18. Dezember (Montag)
Als ich nach einer komplizierten Anreise endlich bei der Unterkunft vor der Haustür stehe, macht keiner auf. Ich klingele nochmal – nichts. Dann merke ich, dass die Haustür offensteht. Durch den dunklen Hausflur – der vermeintliche Lichtschalter ist der Türöffner – kämpfe ich mich bis zum Aufzug rauf und fahre in den dritten Stock. Um die Eingangstür herum alle möglichen Schilder und Bilder, mit netten Sprüchen, die keinem wehtun. Ich klingele – nichts. Ich klingele nochmal – wieder nichts. Dann klopfe ich an die Tür. Auch nichts. Ich hole mein Handy raus und sehe, dass die Vermieterin, Thamarita, mir eine Nachricht geschickt hat. Neben der Tür hängt eine Box. Die öffnet man mit einem Code, und darin befindet sich ein Schlüssel. Eigentlich sollten es zwei sein, aber egal. Ich komme rein. Etwas Licht kommt von einem kleinen Weihnachtsbaum mit bunten Lichtern. Ein größeres Wohnzimmer, eine gut eingerichtete Küche und ein Flur mit mehreren Zimmern. Meins steht auf. Es ist winzig, aber hat eine kleine Schreibplatte und ein paar kleinere Regalfächer, in die erstaunlich viel Kleidung passt. Auf dem Bett liegt ein vollständiger Schlüsselbund.
Auch in der Wohnung überall Bilder und Aussprüche, in meinem Zimmer mehrere Selbstporträts mit Zitaten von Frieda Kahlo. In dem Regalfach neben der Kleidung liegen ein paar Bücher, meist Biographien: Johanna die Wahnsinnige, Marie Antoinette, Katharina die Große. Wohl nicht zufällig lauter Frauen.
In der Küche Kühlschrankmagneten aus aller Welt.
Das kleine Bad hat ein sehr schönes verziertes Wasserbecken aus Keramik und eine ebenso schöne Umrandung des Spiegels, ebenfalls aus Keramik. Auch der Boden ist gefliest. Die Wasserhähne sind aus Kupfer. Das WC und die Dusche passen nicht dazu, beide müssen viel später eingebaut worden sein.
Ich bin erleichtert, dass am Ende doch alles geklappt hat, aber eigentlich hatten wir abgemacht, dass Thamarita hier sein würde. Und als ich vom Flughafen aus schrieb, dass wir Verspätung haben, hieß es noch: Kein Problem. Am Flughafen war ich durch die Dunkelheit geirrt, auf der Suche nach dem Stadtbus. Einmal bin ich nach oben, dann wieder nach unten geschickt worden. Die Haltestelle ist nicht so leicht zu finden. Hier ist alles auf den organisierten Tourismus ausgerichtet. Man kommt leichter nach Torremolinos als nach Málaga.
Am Ende finde ich aber die Haltestelle. Ja, sagt der freundliche Busfahrer, als er im zweiten Anlauf meine Frage versteht – ich soll am Mercado de Huelin aussteigen – da fährt er hin, und ja, ich kann hier die Fahrkarte kaufen, und ja, man kann bar bezahlen und ja, die Haltestellen werden angesagt. Alles bestens. Und die Fahrt dauert gar nicht besonders lange.
Von der Haltestelle aus kann man gut zu Fuß in die Héroe de Sostoa kommen, eine größere Straße, die wohl auch Richtung Stadtzentrum führt. Das dürfte so zwei Kilometer von hier entfernt sein.
Es dürfte so um die 10° sein, weit entfernt von den angekündigten Sommertemperaturen, aber eine Wohltat nach der schneidenden Kälte in Luxemburg heute Morgen.
Ich betrachte mich glücklich, in Spanien zu sein. Obwohl es schon nach neun Uhr ist, hat noch eine Apotheke geöffnet und ein kleiner Markt. Tablette und Wasser, was will man mehr?
Als ich im Bett liege, höre ich, dass die Wohnungstür aufgeht und jemand hereinkommt. Ob die anderen Zimmer auch vermietet sind? Oder ob das Thamarita ist? Spuren von Bewohnern gibt es weder im Wohnzimmer noch in der Küche.
19. Dezember (Dienstag)
Als ich um fünf Uhr kurz raus muss, stehe ich völlig verwirrt in dem engen Flur. Alle Türen sind geschlossen, welche davon ins Wohnzimmer führt, weiß ich nicht. Will aber auch nirgendwo die Klinke runterdrücken. Könnte ja ein Zimmer sein. Das Bad ist gleich gegenüber, aber auch das sieht jetzt anders aus als vorher. War da nicht ein Knauf, mit dem man die Tür öffnen kann? Jetzt ist er weg. Ist da was kaputt gegangen? Die Tür ist verschlossen. Ich versuche, den Drehmechanismus ohne Knauf zu öffnen, aber es geht nicht. Man hört nichts, das Bad scheint nicht benutzt zu sein. Oder vielleicht doch? Ich gehe ins Zimmer zurück und versuche es nach fünf Minuten noch mal. Wieder dasselbe Ergebnis. Ich klopfe und frage, ob jemand drin ist. Keine Reaktion. Ich versuche, die Tür einfach aufzustoßen. Sie gibt etwas nach, aber auf geht sie nicht.
In Windeseile ziehe ich mich an, stecke Schlüssel und Handy in die Tasche und mache mich auf die Suche nach einem Park. Schon nach ein paar Metern komme ich, noch auf der Héroe de Sostoa, an einer Bar vorbei, erleuchtet, das Gitter halb heruntergelassen. Ich bin schon fast vorüber, drehe mich dann noch einmal um und frage einen Raucher, der vor der Bar steht, ob hier schon geöffnet sei. Ja, einen Kaffee könne man wohl bekommen. Ich gehe rein und stelle dem Wirt dieselbe Frage. Halb geöffnet, sagt er. Aber einen Kaffee könne ich bekommen. Ich bestelle und gehe schnurstracks zur Toilette. Die ist besetzt. Da nehme ich die Damentoilette nebenan.
Erleichtert gehe ich zum Tresen zurück. Da steht schon mein Kaffee. Der ist hervorragend. Der Wirt sagt, offiziell dürfe er erst um 6 Uhr öffnen, deshalb das halb runtergelassene Gitter. Als er den Preis für den Kaffee nennt, falle ich aus allen Wolken: 1,30 €. Er ahnt nicht, wie viel ich bezahlt hätte, allein, um die Toilette zu benutzen.
Ich gehe zurück und versuche noch mal mein Glück mit der Toilette. Wenn man dagegen drückt, scheint die Tür nachzugeben. Aber sie geht nicht auf. Dann – die Bewegung mache ich, ohne es richtig zu wollen – öffnet sie sich plötzlich. Man muss schieben statt zu drücken!
Als ich später aus dem Haus gehe, so gegen 10 Uhr, ist es kalt, gefühlt kälter als die 10°, die irgendwo angezeigt werden. Kälter als bei meinem ersten Besuch in Málaga vor fünf Jahren. Das war Ende November. Heute dominieren bei den Passanten Wollmützen, Schals, Steppjacken. Aber: Je weiter ich komme, umso wärmer wird es, und an der Marina angelangt, ist es frühlingshaft warm. Jetzt verbinden sich die Wollmützen mit Sonnenbrillen.
Ohne lange zu überlegen, gehe ich wieder in die Bar vom frühen Morgen, der Bar Puffi, zum Frühstücken. Der Mann, der vorher hinter der Theke war, ist jetzt in der Küche. Während ich warte, sehe ich mich in dem Lokal um: An der Wand ein Feuerlöscher und ein Erste-Hilfe-Kasten, ungenutzte Kleiderhaken, zwei große Wanduhren, ein Wandkalender von einem Transportunternehmen, ein Schild einer Brauerei mit Happy Hour, ein großes gerahmtes Photo vom Meer mit Felsbrocken. Vor einem Pfeiler ein einarmiger Bandit, von der Decke hängt ein riesiger Fernseher, den niemand beachtet, obwohl der Ton läuft. Hinter der Theke Schilder mit den Wappen des FC Málaga und von Real Madrid und Lose für die große Weihnachtslotterie. An der Wand ein Kühlschrank und ein großer, industrieller Gefrierschrank. Daneben aufgestapelte Bierkästen mit Leergut, Kartons mit Papiertischdecken, ein Teller mit Bananen, eine Schale mit Zitronen und ein Schnellkochtopf. Auf dem WC zwei zusammengeklappte Leitern, mit Farbe verschmiert.
Es sind fast nur Männer in der Bar, vor dem Tresen und an den Tischen. An meinem Nachbartisch liest jemand die unvermeidliche Sportzeitung: Alaba problema central lautet die Schlagzeile.
Der Wirt sagt mir, ich solle einfach die Héroe de Sostoa entlang gehen, dann käme ich ins Zentrum. Das tue ich.
Auf der anderen Straßenseite ein riesiger Lidl, auf dieser Seite etwas später Carrefour, sein französisches Pendant. Auf dieser Seite all möglichen Geschäfte, moderne mit großer Glasfassade und alte, die mit aller Art von Artikeln vollgestopft sind: kleine Märkte, Friseursalons, ein Pilates-Trainingszentrum, ein Handyladen, eine Metzgerei, in der das Fleisch halal ist. Hin und wieder herabgelassene Gitter mit buntem Graffiti vor offensichtlich aufgegebenen Geschäften. Schon näher am Zentrum gibt es ein Geschäft mit Lebensmitteln mit kunsthandwerklicher Herstellung. Entsprechend modernisiert die Schreibweise: Picnik.
Irgendwo sehe ich das Symbol der Metro. Die stand damals nach vielen Jahren der Uneinigkeit und der Zerwürfnisse kurz vor der Eröffnung. Jetzt scheint es wirklich zwei Linien zu geben. Die längere führt vom Zentrum aus am Bahnhof vorbei nach Westen, in das Gebiet von Universität, Klinik und ins Justizviertel. Kommt für mich wohl nicht in Frage.
Dann kommt Maria Zambrano, der Hauptbahnhof von Málaga. Das ist eine gute Nachricht. Der ist gerade mal zehn Minuten von der Unterkunft entfernt. Der Bahnhof ist in ein Einkaufszentrum integriert, wird sosehr von diesem beherrscht, dass man nach dem Bahnhof regelrecht suchen muss. Ich werde von Pontius nach Pilatus geschickt, dann stehe ich vor dem Informationszentrum. Man soll draußen warten. Drinnen ist nur ein Schalter besetzt, und die Abfertigung dauert unendlich lange. Dann lässt mir das Ehepaar vor mir in der Schlange den Vortritt. Das sieht schon besser aus. In dem Moment kommt ein junger Mann, geht einfach an uns vorbei in das Informationszentrum hinein. Gerade jetzt nimmt die zweite Angestellte ihre Arbeit auf. Er kommt sofort an die Reihe. Wir schütteln alle drei den Kopf: ¡Qué cara!
Dann taucht aus dem Nichts eine uniformierte Angestellte vor mir auf und fragt, ob sie mir helfen könne. Ja, gerne. Zum Caminito del Rey. Da müsse ich von hier zur Station El Chorro fahren, die Tickets soll ich im Internet kaufen. Aber auf der Strecke habe es einen Unfall gegeben, und die sei momentan gesperrt. Ich solle das mal im Internet weiter verfolgen.
Also gehe ich meines Weges. Der Himmel ist wolkenlos, und ganz oben schweben weiße Vögel über uns, Möwen vermutlich, aber der größeren Art.
Dann geht es über die Puente de la Misericordia über den Guadalmedina, einen fast ausgetrockneten Fluss. Wassermangel ist in Andalusien bestimmt ein Thema.
Auf der anderen Seite des Flusses beginnt schon die historische Altstadt. Bald komme ich in die Fußgängerzone. Auf dem schmalen Balkon eines altehrwürdigen Hauses steht oben eine Frau mit Kaffee und Zigarette. Das wäre ein Motiv für einen Maler.
Eine größere Straße ist von hohen Palmen gesäumt. Man hört Schreie von papageienartigen Vögeln. Zu sehen bekommt man sie nicht. Auf dem Rückweg sitzt einer auf einem Ast und lässt sich betrachten. Nicht groß genug für einen Papagei, zu groß für einen Wellensittig.
Am Ende der Straße sehe ich den Mercado de Atarazanas, mit seinem charakteristischen Dach mit glänzenden Kacheln, seinem Eingang mit Hufeisenbogen und der großen Darstellung von Málaga in dem bunten Fenster am Ende des Ganges. Den habe ich noch gut von dem letzten Besuch in Erinnerung.
Auf einem Platz ein mehrstöckiges altes Haus, auf dessen Balkonen allerlei Teddybären stehen. An den schmiedeeisernen Gittern hängen verpackte Weihnachtsgeschenke.
An der Larios-Statue geht es vorbei, am Eingang zur Calle Larios, der kerzengeraden Hauptstraße Málagas. Ich gehe aber in die andere Richtung, zur Marina, zur Touristeninformation. Das Mädchen am Schalter versorgt mich mit allem Nötigen, Stadtplänen, Öffnungszeiten, Vorschlägen. Besonders legt sie mir das Málaga-Museum ans Herz, von der Steinzeit bis zu Picasso. Da hat sie mich schnell überzeugt. Sie verabschiedet mich mit einem Lächeln – „Ha sido un placer“ – und schickt mich auf die andere Seite, in die Touristeninformation für die Provinz, in einem stattlichen Palast untergebracht. Hier berät mich eine ältere Dame, auch sie sehr freundlich und geduldig. Das mit dem Caminito del Rey erweist sich als schwierig. Man muss Fahrkarte und Eintrittskarte vorher im Internet reservieren und die beiden Zeiten miteinander koordinieren. Dabei muss man die Fahrtzeit bis El Chorro berücksichtigen, dann aber auch noch die Fahrt mit dem Bus vom Ausgang der Schlucht bis zum Eingang, und dann die Länge der Wanderung, um die richtige Zeit für die Rückfahrt zu buchen. Dazu kommt, dass die Karten oft ausverkauft sind. Bus? Da winkt sie ab. Kann man vergessen. Da ist man den ganzen Tag unterwegs, nur um dorthin zu kommen. Taxi zu teuer, Auto habe ich nicht. Immerhin druckt mir ihre Kollegin am Ende den Fahrplan für den Zug aus.
Die Frau spricht mit ceceo, dem Gegenstück zu dem sonstigen andalusischen (und amerikanischen) seseo: Sie sagt máz o menoz und lucez. Wenn man in Madrid sencillo und in Buenos Aires sensillo sagt, würde sie cencillo sagen. Ich muss mich anstrengen, um auf das zu achten, was sie sagt, so sehr bin ich damit beschäftigt, darauf zu achten, wie sie es sagt.
Als Alternative zum Caminito del Rey empfiehlt mir die Frau eine Fahrt nach Nerja mit einem Abstecher nach Frigiliana. Da kann man mit dem Bus hinfahren. Der fahre gleich hier vorne ab, am Kai, sagt sie. Ich bedanke mich und gehe gleich dorthin. Auf dem Weg fällt mir ein Baum mit einem kürbisartigen Stamm auf. Was das wohl ist?
Am Kai gibt es eine ganze Reihe von Fahrkartenbüdchen, jede von einem anderen Busunternehmen betrieben. An einem erhalte ich einen Zettel mit dem Fahrplan für Nerja. Das sieht gut aus, die Busse fahren alle Nase lang.
Genug der Organisation. Ich gehe ein Stück die Uferpromenade entlang. Hier ist alles weiß, die Kreuzfahrschiffe, der Leuchtturm an einer Einfahrt in den Hafen, die Gitter, das moderne, auf Stützen stehende Verwaltungsgebäude der Provinz und die wunderbar geschwungene hohe Pergola, die sich die ganze Uferpromenade entlang zieht und Licht und Schatten gleichzeitig spendet.
Neben dem Kai, auf dem der Leuchtturm steht und dem gegenüberliegenden mit Lastkränen blickt man kurz auf das offene Meer hinaus. Den Spaziergang am Strand entlang habe ich noch in guter Erinnerung. Da steht eine Wiederholung auf dem Programm.
