republik war.
3. Juli (Mittwoch)
Gestern am späten Nachmittag hat die Sonne doch noch eine Lücke zwischen den Wolken gefunden, und für eine kurze Zeit war es richtig heiß. Heute Vormittag ähnlich.
Portugal hatte vor der Militärdiktatur, während der Republik, schon einmal eine Diktatur, von einem antiparlamentarischen Impuls motiviert. Das war noch während des Kriegs. Obwohl der Diktator, Sidónio Pais, Sympathien für Deutschland hegte, wechselte er nicht die Seite. Er führte auch, sicher nicht ohne Hintergedanken, das Wahlrecht für alle ein, auch für die Analphabeten, die damals noch 50% der Wahlberechtigten ausmachten. Seine Vorliebe für Auftritte vor der Menge wurde Sidónio zum Verhängnis: Er fiel einem Attentat auf dem Rossio zum Opfer.
4. Juli (Donnerstag)
Endlich einmal selbst mit dem Zug gefahren, das erste Mal überhaupt in Portugal. Zug ist komfortabel und schnell. Unterwegs kommt das graue Meer in Sicht.
Am Bahnhof in Coimbra bekomme ich pastel de feijão, tatsächlich aus Bohnenmehl gemacht. Schmeckt aber nicht danach.
In Porto geht es mit der Metro direkt zur Casa de Musica. Von der Metrostation aus kommt die “Schuhschachtel” sofort in Sicht, ein unregelmäßiger Quader aus Stein und Glas mit nach unten sich verjüngenden Seiten und spitz zulaufenden Ecken. Schwer zu sagen, wo die Hauptfassade ist. Der Stein ist beige und ist auch der Stein in der Pflasterung der Platzes.
Der Weg zur Kasse führt durch Gänge mit Treppen aus Aluminium und Wänden aus Beton, alles schmucklos, nur in den Foyers gibt es hier und da künstliche Topfblumen.
Man besichtigt das Gebäude mit einer Führung. Wir sind nur zu dritt, ein schrecklich vorlautes, altkluges Mädchen mit Vater und ich.
Ein wahrer Redeschwall bricht über uns ein. Am Anfang schlage ich mich noch ganz gut, aber dann lässt die Konzentration nach. Liegt aber auch daran, dass die Führung nicht allzu stimulierend ist. Von dem Architekten weiß die junge Frau nur zu berichten, dass er “sehr berühmt” sei.
Ich kann auch dem Gebäude nicht so viel abgewinnen. Wir sehen verschiedene Säle, die kaum als solche zu erkennen sind. In einem Fall gibt es nur eine abschüssige Fläche mit Teppichboden und davor einen leeren Raum.
Diese Säle gewähren meist einen Blick in den großen Saal. Von dem sind sie abgetrennt durch doppelte Glasscheiben, aber das sind keine normalen Fenster, sondern gewölbte Rundungen, die eher wie einfache Kunstwerke aussehen.
Immer wieder gibt das Haus den Blick nach außen frei, durch breite, hohe Glaswände. Leider ist das, was man da sieht, alles andere als schön.
Der Große Saal ist rechteckig und hat eine aufsteigende Sitzreihe, mit Sesseln, deren Grau das des Aluminiums aufnimmt. Sie sind aus Samt, aber künstlichem Samt, und der hat die Funktion, den Schall aufzunehmen. Überhaupt sind viele Details so ausgewählt, dass sie die Akustik verbessern. Das gilt für die finnische Fichte, aus der die Wände sind, aber auch für die hauchdünnen Goldstreifen, die darauf angebracht sind, aber auch für den verstellbaren Baldachin über dem Orchester und den aus Lamellen bestehenden Vorhang vorne und hinten. Mit denen kann der Raum nach Bedarf verdunkelt werden.
Zu beiden Seiten des Orchesters hängt ein Orgel, rechts eine barocke Orgel, links eine moderne Orgel. Die Orgeln waren, wenn ich das richtig verstehe, Teil des Originalkonzepts, gerieten aber mehr oder weniger in Vergessenheit, als sich die Fertigstellung des Baus verzögerte und die Geldmittel knapper wurden.
Man verschätzt sich hier. Der Raum fasst mehr als tausend Zuhörer, viel mehr als man auf den ersten Blick vermutet. Das Haus hat insgesamt vier Orchester, darunter ein Symphonieorchester und ein barockes Orchester, und die Konzerte, die hier aufgeführt werden, decken so ziemlich alles ab, was es an Musik gibt.
Am Ende bin ich nicht traurig, dass die Führung vorbei ist. Es war eine gute Hörverständnisübung, aber man hätte doch gerne mehr erfahren über die Konzeption des Architekten, über den Wettbewerb, über den Auftraggeber und vor allem über das Gebäude an sich.
Ich fahre mit der Metro nach São Bento und sehe mir dort den Bahnhof an. Hier gibt es mehr Touristen als Reisende. Alle photographieren sich vor den Kacheln. Die stellen an den Seiten das traditionelle Volksleben dar: Obsternte mit Frauen mit Körben auf der Schulter, Felder mit Ochsengespannen, eine Prozession, ein Volksfest mit Musikanten, Frauen mit Krügen am Brunnen. Die Ochsen mit den weitläufigen, spitzen Hörnern tauchen immer wieder auf, als Allzweckwaffe, auch im Wasser stehend. Sie werden eingesetzt beim Entladen eines Schiffes, dessen Waren sie in einem Karren an Land ziehen. An der Stirnseiten sind Szenen aus der Geschichte Portugals dargestellt, darunter die Eroberung Ceutas durch den Seefahrer.
Ich gehe zum Douro runter und erkenne allmählich ein paar Ecken wieder, aber insgesamt sieht die Stadt ganz anders aus, als ich sie in Erinnerung habe. Die engen Gassen mit den hohen Häusern sind ganz anders als die “bei uns” und erinnern eher an die Altstadt von Neapel. Das gilt auch für die in die Häuserzeilen integrierten Kirchen.
Lokale und Souvenirgeschäfte gibt es an allen Ecken und Enden, aber es ist nicht allzu schlimm. Man hört viel Spanisch und viel amerikanisches Englisch.
Ich komme an einem Haus vorbei, aus dessen Fassade sich ein gekrümmter “Hals” auf die Straße streckt. An dessen Ende vermute ich zuerst den Kopf eines Fabelwesens, dann eine stilisierte Pflanze, aber es ist wohl keins von beiden. Ein Schild verrät, dass der “Körper”, zu der der Hals gehört, innerhalb des Gebäudes ist und die Skulptur außen und innen verbinden soll. Das Gebäude beherbergt das Stadtmuseum, vor wenigen Jahren zu Europas Museum des Jahres gekürt.
Plötzlich lande ich, immer noch ganz im Zentrum, in einem Wohnviertel, in dem es keinerlei Spur von Tourismus gibt, mit alten Frauen, die vor Hauseingängen sitzen, alten Männern, die im Café sitzen, und Fixern, die in einer Ecke hocken.
Es geht, wie vorher schon einmal, durch ein grässlich heruntergekommenes Viertel, mit schäbigen Hinterhöfen, Müll auf den Wegen, verfallenden Häusern, Wellblechwänden und Graffiti.
Viel zu früh mache ich mich auf den Weg zum Flughafen. Die Fahrt mit der Metro ist schier unendlich. Als ein Sitzplatz frei wird, merke ich, wie ein junges spanisches Modepüppchen, das vorher schon einen Blick darauf geworfen hat, sich zielstrebig dahin wendet. Mein Angebot, sich zu setzen, nimmt sie ohne Weiteres an, obwohl ich viel näher dran stand. Offensichtlich erscheine ich ihr nicht alt genug, um den Vortritt zu bekommen.
Für etwas Abwechslung sorgt ein Werbeplakat von McDonalds. Gegen einen Aufpreis bekommt man dort zu einem Menü ein Badehandtuch, mit Pommes dekoriert und einem gelben M. Damit soll man sich an der Strand legen.
