16. September (Montag)
Das Storchennest, unsere Unterkunft, etwas abseits des Bodensees gelegen, ist ein Schmuckstück: Die Einrichtung, die Ausstattung, die Geräumigkeit, die Gastwirtin – man wüsste gar nicht, wo man Punkteabzug geben könnte. Hier gestern nach einer etwas umständlichen Fahrt anzukommen, war eine Wohltat. Als wir die Möbel der Wohnung bewundern, modern und traditionell gleichzeitig, verrät uns die Wirtin das Geheimnis: „Mein Mann ist Schreiner.“
Sie ist für die Verwaltung zuständig und beklagt, dass kein Weg mehr an den Portalen vorbei führt. Sie wird sonst einfach nicht gefunden. Das Portal, über das wir gebucht haben, kassiert 10% und ein weiteres, zwischengeschaltetes, weitere 15%. Da wundert man sich, dass die Wohnung trotzdem so kostengünstig ist.
Zu unserer Überraschung haben wir auf der Fahrt gestern irgendwo die Donau überquert. Die war da noch ein kleines Flüsschen. Die bekannteste Stadt auf dem Weg war Ravensburg. Eigentlich war der Tag zu schade, um ihn im Auto zu verbringen. Aber entschädigt wurden wir dann am Abend in einem Lokal in einem Nachbardorf, wo man auf der Terrasse sitzen und essen konnte.
Die freundliche Bedienung erklärt uns, sie hätten zu einer Notlösung gegriffen, die sich bewährt hat: Nur freitags, samstags, sonntags geöffnet. Es kommen genauso viel wie sonst die ganze Woche über.
Während des Essens entspinnt sich ein intensives Gespräch über das Duzen und Siezen, insbesondere über den Gebrauch von Ihr im Singular.
Auf der Rückfahrt in die Wohnung am Horizont ein feuriges Abendrot. Wir können uns nicht einigen, ob das der Volksweisheit gemäß ein gutes oder ein schlechtes Omen ist. Jedenfalls sollen die Temperaturen im Laufe der Woche fallen.
Heute steht als erstes Salem auf dem Programm. Erstens weil es nahegelegen ist, zweitens weil weder Dede noch ich es kennen von früheren Besuchen am Bodensee.
Wir fahren an Maisfeldern und Sonnenblumenfeldern vorbei. Die Weser lässt grüßen.
In Salem gibt es eine Führung. Gut gemacht, sehr kompakt, mit einer Menge an Informationen und Eindrücken, und das alles in neunzig Minuten.
Zuerst stehen wir an einem Bach, dessen Namen Dede heimatliche Gefühle verursacht: Aach. Dieser Bach, und Wasser überhaupt, ist eine der fünf Grundlagen des Reichtums der alten Zisterzienserabtei. Das Gelände wurde trockengelegt, der Bach kanalisiert, Regenwasser wurde gesammelt, es wurden Speicherseen angelegt, als Basis für die Fischzucht. Es gab unterschiedliche Becken, solche mit Frischwasser für Forellen, Saiblinge und Äsche, solche mit nährstoffhaltigem Wasser für Karpfen, Hechte und Aale. Da die Zisterzienser im Prinzip Vegetarier waren, kam durch den Verkauf der Fische viel Geld in die Kasse des Ordens, der sich der Demut, Armut und Bescheidenheit verschrieben hatte.
Die anderen Säule des Reichtums der armen Mönche waren Ackerbau und Viehzucht, Weinanbau, Ablassbriefe und Ländereien. Die zweitgeborenen Söhne von Adeligen wurden oft in ein Kloster gesteckt, wobei man als Begrüßungsgeschenk ein Stück Land mitbrachte.
Der historische Abriss ist folgendermaßen: 1134 wurde dem Orden das Land geschenkt, 1137 wurde das Kloster gegründet. Wie viele Mönche braucht man, um ein Kloster zu gründen? Mehrere von den Gästen wissen die Antwort: 12. Das Kloster wuchs, und die Verena-Kapelle wurde durch eine gotische Kirche ersetzt. Dann kam, im 18. Jahrhundert, der verheerende Brand. Alle Gebäude außer der Kirche wurden zerstört. Alle wurden in kürzester Zeit wiederaufgebaut. Was wir heute sehen, stammt aus dieser Zeit, außer der Kirche. Im Zuge der Säkularisierung wurde das Kloster aufgelöst. Der gesamte Komplex wurde von den Prinzen von Baden aufgekauft (einem Geschlecht, dem auch der letzte Reichskanzler vor dem 1. Weltkrieg entstammte). Das katholische Kloster fiel in protestantische Hände. Heute gehört alles dem Land Baden-Württemberg.
Auf dem großen Gelände stehen ebenfalls große Gebäude: die alte Apotheke, die Prälatur, die Pferdeställe, das Pfarrhaus, das Internat, die Kirche. Die ist außen einfach gehalten, ohne Wasserspeier, ohne Kirchturm, ohne Buntglas, mit wenigen Verzierungen. Die auffälligste davon ist die Salemer Blase, ein mandelförmiges Maßwerkfenster.
Innen sieht es anders aus. Die Kirche wurde von einem der Äbte, Anselm II., runderneuert, klassizistisch. An jedem Pfeiler steht ein Altar, und es wimmelt nur so von Skulpturen. Die auffälligsten sind die riesigen Apostelfiguren im Langhaus.