Auf dem Rückweg lasse ich mich treiben und komme durch ein anderes Viertel: Fahrradverleih, Segway, die Bar Er Pichi de Cái. Keine Ahnung, was das bedeutet, ist wohl andalusisch. Dann kommt ein Optiker, in dessen Schaufenster steht: Te queremos viendo bien, wohl ein Wortspiel mit sehen und aussehen.
Dann kommt eine Fußgängerzone, die Soho heißt. Dort gehe ich in ein Café an der Ecke und bestelle chocolate con churros. Erst kommt es zu einem Missverständnis, aber das klärt sich auf. Während ich warte, sehe ich mich in dem Raum um: Zwei stilvolle Wanduhren. Auf der einen ist es halb acht, auf der anderen zwanzig nach acht. Tatsächlich ist es Viertel nach zwölf.
Am Nebentisch ein Afrikaner, der telefoniert, und das so tut, wie Afrikaner das eben tun: laut.
Dann kommen die churros. Die Schokolade ist so dickflüssig, dass man die churros reinstellen kann. Schmecken wunderbar. Kosten fünf Euro. Und sind jeden Cent wert.
Ich gehe weiter die schmale Straße hinunter, an einem Lokal vorbei, an dessen Eingang eine Schiefertafel mit einer Aufschrift steht. Ich bin schon vorbei, aber irgendwas ist da nicht ganz koscher. Wer wurde da angesprochen? Stand da Dear Liver? Habe ich richtig gelesen? Ja, das stand tatsächlich da: Dear liver, this month will be a rough one. Stay strong.
An einem Zebrastreifen sehe ich ein Auto mit dem Kennzeichen GBZ. Was ist das? Gibraltar! Das Kennzeichen hat aber einen Haken: Es hat noch das Wappen der EU.
Diesmal geht es über eine andere Brücke über den Guadalmedina, eine moderne Fußgängerbrücke. Vor der Brücke ist das Centro de Arte Contemporáneo, mit dem merkwürdigen Kürzel CAC.
Vor dem Museum eine moderne Statue, einen Mann darstellt, der sich mit einem merkwürdig gekrümmten Körper nach hinten umsieht. Schwer zu sagen, was für ein Material das ist. Sieht beinahe wie Pappmache aus. Unter der Statue spielen Schulkinder. Aber sie werden von einem Lehrer mit der Stimme einer Lehrerin zum Aufbruch gemahnt.
Auf der anderen Seite der Brücke, entlang einer größeren Straße, Orangenbäume, die voller Früchte hängen. Dann kommt die Taberna Regañaa, wohl auch eine Anspielung auf die andalusische Aussprache. Kurz darauf eine Art Änderungsschneiderei mit dem Namen El Dedal. Bei einer Radtour bin ich mal auf ihr deutsches Gegenstück gestoßen: Der Fingerhut.
Dann komme ich auf die Cuarteles, das ist gut, ich weiß inzwischen, dass sie in die Héroe de Sostoa übergeht. Hier sieht man ältere Herrschaften mit Rollator, in Spanien noch kein so gewöhnlicher Anblick. Die meisten sehen aber aus wie Einkaufswägelchen auf vier Rädern.
An einer Academia gibt es Kurse zur Vorbereitung auf die Oposiciones, die staatlichen Prüfungen für staatliche Posten. Hier geht es meist um Posten in der Verwaltung. Es sind eine ganze Menge ausgeschrieben, mehrere tausend für die Provinz Málaga alleine.
An dem Platz vor dem Bahnhof vor einem Brunnen vier Figuren, eine Skulptur, die Homenaje a la Familia Gálvez heißt. Dazu gibt es eine Bronzeplatte mit einer Erklärung, aber die Buchstaben sind verwittert, der Text ist nicht zu entziffern.
Dann sehe ich noch eine Wechselstube: 82 Währungen. Wir haben uns so an den Euro gewöhnt, dass wir die gar nicht mehr richtig auf der Rechnung haben. Aber es gibt die Tschechen, die Polen, die Schweden, ganz zu schweigen von den Japanern, den Russen und den Chinesen. Sie alle müssen Geld wechseln.
Zu Hause begnüge ich mich mit Essensresten von zu Hause und mitgebrachten Weihnachtsplätzchen, statt noch mal vor die Tür zu gehen. Ich gucke aber noch nach, um wen es sich bei dem Héroe de Sostoa handelt. Gemeint ist ein gewisser Tomás de Sostoa. Er stammte aus Uruguay, ließ sich aber in Málaga nieder, heiratete ein Malagüeña und bekam zehn Kinder mit ihr. Er war ein Held im doppelten Sinne: Er kämpfte in den spanischen Freiheitskämpfen gegen Napoleon und in den amerikanischen gegen England.
20. Dezember (Mittwoch)
Die Vermieterin, Thamarita, ist bisher noch nicht aufgetaucht. Dafür ist am Abend zweimal eine andere Frau so gut wie grußlos durch das Wohnzimmer gehuscht. Wohl eine weitere Mieterin.
Ich sehe mal in der spanischen Fußballtabelle nach. Immer noch steht Girona, die Überraschungsmannschaft der Saison, ganz vorne, vor Real Madrid. Und Málaga? Sind gar nicht mehr in der Primera División. Und in der Segunda auch nicht. Sie sind in der zweigeteilten Tercera, die jetzt Primera Federación heißt. Stehen auf einem Relegationsplatz für den Aufstieg.
Museen gibt es in Málaga reichlich. Neben den großen Kunstmuseen (darunter Carmen Thyssen, Picasso und Centre Pompidou) gibt es ein Weinmuseum, ein Glasmuseum, ein Museum zu den Traditionen der Semana Santa, ein Flamencomuseum, ein Flugzeugmuseum, ein Museum des Automobils und der Mode (!), ein Museum der Imagination (was mag das wohl sein?), das Museum des FC Málaga, ein Musikmuseum, die Museen verschiedener Brüderschaften und das Dommuseum, ganz abgesehen vom Römischen Theater, von der Burg und von der Archäologischen Ausgrabungsstätte. Man muss länger bleiben oder wiederkommen, um das alles zu sehen.
Einen Besuch wert wäre auch das Haus von Gerald Brenan, dem britischen Schriftsteller und Spanienkenner, dessen Grab ich bei der ersten Reise auf dem Protestantischen Friedhof gesehen habe. Sein Buch über den Spanischen Bürgerkrieg gilt als eins der besten, auch dadurch, dass er nicht Partei bezieht. Leider ist das Haus ein ganzes Stück außerhalb des Zentrums.
Heute geht es erst einmal in die Russische Kunstsammlung. Der Weg dahin führt die Straße runter in die umgekehrte Richtung. Es ist 10°, aber es fühlt sich viel kälter an, es weht ein eisiger Wind. Der ist so stark, dass er an der Bar América ein Fahrrad umgeworfen hat und eins der Reklameschilder, in denen auf besondere Angebote des Lokals hingewiesen wird. Dadurch, dass es umgefallen ist, achte ich darauf, was da drauf steht: Am 25. Dezember und am 1. Januar vormittags geöffnet! Ich werde also nicht verhungern.
Zum Frühstück gehe ich in die nächstbeste Bar. Typisch spanische Einrichtung: schwere, quadratische, relativ hohe Holztische, dazu passende Stühle. Alles in Schwarz. Die Bar ist viel aufgeräumter, gepflegter als die Bar Puffi. Der Kaffee ist hervorragend, der Toast, der hier sandwich heißt, ist nicht so toll.
Es geht die breite Calle Princesa hinunter, mit hässlichen Hochhäusern auf der einen und schönen, irgendwie kolonial aussehenden Wohnhäusern auf der anderen Seite. Die Sonne steht über dem Wasser und strahlt, ich gehe direkt auf sie zu und muss mir die Hand vor die Augen halten, um nicht geblendet zu werden.
Bei zwei Seitenstraßen muss ich Vokabeln wiederholen: Hoz und Navas, denn hoz, haz und faz habe ich immer gerne verwechselt. Aber da liege ich richtig, hoz bedeutet ‚Sichel‘. Bei nava habe ich keine Chance. Es bedeutet ‚Senke‘.
Am Ende der Princesa ist man schon am Meer. Ich habe jetzt den Leuchtturm und den Kai von gestern links von mir, und vor mir ist direkt das offene Meer, mit den Sonnenstrahlen, die sich im Wasser brechen. Hab schon unschönere Dinge gesehen.
An der Uferpromenade entlang hat man einen zweispurigen Radweg angelegt. Der wird aber meist von E-Rollern benutzt. Auch in der Stadt gibt es an verschiedenen Stellen Radwege.
Die Colección de Arte Ruso befindet sich in einem der Gebäude der ehemaligen Tabakfabrik, einem größeren Ensemble von Gebäuden im Neomudéjar-Stil (mit ein paar anderen, neueren, die diesem Stil angepasst sind), ein großes Gelände, auf dem auch das Automobilmuseum untergebracht ist und eine Dependance des Stadtverwaltung.
An den Hausecken und an den Fenstereinfassungen ist die Fassade mit Backsteinen verkleidet und bildet damit einen Kontrast zu dem weißen Hintergrund. Die einzelnen Friese sind mit Glaskeramiksteinen gestaltet. Auf den Dächern Terrassen mit Pyramiden an den Enden, die von einer Kugel bekrönt werden. Man kommt sich wie in Sevilla vor.
Innen ist das Museum erstaunlich modern, mit hellen, weißen Räumen und Pfeilern und einer Rolltreppe, die nach oben in die Sammlung führt. Ich bin der einzige Besucher, und daran ändert sich auch nichts im Laufe des Vormittags.
Hier ist alles dreisprachig, von den Titeln der Bilder bis zu den Wegweisern zur Toilette.
Die Sammlung, die russische Kunst aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts umfasst, ist von einem spanischen Bankier und Unternehmer, Vorstandsmitglied in verschiedenen Stiftungen, zusammengetragen worden. Sie ist ziemlich groß. Ich kenne keinen der Maler mit Namen, aber es gibt wirklich sehenswerte Bilder.
Im ersten Saal unterscheidet sich ein Bild von einem Maler namens Bogotevski von allen anderen, die „schöner“, lieblicher sind, ein eingeschneites russisches Dorf mit einem Mann im Vordergrund, der etwas auf einen Pferdekarren lädt, bunte Boote an einer Bucht, ein buntes russisches Dorf außerhalb Moskaus mit Häusern, die wie Datschas aussehen, ein wunderbarer Winterabend im Zwielicht. Da kann man sich fast mit dem Winter anfreunden. Der Bogotevski ist anders. Seine Felsen am Meer sehen wir Skulpturen aus, die gleichförmigen Sterne am blauen (!) Himmel unnatürlich leuchtend.
Im nächsten Saal ein Bild, das unterschiedlich nicht sein könnte, ein Porträt Suchanows, von einem Maler namens Annikov, in helleren und dunkleren Grautönen. Sieht wie eine Zeichnung aus, ist aber wohl ein Gemälde. Suchanow blickt selbstsicher und irgendwie herausfordernd zur Seite, vom Betrachter weg. Im Hintergrund lauter angedeutete Figuren von Bauern, Matrosen und mit Bajonetten bewaffneten Soldaten. Die individualisierten Gesichtszüge von Suchanow unterscheiden sich von den anonymisierten der Soldaten. Suchanow war ein Verfechter der Russischen Revolution, geriet aber in deren Mühlen und starb durch ein Erschießungskommando in der Stalin-Zeit.
Der Titel eines Bilds von Boris Anisfeld lautet España. Würde man nicht drauf kommen. Anisfeld war ein Freund und Bewunderer Spaniens, aber das Bild ist nicht unbedingt schmeichelhaft. Vorne schwarz vermummte Gestalten, Frauen in langen Gewändern und berittene Soldaten, alle so gut wie gesichtslos. Die Pferde auch dunkel, nur schemenhaft zu erkennen, eines streckt seinen feuerroten Hintern dem Betrachter entgegen. Ganz im Hintergrund, golden leuchtend, die Silhouette einer Stadt, mit aufgetürmten Gebäuden, an die klassischen Darstellungen von Toledo erinnernd.
Filipp Maljawin, auch ein exilierter Maler, mit einer großen Liebe zu seiner Heimat und deren Landleben, stellt eine bunt gewandete Frau dar, vor einem ockerfarbigen Wald im Hintergrund. Die Frau hat einen Arm hinter den Kopf geworfen, den beugt sie leicht nach hinten, und mit einer Hand hält sie sich den Mund zu. Das Bild heißt Risa Reprimida – Unterdrücktes Lachen. Das wird hier positiv interpretiert, die Freude der Landleute ausdrückend. Auf mich macht es einen ganz anderen Eindruck, eher bedrückend. Da hält sich jemand den Mund zu, um sich nicht den Mund zu verbrennen.
Dann kommt das Bild, das mir am meisten Eindruck macht, eine US-amerikanische Autobahn in den dreißiger Jahren darstellend, von einem Alexander Deineka. Der Titel ist irreführend, es ist keine Autobahn, es ist eine Landstraße. Die schlängelt sich durch die einsame Gegend, führt auf und ab und verschwindet oben am Horizont. Die malerischen Mittel sind sehr reduziert, einfache Formen und abgetönte Farben dominieren. Die Landschaft ist gelblich-braun, die Straße wird flankiert von schwarzen Strommasten und einem verdorrten schwarzen Baum, an der Seite ein paar Häuschen, auch in der Form nur angedeutet, genauso wie die wenigen Autos, die sich in großem Abstand zueinander durch die Gegend winden. Wieder ist die Interpretation hier positiv, die amerikanische Gesellschaft mit dem New Deal und die russische Gesellschaft nach der Russischen Revolution führen in eine glücklichere Zukunft. Mir scheint die Straße eher ins Ungewisse zu führen, das Bild eher eine Metapher für das Leben zu sein.
Eine Malerin, Ljubow Popowa, die Picasso und Braque und Leger kannte und sich daraufhin dem Kubismus verschrieb, ist hier mit einem Bild vertreten, das man auf den ersten Blick als kubistisch erkennt. Es sind einfache Formen – blau, grün, braun – die übereinander und nebeneinander liegen, ein Dreieck, ein Halbmond, ein Quadrat, ein Trapez. Man kann sie nicht zu einem Gegenstand zusammenfügen, sie sind einfach nur Formen. Deutlich erkennbar ist aber die Dreidimensionalität.
Es kommen Aquarelle und Photographien mit den unterschiedlichsten Motiven. Bei den Aquarellen hat man manchmal den Eindruck, eine Mosellandschaft zu sehen, aber es sind dann die Bretagne oder die Loire.
Die beiden letzten Bilder, die ich mir ansehe, stammen von einem katalanischen und einem italienischen Maler, Joaquim Mir und Pietro Ruffo. Mirs Sujet ist das nächtliche Mallorca, aber es gibt nichts, was darauf hindeutet. Die Szene könnte überall sein. Das Bild zieht einen an, weil es wie verschwommen aussieht, so, wie manchmal Photographien sind. Man erkennt auf den ersten Blick nichts. Dunkles Grün und Schwarz dominieren. Aus etwas Distanz erkennt man dann Felsen und Bäume. Obwohl es dunkel ist, ist die Dunkelheit nicht total, aber wie das gemacht ist, kann ich nicht erkennen. Das Bild wirkt wie von einem Impressionisten, der den Impressionismus leid ist.
Das letzte, großformatige Bild ist ein einziges Rätsel. Es stellt Hegel dar. Wenn man nahe herangeht, sieht man, dass nur das Haar, die Augen und der Kragen gemalt sind, und zwar aufgetragen auf eine Landkarte des Deutschen Reichs (vermutlich aus der Zeit Hegels). Die Backen, die Stirn, die Nase ergeben sich aus dem Profil der Landkarte. Verrückt! Aber das ist noch nicht alles. Die Landkarte ist in vier Teile zerschnitten, die etwas getrennt voneinander angebracht sind, woraus sich ein senkrechter und ein waagerechter Mittelstreifen ergeben. Eine Anspielung auf Hegels Philosophie? Dann gibt es noch eine Besonderheit. Unter dem Kinn ist die Landkarte ausgestochen und stellt die Fliege da, die Hegel trägt. Obwohl es von weitem wie eine Fliege aussieht, ist es tatsächlich eine Libelle. Und diese Libelle wiederholt sich ganz regelmäßig auf dem ganzen Bild, neun mal neun Mal. Ein Rätsel, aber ein Hingucker.