Am Flughafen warte ich geduldig auf die Ankunft des Fluges aus Dortmund. Mit der Sauerländerin geht es dann in der Dunkelheit mit dem Space Star, einem Mitsubishi, zur Hütte. Glücklicherweise hat der Mann bei der Mietwagenfirma uns verraten, wie wir in die richtige Richtung kommen.
5. Juli (Freitag)
Rückholaktion des Autos aus Coimbra mit dem obligatorischen Stadtrundgang, aber diesmal in kritischer Begleitung: Von wann stammt eigentlich die Statue des “Mönchs-Killers”? Eine wichtige Frage, die ich mir bisher noch nicht gestellt habe. Antwort: 1911. Passt. Das war genau am Anfang der antiklerikal ausgerichteten Republik. Und: Warum kehrt João III. oben an der Uni der Welt den Rücken zu? Das ist eines Königs unwürdig. Er selbst hätte seine Statue anders ausgerichtet. Hatte ich noch nicht drauf geachtet. Ich finde es aber auch nicht so unpassend, da er schließlich seinem Königspalast zugewandt ist und heute eben der Universität, die er definitiv nach Coimbra geholt hat. Aber hier wird kein Widerspruch geduldet.
6. Juli (Samstag)
Am Ende des Spaziergangs um das Dorf herum, mit einem Schwenker zur Aldeia dos Sabores, wird es plötzlich so heiß, dass wir im Schatten eines Baumes Halt machen müssen. Sehen kann man die Sonne kaum.
7. Juli (Sonntag)
Während der Space Star sich in früher Morgenstunde Richtung Porto auf den Weg macht, fahre ich nach Miranda. Dort ist die Abfahrt des Busses, der uns nach Tomar bringen soll, zur Festa dos Tabuleiros.
Alles ist bestens organisiert, Listen werden abgehakt, Lesestoff wird verteilt, Programmabläufe besprochen. Aber dann taucht ein Problem auf: Wir haben noch fünf freie Plätze, aber beim letzten Halt, in Avelar, sollen noch acht Mitfahrer zusteigen. Ich spiele in Gedanken durch, wie das wohl gelöst wird: Fährt der Bus zweimal hin und zurück? Wird ein Taxi bestellt? Müssen die letzten im Bus auf dem Gang sitzen? Das Problem löst sich auf wundersame Art und Weise: Ein Ehepaar ist unterwegs mit dem Auto liegen geblieben, und ein Mann ist nach durchzechter Nacht nicht einsetzbar!
Das nächste Problem löst sich aber nicht von selbst: Schon auf der Autobahn beginnt der Rückstau. Aus vier Richtungen fahren Autos auf einen Kreisverkehr zu. Es bewegt sich fast gar nichts. Wir kehren um und versuchen einen anderen Weg, aber das Ergebnis ist dasselbe. Man muss sich einfädeln und dann einfach warten, dass die Sache in Bewegung kommt. Am Ende haben wir drei geschlagene Stunden gebraucht und sind noch zwei Kilometer vom Ortseingang entfernt. Es geht sofort ins Lokal, The Lodge, die Programmpunkte des Vormittags sind gestrichen.
Auf dem Weg sieht man, was es heißt, so viele Leute zusammenzuhalten, vor allem, wenn man sich zwischen Bussen und Menschen auf dem Mittelstreifen der Straße weiterbewegt, weil die Bürgersteige alle voll sind.
Irgendwann kommen wir an einem leeren Parkhaus vorbei. Verrückt! Warum wird das nicht genutzt?
Die Portugiesen machen Picknick: auf der Wiese, auf den Bürgersteigen, an Bushaltestellen, auf dem Sportplatz.
Als wir dann endlich am Lokal ankommen, ist erst mal Warten angesagt. Organisatorische Fragen werden besprochen, aber das ist nicht so einfach. Selbst das Zählen ist nicht so leicht, da immer gerade jemand auf dem WC ist.
Es gibt ein Buffet mit gutem Essen, vor allem das Zicklein ist wieder ein Volltreffer. In bester portugiesischer Tradition ist alles lauwarm.
Der Wein fließt in Strömen und löst die Zungen. Im Laufe des Essens spreche ich Englisch, Portugiesisch, Französisch und vor allem Deutsch, mit einer Schottin, die als junge Frau in Frankfurt gearbeitet hat und einer Engländerin, die als junge Frau in Stuttgart gearbeitet hat. Beide können noch sich noch ohne Probleme verständlich machen.
Die Briten sind alle sehr zufrieden mit dem Leben in Portugal. Immer wieder wird betont, wie ruhig es hier zugehe. Die meisten haben wahrscheinlich ein hektisches Berufs- und Familienleben hinter sich und genießen jetzt das stressfreie Leben hier. Selbst das Wetter hier in der Gegend gefällt ihnen. Von einem strengen Winter wollen sie nichts gemerkt haben.
Nach dem Essen geht es ins historische Zentrum. Es ist rappelvoll, aber es gibt kein Gedränge. Aus den Fenstern hängt das, was ich in dem portugiesischen Text falsch als Bettlaken verstanden hatte. Es sind schwere, bordeauxfarbene, in sich gemusterte Tücher. Sie sind an fast allen Fassaden zu sehen.
Auch die Türen und Fenster sind geschmückt und ganze Gassen, mit künstlichen, knalligen Blumen. Da ist viel Mut zum Kitsch im Spiel. Trotzdem: An einigen Stellen ist es fast schön, wie die Formen von Fenstern und Türen durch die Blumen markiert werden. In den Gassen bilden die Blumen ein baldachinartiges Dach. Am besten gefällt mir ein kleiner Platz, der ein Dach aus weißen, dreieckigen Wimpeln hat, durch das die Silhouette einer Kirche scheint.
Als es um vier Uhr losgeht, habe ich die anderen längst aus den Augen verloren. Nur über die Köpfe der Zuschauer vor mir kann ich sehen, was da vorbeizieht: Bannerträger und Träger von Kronen auf samtenen Kissen. Sie repräsentieren die unterschiedlichen Pfarreien. Das hatte ich für einen Übersetzungsfehler von freguesia gehalten, aber Filomena hat recht, es ist hier nicht im staatspolitischen, sondern im kirchlichen Sinne gemeint. Es ist genauso doppeldeutig wie Gemeinde.
Die nächste Stunde verbringe ich damit, ständig die Stellung zu wechseln, um mehr sehen zu können. Ich klettere sogar auf das Dach des Parkhauses. Alles vergeblich. Bis ich an den Parque de Mouchão komme. Hier ist Platz, und ich setze mich geduldig auf den Bürgersteig, neben die anderen Wartenden.
Es ist Portugal-Wetter: dicke Wolken, weiß, grau und schwarz, dazwischen blaue Flecken. Die Sonne ist meist hinter den Wolken, aber wenn sie hervorkommt, ist es plötzlich brennend heiß.
Auf dem Weg zu meiner jetzigen Stellung habe ich auf einem kleinen Platz Halt gemacht, auf dem freien Platz einer Bank. Hier kommt der Zug nicht vorbei, und trotzdem ist der ganze Platz geschmückt. Neben mir sitzen zwei Männer, die mich – ungewöhnlich für Portugiesen – ansprechen und fragen, woher ich komme. Sie selbst sind aus Aveiro und freuen sich, als sie hören, dass ich Aveiro besucht habe. Auch sie loben Portugal dafür, dass es hier so ruhig zugehe. Das scheint ein ewig wiederkehrendes Thema zu sein. Und auch von dem Wetter und dem Essen in Portugal sind sie begeistert.
Einer von ihnen hat beruflich mit einer Firma aus Lübeck zu tun gehabt, irgendwas mit Maschinen für Fischverarbeitung. Er kennt Norddeutschland sehr gut. Was ihm gefalle an Deutschland, sagt er, ist die klare Trennung der drei Bereiche: Wohngebiet, Industrie, Landwirtschaft. Nicht alles durcheinander wie hier. Als sie sich verabschieden, drücken sie mir fest die Hand.
