9. April (Samstag)
Koblenz liegt bekanntlich in der Schweiz, an der Aare. Genauer gesagt, an der Stelle, wo die Aare in den Rhein fließt. Und dieser „Zusammenfluss“ ist genau das, was den Namen Koblenz motiviert. Denn dahinter steckt das lateinische confluentes. Was wiederum die Namensgleichheit mit dem deutschen Koblenz am Zusammenfluss von Mosel und Rhein erklärt. Gleicher Geschichte, gleicher Name. Bis in frühe 20. Jahrhundert schrieb man hier am Rhein Coblenz.
Koblenz ist also eine römische Gründung, genauso wie andere Städte am Rhein – Xanten, Köln, Neuss, Mainz. Die erste Siedlung entstand auf einem Hügel in der heutigen Innenstadt. Später wurde der Ort dann zu einer veritablen Stadt ausgebaut, mit Stadtmauer und 19 Türmen. Schlappe 500 Jahre dauerte die römische Herrschaft. Dann kam Koblenz zum Frankenreich und dann, als Geschenk von Heinrich II., zum Erzbistum Trier. Bis Napoleon kam. Und dann, nach dem Wiener Kongress, wurde Koblenz preußisch, Teil der preußischen Rheinprovinzen. Bis zum 2. Weltkrieg. Danach kam es zur französischen Besatzungszone. Nach der Gründung der Bundesrepublik kam es zu dem behelfsmäßig zugeschnittenen Land Rheinland-Pfalz, gegen den Willen der Franzosen. Die wollten ein unabhängiges Land, das Rheinland, als Pufferzone zwischen Deutschland und Frankreich errichten. Dazu kam es nicht. Wer weiß, wie die Geschichte dann verlaufen wäre? Für kurze Zeit war Koblenz nach dem Krieg Hauptstadt von Rheinland-Pfalz. Es kam zu einem Tauziehen zwischen Koblenz und Mainz. Dabei war der Ministerpräsident, Altmeier, selbst gebürtiger Koblenzer, auf der Seite von Mainz. Er wusste, dass Koblenz bei den Pfälzern nicht durchzusetzen war.
Von meinen früheren Besuchen habe ich den Eindruck, dass die Römer im heutigen Koblenz kaum präsent sind, wohl aber Trier und Preußen. In den nächsten Tagen will ich mir das noch mal im Detail ansehen.
Mein erster Tag, der mit seinem Wetter dem April alle Ehre macht, aber schon eine Verbesserung ist gegenüber dem Schneegestöber in der Eifel bei der Anfahrt gestern, dient der Vorbereitung und der Orientierung in der freundlicherweise zur Verfügung gestellten Privatpension, oben auf den Hügeln über Koblenz.
Später habe ich Grund, zu bedauern, das Angebot abgeschlagen zu haben, für heute die Dauerkarte für das Kölner Stadion zu übernehmen. Muss ein mitreißendes Spiel gewesen sein.
10. April (Sonntag)
Angekündigt war ein sonniger Tag. Aber als ich am Morgen aus dem Fenster sehe, schneit es! Die Sandalen bleiben vorerst im Koffer.
Glücklicherweise hält das Spektakel nicht lange an. Ich mache mich zu Fuß auf den Weg in die Altstadt.
Unten geht es ein Stück am Rhein entlang. Hier weht ein eisiger Wind. Es fühlt sich wie Januar an. Ganz im Kontrast dazu die Bäume, die bereits ausgeschlagen sind oder sogar blühen.
Auf der anderen Uferseite sieht man die langgezogene Front des Kurfürstlichen Schlosses, klassizistisch, in Grau und Weiß gehalten, und rechts daneben ein mächtiger neoromanischer Bau, das alte Regierungsgebäude der Preußen. Recht davon, etwas von der Uferfront versetzt, die vier Türme der Kastor-Kirche, dann die Seilbahn und das Deutsche Eck. Schräg hinter mir, auf dieser Seite, die Festung Ehrenbreitstein.