Die Farben sind eher gedämpft. Was ist denn das für ein Material? Unser Führer antwortet, bevor jemand die Frage stellt: Alabaster.
Um den Chor herum gruppieren sich vier wichtige Standbilder, darunter das von Bernhard von Clairvaux und das des Bischofs von Salzburg. Zu dessen Füßen steht ein rundliches Gefäß. Das steht symbolisch für das Gastgeschenk, das er mitbrachte, als er das Kloster besuchte. Was könnte wohl darin gewesen sein? Nein, weder Gold noch Geld. Er kam schließlich aus Salzburg. In dem Gefäß war Salz. Er brachte aber nicht etwa nur einen Topf Salz mit, sondern das an Salem ausgestellte Patent, die Saline von Hallein zu betreiben. Zu Bernhards Füßen ein Bienenkorb. Hat der Honig mitgebracht? Nein, er war ja auch schon längst tot. Der Bienenkorb, und damit der Honig, steht für Bernhards Redegabe. Er konnte so wunderbar “süß” reden. Das galt damals wohl als positiv.
Aus der Kirche hinaus gehen wir durch einen Seiteneingang. Der führt in den Kreuzgang. Von dem sehen wir nur zwei Gänge, beide mit ähnlich, aber doch auch anders dekorierten Decken. Die erste ist auffälliger, schwerer, die zweite leichter, verspielter, aber die Zierelemente unterscheiden sich nicht so sehr. Hier haben zwei Künstler, Vater und Sohn, ihre Handschrift hinterlassen, der eine dem Barock, der andere dem Rokoko verpflichtet.
In diesem Teil befinden sich die heutigen Schulgebäude. Die Schule ist nicht ganz billig, 4.000 € pro Monat. Etwa ein Drittel der Schüler bekommt ein Stipendium, die anderen sind Kinder wohlhabender Eltern. Zu den Absolventen von Salem zählen Richard v. Weizsäcker, August Oetker, Golo Mann, Hildegard Hamm-Brücher, Prinz Philip von England, Königin Sofia von Spanien, König Konstantin von Griechenland und Königin Sylvia von Schweden.
Es wird auf eine umfassende Ausbildung Wert gelegt. Das heißt, man muss nicht nur die klassischen Schulfächer belegen, sondern auch Kenntnisse in einem Handwerk wir der Druckgrafik erwerben und in einem sozialen Bereich wie dem Sanitärdienst.
Wir kommen in den ehemaligen Speisesaal. Der ist schön dekoriert und war als einziger Raum im ganzen Kloster beheizt, durch einen Kachelofen. Alle Kacheln sind bemalt, mit Motiven aus der Bibel und aus dem Klosterleben. Man sieht unter anderem Ordensleute in weißen und andere in braunen Kutten, Mönche und Brüder. Immer wieder betont unser Führer den wichtigen Unterschied zwischen den beiden und wie sehr die Mönche von der Knochenarbeit der Brüder profitierten.
Essen gab es zweimal am Tag, um 11 Uhr und um 17 Uhr. Zum Gebet in die Kirche ging es um ersten Mal um 2 Uhr, und dann siebenmal im Laufe eines Tages. Bei der ersten Mahlzeit waren die Ordensleute also schon 9 Stunden auf den Beinen! Das Essen war weitgehend vegetarisch, obwohl Fisch vorkam, und auch Biber gab es, denn der schwamm im Wasser und so konnten seine Beine als Flossen und er als Fisch interpretiert werden.
Nach der Übernahme des Klosters durch die Prinzen von Baden wurde aus dem Speisesaal eine Kirche. Die Protestanten hatten keinen eigenen Kirchenraum.
Dann kommt die Bibliothek. Sie ist heute mit ganz normalen Büchern bestückt, die jeder ausleihen kann. Allerdings können sie nur hier vor Ort, im Lesesaal, gelesen werden. Die Bestände der alten Bibliothek wurden von den neuen Besitzern verkauft, meist nach Heidelberg, an die Universität. Die Bücher waren den protestantischen Besitzern vermutlich ideologisch ein Dorn im Auge.
Die Amtsräume des Abtes kommen eher denen eines Fürsten gleich. Ein aufwändig eingerichteter Raum reiht sich an den anderen. Am Eingang, wo der Sekretär prüfte, ob man überhaupt zugelassen würde, ein dramatisches Gemälde des in Flammen stehenden Salem. Heute gibt es an jeder Ecke Feuerschutzmaßnahmen. Und es gibt ein Feuerwehrmuseum.
Ein besonders auffälliges Ausstattungsstück der Räume ist ein Schreibtisch. Auf dem liegen verschiedene Schreiben und Schreibwerkzeuge. Aber nur scheinbar. Sie sind in die Oberfläche in den Stuckmarmor eingearbeitet, täuschend echt, in einer besonderen Technik, der Scagliola-Technik.
Zum Abschluss gibt es noch einen Trompetenstoß: den Kaisersaal. Der wurde für den Besuch des Kaisers eingerichtet. Einen solchen Besuch hat es aber nie gegeben. An den Seitenwänden abwechselnd die Statuen von Kaisern und die Büsten von Päpsten, in den Ecken Medaillons, die an alte Reiche erinnern, das persische, das griechische Alexanders des Großen, das römische Cäsars usw.