Bei der Festa dos Tabuleiros muss man mit dem vorlieb nehmen, was solche Massenveranstaltungen mit sich bringen: überquellende Abfallkörbe, Dixi-Klos, die immergleichen Luftballons, Zuckerwatte, Softeis.
Zwischendurch kommt mir beim Warten der Gedanke, dass es besser ist, dahin zu fahren, wo es nicht so voll ist. Filomena und ihr Mann berichten später, dass sie vor vier Jahren noch gut in die Stadt hineinfahren und alles bestens sehen konnten. Sie schätzen, dass es diesmal doppelt so viele Besucher sind.
Es ist erstaunlich ruhig. Auch das scheint sehr portugiesisch zu sein. In der Nähe des Zugs hört man gelegentlich Beifall und ein paar Anfeuerungsrufe. Das ist alles. Die Leute gehen spazieren, kaufen etwas an den Imbissständen, unterhalten sich. Kein Geschrei, kein Durcheinander, keine Musik. Überhaupt keine Volksfestatmosphäre.
Das Warten hat sich nicht gelohnt. Der Zug will einfach nicht kommen. Ich mache mich wieder auf den Weg, irre über die Straße und stoße auf der anderen Seite des Flusses dann endlich auf den Zug. Aber der legt in diesem Moment gerade eine Pause ein. Die Mädchen stopfen sich Brote und Energieriegel in den Mund, was schön mit ihrer zeremoniellen Kleidung kontrastiert.
Die Pause ist eine gute Gelegenheit, sich alles anzusehen. Die Mädchen tragen lange, weiße, an Messgewänder erinnernde Kleider mit einer roten Schärpe, auf der der Name der Pfarre steht. Neben jedem Mädchen ein Junge, ein Begleiter, in Schwarz und Weiß, mit einem Tuch auf der Schulter. Sie übernehmen, wenn das Mädchen nicht mehr kann.
Auf dem Boden neben den Mädchen stehen die Protagonisten des Fests, die tabuleiros. Sie haben diesen Aufbau: unten ein Weidenkorb, der sich hinter einer bestickten weißen Stoffmanschette
verbirgt, darüber das hohe, runde Weidengeflecht, an das Blumen und Brot (eigentlich Brötchen) befestigt sind, insgesamt dreißig. Oben bekrönt den tabuleiro ein Emblem, die Armillarsphäre oder die Taube des Heiligen Geists oder das Kreuz des Christusritterordens. Die ganze Chose wiegt zwischen 18 und 20 Kilo. Die Blumen sind heutzutage aus Papier, waren aber früher echt. Alle tabuleiros haben dieselbe Grundform, aber jeder ist verschieden in seinem Blumenschmuck. Das ergibt ein wunderbares Gesamtbild.
In ihrer Essenz ist die Festa dos Tabuleiros ein Erntedankfest. Daher das Brot und die Blumen.
Dann ertönen Böllerschüsse und es passiert – nichts. Weiter warten. Und dann, als ich mich schon bald auf den Weg machen muss, geht es endlich los. Die tabuleiros, jeder so groß wie das Mädchen, das ihn trägt, werden auf die Köpfe gehievt, der eine oder andere schwankt ein bisschen hin und her, aber insgesamt geht es verblüffend reibungslos. Der Zug setzt sich in Bewegung. Mit erstaunlich schnellen Schritten. Noch haben die Mädchen zwei der fünf Kilometer vor sich.
8. Juli (Montag)
Am Vormittag kommt, wie angekündigt, ein Mann namens Miguel. Der macht Messungen für ein Energie-Zertifikat für die Hütte. Es hält ein Messgerät an Wände und macht Aufnahmen. Von meinem Holz, meinen Pinienzapfen, meinen Pellets, meiner Holzkohle, meinem Papier nimmt er keine Notiz.
Zum ersten Mal habe ich die Gelegenheit, in den abgeschlossenen Teil der Hütte zu sehen. Der Eindruck ist enttäuschend. Unten ein ausgesprochen ungemütlicher Raum, eine Art Wohnzimmer, in dem alles mögliche herumsteht. Der Raum wirkt kleiner als das Obergeschoss. Dort sind drei weitere Schlafzimmer und ein komplett eingerichtetes Bad. Insgesamt kann man in der Hütte wohl bis zu zehn Personen unterbringen.
9. Juli (Dienstag)
Bei der Post Briefmarken bekommen, die “600 Jahre Madeira” feiern. Die Portugiesen haben ein unverkrampftes Verhältnis zu ihrer Kolonialgeschichte.
In einer Sendung über Scheel einen Satz aus einem Brief gehört, den er an Erich Mende schrieb: “Ich möchte ein Ressort haben, in dem ich möglichst viel Reisen kann und möglichst wenig Akten lesen muss.” Er wurde Entwicklungshilfeminister.
10. Juli (Mittwoch)
Sommer in Portugal! Kommt ein paar Tage vor meiner Abreise. Heute ist es sonnig und heiß, den ganzen Tag.
In Coimbra versuche ich, ein Verbindungskabel für das Handy zu bekommen. Erweist sich als sehr langwierige Prozedur. Am Ende versichert mir eine junge Verkäuferin, dass das Kabel passt. Sicher? Ja, sicher. Und wenn es nicht passt und ich die Verpackung geöffnet habe? Keine Sorge, passt! Es ist vermutlich das Alter, das einen gelehrt hat, dass so was immer daneben geht. Als ich wieder zurückkomme und ihr das Kabel wortlos hinhalte, ist sie ganz entsetzt. Das muss doch passen! Entschuldigt sich aber und konsultiert einen Kollegen. Der wirft einen mitleidigen Blick auf das Handy und macht den entsprechenden Kommentar. Am Ende liegt es am Handy. An demjenigen, der sich nicht alle zwei Jahre in neues kauft.
Bei der Ausfahrt aus dem Parkhaus plötzlich dumpfer Knall: Auto kaputt? Fußgänger, der auf derselben Höhe ist, winkt ab: nichts passiert!
Ich fahre zum Naturwissenschaftsmuseum. Vorher noch kurz Halt in einem unscheinbaren Café, das ganz unten versteckt an der Straße liegt. Es gibt einige Komplikationen beim Bestellen, aber am Ende bekomme ich einen Kaffee und eine Mousse au Chocolat, die zum Niederknien ist. Als ich bezahle, fragt mich der Wirt, ob ich Franzsose sei. Oder Argentinier? Keins von beiden. Dann macht er mir ein zweischneidiges Kompliment: “Für einen Deutschen sprechen Sie wirklich gut Portugiesisch.”
Das Museum liegt oben an der Uni, in zwei sich gegenüberliegenden klassizistischen Gebäuden, die aus der Zeit der Reformen von Pombal stammen. Das zentrale Wort, Filosofia Natural, taucht aber schon in der Gründungsurkunde der Estudos Gerais in Lissabon auf. Kurz, nachdem die Universität dann endgültig nach Coimbra kam, übernahmen die Jesuiten die Lehre. Bis sie von Pombal rausgeworfen wurden.
Im ersten Gebäude ist die Chemie untergebracht, auch wenn man hier manchmal eher an Physik denkt. Im ersten, dem originalen Versuchsraum mit hohen Decken, sieht man alle möglichen Gerätschaften aus der Anfangszeit, vor allem Öfen aller Art und Größe. Aber auch die schweren, gusseisernen Wasserhähne, die mit allen möglichen Rädchen verschiedene Flüssigkeiten zu mischen erlauben, sind ein Blickfang.
Zwei eiserne Halbkugeln, wenn man Luft rauslässt, nur mit größter Kraftanstrengung, Pferde, zu trennen, wenn Luft wieder drin, ganz einfach zu trennen.
Es gibt eine Reihe von kleinen Versuchen, die man durchführen kann, nichts Spektakuläres, aber mir gefällt es. In einem Versuch geht es um optische Wahrnehmung. Man sieht unregelmäßig verteilte kleine weiße Punkte und soll raten, was sich hinter ihnen verbirgt. Ich tippe auf ein Schiff. Dann setzen sich die Punkte in Bewegung, und man sieht, was es ist: ein Jongleur. Man muss es als Jongleur, kann es nicht mehr als Schiff sehen.