Vor mir ein kleiner Jachthafen, und direkt gegenüber das Pegelhaus, das sich durch seinen weißen Anstrich und seine achteckige Form von den übrigen Gebäuden absetzt. Es heißt Pegelhaus wegen des Pegels, der noch vorhanden ist und den Pegelstand anzeigt. Ursprünglich war es aber ein Tretradkran zum Beladen und Ausladen der Schiffe – eine der vielen Parallelen zu Trier, die ich im Laufe der Tage entdecken werde. Nur kann man hier die ursprüngliche Form nicht mehr so einfach erkennen, da der Ausleger nicht mehr vorhanden ist.
An dieser Seite des Ufers steht eine Art eiserner Korb auf einer Schiene. Da steht man ratlos davor, aber eine dazugehörige Inschrift erklärt, dass mit solchen Geräten die Fahrrinne des Flusses freigehalten wird, so dass immer eine Mindestwassertiefe für die Schiffe garantiert ist. Solche Maßnahmen zum Rheinausbau, erfährt man hier, gehen auf das Jahr 1817 zurück. Damals wurde der Oberrhein begradigt. Dabei wurde der Fluss um sagenhafte 80 Kilometer kürzer!
Es geht noch ein Stück weiter, am Hotel Diehl vorbei, in dem gelegentlich wohlbetuchte Verwandte untergebracht werden, zur Pfaffendorfer Brücke. Hier kann der Wind so richtig zulangen. Am Ende der Brücke blickt man hinunter auf das Weindorf, ein Lokal, über dessen Qualität die Meinungen innerhalb der Großfamilie auseinandergehen.
Dann geht es Richtung Altstadt. An einem unansehnlichen Brunnen ist eine der vielen neuen Figuren aufgestellt, die wohl ganz normale Bürger bei ganz normalen Tätigkeiten darstellen. Sie sind über die gesamte Altstadt verteilt. Hier eine nicht ganz schlanke Frau mit Badeanzug und Badekappe, die dabei ist, in den Brunnen zu springen.
Man überquert die Casinostraße. Die Erklärung unter dem Straßenschild weist darauf hin, dass es sich nicht um ein Spielcasino handelt, sondern um das Casino einer 1808 gegründeten Bürgergesellschaft, eher ein Debattierclub, ein Treffpunkt fortschrittlicher Intellektueller. Wieder eine Parallele zu Trier.
Schon in der Altstadt, kurz vor dem Münzplatz, stoße ich auf zwei Bronzeskulpturen, die volkstümliche Typen darstellen, einen Trommler und eine Marktfrau mit Polizist. Das dazugehörige Zitat verstehe ich aber nicht.
Über den Entenpfuhl und an der Liebfrauenkirche vorbei geht es zum Zentralplatz. An der Kreuzung davor eine Baustelle, an der auch heute, Sonntag, gearbeitet wird. Hier baut die Commerzbank.
Auf dem Zentralplatz das hypermoderne Forum, ein Kulturzentrum mit einem durch eine Freifläche davon abgetrennten Einkaufszentrum. Beide verbindet die Form, dieselbe Geschosshöhe und eine abgerundete „Spitze“, wenn das das richtige Wort ist. Die Fassaden der beiden Gebäude sind aber ganz anders. Das Einkaufszentrum hat eine Plastikdekorationen aus grünen Weinblättern. Deren Funktion ist es, das dahinter befindliche Parkhaus zu verdecken. Das Kulturzentrum hat eine Fassade aus bedrucktem Stein. Die macht das Innere unsichtbar. Für mich ist da alles neu. Komischerweise war ich noch nie hier, obwohl ich sonst eigentlich in allen Ecken der Altstadt schon mal gewesen bin.
Das Kulturzentrum beherbergt das Mittelrheinmuseum, das Romanticum, die Stadtbibliothek und die Touristeninformation. Dort beginnt die Stadtführung.
Als es losgeht, kommen die ersten Sonnenstrahlen heraus. Wir sind nur zu dritt, wenn man Theo ausnimmt, das schlafende Baby des Ehepaars in dem Kinderwagen. Es gibt während der ganzen Tour keinen Mucks von sich.