Erstaunlich, was der Führer alles in die neunzig Minuten hineingepackt hat. Wir müssen das erst mal sacken lassen und machen Pause in einer Gartenwirtschaft, gleich vor der Alten Apotheke von Salem.
Vier Radfahrer, die gerade in den Garten kommen, grüßen freundlich, einer mit dem Emblem der einen Borussia, ein anderer mit dem Emblem der anderen Borussia auf dem Trikot. Ob das denn gut gehe, wollen wir wissen. Klar, sie seinen Anhänger, aber keine Fanatiker. Und zur Sicherheit bilden die beiden anderen einen Puffer zwischen den beiden.
Wir machen uns zu Fuß auf den Weg nach Birnau, über den Prälatenweg. Man darf annehmen, dass die Prälaten nicht zu Fuß gingen, sondern in ihren Wagen über den breiten Weg gefahren wurden.
Dede pflückt sich einen Apfel und beißt tapfer hinein, auch wenn man ihr ansieht, dass er sauer ist. Später ernten wir ein paar Weintrauben. Die sind lecker und süß.
Am Wegesrand Kastanienbäume, von einer Krankheit befallen, die einen mehr, die anderen weniger. Sie hängen zwar voller Früchte, aber ihre Blätter sind rötlich-braun, trocken und kräuseln sich.
Der Weg ist hervorragend ausgeschildert, mit Richtungsangaben und Entfernungsangaben. Dann aber stehen wir plötzlich im Wald an einer Gabelung. Kein Schild zu sehen. Rechts oder links? Wir müssen das Handy zu Hilfe nehmen. Das schickt uns in die richtige Richtung, aber vom Prälatenweg sind wir offensichtlich abgekommen. Bald geht es an der Landstraße entlang. Aber alles hat seine guten Seiten. Erst sehen wir Habichte majestätisch über ein Feld kreisen, dann ein kurioses Verkehrsschild, dass keiner von uns beiden je gesehen hat, ein Piktogramm, das einem sagt: Vorsicht, tief fliegende Störche!
Unterwegs erfahre ich, dass die lilafarbenen Sträucher, die ich schon auf dem Weserradweg immer wieder gesehen habe, Unkraut ist, ein eingewanderter Strauch, der sich überall verbreitet.
Die Hitze macht uns zu schaffen. Es geht über einen schattenlosen Weg, der kurz vor Birnau noch mal ordentlich ansteigt. Dann entdeckt Dede in der Ferne hinter einem Baum den Kirchturm von Birnau.
Dann kommt, etwas hoch gelegen, ein größeres Weinfeld in Sicht. Das dürfte auch dem Kloster Salem gehören. Die Weinstöcke hängen voller reifer Trauben. Dede beobachtet später, wie Arbeiter im Weinberg des Herrn das Laub der Weinstöcke entfernen. Das ist wahrscheinlich eine Vorbereitung auf die Weinlese. Die müsste unmittelbar bevorstehen. Hier kann vermutlich maschinell geerntet werden.
Vor den Weinstöcken haben die Mönche ein Schild angebracht: „Liebe Hundebesitzer! Vielen Dank, dass Sie die Hinterlassenschaften Ihres Hundes eintüten. Sollten Sie beabsichtigen, die vollen Tüten wieder bei uns in der Anlage zurückzulassen, hängen Sie doch bitte einen Zettel mit Ihrer Adresse dran. Wir liefern den Kot dann portofrei an die Haustüre.“
Dann kommen zwei Dinge gleichzeitig in Sicht, die das Herz erfreuen: der Bodensee und eine Gartenwirtschaft. Von der aus hat man einen schönen Blick auf den im Dunst liegenden See, auf dessen Wasser sich die Sonne spiegelt. Man kann Land sehen, aber wir sind nicht sicher, ob es das gegenüberliegende Ufer ist. Vermutlich ja. Dann müsste dort Konstanz liegen.
Wir genießen die Pause und den Blick auf den See. Dede bleibt bei ihrem alkoholfreien Bier, ich gönne mir ein Glas Weißwein, einen Müller-Thurgau, aus der Gegend. Der schmeckt mit jedem Schluck besser.
Für die Wallfahrtskirche von Birnau, die früher auch zu Salem gehörte, haben sich die Mönche einen perfekten Ort ausgesucht: ein etwas erhöht liegendes Plateau mit direktem Blick auf den See.
Die Kirche ist genordet. Ganz ungewöhnlich. Die Äbte fanden, dass die Fassade auf jeden Fall auf den See schauen müsse.
Die Kirche ist länglich, rosafarben gehalten, mit einem Querbau, in dem heute unter anderem ein Souvenirgeschäft untergebracht ist.
Von der relativen Schlichtheit des Außenbaus ist innen nichts zu merken. Hier regiert der Barock. Der Raum ist über und über dekoriert, mit Putten und Gemälden und Schnitzwerk, aber die Farben sind etwas gedeckter, erdfarben, als bei uns in Paulin.
Und hier regiert Maria. Ihr ist die Kirche geweiht. Sie erscheint in zwei großen Deckengemälden, der Empfängnis – ein Pfeil führt vom Heiligen Geist auf ihren Leib – und der Himmelfahrt, wo sie mit Königskrone erscheint, genauso wie in der Statue über dem Altar.