Durch eine Linse in einem Bassin mit Flüssigkeit sieht man die hinter dem Bassin angebrachten vertikalen Linien. Im Bassin daneben ebenso. Aber hier sieht man die Linien, wie sie “wirklich” sind, im ersten sieht man die Linien größer und stärker konturiert, als sie wirklich sind. Dieses Bassin enthält Wasser, das andere eine Mischung aus Flüssigkeiten.
Auf einen Behälter mit Waschpulver ist ultraviolettes Licht gerichtet. Ohne das Licht sieht man Blau und Weiß. Mit dem Licht ist es anders: Das Blau wird zu Weiß, und das Weiß wird zu Rot. Ähnlich daneben: Ein Behältnis voller loser Perlen, darauf eine Perlenkette. Man sieht farblich keinen Unterschied. Mit dem ultravioletten Licht beginnt die Perlenkette zu glänzen, die losen Perlen sind matt.
Es gibt eine kleine Dokumentation über das Auge. Das entstand bei allen Lebenswesen im Kambrium, vor 560 Millionen Jahren. Das Auge hat 40-60 Entwicklungsschritte durchgemacht, aber es ist kein perfektes Organ dabei herausgekommen, sondern eins, das der jeweiligen Gattung das Überleben ermöglicht.
Im gegenüberliegenden Gebäude sind die Biologie und die Physik ausgestellt. Hier ist das Museum richtig veraltet, man kann selbst die Schilder kaum lesen.
Das Prunkstück des Museums ist ein komplettes Walfischskelett, das die ganze Länge eines Raums einnimmt. Man sieht in den sich nach hinten verjüngenden Rumpf wie in einen Tunnel hinein. Und könnte den Eindruck bekommen, dass es sich um das Skelett von drei verschiedenen Tieren handelt, so scharf sind Kopf, Rumpf und Schwanz voneinander getrennt. Wenn das Fell darüber gespannt ist, sieht es ganz anders aus.
Beachtlich sind aber auch die kleineren Skelette wie das eines Kugelfischs und das einer Kobra, ganz dünn und länglich.
Irgendwo gibt es auch das Horn eines Einhorn zu sehen, weiß, länglich, spitz zulaufend, wie im Märchen. Ist auch als solches ausgezeichnet, aber darunter erfährt man, was es wirklich ist: narval.
Ausgestopft oder als Skelett gibt es verschiedene „siamesische“ Tiere. Ein Kalb mit zwei Köpfen und sechs Beinen, ein Lamm mit einem Kopf und acht Beinen. Sieht verstörend aus.
In der Physik fallen mir zum Schluss zwei Dinge auf, die wiederum mit Optik zu tun haben, zuerst sind es Gemälde, die aus senkrecht ausgerichteten Lamellen bestehen. Wenn man von links guckt, sieht man ein anderes Bild, als wenn man von rechts guckt. Aus einem jungen Mann beim Würfelspiel wird ein dickwanstiger, lachender, sich den Bauch haltender Mann mit Perücke, aus einem Flötenspieler mit Feder im Haar wird eine junge Frau.
Zum Abschluss noch zwei Bilder, auf denen alles so verzerrt ist, dass man nicht erkennen kann, was dargestellt wird. Erahnen kann man Körperteile, die auf dem Kopf stehen und eine wilde Mähne, die sich über das ganze Bild ausbreitet und wie ein Bild von Blake aussieht. Die Auflösung ist nebenan. Wenn man einen gebogenen Spiegel vor das Bild stellt, fügen sich die surrealistischen Einzelteile zu einem kohärenten, „normalen“ Bild zusammen, in einem Fall dem Bild eines Pfeifenrauchers. Von der Pfeife hatte man vorher keine Ahnung.
Die meisten Räume sind nichtssagend, aber die ersten beiden stammen aus der Zeit von Pombal und sind original erhalten. Der erste ist ein Hörsaal, mit aufsteigenden Sitzreihen, elegant geschwungen mit Eisengittern. Und einem mächtigen Katheder vorne. Hier möchte man genauso gerne Student wie Dozent gewesen sein. Der nächste Raum ist ein Kabinett, mit schweren bordeauxroten Vorhängen, einer schönen, gewundenen Treppe und ebenso schönen Vitrinen mit Holzeinfassungen.
Am Ausgang steht eine moderne Skulptur, ein Denker, in halb kniender Pose. Er hält die Hände vor das Gesicht, so, als ob er sich von nichts vom Denken abhalten lassen wolle. Die Augen sieht man nicht, die Ohren sind kaum ausgebildet. Er ist ganz Konzentration. Die Skulptur stammt von einem Künstler aus Såo Tomé und ist aus Maulbeerholz.
Es wird Zeit für Coimbra B. Der letzte Transfer ist wie der erste für Xia. Die kommt gut gelaunt an und freut sich, dass sie den Sommer mitgebracht hat.
11. Juli (Donnerstag)
Wir fahren nach Osso da Baleia. Ein richtiger Sommertag am Strand. Es ist heiß, und am Strand ist es ein bisschen voller als sonst.
Auf einem mehrsprachigen Schild heißt es auf Deutsch: Verbotene Tiere. Gleich gegenüber stehen die seltsamen, trichterförmigen Plastikbehälter, die unten ein Loch haben. Jetzt erfahren wir, worum es sich handelt: Aschenbecher.
Das Wasser ist immer noch kalt, aber heute kann man sich rein wagen. Mit dem ganzen Körper. Die Strömung ist allerdings sehr stark, und als wir gerade ein paar Schritte draußen sind, kommt einer der Aufpasser und verbietet uns, weiter raus zu schwimmen. Der Atlantik hat es in sich.
Wir gehen in beide Richtungen den Strand entlang, so weit das Auge reicht, und auch da geht der Strand noch weiter.
Unterwegs sehen wir einen menschlichen Körper reglos im Sand liegen. Für einen Moment fährt uns ein Schrecken durch den Körper, aber dann sehen wir ihn atmen. Es ist ein Angler, der sich eine Pause gönnt.
Wir fahren bei dem herrlichen Wetter in den nächsten Küstenort, Pedregão. Dort soll es Strandlokale geben. Gibt es auch tatsächlich. Pedregão ist ein richtiger Touristenort.
Eine Frau weist uns den Weg, mit einer haargenauen Beschreibung und einer klaren Ansage, in welches Lokal wir gehen sollen. Dabei kommt es zu einem schönen Missverständnis. Ich frage nach dem Namen und meine den des Lokals, sie glaubt, ich wolle ihren Namen wissen. Geht nur in Pro-drop-Sprachen.
Das Lokal ist proppenvoll und erst beim zweiten Nachfragen bekommen wir doch noch einen Platz, draußen auf der Terrasse. Am Nachbartisch werden Fische gegessen. Was für welche das denn sind, fragen wir. Sardinen. So groß, dass man es kaum für möglich hält. Dann kommt es zu einem Missverständnis zwischen uns, und als Ergebnis bekommt Xia Muscheln statt Fisch. Es sind Venusmuscheln, ameijas.
Wir sitzen in der Sonne, mit direktem Blick auf den Strand und das Meer. Besser geht es nicht. Der Strand ist so breit und so lang, dass die typischen Versatzstücke eines Touristenortes, Liegestühle, Sonnenschirme, Kioske, kaum stören.
Bald ist der Aufbruch angesagt. Wir haben einen Termin im Weinkeller, bei Encosta de Criveira, in Penela, von Filomena vermittelt. Vater und Sohn führen uns gemeinsam. Beide sind sehr freundlich und mitteilsam. Der Sohn spricht fließend Englisch.
Es ist ein reines Familienunternehmen. Der Vater ist der Winzer, die Firma läuft auf den Namen der Mutter, und der Sohn tritt in die Fußstapfen des Vaters. Er hat das Logo der Firma selbst gestaltet, eine stilisierte Darstellung, die Bezug nimmt auf die Form einer Weinflasche, auf die Burg von Penela und auf den Namen der Familie, Reis.