Als ich aus dem Museum herauskomme, ist die Temperatur auf sagenhaft 11° gestiegen, und es fühlt sich wirklich etwas wärmer an. Und das, obwohl der Wind weiterhin sein Unwesen treibt. Die Reklameschilder der Bar América sind jetzt alle umgefallen.
Die meisten Ampeln haben einen Sekundenzähler. Man hat relativ viel Zeit, um die Straße zu überqueren, muss aber auch meist lange warten. Das tun die meisten auch ganz brav, aber wenn die Straße ganz frei ist und weit und breit kein Auto kommt, geht man vernünftigerweise auch bei Rot rüber.
Auch hier gibt es alle Nasen lang Nagelstudios. Da kann man sich für viel Geld künstliche Fingernägel anbringen lassen, die einen dann im Alltag behindern.
Die kleinen Märkte, die es hier in rauen Mengen gibt, werden entweder von Arabern oder von Chinesen betrieben. Ich suche nach schwarzem Tee. In der Wohnung gibt Kräutertees in den verrücktesten Variationen und Kombinationen. Aber ich habe kein Glück. Schwarzen Tee gibt es nirgendwo. Die Chinesen haben es schwer mit der Frage und der Antwort, denn sowohl in negro als auch in verde kommt ein r vor. Nachdem ich fünfmal ein Nein bekommen habe („Sólo verde“) gebe ich mich geschlagen und versuche bei Lidl mein Glück. Wieder dieselbe Geschichte. Kräutertees in allen Varianten, kein schwarzer Tee. Aber hier bekomme ich frische Milch. Das Obst kaufe ich dann aber doch bei dem Araber: Apfelsinen und ein Obst, das ich nicht kenne: persimón, ebenfalls rund und groß wie eine Apfelsine, rötlich, aber mit glatter Schale. Die Frau hinter der Theke, die vorher mit ihrem Mann Arabisch gesprochen hat, erklärt mir in perfektem Spanisch, wie man die ist und dass sie Ähnlichkeit mit Khaki hat.
Ich gehe, schon aus Dankbarkeit, wieder in die Bar Puffi, um etwas zu essen. Der Mann hinter der Theke rasselt die verschiedenen Namen der Gerichte herunter und deutet dabei auf die Schüsseln unter der Glasverdeckung. So schnell komme ich nicht mit. Ich stoppe ihn, als ich das Wort sangre höre. Habe ich richtig gehört? Blut? Ja, so ist es. Es dauert ein Weilchen, bis wir das ausgehandelt haben. Es ist Fleisch von Hähnchen, in Stücken, sieht wie Nierchen aus und schmeckt wie Leber, ist aber wirklich Blut, also geronnenes Blut, wie bei der Blutwurst. Schmeckt aber ganz anders. Dazu gibt es ein gut schmeckendes, frisch gezapftes Cruzcampo.
Als ich in die Wohnung komme, stolpere ich fast über einen Müllbeutel. Hier wird reingemacht. Es ist Thamarita, die Vermieterin, sehr freundlich, sehr gesprächig und nicht so püppchenhaft, wie sie auf den Photos aussieht. Es stellt sich heraus, dass sie Argentinierin ist, aus der Provinz Mendoza. Da kann ich natürlich gleich mitreden, ihr erzählen, dass ich in Argentinien gewesen bin und in Trier eine argentinische Bekannte habe.
Sie muss meinen Pass kontrollieren und die Angaben irgendwo eingeben und benötigt eine Unterschrift. Das geht alles elektronisch, sie macht das zack-zack mit dem Handy.
Die Wohnung, erklärt sie, habe drei Bäder. Zwei gehören zu je einem Zimmer, ich teile mir eins mit der spukhaften Frau, die gestern durch die Wohnung gehuscht ist. Sie selbst, Thamarita, wohnt nicht hier, aber gleich nebenan. Ich könne sie jederzeit kontaktieren, wenn ich etwas bräuchte. Mit dem schwarzen Tee kann sie mir aber auch nicht weiterhelfen.
21. Dezember (Donnerstag)
Ein unglaublich langwieriges, kompliziertes Verfahren zur Reservierung einer Eintrittskarte für den Caminito del Rey hat mir gestern Abend den Schweiß auf die Stirn gebracht. Mindestens zweimal war ich drauf und dran, aufzugeben, aber am Ende hat es geklappt.
Als Entschädigung dafür einen wunderbaren Link bekommen mit der Erklärung einer deutschen Redewendung: Iss den Teller leer, dann gibt es morgen gutes Wetter. Immer schon rätselhaft gewesen, warum sollte ein leerer Teller für gutes Wetter sorgen. Und was war, wenn der eine den Teller leer machte und der andere nicht? Berechtigte Fragen, denn eigentlich ging es gar nicht um das Wetter: Die plattdeutsche Version lautete: Et dien Töller leddig, dann givt dat morgen goods wedder. Bei der Übersetzung lief was schief, denn wedder bedeutete nicht ‚Wetter‘, sondern ‚wieder‘. Also: Wenn man den Teller leermachte, dann gab es am nächsten Tag wieder was Gutes!
Inzwischen komme ich mit den Wochentagen durcheinander und muss im Kalender nachgucken, ob heute Mittwoch oder Donnerstag ist.
Beim Durchwühlen von Thamaritas Dosen in der Küche stoße ich auf einen Teebeutel ohne Etikett. Ich versuche es auf gut Glück – es ist schwarzer Tee.
Heute geht es nach Nerja. Ich wähle den Weg an der Uferpromeade entlang statt durch die Innenstadt. Keine gute Idee, der Weg zieht sich in die Länge und vom Meer sieht man nichts, da überall Tanks oder Warenlager den gut angelegten Weg vom Ufer trennen.
Plötzlich ein wilder Schwarm von Vögel, alle wild durcheinander fliegend, wahrscheinlich Hunderte, mit weißlichem Gefieder, aber zu klein für Möwen.
An der Abfahrtstelle gibt es viel Durcheinander wegen der verschiedenen Busunternehmen. Es gibt fast niemanden, der durch Fragen sich noch mal rückversichert.
Dann kommt nach einiger Wartezeit unser Bus. Drinnen eine ganze Truppe von jungen Asiatinnen, vermutlich Japanerinnen, alle schmächtig, alle still wie in der Messe.
Wir fahren durch die Außenbezirke. In einer Eckkneipe hat El Palo seinen Sitz, ein Fanclub von Real Madrid. Scheint hier beliebter zu sein als der FC Barcelona.
Dann geht es auf die Autobahn und wir kommen zügig voran. Nerja liegt am äußersten östlichen Rand der Provinz Málaga. Torremolinos und Marbella liegen in umgekehrter Richtung, nach Westen. Unsere Autobahn geht nach Almería. Der Name deutet auf die Mauren hin. Almería enthält, genauso wie die Alhambra von Granada und der Mercado de Atarazanas von Málaga den arabischen Artikel al.
Nach einer Dreiviertelstunde erreichen wir Nerja. Das erste, was ich hier sehe, ist ein Lidl.
Es ist warm hier, die meisten tragen keine Jacke. Ich mache gleich einen Spaziergang durch den Ort, eine Kleinstadt mit unübersehbar touristischer Ausrichtung, mit all den typischen Souvenirläden, Boutiquen und Bistros. Nerja scheint auch ein wichtiges Ziel für Auswanderer zu sein. Es gibt ein deutsches Bestattungsunternehmen und einen schwedisches Immobilienunternehmen, beide in der Landesprache ausgeschildert (Fastighetsbyrån).
Das Ziel aller Spaziergänge und Spaziergänger ist der Balcón de Europa, eine auf einer Felsnase angelegte Terrasse, von der aus man direkt aufs Meer hinuntersieht. Weiße Gebäude rings herum, weiß sind auch der Boden und das Geländer. Auch die Kirche ist weiß. Sie ist dreischiffig mit einem kurzen Querschiff und hat eine schöne Artesanado-Decke, ganz in Schwarz. Es heißt, sie sei eine der wenigen Kirchen in der Welt, in der alle drei Erzengel dargestellt sind. Drei? Gab es nicht vier? Auf jeden Fall bin ich neugierig geworden. Es ist aber anders, als erwartet, sie sind nicht etwa zusammen, sondern getrennt dargestellt, Michael und Rafael als Skulpturen in den Seitenschiffen, Michael mit goldener Rüstung und Lanze, Rafael mit weißer Kleidung und einem Fisch und einem Wanderstab in der Hand. Gabriel ganz anders, auf einem etwas kitschigen Wandgemälde bei der Verkündigung.
Man erfährt, dass Rafael den Fisch in der Hand hält, weil er auf die heilenden Kräfte der Innereien des Fischs hinweist und dass der Wanderstab das Bild für die schwere Wanderung durch das Leben ist, auf dem Rafael uns begleitet.
Bemerkenswert die Erklärung zu Michael. Man glaubt, die biblische Erzählung habe folgenden physikalischen Hintergrund: Man hatte beobachtet, dass die Venus ihre angestammte Umlaufbahn verließ und mit ihrer Leuchtkraft in den Wettbewerb mit der Sonne trat. Sie schien die Sonne herausfordern zu wollen. Der Name der Venus war Luzifer – die Leuchtende! Am Ende verlor sie den Kampf gegen die Sonne.
Bei der Touristeninformation sagt mir der Mann, nicht genug Zeit für die Fahrt nach Frigiliana und den Besuch der Höhle. Ich solle lieber zu der Höhle fahren. Da fahre ein Zug hin. Er gibt mir eine Wegbeschreibung und einen Fahrplan.
Nerja ist nicht groß, aber groß genug, damit ich mich verlaufe. Immer wieder frage ich und suche verzweifelt nach Eisenbahnschienen. Mal werde ich in die eine, mal in die andere Richtung geschickt. Schließlich komme ich an Vater und Sohn. Die sind sich auch nicht einig. „Da hin“, „Nein, da hin!“. Am Ende setzt der Sohn sich durch. Ich gehe in diese Richtung und werde auf einmal von einer uniformierten Frau angesprochen, ob ich zur Höhle wolle. Ja, wo denn die Haltestelle sei. Hier? Hier, wie, hier? Es stellt sich heraus, dass mit Zug dieses unsägliche Bähnchen gemeint ist, das Touristen in aller Welt durch die Gegend fährt. Es wird ordentlich abkassiert: 21 €. All inclusive. Trotzdem teuer. Die Frau verdient bestimmt daran. Auf dem Rückweg sehe ich, dass eine Frau für eine einfache Fahrt gerade mal 4 € bezahlt. Alles einzeln zu lösen wäre billiger gewesen.
Wieder muss ich warten. Ich gehe zum Meer hinunter. Hier ist ein einsamer Platz, vom dem aus man auf das Meer hinunter sieht und auch auf den Hausstrand von Málaga. Da sitzen ein paar Leute am Strand, und zwei Wagemutige haben sich sogar ins Wasser gewagt.
Auf dem Platz, menschenleer im Unterschied zum Balcón de Europa, eine Säule, die aus 16 unterschiedlichen, aber gleichgroßen Steinblöcken besteht, jeder aus einem anderen europäischen Land und einer aus Nerja.
Das Bähnchen bringt uns nach einigen Verzögerungen zu der Höhle. Unterwegs gibt es aus dem plärrenden Lautsprecher spanische Weihnachtslieder, villancicos, von einem Kinderchor gesungen, mit flotten Rhythmen, wie man sie bei einem deutschen Weihnachtslied eher nicht findet.
Durch die Höhle geht man über asphaltierte Wege mit festen Geländern, es ist alles sehr bequem, geht aber Auf und Ab, und die Länge ist beachtlich. Überhaupt sind es die Dimensionen, die diese Höhle, vor ein paar Jahrzehnten zufällig von einigen Jungen entdeckt, ausmacht. Eine Galerie ist größer als die andere, breiter, höher, bis zu 30 Meter Höhe und 15 Meter Umfang bei einem der Pfeiler. Einige der Galerien sind so groß, dass man hier Konzerte veranstaltet. Der eigentliche Eingang ist nur durch ein Loch zu erreichen, der heutige wurde künstlich für uns Besucher geschaffen.
Es ist weder kalt noch feucht, obwohl die Höhle wie eine Tropfsteinhöhle aussieht, mit den typischen bizarren Formen und den zusammenwachsenden Stalaktiten und Stalagmiten. Aber vielleicht hat sie eine andere Entstehungsgeschichte. Hier ist wohl Wasser eingedrungen und hat erst die Höhle geschaffen. Ob die Formen durch Lava gebildet wurden?
Die Höhlen wurden in der Steinzeit bewohnt, man diskutiert aber noch die Datierung, grob gesprochen vor 20.000 Jahren, nicht vom Neandertaler, sondern vom modernen Menschen. Man hat Essenreste gefunden, auch Knochen, die auf Haustierhaltung hindeuten, Stein- und Knochenwerkzeuge und Feuerstellen sowie einige Felszeichnungen. Alles das bekommt man nicht zu sehen, es ist den Forschern vorbehalten, viele Galerien sind zu ihrem eigenen Schutz nicht zugänglich.
Ich fahre mit dem Bähnchen zurück, nachdem ich noch eine glücklicherweise kurze dreidimensionale Führung durch die Höhle über mich habe ergehen lassen, von der Frau in Nerja sehr empfohlen.
Wieder in Nerja angelangt, treibt mich der Hunger an. Ich versuche, die Lokale gleich am Meer zu vermeiden und finde eins an einer Ecke, das ganz gut aussieht. Aber auch hier wird man auf Englisch angesprochen. Es gibt holländisches Bier und einen Cäsar-Salad (wer hat sich nur diesen Namen einfallen lassen?), der ausgesprochen gut schmeckt, den man aber in keinem spanischen Lokal antreffen würde. Ich sitze als einziger drinnen, draußen wird Französisch und Deutsch gesprochen. Eine Französin, eine ältere Dame, erklärt mir den Weg zum Museo de Nerja. Da sei nicht so leicht zu finden. Es ist tatsächlich ein bisschen abseits am Rande der Plaza Mayor gelegen, einem großen, modernen Platz mit nichtssagendem Weihnachtsschmuck und ein paar verhüllten Verkaufsbuden.
Die Tür zum Museum steht offen, aber das Museum ist zu. Wir schließen um vier Uhr. Das ist eine Zeit, wo spanische Museen in der Regel gerade mal wieder für den Nachmittag öffnen. Auch hier hat man sich den Ausländern angepasst.
Ich gehe auf anderen Wegen zurück zur Bushaltestelle. Vor den Lokalen, alle mit englischer Speisekarte und Lockrufen, sitzen alte, reiche Ausländer, die Aperol Spritz trinken und glauben, es gehe ihnen gut. Definitiv nicht meine Welt.
An der Bushaltestelle gibt es großes Gedränge und das übliche Durcheinander. Fast alle Busse fahren nach Málaga, aber auf unterschiedlichen Zeiten für unterschiedliche Unternehmen. Dazu kommt noch, dass man nicht reingelassen wird, wenn der Bus voll ist, obwohl man die Fahrkarte für genau diese Zeit reserviert hat. Am Ende bleiben außer mir nur noch drei Asiatinnen und drei Engländer übrig. Auch wir versichern uns gegenseitig, dass wir wohl noch warten müssen, dass unser Bus noch kommen muss. Auf die Frage, woher sie kämen, sagen die asiatischen Mädchen, aus Edinburgh. Sehr schottisch sehen sie nicht aus. Es ist wohl ein sprachliches Missverständnis. Sie kommen aus China. Bei den drei Engländern muss ich die Ohren spitzen. Ist das überhaupt Englisch? Ja, doch, kein Zweifel. Irgendwas aus dem Norden? Nachdem wir ins Gespräch gekommen sind, erfahre ich auch, woher: Newcastle. Geordies. Eine der Frauen fragt mich, ob mir Nerja gefallen habe. Ich gebe eine etwas ausweichende Antwort, deute aber an, dass ich lieber authentische spanische Städte besuche, dass Málaga mir besser gefalle. Damit habe ich ihr wahrscheinlich auf den Schlips getreten, denn sie leben hier. Und warum fahren sie jetzt nach Málaga. „For the lights“, sagt sie und blick mich mit Unverständnis an. Jemand, der in Málaga Urlaub macht und nichts von der Lichterschau weiß! Unglaublich.