Es handelt sich bei der Kirche um einen Saalbau, einschiffig, es gibt nichts, was den Blick versperrt. Man hat das ganze Ensemble im Blick. Der Raum ist lichtdurchflutet und in sich völlig stimmig, ganz egal, was man vom Barock halten mag.
Es gibt überall Details zu entdecken. Leider entgeht uns eins, von dem wir erst später im Reiseführer lesen: Der Maler, Goetz, hat sich im Fresko der Marienkrönung selbst dargestellt, mit Pinsel und Krücken. Er war beim Malen vom Gerüst gefallen.
Auch hier entdecken wir wieder Uhren, ganz hinten an der Stirnwand angebracht. Der Führer in Salem hat sie als typisch für Zisterzienserbauten bezeichnet. Sie gemahnen an die Endlichkeit des Lebens, sind aber auch Aufforderung, die Zeit auf Erden zu nutzen.
Den Rückweg mache ich alleine. Diesmal finde ich den eigentlichen Prälatenweg, der meist durch den Wald führt. In den gerate ich beim Affenfelsen, dort, wohin uns auf dem Hinweg die Landstraße geführt hat. Einmal im Wald, ist man aber ziemlich verlassen. Hier gibt es so gut wie gar keine Schilder mehr. Aber einzelne entgegenkommende Wanderer und Radfahren weisen mir den Weg.
Als ich mit dem Auto zurückfahre, erscheint direkt vor mir am Himmel der Zeppelin, den wir gestern schon gesehen haben. Es scheint Rundflüge von Friedrichshafen aus zu geben, dem Heimatort des Zeppelins.
Wir fahren zurück in die Wohnung und am Abend, einem Tipp der Gastwirtin folgend, nach Pfullendorf zum Essen, an einen See. Wieder können wir draußen sitzen. Zum vierten Mal in Folge.
Da wir morgen dringend etwas für die Wohnung einkaufen müssen, kommt die Rede auf Einkaufslisten. Dede, erfahre ich zu meiner Freude, schreibt ihre Einkaufslisten so, dass die einzelnen Posten in der Reihenfolge erscheinen, in denen die Artikel in den Supermärkten anzutreffen sind.
An einem Platz außerhalb des Restaurants, umgeben von Industriebauten, steht eine Statue von Peter Lenk, dem umstrittenen Bildhauer, dessen Statue in Konstanz mir noch in Erinnerung ist. Dort hält, in Anspielung auf das Konzil, eine Kurtisane den Kaiser in der einen, den Papst in der anderen Hand. Hier ist es ein fettleibiger, alter Mann, mit einem Bocksgesicht. Über ihm schweben ein paar andere Figuren, die wir in der Dunkelheit nicht richtig erkennen können, außer einer direkt über ihm, einem nackten Schmetterlingsmann mit einem riesigen Bestäuber. Die Grundaussage des Werks ist klar und wird von dem Titel der Skulptur bestätigt: Jungbrunnen. Aber die Details kann man kaum erahnen. Die erfährt man aus der Beschilderung: Die Skulptur ist eine Anspielung auf Graf Bernadotte. Der war für seine Zeugungskraft bis ins hohe Alter bekannt. Nur bleibt die Frage, ob Bernadotte der alte Mann oder der Schmetterlingsmann ist. Oder beides.
17. September (Dienstag)
Zu den schönen Ortsnamen hier in der Nähe gehören Ahäusle, Hahnennest und Katzensteig.
Bei meiner ersten Reise zum Bodensee standen Konstanz, Schaffhausen, St. Gallen und die Reichenau auf dem Programm. Zu den Pfahlbauten hat es nicht mehr gereicht. Das wird heute nachgeholt.
Man kann nicht bis zum Ufer fahren, sondern parkt in einiger Distanz. Bei dem Spaziergang kommen wir an einer schönen Kapelle mit tiefem Dach und auffälligem Dachreiter vorbei, mit dem ungewöhnlichen Patrozinium Quirinius.
Ansonsten ist hier alles auf Tourismus eingestellt: Cafés, Ferienwohnungen, Andenkenläden überall und das obligatorische Bähnchen.
Bei der Pfahlbauten ist alles bis ins Detail organisiert, der Besucherandrang ist groß. Die Sekunden bis zum Beginn der Führung werden auf einem Bildschirm heruntergezählt.
Die wichtigste Erkenntnis: Die Pfahlbauten standen ursprünglich nicht im See, sondern am See. Am Ufer. Der Bodensee war kleiner als heute, da, wo wir jetzt stehen, war Land. Warum dann überhaupt Pfahlbauten? Sie schützten die Häuser tatsächlich vor Wasser, nach der Schneeschmelze im Frühling nämlich.
Die Pfähle wurden unten angespitzt und in den Sand gerammt. Durch Rütteln setzten sie sich dann im Sediment fest, ein bis zwei Meter tief in der Erde. Gerade das Wasser trug dann dazu bei, dass sie sich fest in der Erde verankerten.
Aber warum baute man überhaupt am Ufer? Einfach deshalb, weil das Roden von Land so aufwendig war. Und ganz Europa war zu der Zeit dicht bewaldet. So gibt es Pfahlbauten an vielen Orten, 111 davon wurden in die Liste der UNESCO aufgenommen. Es gab aber viel mehr.