Der Vater war erfolgreicher Bankier und hat den mutigen Schritt unternommen, den Beruf an den Nagel zu hängen und sich dem Weinbau zu verschreiben. Die Lokalitäten sind die seines eigenen Vaters, der hier eine Ölmühle betrieb. Mit Gegenständen und Photos wird in dem Weinkeller darauf verwiesen.
Der Wein wird nicht auf einem Feld, wie hier üblich, angebaut, sondern auf einem richtigen Weinberg, wie bei uns. Der Weinberg liegt direkt hinter der Freiwilligen Feuerwehr am Ortsausgang von Penela, wo ich schon viele Male vorbeigefahren bin.
Auf zwei Hektar werden insgesamt 15.000 Flaschen pro Jahr hergestellt, Rot, Rosé und Weiß. Sie haben schon mehrere Preise eingeheimst, auch gegen vermeintlich stärkere Konkurrenz. Die Geschäfte laufen gut, das sagen sie ganz offen, und auch, was Portugal angeht, sind sie zuversichtlich. Tut gut, das zu hören.
Sie haben nur ganz wenig Variation, so dass man gut den Überblick behält: einen Weißwein, einen Rosé und zwei Rotweine, einen mit einer Traube, einer mit mehreren Trauben. Die wichtigste Traube heißt baga. Das Weinbaugebiet, Terras de Sicó, umfasst nur fünf Ortschaften und zwölf Winzer und ist wie eine südliche Verlängerung der Bairrada.
Der Wein schmeckt uns wieder ausgezeichnet, und am Schluss wandern wir beide mit einer Kiste unter dem Arm ab. Und mit einem eigentlich unverkäuflichen Käse, den eine alte Frau aus der Nachbarschaft herstellt. Wann immer sie ihn zum Kauf anbietet, wird es ihr sofort aus der Hand gerissen.
12. Juli (Freitag)
Der portugiesische Sommer ist vorüber. Er hat genau zwei Tage gedauert. Wir fahren trotzdem nach Loucainha und schwimmen ein paar Bahnen in dem kalten Wasser. Es sind ein paar Badegäste da, aber keiner von ihnen traut sich ins Wasser.
Dann kommt ein Autokorso. Ein Gruppe von Behinderten mit Betreuern. Sie verschwinden in entgegengesetzter Richtung. Xia entdeckt, wohin: in ein Waldstück am anderen Ende des Bassins, einem sehr schön angelegten Platz, auf dem sie Picknick machen.
Für uns wird es Zeit, nach Miranda zu fahren. Filomena bittet zum Mittagessen. Sie wohnt am Stadtrand von Miranda. Die Suche gestaltet sich schwierig, der Navigator schickt uns hin und zurück und immer um das Viertel herum. Dann fragen wir einen Mann, der gerade aus seinem Haus kommt. Er setzt zu einer Erklärung an, überlegt es sich aber anders und fährt vor uns her, direkt bis vor das Haus.
Das ist ein großzügiges Einfamilienhaus, das etwas von einer Villa hat. Es besitzt sogar einen Swimmingpool.
Wir können trotz des Wetters draußen sitzen, auf der geschützten Veranda. Der Hausherr steht am Grill, der eigens in die Hauswand eingelassen ist. Musik kommt aus Lautsprechern, die auch mit eingebaut sind.
Es gibt eine ganze Palette von Fleisch und Wurst vom Grill: Rippchen, Speck, chorico usw. Dazu gibt es einen großen Salat. Aber damit nicht genug, daneben werden auch noch gebackene Auberginen aufgefahren und ein komplettes bacalhão-Gericht und eine chanfana. Auch beim Nachtisch wird nicht gekleckert. Es gibt gleich zwei Nachspeisen, queijada und serradura. Und dann haben wir das Glück, zum ersten Mal vinho verde probieren zu können, in der weißen Variante. Er ist leicht und frisch. Und alles ist köstlich.
Von der Terrasse sieht man auf den Garten. Darin stehen Himbeeren aus Deutschland und eine Tanne aus dem Schwarzwald. Die beiden machen alle drei Jahre eine gewaltige Tour durch Europa, bei der sie Freunde in allen möglichen Ländern besuchen und bis zu 7.000 Kilometer zurücklegen.
Das Haus wird nur von den beiden bewohnt. Ihre Tochter wohnt in ihrem alten Haus im Zentrum von Miranda. Sie ist Konditorin und mit einem Konditor liiert, den sie während der Ausbildung kennen gelernt hat.
Die Rede kommt auf die Kühe, die hier noch grasten, als die beiden Kinder waren. Wo sind die Kühe geblieben? In Ställen, lautet die Antwort. Trotzdem komisch, dass man während der gesamten sechs Monate nie auch nur eine einzige zu Gesicht bekommen hat.
Das Thema Kühe leitet elegant zu den Azoren über. Madeira, sagen die beiden, sei wunderschön, aber die Azoren seien das Paradies. Sie hätten außerdem den Reiz, aus mehreren Inseln zu bestehen, während Madeira nur aus einer Insel besteht.
Einen schöneren Abschluss der Portugal-Reise (und einen authentischeren) kann man sich nicht vorstellen.
13. Juli (Samstag)
Beim Autopacken lerne ich eine neue Variante kennen: Das ganze Gepäck im Kofferraum ruht auf einem Teppich von Büchern.
Wir machen einen Spaziergang um das Dorf herum und probieren Dill und trinken aus Marienkelchen. Zum Abschluss gibt es ein letztes Mal ein Bier in der Taberna, draußen auf der Terrasse sitzend. Ein Mann kommt auf mich zu und grüßt mich freundlich. Ich muss zweimal hingucken. Es ist der sympathische Mann, der im Garten der Hütte die Gräser geschnitten hat.
14. Juli (Sonntag)
Um neun Uhr geht die Reise los. Unser erstes Ziel ist Bragança, in Tras-os-Montes gelegen, dem schon dem Namen nach verlassenen Fleck im äußersten Nordosten Portugals, nahe der spanischen Grenze.
Unterwegs sieht man von der Straße tief hinunter auf die Weinfelder des Douro. Die breiten sich zu drei Seiten aus und haben mit ihren Trockenmauern und den dazwischen gepflanzten Olivenbäumen etwas Besonderes.
Wir machen Halt in Viseu und in Vila Real. Als wir in Viseu ankommen, ist von dem Dunst von Viavai nichts mehr übrig. Wolkenloser Himmel, heller Sonnenschein. Viseu ist schön, schöner als ich es in Erinnerung habe.
In Vila Real beginnt es schon etwas spanisch auszusehen. Die Stadt ist in der Mittagshitze fast menschenleer. Das schönste Bild bietet die Fassade einer Barockkirche, die an dem Schnittpunkt zweier schmaler Straßen der Altstadt liegt. Ganz oben thront Petrus in voller Montur.
Xia bemerkt an verschiedenen Patrizierhäusern schön verzierte Tragkonsolen und abgerundete Fensterlaibungen.
Bei den Häusern dieser Region herrscht nicht mehr so ein Durcheinander wie in den Orten des Beira Litoral. Die Dinge scheinen eher zueinander zu passen.
Als wir in Bragança ankommen, ist es immer noch sommerlich heiß. Wir machen einen Spaziergang über das Kopfsteinpflaster zur Burg hinauf und finden am Abend nach einiger Suche doch ein Lokal, das geöffnet hat, keine Kleinigkeit in Portugal an einem Sonntag.
15. Juli (Montag)
Braganca ist schön, aber verschlossen: Kirchen, Kneipen, Museem, alles zu.
Xia schlägt einen Frühschoppen vor. Der Vorschlag trifft auf enthusiastische Zustimmung. Es ist aber ein Missverständnis. Nicht Frühschoppen, sondern Frühsport ist gemeint. Wir sollen zu Fuß nach Sao Bartolomeo, einer Kapelle auf einem Hügel über der Stadt gehen.
Es wird ein ziemlich abenteuerlicher Spaziergang, einen Feldweg entlang, der mit stacheligen Gewächsen versehen ist und in die Irre zu führen scheint. Am Ende kommen wir dann aber doch oben an.