Wir gehen schnurstracks auf den Platz mit dem Schängel zu, der emblematischsten Figur von Koblenz. Es gibt ein Schängel-Center, eine Schängel-Apotheke, und eine wöchentlich erscheinende Zeitung, die Schängel heißt. Der Schängel verkörpert den traditionellen Lausbuben, und als solcher spuckt die Figur auf dem Brunnen in regelmäßigen Abständen Wasser auf die Besucher hinab. Heute ist Schängel fast ein Ehrentitel, aber das war er anfangs überhaupt nicht. Das Wort ist abgeleitet von Jean, und zwar von dem Diminutiv, und bedeutet also so etwas wie ‚Hänschen‘. Das Wort kam in der Franzosenzeit auf. Koblenz gehörte, genauso wie Trier, 30 Jahre zu Frankreich, und die ersten Schängel waren die Kinder französischer Besatzungssoldaten, oft unehelich. Die hatten keinen guten Leumund.
Gleich gegenüber dem Schängel ist das vergitterte Eingangstor zum Rathaus. Das nimmt ein historisches Gebäude ein. Hier war ursprünglich das Jesuitengymnasium untergebracht. Das existiert bis heute noch, ist aber in ein modernes Gebäude ganz in der Nähe umgezogen. Die Kurfürsten beriefen die Jesuiten nach Koblenz als Gegengewicht zur Reformation, die als unheilvoll angesehen wurde. Da war die Erziehung von bald 300 Jungen in einem katholischen Internat ein wirksames Gegenmittel.
Wenn man durch die Arkaden geht, kommt man auf einen Platz. Das ist der Jesuitenplatz. Gleich rechts ein wenig in die Ecke gedrängt die historische Fassade der Jesuitenkirche mit einer schönen, aber zu groß geratenen Rosette. Dahinter eine ganz moderne Kirche. Die nennt sich jetzt City-Kirche.
Mitten auf dem Platz steht die Statue eines Mannes, der mir bisher unbekannt war und der außerdem noch den Allerweltsnamen Müller trägt. Es ist der in Koblenz geborene Physiologe Johannes Müller. Er beschäftigte sich vor allem mit Sinnes- und Nervenphysiologie und ist der Verfasser eines grundlegenden Werks über die Nervenphysiologie. Einer seiner Schüler war Rudolf Virchow.
Wir kommen auf eine Straße in der Fußgängerzone. Hier hat man mit Pflastersteinen ein Bild in das Straßenpflaster eingefügt: zwei Enten. Wir sind auf dem Entenpfuhl. Die Erklärung folgt auf dem Fuß. Die Straße macht hier eine leichte Biegung, und ihr Verlauf ist genau der der alten römischen Stadtmauer. Als die abgerissen wurde, entstand hier ein Wassergraben, und auf dem ließen sich Enten nieder. Der Entenpfuhl. Dazu passt auch die Skulptur, die mir auf dem Hinweg aufgefallen ist. Ein Mädchen scheucht drei Enten in die Luft. Erinnert mich die Kinder, die ich auf dem Hinweg an einem Brunnen gesehen haben. Die machten sich einen Spaß daraus, die Tauben aufzuscheuchen, wurden aber von ihren Großeltern ermahnt, das nicht zu tun: „Wie würdet ihr euch denn fühlen, wenn jemand euch so verscheuchen würde?“ Der Vergleich hinkt etwas, aber in Ruhe lassen sollte man die Vögel auf jeden Fall. Für die Kinder aber eine große Enttäuschung.
Wir kommen zur Liebfrauenkirche. Sie liegt, von hier, von Süden aus gesehen, etwas erhöht. Mehrere Treppenstufen führen zu ihr hinauf. Das hat seinen Sinn. Hier oben, an der höchsten Stelle der Innenstadt, befand sich das römische Zentrum. Genau wie in Trier hatten die Römer auch hier die Hochwassergefahr im Blick.
Diese Ansicht, von unten auf Chor und Langhaus der Liebfrauenkirche und die beiden Türme, ist eine der schönsten in Koblenz. Die Türme scheinen auf den ersten Blick gar nicht zu der Kirche zu gehören. Sie sind mächtiger als der Rest der Kirche und nicht verputzt.
Oben, am Ende der Treppe, vor der Kirche, steht ein Rest der römischen Stadtmauer. Unsere Führerin kann die Frage ohne Nachdenken beantworten, um welchen Stein es sich handelt: Graubacke. Der wird hier im Mittelrheintal abgebaut. Später kehrt er auch noch an den Fassaden einiger Häuser wieder.