Alles, was wir sehen, sind – natürlich – Rekonstruktionen. Die wurden nach den ersten Funden in den Zwanziger Jahren begonnen, mit teils heute umstrittenen Interpretationen der Pfahlbautenkultur. Davon ist bei der Führung aber nicht die Rede.
Das Ensemble mit den vielen Stegen zwischen den Häusern und dem sonnenbeschienenen See ist ausgesprochen schön. Die Häuser sind aus Holz, mit reetgedeckten Dächern in zwei Formen, meist Satteldächer, aber auch ein paar Walmdächer. Die Wände sind teils aus Holz, teils aus Lehm. Es gab nur einen Raum pro Haus. Man glaubt, dass hier 6-8 Menschen pro Haus lebten.
Das Vieh lebte nicht im gleichen Haus. Es gab eigene Häuser, die als Stall dienten. In einem sind ein paar Tiere nachgebildet, ein Schwein, das wie ein Wildschwein aussieht und ein Rind, das wie ein Bison aussieht.
Die Zeitspanne ist etwa 6000-3000, Steinzeit und Bronzezeit. Immer wieder betont der Führer: Es waren keine Jäger und Sammler, die hier lebten, sondern Ackerbauern. Die Ernährung war entsprechend schlecht. Meist Getreide, Weizen und Gerste (ob Bier gebraut wurde, ist nicht bekannt). Salat und Gemüse gab es kaum, und Fisch und Fleisch nur zur Ergänzung. Hätte man sich anders vorgestellt, direkt hier am See. Die Geräte waren alle vorhanden: Angel, Reuse, Netz.
Aber gab es denn keine Äpfel, will jemand wissen. Doch, sagt der Führer, und hebt einen hoch. Es ist ein Holzapfel, klein, hart. Den konnte man essen, aber von der Süße heutiger Äpfel hatte er nichts.
Unser Führer berichtet von einem Experiment, bei dem Familien freiwillig acht Wochen lang unter den Bedingungen der Steinzeit gelebt haben. Erstaunliches Resultat: Sie waren sehr angetan davon und fast enttäuscht, als die Zeit vorbei war. Was sie denn am meisten vermisst hätten, vor allem die Kinder? Nein, nicht das Handy, nicht die Schule, nicht das eigene Zimmer. Was denn dann? Schokolade! Es gab nichts Süßes damals. Allenfalls Honig. Aber ob die Pfahlbauern den hatten, bekomme ich nicht mit. Die Gruppe ist zu groß.
Den ganzen lieben langen Tag musste man Getreide mahlen, mühsam, mit der Getreidemühle, die aus einem Mahlstein und einer Steinkugel bestand. Wenn man heute so Mehl mahlen würde, würde es pro Kilo 50 € kosten.
Die schlimmste Zeit des Jahres war nicht der Hochwinter, sondern der Spätwinter, wenn die Vorräte ausgegangen oder verdorben waren.
Wie alt sind die Menschen geworden? Sie konnten achtzig Jahre alt werden. Wurden es aber meistens nicht. Wie alt im Vergleich zu uns? Der Führer lässt uns raten, was heute das Durchschnittsalter ist (nicht, wie er betont, die Lebenserwartung). Die meisten von uns liegen drüber. Das Durchschnittsalter beträgt heute 43 Jahre (bei uns, weltweit noch viel niedriger!). Damals war es etwa die Hälfte.
Bronze, als es sie gab, war ein wertvolles Gut. Sie wurde nur für wichtige Dinge verwendet wie für Werkzeuge. Zinn musste importiert werden, unter anderem aus Cornwall und aus der Bretagne. Der Handel scheint jedenfalls schon geblüht zu haben. Es wurde auch Bernstein von der Ostsee gefunden. Von Bronzeschwertern und Bronzeschilden hatte man hier vermutlich gehört, aber man hat sie nicht besessen.
Als Eisen aufkam, waren die Messer aus dem neuen Material sehr begehrt, aber anfangs nicht unbedingt besser als die aus Bronze. Das Neue hatte aber seinen besonderen Appeal. Damals schon.
Über Religion weiß man so gut wie nichts. Und was da ist, ist schwer zu interpretieren. Der Führer macht ein Gedankenexperiment: In 7.000 Jahren stoßen Außerirdische auf Reste unserer untergegangenen Zivilisation. Sie könnten, bei all den Marienstatuen, auf die Schlussfolgerung kommen, dass das Christentum ein Religion mit einer Muttergöttin war.
Spuren von Begräbnissen gibt es bei den Pfahlbauern keine. Ein Rätsel. Vielleicht wurden die Toten weiter im Inland bestattet.
In verschiedenen Pfahlbauten sind Ausstellungen untergebracht, in denen man sich nach der Führung umsehen kann. Dabei erfährt man, anhand einer Rekonstruktion, dass man Rad und Wagen kannte, mit der Besonderheit, dass man den Wagen in seine Einzelteile zerlegen konnte. Das war von Vorteil bei Reparaturen und wenn man Hindernisse im Gelände überwinden musste.
Es sind Gebrauchsgegenstände ausgestellt, aus Stein, aber auch aus Knochen. Man unterschätzt immer deren Bedeutung.
Aus der Bronzezeit gibt es ein sichelförmige Gerät, dessen Funktion man kaum erraten kann: Es ist ein Rasiermesser! Es rasierten sich, nimmt man an, nur die sozial höher Gestellten, und die ließen sich einen breiten Schnauzbart à la Asterix stehen.