Belohnt für die Mühe wird man auf halber Höhe, mit einem der schönsten Ausblicke auf eine Stadt in Portugal. Die einzigen möglichen Konkurrenten sind Tomar und Óbidos.
Von ganz oben ist der Blick dagegen eher enttäuschend. Dafür haben wir eine kuriose Begegnung. Zwei uniformierte Radfahrer fahren an uns vorbei zu einer Statue über dem Felsen, von der aus man freie Sicht auf die Stadt ganz unten hat. Ich denke an Mitglieder eines Sportvereins, aber Xia hat genauer hingesehen: Es sind Polizisten. Wir fragen sie, wie wir wieder hinunterkommen und dabei entspinnt sich ein Gespräch: Bragança sei einer der sichersten Orte Portugals, vielleicht der Welt, hier gäbe es noch nicht einmal Taschendiebe. Muss schön sein, in so einem Ort Polizist zu sein. Im Sommer sind sie mit dem Rad unterwegs, aber wirklich nur im Sommer. Im Winter ist Bragança ein kalter Ort mit reichlich Schnee. Sehen wir später auch auf einer Ansichtskarte.
Ich verstehe die beiden gut, sehr gut sogar, ebenso wie gestern einen Einheimischen auf der Straße, aber anders als der Wirt in einem Café und seinen Gast und anders als zwei Mädchen an der Rezeption gestern, von denen eine in einem merkwürdigen Singsang sprach. Ob das typisch für diese Region ist? Bei den Polizisten komme ich aber einmal ins Schwimmen, als sie, wie ich glaube, von Braganca als einem der dunkelsten Orte Portugals sprechen, aber dann verstehe ich sozusagen im Nachhinein: nicht mais oscuros, sondern mais seguros.
Zurück geht es über eine breite Treppe an der anderen Seite des Hügels. Dahin haben uns die Polizisten verwiesen. Der Weg ist kürzer als der Hinweg und auch bequemer, aber der Durst wird bei der Hitze ein richtiges Problem, und als wir endlich am Rande der Innenstadt an ein Café kommen, hat das gerade zugemacht.
Bragança ist eine ausgesprochen schöne Stadt, die ihren besonderen Reiz durch die Verbindung von Alt und Neu hat. Ganze Straßenzüge mit schönen Patrizierhäusern, Kopfsteinpflaster, die schmalen Gassen zur Burg hinauf, die Kirchen, die Hügel der Umgebung, und zwischendrin immer wieder ganz moderne Platzanlagen mit Wasserspielen, Brücken und Plastiken.
Ganz kurios ist eine Kirche, die zweischiffig zu sein scheint und außen zwei fast identische, mit blau-weißen Kacheln bestückte Fassaden hat. Es sind aber zwei benachbarte, aber von einer Trennwand geschiedene Räume, von denen einer ein ganzes Stück verkürzt ist und wohl eher als Kapelle denn als voll funktionierende Kirche dient.
Oben an der Burg sehen wir den auf einem Eber stehenden, steinernen Pfahl, einen pelourinho, bei dem ich immer mehr die Vermutung habe, dass er mit Schandpfahl falsch übersetzt ist. Eber als Symboltiere treten hier in der Gegend überall auf, vor allem auch auf der spanischen Seite, steinzeitliche Skulpturen, die viel Raum für Interpretation zulassen.
Die Burg hat eine große Umfassungsmauer, und siehe da, man kann große Teile von ihr begehen. Sollen sich doch die von Óbidos ihre Stadtmauer in der Pfeife rauchen!
Am Nachmittag bekomme ich in einer Buchhandlung, in der man von einem älteren Herrn und zwei noch älteren Damen bedient wird, zwar nicht, was ich gesucht habe, aber doch zwei portugiesische Bücher für die ersten Wochen zuhause. Eins davon ist brandneu und bietet Geschichten zu portugiesischen Geschichte.
Am Abend zieht sich am Ende eines heißen Tages mit einem Rekord an gelaufenen Kilometern und getrunkener Flüssigkeit der Himmel zu.
16. Juli (Dienstag)
Während Xia sich nach Porto verabschiedet, fahre ich weiter über die Grenze nach Spanien. Zu beiden Seiten der Grenze ist es einsam, aber als es auf Zamora zugeht, werden Besiedlung und Verkehr dichter. Auf der spanischen Seite große, abgemähte Weizenfelder.
Ich mache in Zamora und in Toro Halt. In beiden Städten reihen sich die historischen Gebäude entlang einer geraden Trasse auf, an deren Ende die wichtigste Kirche der Stadt steht, die Kathedrale in Zamora, die Colegiata in Toro. Zamora ist lebhaft und geschäftig, Toro verschlafen und gemütlich. In beiden Städten gibt es schon Lose für die Weihnachtslotterie. Und in Zamora fällt mir ein Plakat für einen Sepharden-Kongress auf, der hier vor kurzem stattgefunden hat.
In Toro sieht man von der Colegiata auf eine Ebene hinunter, die ein historischen Schlachtfeld ist. Hier fand die Schlacht statt, mit der sich Juana den Thron von Kastilien erstritt, gegen ihre Kontrahentin, auch eine Juana, La Beltraneja (deren Ansprüche auf den Thron nicht an den Haaren herbeigezogen waren). Sie hatte ihren Namen von Beltrán, einem Hofherr, der sehr häufig und innig mit der Königin verkehrte und vielleicht der Vater von Juana war und nicht der angeblich impotente König.
Die Suche nach einem Platz im Schatten ist nicht so einfach, aber irgendwann wird ein Tisch unter den Arkaden auf der zentralen Straße des verschlafenen Städtchens frei. Die junge Kellnerin duzt mich, obwohl ich sie sieze!
Im Zentrum von Zamora, vor einer Kirche, eine verstörende Skulptur, zwei Männer mit einem Schleier vor dem Gesicht und Trommel bzw. Tröte in der Hand. Zamora ist das kastilische Zentrum der Semana Santa, und vermutlich ist sie das Thema der Skulptur, aber man könnte auch an die Inquisition denken. Tatsächlich fanden in der Vergangenheit genau hier, auf diesem Platz, die Autos de Fé statt.
Etwas weiter ein ganz andere Skulptur, die von Viriato, dem spanischen Asterix, der achtmal die Römer besiegte, bevor er ermordet wurde.
An einer Wand in Handschrift Lope de Vegas Gedicht “Ese es amor”, ein Sonett in der italienischen Tradition, ein lexikalisches Feuerwerk von der ersten Strophe an: “Desmayarse, atreverse, estar furioso, áspero, tierno, liberal, esquivo, alentado, mortal, difunto, vivo, leal, traidor, cobarde y animo.
Bei der Ausfahrt aus Zamora sehe ich zufällig beim Vorbeifahren einen Straßennamen, der ein Photo erfordert, obwohl hier nicht gerade leicht zu halten ist: Calle de Buscarruidos. Man kann schön darüber spekulieren, woher der Name kommt.
Den besten Blick auf Zamora hat man von einer Eisernen Brücke, die ich unfreiwillig mehrmals passiere, wegen einer gesperrten Straße. Es ist einfach nicht aus der Stadt hinauszukommen, jedenfalls nicht in die gewünschte Richtung. Dabei fällt mir eine merkwürdige Skulptur auf, zwei Figuren, die in unterschiedliche Richtungen blicken.
Am späten Nachmittag erreiche ich Tordesillas, das schlecht ausgeschildert und leicht mit Torrecillas zu verwechseln ist, das auf dem Weg liegt.
17. Juli (Mittwoch)
Die Innenstadt von Tordesillas ist glücklicherweise schöner als Gegend um das Hotel herum. Die Plaza Mayor, auf Arkaden stehend, ist auf den ersten Blick als spanisch erkennbar.
Tordesillas, der letzte Besuch ist vermutlich genauso lange her wie der von Zamora und Toro, und die Erinnerung ist genauso löchrig. Aber hier kommt noch etwas dazu: Damals war von dem berühmten Vertrag nichts zu sehen außer einer versteckten Plakette an einem der historischen Häuser unten am Duero. Jetzt gibt es ein modernes Museum, das die Geschichte des Vertrags erzählt, allerdings ohne historische Exponate.