Die Fahrt zieht sich in die Länge, denn es geht nicht über die Autobahn, sondern über die Dörfer. Als wir auf Málaga zukommen, geht die Sonne unter, und als wir ankommen, um halb sieben, ist es stockdunkel.
Als ich in die Wohnung komme, sind Thamarita und ihr Freund kräftig bei der Arbeit, sie mit einem Aufnehmer, er mit einem Bohrer. Sie klagt über die spanischen Handwerker. Sie braucht einen Anstreicher, der zwei kleinere Arbeiten in zwei Zimmern erledigt. Sie kündigten an, nächste Woche und in der nächsten Woche dann wieder nächste Woche, und wenn sie dann kämen – sie, Thamarita, hat drei Monate gewartet – würden sie abkassieren und schlechte Arbeit leisten. Das sei ja in Deutschland alles viel besser, sagt sie mit einem Stoßseufzer.
22. Dezember (Freitag)
Die unbekannte Frucht, persimón, schmeckt richtig gut, erinnert an Apfel, an Pfirsich und an Ananas. Es ist eine Variante des Khakis, eine Züchtung, die es ermöglicht, die Frucht zu essen, wenn das Fruchtfleisch noch fest ist. Beim Khaki muss man warten, bis das Fruchtfleisch weich ist, um den bitteren Geschmack zu vermeiden.
Diesmal geht es wieder durch die Straßen der Stadt ins Zentrum, nach Soho. Wie überall in Spanien, werden ständig die Bürgersteige geschruppt, bis sie glänzen. Dabei wird ein charakteristisches Putzmittel verwandt, dessen Geruch ich sofort mit Spanien in Verbindung bringe.
Da der Weg sowieso am Bahnhof vorbeiführt, gehe ich gleich rein und erkundige mich nach den Fahrkarten. Die für die Fahrt zum Flughafen kann man erst am Reisetag kaufen, aber die für den Caminito del Rey gibt es hier, allerdings an einer anderen Stelle. Die Frau am Schalter ist freundlich und zuvorkommend und erledigt alles in kürzester Zeit. Die Fahrkarte kostet gerade mal 7 € – hin und zurück!
Der Bahnhof ist nach María Zambrano benannt, der spanischen Schriftstellerin. Ich kenne den Namen, aber keinen Text von ihr. Sie ist gebürtig aus Málaga, aus der Provinz Málaga. Nach dem Bürgerkrieg war sie im Exil, u.a. in Kuba und Mexiko. Später erhielt sie als erste Frau den Cervantes-Preis. Sie habe, heißt es, einen Exil-Begriff entwickelt, der mehrere Etappen umfasst und deren Verlauf der Mensch einen Geschichts- und Ichverlust erlebt, eine Daseins-Negation erfährt und schließlich unverortet ist. Als Metapher dafür galt ihr die Insel. Das klingt modern und ist gut nachvollziehbar, und auch ein inneres Exil reicht, um diese Erfahrung zu machen.
Es geht weiter Richtung Soho. Unterwegs, wenn ich nach dem Weg frage, fällt mir wieder die spanische Angewohnheit auf, bei den Erklärungen ohne rechts und links auszukommen. Beide Wörter werden regelrecht vermieden, auch bei einer Nachfrage.
In Soho angekommen sehe ich zwei Asiatinnen, die ein Haus photographieren. Das hätte ich übersehen. Es ist ein ganz normales, modernes Haus mit einer streng angeordneten Fassade. Was gibt es hier zu photographieren? Die Begrünung. Wild wächst es in den senkrechten Streifen zwischen den Fenstern. Platz ist genug da, weil die Fenster nicht mit der Fassade abschließen, sondern wie mit einem Erker hervorragen.
In Soho, wo schon viel Betrieb ist, setze ich mich in das Café gegenüber dem mit den churros von vorgestern. Man kann draußen sitzen, und es gibt ein getoastetes Croissant und einen leckeren Kaffee.
Auf den Zuckertütchen stehen Fragen zu Málaga. Wie heißt der Botanische Garten von Málaga? La Concepción. Was ist das typischste Emblem von Málaga? Biznaga. Da muss ich passen. Später, in der Touristeninformation, erfahre ich, was das ist: die Blüte des Jasmins.
Ein Bettler versucht sein Glück hier und in dem gegenüberliegenden Café, beide Terrassen voll besetzt. Ich gebe ihm einen Euro, bei allen anderen hat er kein Erfolg. Kein einträgliches Geschäft, und außerdem mühsam und unangenehm. Ob die Weihnachtszeit ihm Glück beschert?
Ganz in der Nähe ist der Fahrradverleih, den Thamarita mir empfohlen hat. Zwei Männer sitzen hinter der Theke. Der ältere beantwortet meine Fragen und reicht mich dann an den jüngeren weiter, mit dem ich die Formalien erledigen soll. Ich solle Englisch mit ihm sprechen. Englisch? Wir sind doch in Spanien. Ja, aber der kann kein Englisch. Der junge Mann ist Holländer. Auf meine Frage, woher er sei, sagt er „From Holland“, nicht „From the Netherlands“. Wir erledigen die Formalien und kommen dabei ins Gespräch, in einem Mischmasch aus Englisch, Deutsch und Holländisch. Ich zahle meine 14 € und mache mich auf den Weg.
Man überquert die Hauptstraße und ist sofort auf einem perfekt angelegten Radweg. Der führt durch ein Wohnviertel und dann gleich zum Ufer runter. Und die Sonne scheint. Alles nahezu perfekt, aber dann endet der Radweg und es geht über die Landstraße, zweispurig, mit viel Verkehr. Die rechte Spur ist allerdings vorzugsweise für Fahrräder ausgelegt – Preferencia Bicicleta – und auf der Fahrbahn erscheint wiederholt das Fahrradsymbol, zusammen mit der Geschwindigkeitsbeschränkung: 30. Das Meer erscheint zwischendurch immer wieder mal zwischen den Häuserlücken und verschwindet dann wieder.
Nach ein paar Kilometern geht es wieder ab zur Küste. Jetzt ist der Radweg mal gepflastert, mal nicht. Dann fährt man über schwarze, festgestampfte Erde mit Schotter. Eine Zeitlang ruckelt es ganz schön. Da ist die Füllung zwischen den ungleichmäßigen Steinplatten ausgewaschen. Man wird ordentlich durchgeschüttelt. Rechts, am Strand, ist es ganz einsam, links fast ununterbrochen mehrstöckige Gebäude mit Ferienwohnungen.
Richtungsschilder oder Entfernungsangaben gibt es nicht. Unterwegs hin und wieder Schautafeln, aber die geben nur den ganz kleinen Ausschnitt des Strands wieder, und wenn mal eine längere kommt, ist der eigene Standort nicht markiert. Dadurch frage ich zweimal nach. Ein spanischer Radfahrer erklärt mir, was hinter mir und was vor mir liegt. Als ich nach Pedregalejo frage, deutet er zurück. Auf meinen Kommentar hin, man habe mir gesagt, da sei es besonders schön, sagt er, typisch spanisch, hier in Málaga sei es überall schön. Mit einer solch differenzierten Aussage bin ich überfordert.
Später frage ich ein Ehepaar, das mir entgegenkommt. Oh, kein Spanisch, français, sagen sie. Ich muss umschalten, komme ins Schwitzen, aber am Ende klappt es. Oh nein, ich müsse noch nicht umkehren, sagt sie, das gehe noch zwanzig Kilometer weiter. Und den Tintero, den habe ich schon längst hinter mir gelassen. El Tintero nennt sie Le Tinterooo.
Derweil wird es immer wärmer, die Sonne scheint mit voller Wucht, und das Ende Dezember.
An einer Stelle fährt man durch einen Tunnel. Auf einer Plakette, in der an die tapferen Widerstandskämpfer erinnert wird, erfährt man, dass der Tunnel durch eine Granate entstanden ist, die die franquistischen Angreifer von einem Kriegsschiff aus aufs Land warfen.
An einer besonders schönen Stelle liegt ein grober Felsen im Wasser, der Peñón del Cuero, nur wenige Meter vom Strand entfernt. Hier mündet ein Bach in das Meer. Er hat Kraft und hat sich seinen Weg durch den Felsen gebahnt. Hier ist der Sand durch Quarz- und Kalkablagerungen heller als sonst, wo er dunkelgrau ist. In kurzer Entfernung ragt hinter dem Küstenstreifen ein Berg auf, der immerhin über 1.000 Meter hoch ist, wie alle Berge hier mit karger Vegetation.
Kurz danach kommt als Gegenprogramm eine große Zementfabrik. Ob sie was mit den Kalkablagerungen zu tun hat?
Dann sieht man erhöht einen alten Wachturm. Er ist der einzige erhaltene von mehreren, die hier an der Küste zur Abwehr gegen die Piraten errichtet wurden.
Irgendwann kommt eine größere Baustelle. Man muss das Rad durch den tiefen Sand schieben. Ich nehme das zum Anlass, umzukehren. Ich bin bis zum Rincón de la Victoria gekommen, etwa zehn Kilometer von Málaga entfernt.
Auf dem Rückweg sehe ich auf einem Campingplatz Campingwagen aus Bremen, Hannover, Essen, Frankfurt, Nürtingen und Rügen.
Ich versuche, näher an der Küste zu bleiben, um die Landstraße zu vermeiden. Das geht, aber man muss oft schieben, auf der Uferpromenade ist es ziemlich voll, vor allem da, wo Lokale sind. Alle machen Werbung mit ihren Fisch- und Meerestierspeisen, und auf den Grills sieht man die espetas, das typischste für Málaga, bei denen die Fische, meist Sardinen, aufgespießt und über dem offenen Feuer gegrillt werden.
Ich mache Halt in Pedregalejo und frage eine Verkäuferin am Strand, wo es nach Pedregalejo gehe. Dies sei Pedregalejo, antwortet sie. Ich versuche zu erklären, dass ich das Zentrum suche, einen Platz, eine Kirche, einen Markt. Die Frage scheint sie zu überfordern.
Ich schiebe das Rad dann einfach eine Gasse rauf und suche in dem wie ausgestorben wirkenden Ort nach dem Ortskern – vergeblich. Pedrejalejo soll doch so schön sein. Ich stoße auf einen Mann, und der sagt mir, das gebe es hier nicht. Schön sei hier der Strand. Das ist das spanische Verständnis von einem schönen Ort. Er empfiehlt mir noch schnell, an einem Platz Halt zu machen, der El Balneario heißt, außerhalb des Ortes, aber der hat nichts mit dem zu tun, was ich suche.
Ich komme am Tintero vorbei, dem wunderbaren Lokal, wo die Kellner durch die Reihen spazieren und ihre Speisen anbieten, mit lauten, wiederholten Lockrufen, bis der erste Gast anbeißt. Schweres Herzens fahre ich weiter, es ist noch etwa früh fürs Essen und noch etwas früh für den Tintero, und hier macht es mehr Spaß, wenn man in einer Gruppe ist.
Ungewollt komme ich an der Marina an und fahre gleich an dem Leuchtturm vorbei, der sich mit seinem Weiß schön von dem wolkenlosen blauen Himmel abhebt.
Kurz dahinter das Centre Pompidou, einem erstaunlichen, schönen und ganz experimentellem Bau. Er ist ein Quader aus unterschiedlich farbigen Quadraten aus Glas, deren Farben sich in der Sonne brechen und auf dem Boden spiegeln. Das Museum selbst sieht man nicht. Ob es unterirdisch ist? Durch eine Auslassung in einer Skulptur hindurch mache ich ein Photo von dem Bau. Das ist originell, hat aber einen Schönheitsfehler.
Ich fahre zur Touristeninformation und erfahre dort alles, was ich wissen will für die nächsten Tage. Der Mann ist geduldig und notiert mir alles auf Karten und Ausdrucken.
Dann bringe ich das Fahrrad zurück. Leider ist morgen schon die letzte Möglichkeit, noch mal ein Rad zu leihen. Danach machen sie Weihnachtsferien.
Ich gehe in das Lokal von heute Morgen und bestelle Tapas: Magro de tomate, Carne Stroganoff und Ensaladilla rusa. Dazu gibt es ein leckeres Alhambra. Alles sehr gut, vor allem das Stroganoff mit seinen Pilzen und seiner sämigen Soße.
Auf dem Rückweg machen sich, trotz der kurzen Distanz auf dem Fahrrad, die Beine bemerkbar.
23. Dezember (Samstag)
Thamarita putzt, als ich aus dem Zimmer komme. Heute trifft ein neuer Gast ein. Sie will für immer in Málaga bleiben, erstens, weil die Lage in Argentinien schwierig ist, zweitens weil sie einen zwölfjährigen Sohn hat, in dessen Nähe sie bleiben will. Sie lebt von dem Vater getrennt, hat aber ein gutes Verhältnis zu ihm und möchte, dass der Junge beide Eltern in der Nähe hat.
Da die lange Hose in der Wäsche ist, muss ich heute mit kurzer Hose raus. Ich habe die Befürchtung, dass die Leute mich komisch ansehen, aber als ich aus dem Haus komme, läuft mir sofort ein Mann über den Weg, der auch eine kurze Hose trägt. Wir sind aber eine verschwindende Minderheit. Immerhin gibt es ein paar Frauen, die kurze Röcke tragen.
Auf dem Weg ins Zentrum mache ich Halt in der großen Cafeteria, die immer voll besetzt ist. Auch heute. Ich erwische gerad noch einen freien Platz. Hier hat man erst gar nicht den Versuch gemacht, den Raum irgendwie gemütlich zu machen oder aufzuhübschen, aber das scheint seiner Attraktivität keinen Abbruch zu tun. Der Geräuschpegel ist hoch, auf dem Boden liegen gebrauchte Servietten und Quittungen, und die Bedienung läuft geschäftig zwischen den Tischen auf und ab.
Es ist ein weiter Weg zum Museo de Málaga. Erst der gewohnte Weg zur Brücke und dann Richtung Zentrum, und dann erst geht es die große Straße entlang – sechs Spuren und eine zusätzliche Busspur – die passenderweise Alameda Principal heißt. Auf beiden Seiten gibt es breite Promenaden für Fußgänger, so dass man von dem Verkehr gar nicht so viel mitkriegt.
Die Alameda Principal geht dann in den Paseo de Parque über, und erst an dessen Ende befindet sich das Museum, in einem palastartigen, klassizistischen Gebäude, das früher der Sitz der Zollverwaltung war.
Das Museum ist neueren Datums. Der Eintritt ist frei. Erst gibt es eine große Gemäldeausstellung, in einem Geschoss, auf viele Säle verteilt.
Den Auftakt bildet eine Allegorie von Málaga (1870), ein Ölgemälde, das als Gewinner aus einem Wettbewerb hervorging. Es spiegelt Wohlstand und Fortschritt wider, mit Zuckerfabrik, Bahnhof, Hochofen, einem neu errichteten Depot für Handelsgüter usw., alles auf engstem Raum zusammengefasst. Im Vordergrund ein Tempelchen mit dem Gott Merkur mit Merkurstab, dem Gott des Handels, der in der anderen Hand die Gebote des Handels trägt. Vorne, wo ein paar Stufe ins Wasser führen – dies muss der alte Hafen sein – wimmelt es nur so von Menschen, spielende Kinder, Fischer, ein Lautenspieler, stillende Mütter. Eine hat beide Brüste entblößt, weil sie Zwillinge versorgen muss. Ein Pferdefuhrwerk, ein Heuwagen, ein Schäfer mit Hirtenstab und Hirtenhut, der bei seinen Schafen sitzt. Eine Frau reckt ihr nacktes Kind dem Merkur entgegen, als wolle sie es ihm weihen. So gut hat er, ist die Implikation, für die Stadt gesorgt.