Soziale Stellung drückte sich nicht so sehr im Hausbesitz aus – die hier nachgebauten Häuser sind alle mehr oder weniger gleich – sondern im Besitz von Geschirr.
Im Museum wird auch eine Frage gestellt, die mir schon die ganze Zeit auf den Nägeln brennt: Woher weiß man das alles? Die Schwierigkeit der Interpretation wird dargestellt anhand von kleinen Tierfiguren aus Blei, die man gefunden hat. Was war das? Spielzeug? Amulett? Kleiderbesatz? Standeszeichen? Man weiß es nicht.
Nach der Besichtigung fahren wir nach Meersburg. Über die wie immer vielbefahrene Bundesstraße am See entlang. In der Nähe des Sees ist immer viel Verkehr, ein bisschen weiter draußen ist es sehr ruhig.
In Meersburg geht es durch das hohe Stadttor gleich in die Altstadt hinein. Wir kommen zu dem unregelmäßigen Marktplatz mit sehr unterschiedlichen Häusern, eins schöner als das andere. In einem kleinen Café machen wir Pause.
Zum Droste-Haus müssen wir in die selbe Richtung zurück, durch das Stadttor aus der Altstadt hinaus. Unmittelbar vor dem Stadttor steht das Haus, in dem die älteste Trinkstube Meersburgs untergebracht ist, die Gaststätte Zum Bären. Hier tagt die Gesellschaft der 101 Bürger, eine Gesellschaft aus dem 19. Jahrhundert, deren Wurzeln aber bis ins Mittelalter zurückgehen. Der Gesellschaft geht es darum, “Spän und Zwietracht zu meiden”. Die auffällige Zahl 101 geht auf einen Zählfehler zurück.
Das Droste-Museum liegt erhöht, auf einem Hügel über dem See, mit Weinfeldern unmittelbar davor und einem phantastischen Fernblick. Der war für Annette tatsächlich ein wichtiges Argument für den Kauf. Der andere war, dass sie von ihrer Familie aus dem Münsterland weg wollte, die wenig Verständnis für ihre Schriftstellerei hatte.
Außerdem kam sie sehr günstig an das Haus. Es wurde versteigert, und sie hatte keine Mitbewerber und bekam das Haus für’n Appel und ‘n Ei, für 400 Taler. Die hatte sie zwar nicht, aber sie vertraute auf die Tantiemen aus der Veröffentlichung ihres Gedichtbandes.
Und dann gab es da noch die auch zum Haus gehörenden Weinberge. Sie schreibt ganz begeistert von dem zu erwartenden Ertrag – sie misst die Flüssigkeitsmenge in Ohm – und den verschiedenen Trauben, die hier angebaut wurden: Traminer, Burgunder, Muskateller. Man kann mit 2.500 Litern Wein pro Jahr rechnen, und da müsste sich doch ein Geschäft machen lassen. In einer Wandinschrift im Museum ist dann allerdings von einer großen Enttäuschung die Rede, als in einem Regenjahr die Trauben verfaulten und die Ernte miserabel ausfiel, aber das blieb wohl die Ausnahme.
Das Haus, das “Fürstenhäusle”, wurde von einem aus der Fugger-Dynastie erbaut, von Jakob Fugger, nicht von Jakob Fugger dem Reichen, sondern von Jakob Fugger, dem Fürstbischof von Konstanz. Aus der Zeit stammt allerdings nur der vordere, achteckige Zentralbau. Die längliche hintere Bau wurde von Annettes Nichten, denen sie das Haus vermachte, angefügt, aber so stimmig, dass man es nicht merkt.
Die untere Etage ist mit Möbeln aus der Zeit ausgestattet, und es gibt alle möglichen Gegenstände zu sehen, die Annette gehörten oder zu ihr gehörten, leider ohne jede Erklärung Stück für Stück aneinandergereiht. Auf ihrem Sekretär liegen originale Handschriften, Texte in Prosa, bei denen man sieht, wie intensiv sie immer wieder korrigierte, und einen Gedichttext, in ganz kleinen Buchstaben geschrieben.
Hinter der Eingangstür ein schöner Kachelofen. Mit dem wurde das ganze Haus geheizt, auch die obere Etage. Ob das reichte? Auch wenn der Bodensee ein mildes Klima hat, es wird ja nicht immer so warm gewesen sein wie in diesen Tagen.
Auch Levin Schücking kam nach Meersburg. Annette holte ihn unter dem Vorwand, ihre Bibliothek zu katalogisieren, 11.000 Bände. Man kann sich gar nicht vorstellen, wo die hier Platz gefunden haben sollen. Schücking fühlte sich wohl hier, bestärkte Annette in ihrer Arbeit, aber sah am Ende ein, dass er nicht hier bleiben konnte, wenn es mit seiner eigenen Arbeit vorangehen sollte.
Als wir wieder in die Stadt hinuntergehen, ist es immer noch heiß. Wir kommen zu dem hinter dem Marktplatz liegenden, ebenfalls unregelmäßigen Schlossplatz. Schloss? Wer hat denn hier residiert? Kommt man nicht so leicht drauf: die Fürstbischöfe von Konstanz.