Interessant ist vor allem die allmähliche Verlagerung der Trennlinie weiter nach Westen. Die ursprünglich vorgesehene Linie geht auf Kolumbus zurück und geht durch die Azoren. Dann wurde die Linie weiter nach Westen verlegt, irgendwo in den Atlantik. Auch dann wäre noch ganz Südamerika spanisch geworden. In dem Vertrag wurde die Grenzlinie aber auf Drängen der Portugiesen weiter nach Westen verlegt, auf 370 Leguas westlich der Kapverdischen Inseln. Diese Verlegung brachte es mit sich, dass der äußerste Osten Südamerikas, das spätere Brasilien, portugiesisch wurde. Das ist auch deshalb erstaunlich, weil Alexander VI. persönlich mit Fernando befreundet (und außerdem Spanier) war. Welche Kräfte da am Werk waren, geht aus der Ausstellung nicht hervor.
Aus dem Vertrag ergaben sich später Streitigkeiten, da eine spanische legua nicht identisch mit einer portugiesischen war und es davon außerdem eine neue und eine alte Variante gab.
Ebenfalls interessant, dass keiner der Beteiligten jemals in Tordesillas war. Die Reyes Católicos waren in Medina del Campo, gar nicht weit von hier, der Papst vermutlich in Rom, und João, schon sehr krank, in Lissabon.
Man fragt sich, warum so ein Städtchen wie Tordesillas zu solch einer Ehre kam. Eine Erklärung dafür ist die Brücke über den Duero, die heute noch fast komplett intakt ist. Das Vorhandensein einer steinernen Brücke war Zeichen der Wichtigkeit des Ortes, der an der Kreuzung zweier Handelsstraßen lag.
Und so wurde Tordesillas wenig später nochmals Schauplatz einer Geschichte, die über Spanien hinaus Bedeutung hatte. Es war der Ort der langjährigen Gefangenschaft von Juana la Loca. Unten am Duero steht ihre Statue, mit einfach wirkender, aber eleganter Kleidung, die ein bisschen an ein Nonnengewand erinnert. Sie hat den Blick in die Ferne gerichtet. Die Krone liegt symbolträchtig zu ihren Füßen.
Das Gebäude, das mit ihr in Zusammenhang steht, ist das Convento de Santa Clara. Das besichtigt man bei einer Führung. Hier wird Spanisch gesprochen, Alternativen werden erst gar nicht angeboten. Die Führerin erledigt ihre Sache mit professionellem Ernst. Es gibt keine Anekdote, kaum mal ein kurioses Detail zur Auflockerung. Man ist schon froh über ein Abendmahl im Refektorium, in der zwei zusätzliche Figuren auftauchen: Diener. Sie bedienen die Apostel und schenken Wein ein und fahren Speisen auf.
Als man den ersten Raum betritt, eine Art Vestibül, traut man seinen Augen nicht. Das soll ein Kloster sein? Man kommt sich wie im Alcázar in Sevilla vor. Und das ist kein Zufall. Bevor das Gebäude zum Kloster wurde, war es Königspalast. Die ältesten Teile stammen aus der Zeit Pedros, des Erbauers des Alcázar.
Am schönsten ist die Decke der Kirche, In Gold, Blau und Weiß, mit 43 gotischen Porträts. Sie ist aus Holz, sieht aber nicht so aus.
Während der gesamten Führung wartet man gespannt auf eine Erwähnung Juanas. Sie kommt und kommt nicht. Wann gelangen wir endlich in den Bereich, in dem sie gefangen gehalten wurde? Die Auflösung kommt erst ganz am Ende, in der Seitenkapelle der Klosterkirche. Hier stand jahrzehntelang der Sarkophag Felipes, ihres Ehemanns. Juana kam täglich, um ihn zu sehen. Gewohnt hat sie hier aber nie. Das ist schon deshalb so gut wie unmöglich, weil das Kloster zu der Zeit schon bestand. Wo sie dann tatsächlich gewohnt hat, ist nicht bekannt, vermutlich in einem der Paläste, in denen heute die Museen und die Touristeninformation untergebracht sind, große, aber nüchterne Gebäude, bei denen man nicht unbedingt sofort an einen Palast denkt.
Als ich vor dem Aufbruch noch eine Kleinigkeit im Hotel esse, an der Theke der Bar, wird meine Einschätzung von Tordesillas hart auf die Probe gestellt. Der Mann hinter der Theke, der schon gestern beim Einchecken durch seine Geschäftigkeit und seine Gesprächigkeit aufgefallen war, ist ganz entsetzt, als ich frage, ob es denn überhaupt genug Nachfrage gebe für all die Hotels am Ort. Ja, natürlich, Tordesillas sei schließlich ein Ort von historischer Bedeutung, ein Ort, an dem Weltgeschichte geschrieben worden sei.
Ich mache mich auf den Weg. Von Kastilien geht es nach La Rioja mit seinen großen Wein- und Weizenfeldern. Erst am frühen Abend erreiche ich mein mein Ziel, San Millán de la Cogolla, in den Bergen gelegen. Dies ist der Ort des berühmten Doppelklosters, dem im Tal gelegenen Monasterio de Yuso und dem oberhalb gelegenen Monasterio de Suso. Das moderne Spanisch ist bei der Unterscheidung nicht zu gebrauchen. Die Namen gehen auf das Lateinische zurück, deorsum, ‘unten’ und sursum, ‘oben’.
18. Juli (Donnerstag)
Ein bewegter Tag steht mir bevor. Aber davon ahne ich noch nichts, als ich am Morgen zusammen mit anderen Besuchern in den Bus steige, der uns zum Monasterio de Suso bringt, dem oben gelegenen Kloster, in einer wilden Landschaft mit Eichenhainen und roten Felsen.
Dort befindet sich, in einer der geschichtliche Kern des Ortes, die Höhle des San Millán. Dem verdankt der Ort seine Existenz und seinen Namen (Millán = Emiliano). Millán, aus dem benachbarten Berceo stammend, lebte in dieser Höhle als Einsiedler und widmete sich dem Gebet. Er erreichte das biblische Alter von 101 Jahren und wurde bald darauf zu einem der ersten spanischen Heiligen.
Was man hier oben sieht, geht in seinem Kern auf die Zeit unmittelbar nach dem Tod des Heiligen 574 zurück. Danach wurden bis ins 11. Jahrhundert Veränderungen und Erweiterungen vorgenommen. Das Resultat ist kurios. Man steht in einer zweischiffigen Kirche mit einem Knick in der Säulenreihe. An einer Längsseite sind verschiedene Nischen. In einer von denen soll Millán gelebt haben, nachdem er die Höhle verlassen hatte. Es kamen dann weitere Einsiedler hinzu, die zunächst aber ohne Institutionen. Das änderte sich dann, es gab einen losen Zusammenschluss, und es wurde zwischen den Nischen ein schmaler Raum erschaffen für gelegentliche Zusammenkünfte. Diese Vorform eines Klosters nennt man cenobio. Erst dann entstand das eigentliche Kloster. Das wurde von allergrößter Bedeutung für die Entwicklung der spanischen Sprache. Aber von dem Kloster selbst ist nichts erhalten.
Man kann den Fortgang des Baus gut an den verschiedenen Bögen ablesen, westgotischen, romanischen, maurischen. Der Kern der Kirche ist ebenfalls eine Nische, eine Gebetsnische. Die war geostet, wie es sich gehört, aber bei dem Bau der späteren Kirche musste man auf das Terrain Rücksicht nehmen und verschob die Ausrichtung.
In einer der Nischen steht der Sarkophag Milláns, aus schwarzem Alabaster. Der Heilige ist so gestaltet, als würde er hier lebendig liegen. Er trägt Priesterkleidung: Alba, Kasel und Stola. Die hat er als Eremit in seiner Höhle wohl kaum getragen.