Es gibt einzelne Ausstattungsstücke aus den 1848 säkularisierten Klöstern. Allein in Málaga waren das acht Klöster, darunter das von Johanna der Wahnsinnigen 1507 gegründete Kloster La Merced. Daraus gibt es Teile des Chorgestühls mit Fabelwesen mit eher menschlicher und mehr tierischer Gestalt. Eins lässt die Daumenspitze zwischen Zeigefinger und Mittelfinger hervorgucken, eine Geste, die bestimmt eine Bedeutung hatte.
Aus dem Kloster Santa Clara stammt ein Brunnenfries mit einer Inschrift in einer Schrift arabischer Provenienz. In dem Text wird um Gesundheit für Mohammed und seine Familie gebeten.
Unter den Heiligenbildern auffallend ein San Francisco de Paula von Murillo. Kutte und Hintergrund dunkel, hell die herausgestreckte bittende Hand, die Kordel und das flehentlich nach oben gerichtete Gesicht. Ganz oben rechts leuchtet der Himmel in einem Stück gelb-rötlich und verheißt Hoffnung.
Die Landschaftsmalereien werden – wen wundert’s? – vom Thema Meer beherrscht. Viele sind einfache, gefällige Szenen von bunten Segelschiffen im sicheren Hafen. Als totaler Kontrast zwei hochdramatische, hochromantische Gemälde Havarien auf hoher See. Man sieht automatisch hin. Die See ist in beiden aufgewühlt, und die Farben und Pinselstriche entsprechen dem, der Kontrast zu den anderen Gemälden könnte größer nicht sein. Auf dem ersten Bild sieht man im Vordergrund Männer auf einem hölzernen Rettungsboot, das von den Wellen hochgeworfen wird. Zwei, drei Ruderer versuchen verzweifelt, gegen die Wellen anzukommen, aber man sieht nicht einmal, wohin der Weg führen soll, wo die Rettung sein könnte. Vielleicht in der Richtung des Betrachters, denn dahin richten sich die Blicke der anderen, wie einfache Fischer gekleideten Männer, deren existenzielle Angst sich auf ihren Gesichtern widerspiegelt. Das havarierte Mutterschiff sieht man am äußersten Bildrand. Von dort kann keine Hoffnung mehr kommen. Ein Bild, das einem nahegehen kann, auch wenn man noch nie auf hoher See war.
Das andere stellt den Untergang der spanischen Armada dar, ein ungewöhnliches Sujet von einem spanischen Maler. Nationale Niederlagen werden nicht so gerne zum Thema von Gemälden gemacht. Vorne sieht man ein Schiff, das bereits havariert ist und auf der Seite liegt, ein anderes, das gerade zur Seite kippt und ein drittes, das gerade anfängt zu kippen. Hinten links, in der Distanz, folgen weitere Schiffe, alle noch intakt, aber schon im Kampf mit den Wellen. Sie fahren in dieselbe Richtung, ihrem Schicksal entgegen. Auch hier ist der malerische Protagonist die See mit den blau-grau-weiß schimmernden Wellen. Die Dramatik wird betont durch die hoch am Himmel stehende, bleiche Sonne, die noch ihr Licht auf die Wellen wirft und ganz oben am Firmament einen rötlichen Schimmer hinterlässt, die aber auch ihrem Untergang entgegengeht. Historisch richtig wird hier dargestellt, dass die spanische Armada nicht, wie in der englischen Malerei und in der populären Vorstellung, von der englischen Flotte, sondern vom Meer besiegt wurde.
In eine ganz andere Welt kommt man, wenn man den Saal mit den Porträts betritt. Hier sieht man unter anderem das Porträt eines spanischen Ministers, des Ministro de Ultramar, mit pelzbesetzter Robe vermutlich in seinem privaten Arbeitszimmer stehend, auf einem schweren Teppich, vor einem schweren Vorhang und einem Bücherbord mit schweren Folianten. Die Malweise ist zwischen realistisch und impressionistisch angesiedelt. Das Bild gibt zwei Rätsel auf: Was hält der Minister zwischen den Fingern in der einen Hand und was steht auf dem Blatt Papier, das von einem Schemel vor ihm auf den Boden gefallen ist? Beide enthalten vielleicht Schlüssel zum Verständnis des Porträts.
Sehr schöne Bilder gibt es in einem weiteren Saal von einem Maler namens Muñoz Degrau. Es sind Landschaftsmalereien von einer Art, die den Impressionismus hinter sich lassen will, oft ganz menschenleer, suggestive Bilder, bei denen es gar nicht so sehr darum geht, was dargestellt wird: eine Brücke über einen Bach, eine Landschaft in Aragón, ein Fluss, alles in leuchtenden Farben. Ganz wunderbar ein Bild, das „Noche en la Caleta“ heißt, eine Szene am Strand, in der man auf den ersten Blick nur helle Punkte vor einem dunklen Hintergrund sieht. Allmählich erkennt man die Gegenstände und Figuren: das Heck eines Schiffs, Fischer, tanzende Frauen, einen Lautenspieler, ein Lagerfeuer und ganz hinten die Lichter der Stadt.
Wieder das Gegenprogramm in einem anderen Saal mit einem Bild, das eine Genreszene darzustellen scheint, das es aber in sich hat. Am geöffneten Fenster sitzt ein Kleriker, der zusammen mit einem Gehilfen Bücher untersucht. Die werden ihm von einer Magd angereicht, die sie, auf einem Schemel stehend, von einem Bücherbord holt. Auf dem breiten Fenstersims liegen mehrere Bücher, daneben steht eine Frau, die sie mit Verve aus dem Fenster wirft. Hier wird Zensur ausgeübt.
Die archäologische Abteilung beginnt mit den Höhlen. Es wird auf das Paradoxon aufmerksam gemacht, dass die Höhlen für den frühen Menschen Refugium bedeuteten, aber später Angst verbreiteten. Für uns heute haben sie etwas Anziehendes, Faszinierendes.
Die Steinzeitmenschen, die die Höhlen von Málaga bewohnten, waren Vorgänger des modernen Menschen, keine Neandertaler. Sie unterschieden sich von dem in der Herstellung und Art ihrer Werkzeuge – hier kann man deutlich sehen, dass sie schmaler und länglicher sind – und dadurch, dass es getrennte Instrumente für den Haushalt und die Jagd gab. Außerdem kannte der moderne Mensch schon die symbolische Darstellung. Man sieht hier Schmuckstücke, aus den Zähnen von Tieren oder aus Schalentieren gefertigt, die um den Hals getragen wurden.
In den Höhlen von Nerja hat man Feuerstellen gefunden, in denen Pinienzapfen verbrannt wurde, so dass man an Pinienkerne kam. Aber ansonsten basierte das Überleben auf Sammeln und Jagen. Gejagt wurden vor allem Ziegen, Bergziegen.
Danach scheint die Entwicklung in Riesenschritten zu erfolgen, allerdings können hier auch schon mal ein paar tausend Jahre zwischen einer Vitrine und der nächsten liegen. Die Entwicklung wurde vorangetrieben von der Ankunft neuer Menschen. Die konnten schon Instrumente, um Holz und Getreide zu bearbeiten.
Dann, vom 4. Jahrtausend an, erscheinen Begräbnisstätten, in Dolmen, mit großen Steinblöcken gebaut. Das führt zu einer „Monumentalisierung der Landschaft“. Ein wichtiger Schritt, der den Menschen endgültig vom Tier unterscheidet, seine Verstorbenen zu bestatten. Merkwürdigerweise stehen die Dolmen der Verstorbenen hier im Kontrast zu den Lebenden, die weiterhin keine feste Behausung haben. Das änderte sich mit der Bronzezeit.
Die Ankunft der Phönizier stellte einen weiteren Einschnitt in der Geschichte dieser Gegend dar. Die Phönizier gründeten Handelsniederlassungen, darunter Malaka. Ein ungewöhnliches Ausstellungsstück ist ein Teil einer Straße, aus Muscheln und Lehm gebaut.
Während der Punischen Kriege wurden Münzschätze von Privatleuten Krügen in der Erde vergraben. Die wurden dann erst viel später von den Archäologen wiederentdeckt. Hier sieht man ganze Sammlungen von platten Münzen aus Silber, zusammen mit den Krügen, in denen sie gefunden wurden.
Die Phönizier verbrannten ihre Toten und bestatteten sie in Urnen, zusammen mit Schmuckstücken und Versorgung für das Bankett im Jenseits. Im Laufe dieses Jahrtausends, etwas vom 7. bis zum 3. Jahrhundert v. Chr., ersetzt dann die Körperbestattung die Verbrennung. Immer wieder faszinierend, so etwas zu lesen. Es bleibt ein Rätsel, wie solche Entwicklungen zustande kommen.
Dann kommt die gut dokumentierte Römerzeit, mit den gängigen Ausstellungsstücken. Mein Interesse wird angelockt von zwei besonderen. Zuerst Buchstaben und Nägel aus vergoldeter Bronze, wohl Teil einer Inschrift. Kann mich nicht erinnern, so was schon mal gesehen zu haben. Die Buchstaben sind ausgesprochen schön gestaltet, und sogar die Nägel haben eine schöne Form.
Das andere ist die liegende Statue, ziemlich verwittert, von Attis, einem römischen Hirten. Er wurde unter Claudius plötzlich modern – auch bei der Heiligenverehrung gibt es Moden – und man veranstaltete Feste zu seinen Ehren. Attis entmannte sich selbst, weil er eine Frau heiraten sollte, die ihm nicht passte. Aus dem Blut seiner Hoden wuchsen die Veilchen. Er selbst überlebte den Eingriff nicht, wurde aber von der Göttin Cibeles, die sich in ihn verliebt hatte, wieder zum Leben erweckt, wie Lazarus von Jesus. Attis findet sich deshalb oft in Begräbnisstätten, weil er für die Wiedergeburt steht.
Auch in Málaga betrieben die Römer eine Garum-Fabrik, auch die Amphoren, in denen das Garum aufbewahrt und transportiert wurden, wurden hier hergestellt und sind hier im Museum zu sehen. Das Garum, eine Art Sardellenpaste, die ein Wundermittel gegen fade Speisen war, war ein wichtiges Handelsgut.
Nach dem Ende der Römerzeit kommen, wie in ganz Spanien, die Westgoten, aber die wurden – und das ist mir ganz neu – hier auf einem Streifen ganz im Süden der Halbinsel, von Byzanz verdrängt. Dieser Teil Spaniens gehörte also zu Ostrom, zum Byzantinischen Reich.
Das fand sein Ende mit der Eroberung der Iberischen Halbinsel durch die Sarazenen. Darüber gibt es hier, neben den gängigen Ausstellungsstücken, Information über Bobastro, die Hauptstadt der Rebellen, angeführt von einem gewissen Umar Ibn Hafsun, der sich gegen die Vorherrschaft des Emirats von Córdoba auflehnte und sogar zum Christentum konvertierte! Eine wunderbare Geschichte, die noch einmal ganz eindringlich zeigt, dass es mit der platten Gegenüberstellung Christen – Araber nicht getan ist.
Hiermit endet der archäologische Teil. Leider gibt es nichts zu der Entstehung der modernen Stadt Málaga, wie ich das erwartet hatte, aber macht nichts. Lohnt sich auch so.
Unten gibt es eine Photographieausstellung eines britischen Photographen, Martin Parr, der wohl hier ansässig ist. Ganz verrückte bunte Bilder vom Alltag in der Stadt, trivial, kitschig, Alltagsbanalitäten, die kein klassisches Sujet für die Photographie sind, hier aber ihre Wirkung erzielen. Sie sind wie ein ironischer Kommentar auf unsere Wirklichkeit. Auf einem Photo sieht man eine blonde Engländerin in Shorts, die vor ihrer Bar steht, mit britischer Flagge verziert. Hier gibt es English Breakfast (All day), Chips, Day Trips, Sandwiches und natürlich Liquers, Spirits, Beers. Er nehme, sagt der Photograph, „die Komödie sehr ernst“.
Unten gibt es einen Raum zu Picasso. Ganz zu Anfang sieht man ein ganz frühes Bild, die Darstellung eines alten Paars, in der Stube sitzend, sich gegenseitig ansehend. Realistisch, stimmungsvoll.
Die anderen Werke sind aus späteren Epochen. Besonders gefällt mir eine Vase, in Weiß, Grau und Schwarz, mit einfachen, eleganten Formen. Auf dem Bauch der Vase mit ein paar Pinselstrichen, die man sofort Picasso zuschreibt, das Profil eines weiblichen Gesichts und eines Uhus.
Bei den anderen Werken sieht man vor allem, wie Picasso immer wieder ein und dasselbe Thema variiert. Hier gibt es Lithographien zum Stierkampf, alle gleich groß, in Schwarz und Weiß, insgesamt 26, und Ansichten eines Fauns, etwas größer, moderat farbig, auch mehr als ein Dutzendmal vertreten.
Als ich aus dem Museum komme, ist es richtig warm geworden. Die kurze Hose ist jetzt ganz passend.
Ich lasse mich ein bisschen treiben, an der Kathedrale vorbei, und komme an Ecken, an Skulpturen, an Kneipen und an Plätzen vorbei, die mir bekannt vorkommen. Über die Larios mit wenig geschmackvollem Weihnachtsschmuck gehe ich bis zur Plaza de la Constitución. Auch die habe ich gut in Erinnerung.
Am Schaufenster eines Feinkostgeschäfts bleibe ich hängen: ganze Schinken, qualitätsvoller Wein, getrocknete Feigen und Datteln, Konserven mit Thunfisch und Muscheln. Und drinnen türmen sich die Käselaibe auf.
Dann komme ich am Markt vorbei und sehe, wie die Kellner große Platten mit Meeresfrüchten an die Biertische nach draußen tragen. All das sieht verlockend aus.
Hier ist es überall voll – und laut. Aber es besteht gar keine Hektik.
Je weiter ich Richtung Unterkunft komme, umso ruhiger wird es. Mein Blick fällt auf Todo por dos, einem Laden mit Billigartikel. Früher muss es mal Todo por uno geheißen haben, aber die Inflation fordert ihren Tribut und macht Schluss mit den Ein-Euro-Läden.
Am Ende kaufe ich in einer Bäckerei zwei Teigtaschen, die ausgesprochen gut schmecken. Das Angebot in den Bäckereien hat sich ordentlich erweitert, aber der Klassiker bleibt das Baguette – la barra de pan.
24. Dezember (Sonntag)
Als ich aus dem Haus komme, fällt mein Blick auf das Nagelstudio gegenüber: Miss uñas. Das Wortspiel fällt mir jetzt erst auf. Etwas weiter an der Ecke ist ein Geschäft, das Booh! heißt.
Sieht erst so aus, als würde es mit dem Frühstück nichts werden heute. Die Bars in der Nähe sind alle geschlossen, damit habe ich nicht gerechnet. Auch die meisten Geschäfte sind zu, bis auf die großen Supermärkte und die Märkte der Araber und Chinesen.
Ein Friseursalon in der Nähe der Unterkunft hat auf. Ich frage, ob man einen Termin machen müsse. Nein, kommen Sie rein. Ich bin sofort an der Reihe. Ich höre, wie die Friseure untereinander Arabisch sprechen. Marrokaner? Ja. Die haben es nicht weit bis hierher. Der junge Mann, der mir die Haare schneidet, macht seine Sache richtig gut, gründlich, sauber, schnell. Als ich ihn frage, was ich ihm schuldig bin, sagt er auf Deutsch: ”Sieben“. Ich gebe ihm ein fürstliches Trinkgeld und habe immer noch die Hälfte gespart.
Als ich an der großen Cafeteria vorbeikomme, wo heute nur gereinigt wird, fällt mir ein Plakat im Schaufenster in die Augen. Am 25. Dezember und am 1. Januar, heißt es, werde kein Alkohol ausgeschenkt.