Jetzt kommen wir auch zu der Skulptur mit der Marktfrau und dem Polizisten. Und jetzt bekommen wir eine Erklärung. Die Marktfrau hat sich bei dem Polizisten über einen Hund beschwert, und der hat dafür dem Hund eine Verwarnung ausgestellt. Aber was hat der Hund getan? Die Marktfrau sagt: „Dat es mir jetzt zo bont, do hat gepinkelt an mein Mann“. Aber wo ist der Mann? Es ist gar kein Mann gemeint. Mann steht hier für den Korb, in dem sie ihre Waren feilbietet, Kartoffeln und Blumenkohl. Ein Mann entspricht der Einheit, die ein Mann alleine tragen kann!
Wir kommen zum Plan, einem der zentralen Plätze der Altstadt. Er ist sehr schön angelegt und hat sehr unterschiedliche Häuser, die aber trotzdem ein schönes Ensemble bilden. Ganz in der Mitte ein barockes Haus, zu dem eine doppelläufige Freitreppe mit einem schön verzierten Geländer hinaufführt. Im ersten Stockwerk ist an der Fassade ein Wappen angebracht. Man sieht das rote Kreuz des Erzbistums Trier und eine Krone. Wenn man genauer hinsieht, entdeckt man noch eine zweite Krone, etwas versteckt in dem goldenen Schmuck um das Wappen herum. Die eine Krone gehört der Gottesmutter, die andere dem preußischen König.
An einem Ausgang des Platzes die Ecke der vier Türme. Eigentlich sind es nur vier Erker, aber die sind so hoch und ziehen sich über zwei Stockwerke hin, dass sie fast wie Türme wirken. Sie sind schön verziert, jeder anders, und bei jedem nimmt die Verzierung Bezug auf die ursprüngliche Funktion des Hauses.
An einem Haus erinnern Fahnen, Musketen, Geschütze und Hörner an die kurtrierischen Soldaten, deren Hauptwache sich hier befand. Die Soldaten nahmen die Aufgaben wahr, die heute die Polizei wahrnehmen würde.
Wir gehen weiter und sehen in einer der Fußgängerstraßen eine Bronzeplatte in den Boden eingelassen. Sie bezeichnet den Verlauf der römischen Stadtmauer, mit zwei Toren und achtzehn Türmen. Wieder eine Parallele zu Trier: Die Stadtmauer hat nur drei Seiten, die vierte Seite wird von der Mosel eingenommen. Und wo ist der Rhein? Unsere Führerin tritt ein ganzes Stück zur Seite und bezeichnet die Stelle, an der sich der Rhein befindet, außerhalb der Stadtmauer. Die römische Stadt war also hauptsächlich an der Mosel? Nein, nicht hauptsächlich. Ausschließlich.
In einer Gasse sehen wir ein Haus mit einer Nische im ersten Stockwerk. In der Nische steht die Figur des Hl. Josef als Beschützer des Hauses. Das hat funktioniert. Dieses Haus blieb als eins der wenigen dieses Viertel im Krieg unzerstört.
Wir kommen in den Brunnenhof, einen ganz stillen, länglichen Hof, in den man sich nicht verlaufen würde. Hier ist ein großes Fresko an der Wand angebracht. Das erinnert an 842, das Jahr, in dem sich hier in Koblenz, in St. Kastor, die Enkel Karls des Großen trafen, Karl der Kahle, Lothar und Ludwig der Deutsche. Es ging um das Erbe. Wie wird das Riesenreich aufgeteilt, wer bekommt was von dem Kuchen? Über diese Frage wurde nicht nur verhandelt, es wurden auch Schlachten geschlagen und Kriege geführt. In Koblenz stand Verhandlung auf der Tagesordnung. Man konnte sich nicht einigen, aber immerhin. Ein erster Schritt war getan, und diese Verhandlungen führten letztlich zum Vertrag von Verdun und zur Teilung des Reichs in ein Ostreich, ein Mittelreich und ein Westreich. Das Ostreich ging an Ludwig, das Westreich an Karl und das Mittelreich an Lothar. Etwas vereinfacht gesagt, wurde aus dem Ostreich das spätere Deutschland und aus dem Westreich das spätere Frankreich. Das Mittelreich, später Lotharingen genannt, das bis nach Italien ging, wurde zum ständigen Zankapfel. Wie dem auch sei, dass die Verhandlungen hier stattfanden, ist ein Beweis dafür, wie bedeutend Koblenz und St. Kastor zu dieser Zeit waren.