Dann geht es über eine schmale Straße zum See runter. Hier wimmelt es von Souvenirshops: Es gibt Traumfänger, Kuckucksuhren und Bierseidel (engl. bierstein) zu kaufen. Eine Gaststätte heißt Torkel. Die Erklärung für diesen Namen wird es am nächsten Tag in Bodman geben.
Die Straße führt zur Burg, dem Vorgänger des Schlosses, auch Sitz (und noch länger Besitz) der Kurfürsten von Konstanz.
An der Seepromenade, wo sich ein Lokal an das andere reiht (alle voll), hat man das Gefühl, am Meeresufer zu stehen. Am Ende eines Piers steht eine weitere Skulptur von Lenk (von dem wir erfahren, dass er nicht vom Bodensee, sondern aus Nürnberg stammt). Die Figur wird beherrscht von Mesmer (der in Meersburg gelebt hat und gestorben ist). Er steht auf einem Käfig, in dem drei Wissenschaftler eingesperrt sind. An der anderen Seite enthält die Skulptur eine ziemlich drastische Anspielung an die Teufelsaustreibung. Über allem schwebt eine Möwe. Die hat das Gesicht von Annette von Droste-Hülshoff.
Bei der Weiterfahrt kommen wir an der Römerstraße vorbei. Einen Moment lang zögern wir: Waren die Römer wirklich hier? Ja, schon Cäsar war hier und bekämpfte die Helvetier. Der Bodensee hieß damals Lacus Brigantinus – Bregenz statt Konstanz.
Am Abend landen wir in einem anderen Ort im Frohsinn, einem Lokal mit richtigem Biergarten mit Tischen unter Platanen (allerdings nur durch eine Hecke von der direkt vorbeiführenden Landstraße getrennt). Hier gibt es deftiges Essen und Export.
18. September (Mittwoch)
Etymologie steht hoch im Kurs: Irgendwo haben wir gelesen, dass Meersburg nichts mit Meersburg zu tun hat und dass Salem kein Latein ist, obwohl es sich so anhört. Meersburg ist ein korrupte Form von Martinsburg, Salem von Salmannsweiler. Es wurde umgetauft und nach dem biblischen ‘Ort des Friedens, dem Sitz des Königs Melchisedek im Alten Testament, benannt. Bis ins 18. Jahrhundert existierten beide Namen Seite an Seite. Ausgerechnet mit der Säkularisation geriet der weltliche Name in Vergessenheit. Und dann ist da Waldbeuren, der Ort, in dem wir untergebracht sind. Dessen zweiter Bestandteil ist von althochdeutsch bur abgeleitet, genauso wie der von Benediktbeuern oder Ibbenbüren (auch im Vogelbauer und in englischen neighbour anzutreffen). Bei so viel Namenskunde trifft es sich gut, dass wir heute nach Bodman fahren. Da hat der Bodensee nämlich seinen Namen her. Der hat nichts mit Boden zu tun, sondern mit der hier befindlichen Kaiserpfalz, von der wiederum das gleichnamige Adelsgeschlecht seinen Namen hat.
Auf dem Weg nach Bodman kommen wir an einem schönen, großen Sonnenblumenfeld vorbei. Die Sonnenblumen stehen wie Soldaten in Reih und Glied und wenden sich der Sonne zu. Zwischen ihnen stehen blaue Blumen. Das ergibt ein schönes Gesamtbild.
Der Weg führt direkt an Schloss Hohenfels vorbei. Hier war bis vor kurzem die Unterstufe von Salem untergebracht. Aufgrund zurückgehender Schülerzahlen hat man jetzt diesen Standort geschlossen. Die Unterstufenschüler sind jetzt auch in Salem untergebracht.
Bodman liegt am äußersten westlichen Zipfel des Bodensees, so gerade auf der anderen Seite. Wir parken außerhalb des Ortes. Bodman hat zwar ein paar schicke Häuser am Seeufer, ist aber ansonsten ganz normal. Von dem Trubel der anderen Seeorte ist hier nichts zu spüren.
Auf dem Weg in den Ort sehen wir wieder einen Streifen mit bunten Blumen am Straßenrand, Dede zufolge für Bienen angelegt. Aber fürs Auge sind sie auch was.
An dem großen, modernen Gebäude, in dem die Touristeninformation untergebracht ist, hängt ein Relief von Lenk, mit Anspielungen auf den Abgasskandal, hochaktuell, sehr polemisch. Die Politiker und Wirtschaftsbosse stehen auf einem Schiff und feiern fröhlich im Angesicht des Untergangs. Am äußersten Ende des sich neigenden Schiffs kleine Figuren, die ins Meer kötzeln und pinkeln. Das Relief ist eine Anspielung auf Sebastian Brants Narrenschiff.
In der Touristeninformation erfahren wir, dass die Führung in den Wasserwerken, die wir ins Auge gefasst hatten, ausgebucht ist. Schade, wäre eine schöne Ergänzung des Programms gewesen.
Stattdessen entscheiden wir uns für eine kleine Wanderung. Wie vom ersten Tag an, scheint die Sonne unverdrossen, aber es ist kühler geworden, und das Wasser des Sees kräuselt sich.