Es geht die ganze lange Straße hinunter, ohne dass ich eine Bar finde, die offen hat. In der Ferne sehe ich in der Seitenstraße aber eine Markise, und dort ist tatsächlich ein Bar, und die hat geöffnet. Pura Vida.
Der Wirt ist überrascht, als ich ihm sage, ich hätte einige Zeit gesucht. Ich bestelle den obligatorischen Milchkaffee und einen Toast mit Marmelade. Die, sagt der Wirt, sei aus eigener Herstellung. Seine Frau ist dafür zuständig. Als sie mir das Frühstück serviert, verrät sie mir, was das ist: Mango mit Walnuss. Habe ich sicher noch nie probiert. Schmeckt gut, sehr süß.
Die Einrichtung der Bar ist das genaue Gegenteil von der von gestern. Ein unglaubliches Sammelsurium an den Wänden, darunter ausgesprochen geschmackvolle, gerahmte Spiegel mit arabischen Schmuckmotiven. Dazu alte Filmplakate, ein paar Schallplatten und Bücher auf einem Bücherbord, ein alter Wohnzimmerschrank, Werbeplakate von verschiedenen Brauereien, einen Aufkleber mit Mafalda, Reproduktionen von modernen Gemälden, ein Dartsbord, eine Uhr mit Pendel, ein ziemlich ärmlich aussehender Kaktus, künstliches Efeu und drei kleine Weinfässer auf einem Regal. Der Tisch, an dem ich sitze, ist eine umfunktionierte Nähmaschine.
Am Tresen steht der einzige andere Kunde, ein älterer Mann. Er doziert über die Weihnachtstage. Heute seien die Geschäfte geöffnet, die Friseursalons und die Märkte, das sei ja wohl klar, man müsse ja noch mal einkaufen können, im letzten Moment falle einem noch ein, dass Mehl oder Öl fehle. Morgen, das sei eine andere Sache, morgen sei ein großer Tag, der größte Tag des Jahres, da müsse natürlich alles geschlossen sein.
Als ich bezahle, sagt mir der Wirt, doch, doch, heute hätten sie noch bis vier Uhr geöffnet, es gebe am Mittag noch was zu essen.
Das ist eine gute Nachricht. Die Speisekarte sieht verlockend aus. Als ich mich später wieder auf den Weg mache, ist die Stadt erwacht. Viel mehr Bewegung, auf dem Bürgersteig, auf der Straße. Auch die Losverkäufer sind jetzt noch mal aktiv, und ein paar weitere Geschäfte haben geöffnet.
Ich gehe zurück ins Pura Vida. Auf der Speisekarte steht unter den Getränken Randler. Das ist ein Tippfehler. Das Wort Radler hat inzwischen seinen Weg ins Spanische gefunden, aber natürlich ist die wörtliche Bedeutung nicht bekannt. Bei der Milanesa hat man die Wahl zwischen carne und pollo, Fleisch und Hähnchen. Hähnchen zählt im Spanischen nicht als Fleisch.
Ich bestelle codillo, eine Schweinshaxe, und einen Rotwein, einen Tempranillo. Als Gabe des Hauses gibt es ein paar Stücke Chorizo und dann hausgemachtes Aioli mit Brot. Die Schweinshaxe ist ausgezeichnet. Das Fleisch ist ganz zart, es hat keine Schwarte und ist mit einer hervorragenden Kräutersoße gewürzt, mit Thymian und Rosmarin. Ein Leckerbissen. Dazu gibt es Pommes. Es fehlt lediglich an Salz.
An der Theke steht ein älterer Herr, distinguiert aussehend, mit dunkelblauem Blazer mit Einstecktuch, weißen Jeans, braunen Lederschuhen und hellblauen Socken, die zum Vorschein kommen, weil die Hose zu kurz ist. Mit weit ausholenden Gesten erzählt er von irgendeiner Begebenheit, ich versteh immer nur pueblo. Sein Publikum ist der Wirt, und der hört ihm konzentriert zu.
Von draußen stürzen drei Männer gleichzeitig in die Wirtsstube. Sie drängeln sich gegenseitig vor, jeder will bezahlen. Sie haben draußen an einem Biertisch gestanden. Später bringt die Wirtin die Flaschen rein und stellt sie auf die Theke. Sie haben zwanzig Flaschen Bier geschafft. An ihnen verdient die Bar besser als an mir.
Dann gibt es noch auf Kosten des Hauses einen Likör, einen patxarán, einen Schlehenlikör. Der Mann an der Theke prostet mir zu, und als ich den Raum verlasse und frohes Fest wünsche, klopft er mir auf die Schulter.
25. Dezember (Montag)
Joseph Moor, der Mann, der den Text von Stille Nacht, heilige Nacht gedichtet hat, war Hilfspfarrer in Oberndorf bei Salzburg. Als uneheliches Kind musste er einen päpstlichen Dispens bekommen, um Pfarrer zu werden. Schon bald hatte er den Unwillen seines Vorgesetzen auf sich gezogen. Pfeifenrauchend durch die Straßen zu ziehen, das gehöre sich für einen Priester nicht. Außerdem spiele er Gitarre, und zwar im Wirtshaus, und spiele dabei nicht nur beschauliche Lieder. Freundschaftlich verbunden war er mit dem Organisten, Franz Xaver Gruber. Den bat er 1818 eine Melodie zu schreiben zu dem Text, den er schon zwei Jahre zuvor geschrieben hatte. Weihnachten 1818 wurde das Lied, mit Gitarrenbegleitung, dann zum ersten Mal aufgeführt. Die Begleitung mit Gitarre ist, so heißt es, dem Umstand zu verdanken, dass die Orgel der Kirche im letzten Moment gerade am Tag der Christmette kaputt gegangen war. Deshalb sei Mohr noch am Morgen des Tages bei Gruber vorstellig geworden und ihn gebeten, eine passende Melodie zu finden. Aber das ist vermutlich eine fromme Legende, jedenfalls gibt dafür keinerlei Beleg, keinerlei Hinweis. Die Legende füllt eine Lücke und erklärt, warum das Lied zuerst mit Gitarrenbegleitung aufgeführt wurde. Bekannt wurde das Lied allerdings nicht durch Mohr oder durch Gruber, sondern einem Orgelbauer aus dem Zillertal, der tatsächlich, aber ein paar Jahre später, nach Oberndorf kam, um dort und in den umliegenden Gemeinden Orgeln zu bauen oder zu reparieren. Er nahm das Lied mit ins Zillertal, wo traditionell Volksmusik gepflegt und wo es von fahrenden Händlern aufgenommen wurde, die es nach Deutschland, Russland und England brachten, wo sie es in Parks, Gasthäusern, Salons und Konzertsälen aufführten.
Heute gibt es „Stille Nacht, heilige Nacht“ in mehr als 300 Sprachen. In Amerika hält man es für ein amerikanisches Volkslied. Berühmt wurde die Szene aus den Schützengräben von Ypern, wo 1914 über die Weihnachtstage die Waffen schwiegen, und deutsche und britische Soldaten durch die Nähe zueinander Kontakt aufnahmen und dann gemeinsam das Lied intonierten, jeder in seiner Sprache. Wenige Tage später wurde wieder geschossen.
Die Weihnachtsinsel im Indischen Ozean wurde erstmals am Weihnachtstag von europäischen Seefahrern entdeckt, im Jahre 1643. Daher trägt sie ihren Namen. Heute leben allerdings mehr Buddhisten und Moslems dort als Christen, und die treten Weihnachten die Flucht in den Urlaub an, denn sie arbeiten in der Phosphat-Industrie. Die Insel gehört heute zu Australien, wurde nach der Entdeckung des Phosphats von Großbritannien und im Krieg von Japan annektiert. Die Insel, die nahe des Javagrabens liegt, hat ein spektakuläres Korallenriff. Jenseits des Riffs fällt das Wasser steil ab. An dem Korallenriff zerschellte vor einigen Jahren in Schiff mit Flüchtlingen. In den Wintermonaten bietet die Insel ein besonderes Naturschauspiel mit der Krabbenwanderung. Die roten Krabben strömen in riesigen Mengen – es ist von Millionen die Rede – aus den Wäldern zur Küste, um dort ihre Eier abzulegen. Die Wanderung der streng geschützten Tiere ist ein Spektakel für die Touristen, für die Einheimischen ist sie eher lästig.
26. Dezember (Dienstag)
Als ich aus dem Haus gehe, ist es, einer elektronischen Anzeige zufolge, 6°. Im Schatten ist es wirklich kalt.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle komme ich an einem Fahrradverleih vorbei und entscheide spontan, mit dem Rad statt mit dem Bus zum Botanischen Garten zu fahren. Das Mädchen füllt ein Formular aus, kassiert den Betrag und erklärt mir dann genau, wo ich her fahren soll. Das wird zum Desaster. Ich biege um die erste Ecke nach links ab und lande in einer Sackgasse vor einer Hauswand. Hier sollte es eigentlich zur Alameda Principal gehen. Glücklicherweise ist die Touristeninformation in der Nähe. Dort frage ich. Ganz einfach, nur hier links die schmale Straße entlang und dann über die Alameda Principal. Die schmale Straße ist Einbahnstraße. Schieben über die schmalen Bürgersteige ist auch nicht einfach, ständig muss man den Fußgängern ausweichen und auf das Fahrrad über die Straße schieben, dem entgegenkommenden Verkehr entgegen. Die Straße überquert zwar mehrere größere Straßen, aber die Alameda Principal ist nicht dabei. Am Ende lande ich am Hafen. Ich versuche es nach Gefühl, und irgendwann kann ich tatsächlich die Alameda Principal überqueren. Rechts oder links? Ich frage eine Passantin auf einer Brücke. Sie lächelt und sagt, weder noch. Weiter in diese Richtung. Sie geht mit mir zurück zum Ende der Brücke, weist in die Ferne und sagt mir, bis zu dem Punkt solle ich fahren und dann an La Rosaleda vorbei, dem Fußballstadion, und dann immer weiter geradeaus. Es sei aber ganz schön weit, sagt sie.
Hier gibt es keinen Radweg, aber man kann teils über den breiten Bürgersteig fahren. Auf dem Weg fällt mir ein Geschäftsschild auf, ein Fischlokal: Er Juani.
An einer Straßenecke frage ich ein Ehepaar, das sehr freundlich erklärt, noch weiter geradeaus, und dann an dem Fluss entlang, der führe mich direkt zum Botanischen Garten. Es sei aber ganz schön weit, meinen sie.
Als ich weiterfahre und an ein Hochhaus komme, geht mir plötzlich ein Licht auf. Ich erinnere mich an die Erklärung der Frau auf der Brücke und plötzlich wird mir klar, was ich jahrzehntelang übersehen hatte. Die Frau auf der Brücke hatte in die Ferne gedeutet und mich gefragt, ob ich den Turm dahinten sähe, la torre, den weißen, den größten. Ich habe kleinlaut ja gesagt, mich aber gewundert. Es war zwar ein Turm zu sehen, aber richtig weiß war der nicht, er war auch nicht der größte und knapp neben der Richtung, in die sie deutete. Jetzt wird mir klar: Sie meinte nicht den Turm, sie meinte das Hochhaus, torre bezieht sich auf alles, was groß ist, es braucht kein Turm zu sein. Schon habe ich das Gefühl, dass sich der Ausflug gelohnt hat.
Jetzt gibt es einen Radweg und wenn nicht, wenigstens einen Schotterweg abseits der Straße. Ich komme an La Rosaleda vorbei. An der Außenwand des Stadions hat sich ein Fanclub verewigt. Der heißt Boquerones, ‚Sardellen‘. Das ist der Spitzname der malagüeños.
Ich komme ganz aus dem Zentrum von Málaga raus, es geht durch Wohnviertel und dann über eine einsame Landstraße. Hier geht es ganz schön bergauf, und mit dem Fahrrad muss man sich ganz schön abstrampeln, auch im 1. Gang. Ich habe eine gute Stunde gebraucht, das Mädchen in dem Laden hatte 40 Minuten geschätzt.
Am Eingang spricht mich der Mann, der die Karten verkauft, auf Englisch an. Dann schaltet er aber um. Woher ich denn käme? Alemania. – ¿Alemania? – Sí, Alemania. – ¿De dónde? – Una pequeña ciudad, al oeste de Alemania. ¿Cómo se llama? – Treveris. – ¿Tréveris? Lo conozco, la porta romana. Dann erzählt er mir, dass er gerne reise, aber am liebsten nach Deutschland. Und zählt auf, was er alles kennt. Aachen, Bremen, Berlin, München, Köln, Trier, die bayerischen Schlösser und so weiter. In Berlin habe er eine Bekannte, die fließend Deutsch spreche und dort am Museum der Mitte angestellt sei. Und hier im Botanischen Garten gebe es auch einen Bezug zu Deutschland. Die Villa und das Tempelchen seien beide von deutschen Architekten entworfen worden, im klassizistischen Stil. Er zeigt mir noch, wo ich das Fahrrad abstellen kann und wo ich einen Kaffee bekomme.
Als ich in der Cafeteria nach dem Preis frage, sagt das Mädchen hinter der Theke: „Do(s) euro(s)“. Wir sind in Andalusien.
Der Botanische Garten befindet sich da, wo einst die Felder eines Bauerngutes waren. Die wurden von zwei großbürgerlichen Familien aufgekauft und auf schwierigem Gelände in einen Botanischen Garten verwandelt. Tatsächlich geht es ständig auf und ab.
Die erste Strecke des Weges, der zu dem ursprünglichen Teil des Botanischen Gartens führt, ist auch gleich die schönste. Ein breiter asphaltierter Weg schlängelt sich langsam nach oben, flankiert von hohen Platanen, deren Äste sich oben so weit zur Seite biegen, dass sie einen perfekten Baldachin bilden. Die Blätter scheinen vertrocknet und sind rötlich verfärbt, sind aber noch nicht abgefallen. Zwischen den Platanen stehen Pinien, Palmen, Eukalyptusbäume.
Der Weg führt hoch zu der Villa, von der der Mann am Eintritt gesprochen hat. Davor hat man ein Plateau geschaffen, auf dem früher eine kleine Theaterbühne eingerichtet war. Die Kinder der Besitzer führten hier Stücke auf.
Neben der Villa eine Konstruktion, die hier als Laube bezeichnet wird, aber keine Laube in unserem Sinne ist. Es handelt sich um einen Gang mit abgerundeten Eisenstangen – die Besitzer waren in der Eisenindustrie tätig – an denen Glyzinien hochranken. Die blühen im März und dann ist alles hier lila. Statt Laube ist das spanische Wort cenador wohl passender, hier wurde vermutlich getafelt.
Dann kommt man zu einem Aussichtspunkt mit dem Tempelchen. Der Weg wird von Zypressen flankiert. Hier ist es schattenlos. Es wird immer wärmer, die anderen Besucher ziehen ihre Jacken aus.
Welche Pflanzen man am Wegesrand sieht, ist nicht immer so leicht herauszufinden. Sie sind mit ihrem lateinischen Namen bezeichnet, und die spanischen Entsprechungen, wie Dorata, sind oft ganz ähnlich und sagen mir nichts.
Es geht hin und her und auf und ab. Irgendwann kommt eine Anlage mit Kakteen aller Art und Größe. Hier kommt man sich wie in Mexiko vor.
Später komme ich an einem Bambuswald vorbei. Die Stämme der Bäume sind ganz dünn und dunkel, fast schwarz. Die Bäume stehen so eng beieinander, dass sie nur ganz oben, wo sie ans Licht kommen, Blätter haben. Nur die ganz außen stehenden haben überall Blätter.
Dann kommt man an Zitruspflanzen vorbei. Ein Baum hängt voller dicker, knallgelber Zitronen. Hier erfährt man, dass die Zitronen ursprünglich aus China stammen und um das Jahr 1000 nach Europa kamen.
Am Schluss gibt es noch Beete mit Beispielen von Pflanzen aus verschiedenen Ecken der Erde, Kalifornien, Madeira, Chile, Kanarische Inseln, Südafrika, Australien. Dabei wird jeweils erwähnt, wie hoch der Anteil endemischer Pflanzen ist, erstaunlich hoch, finde ich: Kanarische Inseln 27%, Kalifornien 35%, Australien 75%.