Der nächste Platz, an den wir kommen, ist der Florinsmarkt, benannt nach der ebenfalls doppeltürmigen Florinskirche. Die Florinskirche wurde von den Preußen zur evangelischen Kirche gemacht.
Unsere Aufmerksamkeit nimmt aber der Augenroller in Anspruch, die Figur an dem zentralen Gebäude des Platzes, dem ehemaligen Mittelrheinmuseum, hoch oben im zweiten Stockwerk, über dem Gesims und unter der Uhr. Die Figur rollt mit den Augen, und zwar im Sekundentakt, und jeweils zur Viertelstunde streckt sie die Zunge raus. Die Figur soll den angeblichen Straßenräuber Johann Luther von Kobern darstellen, der unschuldig verurteilt worden war und, um seiner Verachtung für die Justiz Ausdruck zu verleihen, dem Richter die Zunge herausgestreckt haben soll.
Während wir die Erklärungen hören, fällt mir ein Bauzaun an einem der Gebäude auf, auf dessen Plastikplane das Motto der Firma steht, die für den Umbau des etwas heruntergekommenen Florinsmarkts verantwortlich ist: „Im Alter zählen die inneren Werte.“ Darunter in grottenschlechtem Englisch: „The inner values count in high age.“
Wir kommen zur Mosel runter. Die teils historischen Häuser, die hier stehen, standen früher direkt am Fluss. Die ganze breite Promenade wurde erst später angelegt, dem Wasser abgerungen.
Das gilt auch für das Haus mit dem Namen Deutscher Kaiser, einem der ältesten erhaltenen Profanbauten von Koblenz. Es ist schmal und hoch und etwas in Schieflage geraten. Zu seiner Unterstützung hat man ihm ein modernes Haus an die Seite gestellt, gleiche Geschosshöhe, gleiche Breite. Der Mittelteil dazwischen dient als Bindeglied zwischen den beiden Bauteilen, als Bindeglied zwischen Jung und Alt. Auf diesem schmalen Streifen hat man ein illusionistisches Gemälde angebracht. Es täuscht vor, dass man nicht auf die Fassade sieht, sondern durch die Fassade hindurch auf den freien Himmel dahinter. Täuschend echt. Der Durchblick erfolgt durch zwei Arkaden, getrennt durch eine waagerechte Strebe. Auf dieser Strebe sitzt eine Figur, ein junger Mann. Der blickt versonnen in Richtung auf das Alte. Von der Strebe hängt ein Pendel hinab, eine Anspielung auf das Foucaultsche Pendel, mit dem die Bewegung der Erde bewiesen wurde. Wie es sich hier auf Alt und Neu bezieht, wird mir aber nicht so richtig klar.
Wir kommen auf das ehemalige Gelände des Deutschen Ordens und zum Deutschherrenhaus, das jetzt das Ludwig-Museum beheimatet. Es widmet sich vor allem der modernen französischen Kunst, und als Vorgeschmack daraus stehen hier auf dem Rasen zwei moderne Eisenskulpturen. Die eine bildet eine Parfümflasche von Chanel, die andere eine Handtasche von Gucci nach. Vor dem Museum selbst steht der auffällige, nach oben gereckte goldene Daumen. Er versteht sich wohl als Geste des guten Glücks, des Gelingens, der Zustimmung.
Peter Ludwig, der Mann mit der ungewöhnlichen Biographie – Kaufmann und Kunsthistoriker – war selbst in Koblenz geboren worden. Und wurde, zusammen mit seiner Frau, zu einem bedeutenden Kunstsammler. Am Ende hatten die beiden 50.000 Kunstobjekte zusammengetragen.