Dann geht es zurück und zur Besichtigung des Monasterio de Yuso. Eine Zeitlang müssen wohl beide Kloster gleichzeitig existiert haben, und zwar mit unterschiedlichen monastischen Ausrichtungen, aber was man hier unten sieht, stammt aus der Neuzeit.
Wir sehen einen doppelstöckigen Kreuzgang, der unvollendet geblieben ist, aus dem einfachen Grund, dass eine Seitenwand der Kirche eingestürzt war und man das Geld dafür verwenden musste.
Der prachtvollste Raum ist die Sakristei, der ehemalige Kapitelsaal. Die Fresken leuchten wie am ersten Tag, ohne jemals restauriert worden zu sein. Das liegt, wie die Führerin erklärt, am Boden. Der ist aus Alabaster und porös und sorgt damit für Luftzirkulation.
Die Kirche ist zweigeteilt, in einem Raum für die Mönche und einen für die Laien. In dem Raum für die Laien steht eine schön gestaltete Kanzel mit genauer Kennzeichnung der körperlichen Details in der Darstellung der Apostel. Bei Lukas sieht man die durch die Haltung der Feder hervortretenden Sehnen am Unterarm.
Das Altarbild zeigt, ohne Rücksicht auf historische Wahrheiten, einen San Millán als Maurentöter, auf dem Rücken eines weißen Pferdes mit Hörnern!
Beim Chorgestühl erklärt die Führerin, die Miserikordien dienten nicht nur der Bequemlichkeit, sondern seien auch, im Gegensatz zum Stuhl, dem Singen förderlich, da sich, wenn man sich an sie lehnt, die Milz nicht zuziehe.
Die Schätze des Museums, einerseits durch Napoleons Soldaten, andererseits durch örtliche Laien, die sich nach der Auflösung der Klöster hier bedienten, ohnehin reduziert, wurden später durch Verkäufe noch weiter verringert. Erhalten ist der originale Schrein, in dem der Leichnam San Milláns aufbewahrt wurde, nicht aber die Elfenbeitafeln, die ihn schmückten. An den Kopien kann man aber noch gut erkennen, wie fein sie gearbeitet waren.
Ebenfalls oben ist eine Ausstellung von Büchern untergebracht. Die wurden in Klöstern im allgemeinen möglichst weit von der Küche, einem ständigen Brandherd, aufbewahrt. Hier in der Ausstellung sieht man Materialien zur Buchproduktion, vor allem aber Kodizes und Chorbücher, die so groß sind, das sie aus der Entfernung gelesen werden können, wie von den Mönchen im Chorgestühl bei den Stundengebeten. Es scheint sich hier aber um neuzeitliche Kopien zu handeln.
Leider ist von der mittelalterlichen Schreibstube und ihren Erzeugnissen während der gesamten Führung nicht mehr die Rede gewesen. Erst am Ausgang, leicht zu übersehen, gibt es ein paar Hinweise, die eine Ahnung von der Bedeutung der Schreibstube geben. An dieser Schreibstube arbeitete unter anderem Gonzalo de Berceo, der, aus dem gleichen Ort wie Millán stammend, seine im 6. Jahrhundert auf Latein geschriebene Lebensgeschichte im 11. Jahrhundert ins Spanische übersetzte. Er gilt als der erste spanische Dichter. Daneben steht die Kopie der ersten Seite der Glosas Emilianenses. Sie stehen stellvertretend für die Zeit, als Latein nicht mehr ohne Weiteres verstanden wurde. Hier hat ein Student in einem lateinischen Text die Wörter unterstrichen, die er nicht verstand und an den Rand deren Übersetzung notiert – auf Spanisch und Baskisch. Das sind die ältesten erhaltenen Wörter in beiden Sprachen!
Von San Millán aus fahre ich zu David Morenos Weingut, ein paar Kilometer entfernt gelegen. Dort kann man auch ohne Führung durch die Weinkeller gehen. Es ist erstaunlich warm da drin, und als ich am Ausgang frage, warum, bekomme ich die einleuchtende Antwort: Das liegt an den Temperaturen. Auf dem Weg durch den Weinkeller, in dem ausschließlich Holzfässer stehen, erfährt man etwas etwas über den Unterschied zwischen französischen und amerikanischen Eichenholzfässern – die französischen sind langlebiger und teurer – und über die Bedeutung der Eisenringe für den Geschmack des Weins. Je nachdem, ob sie fester oder loser gezogen werden, ändern sie den Geschmack. Kann man sich kaum vorstellen.
Ich kaufe noch etwas Wein und packe ihn auch noch in den Kofferraum. Die brütende Hitze wird ihm wohl nicht bekommen.
Dann folgt eine Fahrt mit Hindernissen, die erst um zwei Uhr in der Früh in der Nähe in einem Motel in der Nähe von Toulouse endet: volle Straßen, volle Hotels, schlechte Wegweiser, ein leerer werdender Tank, eine ganze Strecke über die Landstraße ohne Bargeld, mit Hunger und Kopfschmerzen und am Ende, endlich auf der Autobahn angelangt, einem verlorenen Maut-Ticket.
19. Juli (Freitag)
Vom Motel hinter Toulouse fahre ich in einem Rutsch durch bis nach Valmalle, die Irrfahrt vom Vortag langsam gedanklich hinter mich lassend.
Im Radio höre ich an einem Vormittag so viele gute Sendungen wie in Portugal in sechs Monaten. Erst kommt ein Feature über Céline, dann eine Kunstsendung, dann eine kulinarische. In der Kunstsendung wird geltend gemacht, dass Picasso den Kubismus von Braque geklaut habe (piqué) und trotzdem den Ruhm dafür eingeheimst habe.
Interessante Hörverständniserfahrung: Obwohl ich oft den Zusammenhang nicht verstehe, kann ich die gesprochenen Wörter einzeln fast alle identifizieren, ganz anders als im Portugiesischen. Da ist es eher umgekehrt.
Auch in den Cevennen ist Ferienbetrieb, und wie! In Autuse finde ich keinen Parkplatz für eine Pause und in Saint Jean du Gard auch nicht. Und dennoch kommt man zwischen den verschiedenen Orten immer wieder durch Gegenden, die viel einsamer sind als die in Mittelportugal.
Außerhalb von Autuse mache ich kurz Halt bei Lidl gemacht, der sich auch in Frankreich immer mehr durchsetzt, allerdings, Jorge zufolge, nur auf dem Land, in den Gegenden, in denen ein großer Parkplatz angeboten werden kann und die Kunden mit dem Auto zum Kauf fahren können.
Kurz danach gibt es einen Hinweis auf eine bevorstehende Straßensperrung: In ein paar Tagen führt die Tour de France durch Autuse.
Dann kommen die berüchtigten 87 Kurven. Die entgegenkommenden Autos scheinen sich nicht daran zu stören. Ganz unten sind Straßenarbeiter damit beschäftigt, einen rotkörnigen Sand auf die Fahrbahn zu kippen. Die Spur zieht sich mehrere Kilometer nach oben hin. Welchen Zweck das hat, ist nicht klar.
Von Saint Étienne la Vallée Française aus müsste es mir eigentlich ein Leichtes sein, den Weg zu finden, aber zwischendurch kommen immer wieder Zweifel, ob ich richtig bin. Am Ende klappt es aber doch. Schön, mal wieder in Valmalle zu sein.
20. Juli (Samstag)
Die räuberische Katze hat sich unbemerkt in die Küche geschlichen und ein riesiges Stück Käse, aus Spanien als Gastgeschenk mitgebracht, entführt. Sie hat ganz schön daran herumgeknabbert, als Jorge sie dabei erwischt.
Ich bekomme eine instruktive Vorführung der Veränderungen, die seit meinem letzten Besuch um das Haus herum vorgenommen worden sind und werde in die wirklich bemerkenswerten Pläne für die Zukunft eingeweiht.
21. Juli (Sonntag)
Nach 15.000 Kilometern während der gesamten Zeit, 2.500 Kilometern auf dem Hinweg und einem Husarenritt von 900 Kilometern am letzten Tag geht das Projekt Portugal zu Ende.