Die Pflanzen haben sich an die Lebensbedingungen angepasst. In Chile gibt es etwa viele pflanzenfressenden Tiere, vor allem Lamas. Deshalb haben die Pflanzen Dornen ausgebildet. Dafür haben sie keine gute Regenerationskraft bei Waldbränden, weil Waldbrände selten vorkommen. In Australien ist es anders. Dort gibt es keine pflanzenfressenden Tiere, und die Wälder regenerieren sich schnell, weil es so viele Waldbrände gibt. Alles sehr instruktiv, obwohl die meisten Pflanzen hier etwas kümmerlich aussehen.
Der Rückweg in die Stadt geht leichter, und es geht auch ein ganzes Stück den Radweg entlang. An einer Ampel steht neben mir eine Frau mit einem T-Shirt mit dem Aufdruck Rolling Stones und der Zunge von Sticky Fingers. Die Stones waren schon alt, als sie geboren wurde, jetzt sind sie uralt.
Dann wird es aber doch verwickelt. Als ich in die Stadt komme, bringt mich der Radweg vom rechten Weg ab. Es geht hin und her, immer wieder frage ich von Neuem, immer weniger werden die Wege, über die man mit dem Rad fahren kann. Als ich dann an die Marina komme, merke ich, dass ich gar keine Adresse von dem Fahrradverleih habe. Das Mädchen hat mir nichts mitgegeben. Dieser Tage hatte ich einen Durchschlag des Formulars. Wieder drehe ich mich ständig um die eigene Achse, mal hierher, mal dorthin, am Ende muss ich den Laden ein paarmal ganz knapp verpasst haben. Ein Aufatmen, als ich endlich davor stehe.
Es ist warm geworden, einer elektronischen Anzeige zufolge 21°. Und es ist etwas spät geworden, so dass ich mich unterwegs einfach auf eine Terrasse setze, wo viel los ist. Normalerweise ein gutes Zeichen. Ist aber ein Fehler. Die Tapas sind nicht besonders schmackhaft und ziemlich teuer. Nur das Bier ist gut.
27. Dezember (Mittwoch)
Zum Frühstück gehe ich in die Princesa. Dort kennen sie mich schon. Der Kellner erklärt mir, mit welch bildreichen Wörtern der Anteil des Kaffees beim Milchkaffee angegeben wird: sombra, nube, mitas usw.
Die junge Kellnerin aus Venezuela sagt mir, ihre Heimatstadt sei Maracaibo. Der Name kommt mir bekannt vor, aber ich hätte ihn nicht in Venezuela verortet. Sie zeigt mir ein paar Photos, sieht schön aus. Liegt wohl in der Nähe der kolumbianischen Grenze.
Ich frage sie, ob sie nie frei habe. Doch, sonntags und montags ist die Bar geschlossen. Und abends auch. Sie ist mit ihrem Freund nach Spanien gekommen. Und wie war das mit den Formalien? Sieht so aus, als gäbe es ein besonderes Abkommen zwischen Spanien und Venezuela, vielleicht auch zwischen Spanien und anderen amerikanischen Ländern, das die Einwanderung erleichtert. Wie sieht das dann wohl mit der EU aus? Ob man da dieselben Rechte der freien Aufenthalts- und Arbeitsplatzwahl hat?
Am Ende einer Fahrt mit Hindernissen von dreieinhalb Stunden Dauer stehe ich um 16.05 vor dem Haus von Gerald Brenan, weit außerhalb des Zentrums. Das Haus öffnet um 16.00.
Auf der Hinfahrt bin ich durch Torremolinos gekommen, also viel zu weit gefahren, habe aber feststellen können, wie unsäglich hässlich der Ort ist. Da entschädigt auch der Blick aufs Meer von oben nicht. Irgendwann, irgendwo in der Pampa sitzend, habe ich das Angebot eines Taxifahrers ausgeschlagen, mich für 15-20 Euro zu Gerald Brenans Haus zu bringen, weil ich zu kniepig war. In Málaga habe ich im letzten Moment an der Marina den Bus erwischt, nur um festzustellen, dass er eine Haltestelle gleich gegenüber der Unterkunft hat. Auf dem Rückweg musste ich lange in der Hitze an einem unwirtlichen Ort auf den Bus warten, und der war dann so voll, dass die an den weiteren Haltestellen Wartenden nicht mehr mitgenommen werden konnten. 23 Haltstellen lang eingequetscht zwischen einem Kinderwagen und einem Buggy in einem Bus, wo die Luft immer schlechter wurde.
Das Haus von Gerald Brenan ist einen Besuch wert, aber ob es eine solche Anfahrt wert ist? Das Haus liegt in Churriana. Auch kein schöner Ort, aber hier kann man noch erahnen, warum es Brenan hier so gut gefallen hat. Er spricht begeistert von dem Haus, dem Ort, der ganzen Gegend, die damals noch viel authentischer gewesen sein muss. Er spricht aber auch schon davon, wie der Kommerz langsam Besitz nimmt von zwei oder drei Orten an der Küste, darunter Torremolinos.
Das Haus, in eine Häuserzeile in einer Nebenstraße eingefügt, ist groß, viel größer, als man das von außen vermutet. Oben befindet sich neben einer „Werkstatt“, in der sich jeden Freitag englische, spanische und deutsche Senioren zu einem Austausch treffen, ein riesiger Vortragssaal, der aus den ursprünglich vier Arbeitszimmern gemacht wurde, die Brenan hier hatte.
Von dem Leben in diesem Haus bekommt man keinen Eindruck mehr, wo Küche oder Schlafzimmer waren, ist nicht zu erkennen, und von dem persönlichen Besitz ist wenig erhalten. Man sieht die Schreibmaschine, auf der er seine Werke produzierte, und einen tragbaren Schallplattenspieler in einer Holzkiste, der ihn ein Leben lang begleitete. Die Schallplatten, die auch hier ausgestellt sind, zeugen von seinem Musikgeschmack: klassische Musik und Oper einerseits, Flamenco und Copla andererseits.
An den Wänden stehen in beiden Etagen Bücherschränke, aber sie erhalten nur Zeitschriftenbände in langer Folge. In Vitrinen sind einige Bücher ausgestellt, solche, die er gelesen, und solche, die er geschrieben hat. Einen großen Einfluss hatte Rimbaud auf ihn, und über ihn hat er auch eine Studie veröffentlicht. Dasselbe gilt für Juan de la Cruz. Sein Buch über den Spanischen Bürgerkrieg, The Spanish Labyrinth, ist auch ausgestellt.
Neben Prosa schrieb Brenan vor allem Lyrik. An der Wand hängen einige handgeschriebene Exemplare, darunter ein Gedicht, das in nostalgischem Ton, das die glückliche Kindheit heraufbeschwört, in schöner, einfacher Sprache und eingängigen Rhythmus, der an ein oder zwei Stellen etwas hakt. Oder man muss es anders lesen.
An den Wänden auch gelegentlich spanische Verse, die sich so gut anhören, dass sie original zu sein scheinen. Ob er selbst auch auf Spanisch geschrieben hat? Genau kann man das hier nicht feststellen.
Ebenfalls sind hier ein paar Aphorismen über das Leben festgehalten, mit einem eher pessimistischen Grundton.
Weil die Räume so leer sind, hat man unten moderne Skulpturen und einige Zeichnungen einer Künstlerin ausgestellt, die offensichtlich mit ihm in irgendeiner Beziehung stand, in welcher, wird nicht klar. Er heiratete nach einer stürmischen Beziehung zu einer englischen Designerin eine amerikanische Dichterin, mit der er bis zu ihrem Tod 1968 zusammen blieb, in diesem Haus. Danach wurde es ihm einsam hier, das Haus schien leer zu sein, und er zog in ein anderes Dorf in der Nähe. Er überlebte seine Frau um mehr als dreißig Jahre.
Schon als Kind war er aufgrund der Stelle seines Vaters, eines Offiziers, ganz schön in der Welt herumgekommen, war in Südafrika, Indien, Irland, Malta gewesen und hatte dann auf Drängen seines Vater als Soldat am 1. Weltkrieg teilgenommen und war unter anderem bei der Schlacht an der Somme dabei. Er war dann nach Spanien gezogen, aber wieder nach England zurückgegangen, als der Spanische Bürgerkrieg ausbrach, um danach wieder nach Spanien zu kommen.
Durch die Eingangshalle geht man unten in den Garten. Der war früher noch viel größer, ist aber heute begrenzt an zwei Seiten von größeren Gebäuden, die es zu Brenans Zeit noch nicht gab. Das Haus ist ausgesprochen schön, modern, alles hat glatte Formen, innen ist alles hellweiß, die Außenmauer dunkelrot. Hier ließ es sich leben.
Ich bin die ganze Zeit der einzige Besucher gewesen. Als ich wieder in den Ort gehe, sehe ich mich nach einer geeigneten Bar um, finde aber nichts. Alles irgendwie touristisch verseucht. Stattdessen gehe ich in einen Lidl hinter der Haltestelle. Groß, modern, praktisch ohne Kunden. Hier werden jetzt auch Spekulatius bekannt gemacht, unter dem Namen Spicy Biscuits. An einem Tedi bin ich bei der Hinfahrt auch schon vorbeigekommen.
Wieder in Málaga mache ich mich auf die Suche nach Fotogramas, einer Zeitschrift, die ich mitbringen soll. Zunächst erfolglos, aber der Mann am Bahnhof sagt mir, die müsste in den nächsten Tagen kommen. In einem kleinen Laden gleich nebenan sagt mir der freundliche Verkäufer, ich könne ihm meine Bordkarte per Mail oder Handy schicken, sobald ich sie hätte. Er würde sie dann für mich drucken. Die Angaben findet man an der Wand. Información Watsap.
Auf der gegenüberliegenden Seite findet sich ein Geschäft, das Прохлада heißt. Russisch? Ukrainisch? Bulgarisch?
Ich mache mich auf den Weg durch die dunklen Straßen auf der Suche nach einem Lokal zum Abendessen. Das erweist sich als schwierig. Die meisten schließen nach dem Mittagessen, und die vielen Lokale, die sich auf dem Weg zur Küste aneinanderreihen, sind entweder Trinklokale oder Cafeterien. Auch jetzt noch sitzen viele hier draußen bei Chocolate con churros.
An einem Geschäft sehe ich einen Aushang mit Verweis auf ein Haus, das zum Verkauf ansteht: 6 Zimmer, 4 Bäder, Terrasse, Waschküche, Autostellplatz. 130.000 Euro. Nicht gerade teuer. Casa seminueva heißt es in der Beschreibung, wobei herauszufinden wäre, was mit seminueva gemeint ist, und casa ist vermutlich kein Haus, sondern eine Wohnung.
Am Ende lande ich in der Bar Americana. Ganz lecker, wenn auch keine Offenbarung. Und es ist ziemlich ungemütlich. Es gibt Pollo al ajillo und einen Salat, der sich Ensalada malagüeña nennt, mit Kartoffeln, Ei, Oliven, Paprika, Thunfisch. An dem Pfeiler hängt ein Schild mit dem Hinweis auf Öffnungszeiten zum Jahreswechsel. Da heißt es ¡Estamos abierto! Singular und Plural gemischt, aber es hört sich richtig an.
28. Dezember (Donnerstag)
Zum Frühstück gehe ich in eine Bäckerei. Die Brotauswahl in den spanischen Bäckereien ist viel größer als früher, aber der Klassiker bleibt das Baguette, la barra de pan.
Auf dem Weg zum Museum komme ich an der Kathedrale und am Picasso-Museum vorbei. Dichtes Gedränge überall, so voll habe ich die Stadt noch nicht gesehen, Einheimische und Touristen, meist in geführten Gruppen. Sobald ich auf die Beatas komme, wird es ruhiger.
Das Museum, das Museo del Vidrio y Cristal, ist in einem alten Stadtpalast untergebracht, das schön in einer ruhigen Zone an einem kleinen, unregelmäßigen Platz liegt. Es ist heute in Privatbesitz, der Eigentümer wohnt oben, auf den beiden ersten Etagen ist die Ausstellung.
Der Palast ist voll eingerichtet, weniger zum Bewohnen als zum Repräsentieren: Sofas und Sessel, Sekretäre und Kommoden, Lüster und Spiegel, und überall dicke Teppiche. Bei einer Gelegenheit erfährt man angesichts zwei nebeneinanderstehender Sessel, warum der eine eine Armlehne hat, der andere nicht. Der ohne Armlehne war der für die Frauen, weil die nicht einfach Konversation trieben, sondern dabei stickten und ihre Arme zur Seite ausbreiten mussten. Ein schönes hölzernes Nähkästchen mit verschiedenen Fächern steht zur Anschauung daneben.
In einer Vitrine gleich darüber sieht man kunstvoll verzierte, in Elfenbein, Silber oder anderen wertvollen Materialien eingebundenen kleinen Notizheftchen, mit Ornamenten oder szenischen Darstellungen. Was ist das nur? Das sind die Heftchen, die bei Bällen zum Einsatz kamen. Hier vermerkte die Frau, welcher Mann sie für welchen Tanz „reserviert“ hatte. Der Tanz war die einzige Gelegenheit, in der sich unverheiratete Frauen und Männer begegnen konnten, ohne gegen die Gesetze der Sittlichkeit zu verstoßen.
Geführt werden wir von einer jungen Frau, die gerne, unentwegt, schnell und ausufernd redet. Sie bezeichnet sich selbst als dispersa, und dem wird sie wirklich gerecht. Sie kommt von Hölzchen auf Stöckchen, kommt auf Ikea, auf Spotify, auf Dior, auf Nina Hagen, auf Birkenstock und auf Handyhüllen zu sprechen und auf ihre eigene Statur, ihren Akzent, ihre Sprechweise und einen Marokkaner, der sie eingeladen hat, mit ihr ein paar Tagen an den schönen Stränden Marokkos zu verbringen. Das kann ziemlich ermüdend sein, und manchmal wünschte ich mir, sie würde von den Exponaten sprechen, vor denen wir stehen, aber Ahnung hat sie. Man erfährt viel Neues und bekommt allerhand besondere Objekte zu sehen. Außerdem identifiziert sie mich aufgrund des Aufdrucks auf meinem T-Shirt sofort als Deutschen und kommt darauf immer wieder zu sprechen, wenn es deutsche Ausstellungsstücke gibt. Es gibt unter anderem ein Glas von der Rheinischen Glashütte.
Sie hat ein wunderbar banales, einleuchtendes Beispiel für das Motto des modernen Kunsthandwerks Form follows function. Sie trägt es in der Hand. Es ist eine Wasserflasche, die in der Mitte eine Vertiefung hat, so dass man sie besser halten kann.
Die ältesten Exponate stammen aus Ägypten und dem östlichen Mittelmeer, aus etwa vom 5. bis zum 1. vorchristlichen Jahrhundert. Kännchen und kleinere Flacons, vermutlich für Parfüm. Sehen wie Keramik aus, ist aber wohl Glas. Sehr schön.
Dann gibt es etwas ganz Kurioses, Trinkbecher und wiederum Flacons, wie verziert aussehend, mit unterschiedlichen Farbschattierungen auf dem Gefäß, grünliche Töne, bis ins Schwärzliche gehend. Die Gefäße sahen aber eigentlich gar nicht so aus, das, was man heute als Verzierung wahrnimmt, es sind Flecken durch Schmutz und Verwitterung. Der Zahn der Zeit hat an den Gefäßen genagt.
Der große Beitrag Roms war die Kunst des Glasblasens. Was genau das für einen Effekt hatte und wie man das vorher machte, verstehe ich nicht richtig.
Nach dem Niedergang des Römischen Reichs ging die Kenntnis der Glasherstellung zunächst verloren und wurde dann, wie so vieles andere, von den Arabern wiederentdeckt.
Ganz besonders schön sind zwei identische Trinkgefäße aus Barcelona, denen man ihr Alter nicht ansieht (XVI). Die waren von den Sarazenen hergestellt. Nach ihrer Ausweisung aus Spanien war es damit vorbei.