Wir gehen weiter bis zur „Ortsmitte“. Die liegt am Ende des Ortes. Auf dem Weg liegt eins der ältesten Fachwerkhäuser Bodmans, mit dem Namen Torkel. Was bedeutet Torkel? Ein Schild gibt Auskunft: ein regionales Wort für ‚Kelter‘. Die zweite Frage: Femininum oder Maskulinum? Der Duden gibt Auskunft: beides. Diese(s) Torkel hat einen besonders großen Torkelbaum, heißt es. Was genau das ist, wird nicht klar, wahrscheinlich der Querbalken zum Pressen der Maische.
Hier ist Torkel metonymisch von der Kelter auf das ganze Haus übertragen. Ob Torkel auch was mit torkeln zu tun hat? Ja, hat es. Jemand, der torkelt, bewegt sich so hin und her, wie es der Torkel tut.
Wir kommen zum Schloss. Das war der Wohnsitz deren von Bodman, des Adelsgeschlechts. Sie waren lange nur Freiherren und bekamen erst spät den Grafentitel. Das Schloss ist klassizistisch und hat einen kleinen, abfallenden Barockgarten mit geschnittenen Buchsbäumen. Den wilden Schlosspark, von dem der Reiseführer spricht, finden wir nicht.
Dafür findet Dede am Rande des Gartens, versteckt unter Blättern, auf dem Boden rote Früchte: Walderdbeeren. Sehen nicht aus wie Erdbeeren und schmecken auch nicht so.
Wir sind die ganze Zeit die Pfalzgrafenstraße entlanggegangen. Der Name geht auf die Kaiserpfalz Pippins zurück. Das ist Pippin der Jüngere, der Sohn Karl Martells und Vater Karls des Großen. Ich hatte ihn viel früher verortet. Und mit Pippin dem Älteren verwechselt. In dem Zusammenhang kommt die Rede auf Chlodwig. Und wir können uns nicht einigen, ob er Franke oder Merowinger war. Dede führt ein Gedicht an, das sie seit Volksschultagen auswendig kennt, aber das will ich nicht als Argument gelten lassen. Das Internet bietet später einen Kompromiss an: fränkischer König aus dem Geschlecht der Merowinger.
Wir sehen kurz in die oft umgebaute Kirche hinein. Die hat einen schönen gefliesten Mittelstreifen. Von dem 12. Jahrhundert, aus dem die Kirche stammen soll, ist nicht viel zu sehen, obwohl die Grundform ein romanischer Quaderbau ist.
In einer Seitenkapelle ist das Epitaph derer von Bodman angebracht. Man sieht einen Ritter mit Rüstung und abgelegtem Helm. An den Wänden drum herum mehrere Gedenktafeln, aus dem 18. Jahrhundert. Wir versuchen uns an unserem Latein, mit vereinten Kräften, am Ende mit Erfolg. Jede der Tafeln gedenkt eines früh verstorbenen Kindes, alle in kurzen Abständen verstorben. Wenn man das so ganz konkret sieht, mit Namen und Daten, macht man sich die frühe so normale Kindersterblichkeit auf ganz andere Weise bewusst.
Auf dem Weiterweg kommen wir an einem kleinen Geschäft vorbei, mit wenig Platz auf dem Bürgersteig davor. Im Schaufenster hängt dieses Schild: Privad. Do kosch dein Karra ned nostella.
Aus dem Ort hinaus führt ein Wanderweg oben in die Hügel, am Wasserturm vorbei. Dort ist ein Obstlehrpfad angelegt. Wir sehen Schwarzdorn, Eberesche, Mispel, Zwetschgen, Birnen, Äpfel. Vor allem Äpfel.
Den Schwarzdorn habe ich gestern kennengelernt, in Meersburg, in breiten Strähnen eine Mauer herabhängend, schwarz-gelb, sehr schön.
Die Mispel blüht erst nach dem letzten Frost und ihre Früchte, volkstümlich auch Hundsärsche genannt, sind erst nach dem ersten Frost reif.
Die Äpfel wachsen an Spindelbäumen. Einige der Anlagen haben Netze. Zum Schutz vor was? Vor Hagel, wird man informiert. Die Netze würden eigentlich nicht gebraucht, nur eigenen sich Früchte, die vom Hagel beschädigt wurden, nicht als Tafelobst. Wir sind da zu anspruchsvoll. Andere Obstreihen stehen ohne Hagelschutz da. Deren Äpfel werden als Most verwendet.
Die Plantagen sind auch durch elektrische Zäune gesichert. Gegen Obstdiebe? Nein, meint Dede, gegen Rehwild.
Wir erfahren, dass Elstar aus Holland und Braeburn aus Neuseeland kommt und dass sie 20% bzw. 10% Marktanteil haben.
Als wir an einer Abbiegung Birnen in Reichweite haben, kann Dede nicht widerstehen: Es gibt eine Williams Christ für jeden. Hart, saftig, lecker, auch wenn man erst meint, sie könnten noch etwas reifer sein.
Wenn man höher kommt, verschwinden die Obstgärten. Das Obst braucht die Nähe des Sees.
Dann geht es ziemlich steil in den Ort hinunter zum Parkplatz. Wir fahren, dem Tipp des jungen Manns in der Touristeninformation folgend, nach Haldenhof, hoch über dem Bodensee gelegen. Dort gibt es einen Biergarten und den bisher schönsten Blick auf den See. Und reichlich Sonne, wie in all den Tagen. Ein passender Abschluss der Reise.