Die Stadtführung endet am Deutschen Eck, und zwar an dem ursprünglichen Deutschen Eck, an der heutigen, vermutlich preußischen Begrenzungsmauer des Areals, das früher dem Deutschen Orden gehörte. Der Name Deutsches Eck ist bekanntlich davon abgeleitet. An dieser Stelle mündete die Mosel ursprünglich in den Rhein.
Das, was heute Deutsches Eck genannt wird, war ursprünglich eine Insel, die erst mit der Errichtung des Denkmals mit dem Land verbunden wurde. Das Denkmal Wilhelms I. wurde auf Betreiben seines Enkels, Wilhelm II., errichtet. Bei der Wahl des Standorts spielten wohl doch deutschnationale Motive eine Rolle, auch wenn die Bezeichnung Deutsches Eck diese Bedeutung ursprünglich wohl nicht hatte. Aber Deutsches Eck – das muss einfach zu gut geklungen haben in des Kaisers Ohren.
Das Denkmal wurde bekanntlich im Krieg zerstört. Wir sehen auf einem Photo, wie der Kopf des von einem Angriff getroffenen Kaisers wie an einem seidenen Faden am Hals herunterhängt. Die Reste der zerstörten Statue, Eisen und Kupfer, wurden vermutlich entweder gestohlen oder eingeschmolzen für die Rüstungsproduktion.
Nach der Wiedervereinigung gab es dann eine, unter anderem von Kohl unterstützte Kampagne zur Wiedererrichtung des Denkmals. Die ursprünglichen Entwürfe waren noch vorhanden. Das erleichterte die Rekonstruktion. Die Einzelteile der Statue wurden im Ruhrgebiet gefertigt und dann auf dem Wasserweg hierhergebracht. Die Einzelteile wurden dann hier montiert und die fertige Statue – zu der neben dem Kaiser auch eine ihn flankierende weibliche Figur gehört – mit einem immensen, eigens für diese Aktion gefertigten Kran auf den Sockel gehievt. Es herrschte Volksfestatmosphäre.
Was immer man von dem Denkmal halten mag, es hat das Deutsche Ecke auf jeden Fall aufgewertet und zu einem Anziehungspunkt für Besucher und Einheimische gemacht.
Hier endet die Führung. Es gab viele interessante Details und auch etwas zur Stadtgeschichte, aber von Koblenz als Garnisonsstadt war überhaupt nicht die Rede, und auch von keiner einzigen Brücke.
Ich gehe am Rhein zurück entlang und dann über die Pfaffendorfer Brücke. In Ehrenbreitstein, dem Stadtviertel unter der Burg, dessen Wert familienintern auch umstritten ist, mache ich Halt im Café am Markt. Den guten Kuchen von dort habe ich noch von der Radtour in Erinnerung. Da war das Café die letzte Station vor dem beschwerlichen Anstieg zum Ziel.
An der Theke bestellt eine Frau „vier Stücke Kuchen“. Da will jemand päpstlicher als der Papst sein. Der Plural widerspricht völlig dem Sprachgebrauch.
Während ich meinen Kuchen esse, höre ich, wie die Eigentümerin der Kellnerin sagt, sie hasse es, wenn die Wand hochgezogen werde. Mit der Wand ist wohl die Wasserschutzmauer gemeint, auf die man von hier aus sehen kann. Die ist gerade hochgezogen worden. Wegen Hochwassergefahr. Verblüffend, wie schnell das gehen kann. Bis Ende März haben noch alle über die Trockenheit geklagt.
In Ehrenbreitstein befindet sich auch das Mutter-Beethoven-Haus, ein kleines, aber, wie man an der Broschüre sieht, feines Museum. Das Museum öffnet nur sonn- und feiertags. Ob das auch für den Karfreitag gilt?
In diesem Haus wurde Maria Magdalena van Beethoven geboren, Beethovens Mutter. Sie gehörte zu den wenigen Menschen, zu denen der alte Misanthrop ein gutes Verhältnis hatte. Er hing sehr an seiner Mutter und schrieb liebevolle Kommentare über sie. Beethovens Mutter wurde in eine angesehene Bürgerfamilie geboren. Sie heiratete bereits mit 16, einen kurfürstlichen Kammerherrn. Später heiratete sie dann in zweiter Ehe Johann van Beethoven und zog nach Bonn um. Wie sehr der Tod noch in dem Leben der Menschen dieser Zeit gegenwärtig war, sieht man exemplarisch an ihrem Leben. Ihr erster Mann starb, ebenso der gemeinsame Sohn, und von den sieben Kindern aus zweiter Ehe überlebten nur drei, darunter Ludwig.