Zwei gläserne Pokale aus Böhmen, die nebeneinander stehen, haben eine ganz besonders Bedeutung. Der linke, mit einer breiten Schale, ist der für den Mann. Der andere, etwas eleganter und zierlicher, ist der für die Frau. Wenn man heiratete, wurde der weibliche Pokal auf (nicht unter!) den männlichen gestellt, sein Fuß war genauso breit wie der Rand der Schale des männlichen.
Nach der Erfindung des Porzellans kamen Ersatzprodukte auf, darunter etwas, das unsere Führerin opalina nennt, Glasporzellan. Hier ist ein blau-weißes Gedeck von Wedgwood zu sehen, das dem Porzellan täuschend ähnlich sieht.
Davor ein Tisch, aus schönem Holz. Er hat keine Tischdecke, weil man das Holz zeigen wollte. Um Tische an die engeren Räume in der Stadt anzupassen, kamen die Ausziehtische auf. Diesen hier kann man von 40 Zentimeter auf 1,20 vergrößern.
Durch Zugabe von Säure gelang es in Frankreich, Porzellan farbig zu machen. Später ist auch von der Zugabe von Blei die Rede, die das Porzellan transparenter machte und sogar von der Zugabe von Knochen, wozu auch immer.
Es kamen exotische Motive auf, mit denen die Stücke verziert wurden. Dabei orientierte sich Frankreich an Japan, England an China, Spanien an den Arabern.
Auf einem schönen, dunkelroten Paar aus Kanne und Schüssel sind chinesische Motive abgebildet. Man weiß aber, dass diese Gefäße nicht aus China kommen können, auch wenn sie chinesisch aussehen, ganz einfach deshalb, weil eine Spinne abgebildet ist. Das tat man in China nicht.
In verschiedenen Sälen hängen auch Glasfenster, oft mit religiösen Motiven. Man sieht einen etwas süßlichen Jesus, der die Kinder zu sich nimmt, von William Morris. Jesus hat ein Kind auf den Arm genommen, die anderen drei ziehen an seinem Gewand und wollen seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Unter das Zitat aus der Bibel, wo Jesus sagt, lasset die Kinder zu mir kommen. Dieses Glasfenster, erklärt unsere Führerin, sei colorado und pintado. Was bedeutet das? Glas unterschiedlicher Farbe wird in einzelnen, großen Mosaiksteinen zu dem Bild zusammengesetzt, so dass man die ganze Szene erkennt. Dann wird das Glas aber noch bemalt, um Schattierungen und Profile herauszubringen. Das sieht man sehr gut an dem Fleisch der Beine bei den Kindern. Die Muskeln und die Details der Haut sind erst durch die Malerei sichtbar geworden. Sonst hätte man ein künstliches, undifferenziertes Farbfeld gehabt.
Es gibt verschiedene Vitrinen mit modernen Glasgefäßen, aus Skandinavien, Japan, den USA. Bei den Gefäßen aus den siebziger Jahren, mit glatten Oberflächen und knalligen Unifarben, sieht man, dass das damals sehr modern gewirkt haben muss. Heute wirkt es nicht mehr so.
Von den Skandinaviern gefällt mir eine Schale von einer gewissen Vicke Lindstrand am besten. Sie schimmert bläulich, hat quer verlaufende dünne blaue und dickere schwarze Linien, die wiederum von dünnen schwarzen Linien gekreuzt werden.
Wie magisch ist ein ziemlich flacher, transparenter Teller von einer deutschen Künstlerin, Uta Majmudar. Wenn man daneben steht, hat er nichts Besonderes, lediglich ein paar konzentrische Kreise, die von kleinen Rillen gekreuzt werden. Wenn man sich darüber beugt oder den Teller aus der Distanz ansieht, wird der Teller bunt, das heißt, das Glas beginnt zu funkeln und zeichnet ein ganzes Prisma von Farben in die Luft. Wie von Zauberkraft.
Ein interessantes Einzelstück stammt von Dalí, ein eleganter feuerroter Sektkelch mit einem feinen dunkelroten Stil, der etwas an einen Finger erinnert.
Ungewöhnlich ein blass transparentes Objekt, das zunächst nur wie ein Klotz mit Rillen aussieht. Wenn man sich bückt und den Kopf zur Seite neigt, erkennt man darin einen halben männlichen Kopf. Hier geht es wohl in erster Linie um die Virtuosität des Künstlers.
Dann stehen wir vor einem Exponat eines japanischen Künstlers, und alle lachen schon längst, bevor ich auch den Witz verstehe. Der Stil des Glases hat die Form eines männlichen Fingers, und die Schale läuft unten in eine weibliche Brust aus, die der Finger umschließt. Sicher in Japan eine besondere Provokation.
Eine Museumsführung mit vielen Aha-Erlebnissen. Bei der Verabschiedung sagt die Führerin ¡Feliz Navidad! Am 27. Dezember! Zur Verabschiedung! Das ist durchaus an der Tagesordnung hier.
Auf dem Rückweg komme ich über eine Straße mit einem kuriosen Namen, der Calle Cabello. Die ist schmal, wird von schönen Häusern flankiert und hat ein schönes Straßenpflaster aus schwarzen und weißen Kieselsteinen. Hier ist es ganz einsam. Kann auch daran liegen, dass die Mittagszeit inzwischen angebrochen ist.
In dem lebendigeren Teil der Innenstadt komme ich an dem argentinischen Restaurant El Ceibo vorbei, und in Soho an einem Lokal, das Cantina Canalla heißt. Hier bin ich wieder auf gewohntem Terrain, in der Trinidad Grund. Ein Frisör wirbt mit Look good – feel good. Etwas für den Englischunterricht.
Jetzt geht es auf die Cuarteles. Hier sehe ich eine Seitenstraße, die Ölmühle heißt, Molinillo del Aceite, und ein Lokal mit dem Namen Lo Güeno. Auch das dürfte eine Anspielung auf den andalusischen Akzent sein.
Auf der Cuarteles klaue ich eine Apfelsine von einem der Orangenbäume, die sich die ganze Straße lang hinziehen. Ich schätze 25-30 auf jeder Seite, mit 40-50 Früchten pro Baum. Die Gefahr, für den Raub im Knast zu landen, ist überschaubar, und ich brauche nur einen kleinen Hüpfer zu machen, um an eine Apfelsine ranzukommen. Sie ist knochenhart.
Als ich im Pura Vida ankomme, bin ich der erste Gast. So ab 3 Uhr füllt es sich dann allmählich. Ich beobachte, wie an den anderen Tischen Wasser, Cola oder Bier getrunken wird, Wein bestellt niemand.
Die Wirtin und der Wirt haben beiden dick tätowierte Unterarme, und sie hat eine Art gekappten Irokese-Schnitt, mit ganz oben feuerrot gefärbtem Haar.
Diesmal gibt es Rippchen, costillas, wieder sehr lecker, mit Salat und Pommes. Dazu denselben Rotwein vom letzten Mal.
Zum Bezahlen habe ich nur einen 100-Euro-Schein. Statt ihn einfach auf den Teller zu legen, spreche ich das erst einmal an. Können Sie den wechseln? Da wirkt Reiseerfahrung nach, ein unschönes Erlebnis in der Studentenzeit aus London wirkt bis heute nach. Aber hier ist es sicher eine unnötige Vorsichtsmaßnahme. Die netten Wirte hier würden nicht auf die Idee kommen, jemanden um sein Geld zu betrügen.
29. Dezember (Freitag)
Der Tag beginnt mit dem Probieren der geklauten Apfelsine. Resultat: Sie ist sehr saftig, was man bei ihrer harten Schale gar nicht vermuten würde, viel saftiger als die gewöhnliche Apfelsine, aber ziemlich bitter. Der Geschmack erinnert an eine Pampelmuse.
Fast schaffe ich es, zu spät zum Bahnhof zu kommen und den Zug zu verpassen. Aber es geht noch gut.
Auf dem Bahnsteig Franzosen, Briten, Holländer, Italiener, Deutsche, Schweden.
Die Fahrt dauert eine knappe Stunde. Am Wegesrand Pinien und Palmen und ein baumhoher Strauch, der in einer Art Palmwedel endet. Immer wieder größere Plantagen von Olivenbäumen und Orangenbäumen. Dafür, dass der Boden so trocken aussieht, ist es noch erstaunlich grün. Die Sicht wird begrenzt von hohen, grauen, nackten Bergen. Vereinzelt halb aufgegebene Bauernhöfe, mehrere Haltestellen an halb verlassen aussehenden Orten, deren Namen ich noch nie gehört habe.
El Chorro ist zwar die Endstation des Zugs, aber nicht der Anfangspunkt des Caminito del Rey, sondern sein Zielpunkt. Also muss man jetzt erst einmal einen Bus nehmen, um zum Ausgangspunkt zu kommen.
Hier in El Chorro ist ordentlich Betrieb, überall streifen Leute suchend durch die Gegend, aber Gewimmel löst sich auf, als die Führer ihre Gruppen zusammenrufen. Wir anderen sind nur wenige, und so kann man hier noch in aller Ruhe seinen Kaffee trinken, zu einem passablen Preis.
Dann mache ich mich auf den Weg. Die gesamte Strecke ist knapp acht Kilometer lang. Die erste Strecke des Weges, etwa zwei Kilometer, gehören noch nicht zum Caminito del Rey, sie führen erst dorthin. Der Boden hier ist aus festgestampfter Erde, mit ein paar Steinen und Wurzeln, ganz bequem. Ich brauche eine halbe Stunde.
Es ist erstaunlich einsam, ich bin ganz alleine, und man hört keinen Laut außer mal einen zwitschernden Vogel. Ich begegne nur einem Ehepaar auf der ganzen Strecke. Die anderen haben sich in Luft aufgelöst.
Haben sie doch nicht. Am Eingang zum Caminito tauchen sie wieder auf. Hier, an einem Kiosk, muss man warten. Strenge Einlasskontrollen, wir werden in drei Gruppen eingeteilt, Eintrittskartenkäufer, mit Führer, ohne Führer. Hier heißt es warten, man wird nicht einzeln eingelassen. Dann bekommt man einen Helm und Anweisungen: nicht rauchen, Helm tragen, nicht vom Weg abweichen. Es gibt unterwegs kein WC, keinen Papierkorb, kein Wasser. Unterwegs liegt wirklich nirgendwo auch nur ein Schnipselchen Papier herum, und die Leute halten sich an die Vorgaben. Nur ein Franzose hat seinen Helm abgesetzt. Und eine Amerikanerin läuft telefonierend durch die Gegend.
Es geht abwechselnd über Planken, hoch über dem Abgrund, und über den alten Weg, der so ähnlich ist wie der Weg bis zum Eingang, hier blickt man zur Seite in die Schlucht.
Die Strecken über die Planken, am Anfang und am Ende des Wegs, sind die spektakulärsten. Hier hat man Ausblicke, die sonst nur Bergsteiger haben. Sowohl der Blick nach vorne, durch die Felsen hindurch in die Ferne als auch der Blick zur Seite, auf den Felsen und der Blick nach unten, in den Abgrund, ist grandios, überwältigend. Wenn ich nach unten blicke, wird mir es mir an zwei, drei Stellen etwas mulmig, und erst recht auf der Brücke aus Gitterstäben, die beim Gehen etwas nachgibt. Hier bin ich zufällig einmal ganz alleine, sonst hat man auf den Planken meist größere Gruppen vor sich, die sich in Schneckentempo vorwärts bewegen und die man nicht überholen kann, weil der Weg zu schmal ist.
Am Anfang der Strecke, vor dem Eingang, passiert man einen Stausee, hier auf dem eigentlichen Caminito, verläuft unter einem der Guadalhorce, ein reißender Fluss, der sich durch die Schlucht zwingt. Sein Rauschen hört man bis hier oben hin. An einer Stelle soll man fast hundert Meter über dem Abgrund sein.
Die allerschönste Aussicht ergibt sich an einer Stelle, wo der Weg einen Winkel bildet, und man von der eigenen Warte aus über den Abgrund hinweg auf die Felswand blickt, an der die Wanderer festzukleben scheinen. Atemberaubend.
Schon gegen Ende des Wegs kommen auf einmal Eisenbahnschienen in Sicht, auf der anderen Seite. Kann das sein? Am Ende des Weges gibt eine Schautafel Auskunft: Man hat hier Ende des 19. Jahrhunderts, tatsächlich zwei technische Wunderwerke geschaffen: den Stausee mit einem Wasserkraftwerk und die Eisenbahnlinie. Den Passagieren muss der Atem gestockt haben, wenn sie hier entlang gefahren sind. Die Eisenbahnlinie wurde gebaut, um Málaga mit anderen Teilen Andalusiens zu verbinden und war tatsächlich bis 2007 in Betrieb, als Málaga an den AVE angeschlossen wurde. Mit dem Stausee begann eine neue Ära bei der Elektrifizierung Málagas.
So langsam läuft der Weg aus, ich bin auf dem letzten Teil der Strecke, die jetzt wieder wie der Anfang ist, wieder fast alleine.
Dann erreicht man El Chorro. Der Weg mündet in eine kleine Straße, die gesäumt ist von Imbissbuden und Andenkenbuden. Irgendwo sehe ich das Schild Hay café – Here is coffee.
Die letzte Strecke zum Bahnhof hin ist noch mal ein ganz schöner Anstieg, und ich merke, wie meine Beine schwerer werden. Gott sei Dank kann man von hier direkt nach Málaga fahren, und auf den Zug brauche ich keine fünf Minuten zu warten. Für den ganzen Weg habe ich keine zweieinhalb Stunden gebraucht.
Als ich wieder in Málaga bin, bekomme ich am Bahnhof ohne Probleme die Fotogramas. Es ist ein Riesenpaket, denn die Zeitschrift wird zusammen mit einem Kalender und einer Beilage ausgegeben.
In einem Geschäft am Bahnhof, und dann bei Carrefour und am Ende bei Lidl bekomme ich ein paar Kleinigkeiten, typische Weihnachtsgebäck und ein paar Konserven, die ich mit in die Heimat nehmen will.
Als ich es mir zu Hause gemütlich mache mit einem Tee und mich am Ende endlich in einem völlig unaufgeräumten Zimmer ans Kofferpacken machen will, finde ich die Fotogramas nicht. Ich stelle alles auf den Kopf – weg. Muss ich wohl irgendwo liegen lassen haben. Ich suche bei Lidl und frage nach. Nichts. Dann bei Carrefour, wo man besonders freundlich und geduldig ist. Ein junger Mann guckt hinter der Theke nach, im Büro, bei den Einkaufswagen. Erst hat er nicht richtig verstanden, was ich wollte, aber jetzt ist ihm ein Licht aufgegangen. Ja, er habe so etwas gesehen, in einem Einkaufswagen, den eine Kundin benutzte. Mit dem Photo einer Schauspielerin auf dem Cover. Aber die Zeitschrift taugt nicht auf. Ich bedanke mich und mache mich auf den Weg zum Bahnhof, um ein neues Exemplar zu kaufen. Dann mache ich an einer Bäckerei noch mal kehrt, und da kommt er mir mit der Zeitschrift entgegen!
Als ich später ins nächtliche Málaga gehe, komme ich auf dem Weg zum Mesón Las Piedras, wo ich dieser Tage zu früh war, durch ein paar schöne Straßen mit schmalen, zweistöckigen Wohnhäusern mit erleuchteten, geschmückten Balkonen. Eine ganz andere Welt als die Héroe de Sostoa und die Parallelstraße mit ihren hässlichen Wohnblöcken, die sie verbinden.
Auf einem Schild wird Strafe angedroht, wenn man die Hinterlassenschaften seines Hundes nicht beseitigt: 500 €!
Auf dieser großen Straße sehe ich die Metzgerei Matahambre und das Reformhaus (herboristería) mit dem kuriosen Namen Culito de Rana – Froschschwanz.
Im Mesón de Piedras nehme ich auf Anraten des Wirts die Schweinbacken, carrillada de cerdo, ein Gedicht und ein guter kulinarischer Abschluss der Reise.
Am nächsten Morgen, als ich mich auf den Heimweg mache, regnet es.