11. April (Montag)
Das Wetter wird immer besser, und diesmal fahre ich mit dem Rad in die Stadt. Die Straße ist so abschüssig, dass es einem etwas mulmig wird, zumal sie eine normale Verkehrsstraße mit Autos und Bussen ist. Die kann man nur vermeiden, wenn man die noch abschüssigere parallele Kniebreche nimmt, aber das ist mir zu riskant. Da wird einem bei dem Namen ja schon angst und bange.
Unten in Ehrenbreitstein geht es an 2rad Mitschke vorbei und dann wieder über die Pfaffendorfer Brücke. Auf der anderen Seite passiere ich die Rhein-Mosel-Halle mit ihrer eleganten Fassade aus schwarzen, weißen und grauen Lamellen. Am Forum lasse ich das Rad stehen und gehe schnurstracks zur Liebfrauenkirche.
Schon von außen, von Süden her, erkennt man die beiden unterschiedlichen Bauphasen, das romanische Langhaus und den gotischen Chor. Aber durch den Verputz und die Farbgebung werden sie zusammengehalten. Die nicht verputzten Zwiebeltürme scheinen dagegen auf den ersten Blick gar nicht zu der Kirche zu gehören, gehören aber bis auf den barocken Abschluss zu der romanischen Phase. Die Westfassade ist so gut wie schmucklos, bis auf eine Figur, die Maria darstellt, die Patronin der Kirche.
Der schmale, querschifflose Innenraum ist eine Augenweide. Das schöne, aufwändige hochgotische Gewölbe verbindet Langhaus und Chor, und ein schöner Fries läuft an der Wand des Langhauses entlang. Die Fenster des Chors lösen die Wand fast komplett auf. Die schlanken, hohen Fenster stammen aus der Nachkriegszeit und bilden moderne Frauen ab, darunter Edith Stein. Die einzelnen Figuren sind aber schlecht zu erkennen.
Von der Originalausstattung ist nichts erhalten, aber es gibt doch ein paar Besonderheiten zu entdecken. Im südlichen Seitenschiff hängt an der Wand auf Augenhöhe ein jüdischer Grabstein. Er wurde nach der Verbannung der Juden und der Auflösung des jüdischen Friedhofs als Baumaterial für die Kirche verwendet. Wiederentdeckt wurde er, als in neuerer Zeit ein behindertengerechter Zugang gebaut wurde.
Ganz in der Nähe ein Gemälde, das den Heiligen Nikolaus darstellt. Er beugt sich über eine Ansicht von Koblenz und segnet die Stadt mit der rechten Hand. Den Segen empfängt er aber von oben, mit der linken Hand, er reicht ihn nur weiter. Die Ansicht von Koblenz, eine Schriftrolle, wird von drei Knaben gehalten. Sie verweisen auf die drei Knaben, die Nikolaus wieder zum Leben erweckte, und die Geldbeutel vorne rechts erinnern an die Mitgift, die Nikolaus drei Jungfrauen schenkte, damit sie heiraten konnten. In der Ansicht von Koblenz hat die Liebfrauenkirche noch spitze Türme, und unter der Festung Ehrenbreitstein, dem Vorgänger der heutigen, erscheint noch Schloss Philippsburg, die alte Residenz der Kurfürsten. Insgesamt erscheint Koblenz als stark befestigte Stadt.
In der Vorhalle ein Kruzifix aus dem 18. Jahrhundert, von einem unbekannten Künstler. Der verstand es, das Leiden Christi sehr plastisch darzustellen.
Gegenüber, auch in der Eingangshalle, die Epitaphien der Koblenzer Familie von dem Burgtorn, die Frau in der Mitte, der Mann links von ihr, der Sohn rechts von ihr. Alle haben die Hände gefaltet. Die Männer tragen Rüstung, haben aber den Helm abgelegt. Der liegt zu ihren Füßen. Die Frau trägt einen Rosenkranz, der in einem schönen, muschelartigen Verschluss endet. Sie trägt eine Haube und blickt sehr streng drein. Der Mann hält etwas Ähnliches in der Hand, eine Art Schnur mit Perlen. Sie erinnert aber eher an die Kette, mit der Männer in Griechenland den ganzen lieben langen Tag spielen, die aber keine religiöse Bedeutung hat. Witzig die eisernen Handschuhe des Sohns.
Von der Liebfrauenkirche geht es zum Plan, vorbei an dem Alten Brauhaus, dem Stammhaus der Königsbacher Brauerei. Schreibe ich mal vorsichtshalber auf die Merkliste.
Jetzt ist es so warm, dass ich mich in ein Straßencafé in die Sonne setzen und mir eine Pause bei einem Kaffee gönnen kann. Unter den Lokalen des Platzes fällt mir die Dubai Lounge ins Auge. Gleich daneben hängt das alte Zunftzeichen der Schuhmachergilde, mit vergoldeten hochhakigen Schuhen und einem vergoldeten Stiefel. Dazu Zeichen, die weder von links noch von rechts einen Sinn ergeben.
In der Mitte des Platzes befindet sich ein alter Brunnen. Er ist ein Zeugnis der frühen Wasserversorgung von Koblenz. Er wurde 1806 errichtet. Der Brunnen wurde aus Steinen des alten, von den Franzosen zerstörten Schlosses erbaut. Er besteht aus einem würfelformigen Basaltstein, und das Wasser kommt aus einem Schwanenhals. Oder sollte kommen. Im Moment tut sich nichts. An der Seite eine lateinische Inschrift, die an Clemens Wenzeslaus erinnert, den Kurfürsten, unter dem die erste Wasserleitung erbaut wurde, von Metternich in die Koblenzer Innenstadt.
Ganz rechts an der Hauptseite des Platzes einige Lokale, von denen ich ein Photo machen will. Dabei fängt mich der Eigentümer eins der Lokale ab. Er macht gerade Vorbereitungen für die Öffnung des Lokals und hantiert an den Sonnenschirmen herum. Ich bin wohl, ohne es zu merken, in sein Territorium eingedrungen. Als ich erkläre, worum es geht, reagiert er ganz freundlich und weist auf ein Schild an einem der Häuser hin. Genau das ist es, was ich suche. Das Schild erklärt, dass hier früher die Feuerwehr untergebracht war. Das erklärt nämlich die breiten Eingangstore der Lokale. Hier mussten die Feuerwehrautos rein. Und raus. Und das war das Problem. Sie mussten erst zurücksetzen, und dabei ging wertvolle Zeit verloren. Das brachte letztendlich die Verlegung der Feuerwehr mit sich. Heute wäre es ohnehin undenkbar, dass die Feuerwehrautos hier durch die Fußgängerzone rasen würden.
Am Ausgang des Platzes ist in den Boden eine Bronzeplatte eingelassen, auf die man die brennenden Häuser von Koblenz in der Kriegszeit sieht. Der Text dazu besagt, dass Koblenz im letzten Kriegsjahr zu 87% zerstört wurde, die Folge von 40 Luftangriffen durch 3.772 Flugzeuge, die 100.000 Tonnen Bomben auf die Stadt abwarfen. Solche Zahlen sprengen die Vorstellungskraft.
Von dort geht es zum Münzplatz, dem zweiten zentralen Platz der Altstadt. An der Längsseite ein großes Café mit dem klassischen Namen Kaffeewirtschaft. Daneben ein Lokal mit dem Namen Drei Reben, und an der Längsseite eins mit dem Namen Gleis 9¾.
Das etwas vorgerückt, allein stehende Gebäude vor der Querseite ist die Alte Münze. Hier ließ der Kurfürst jahrhundertelang seine Münzen prägen. Das Gebäude wird gerade renoviert. Es entsteht eine Begegnungsstätte.
Der Platz ist nicht unschön, aber wirkt merkwürdig leer. Es fehlt etwas, das in der Mitte als Blickfang dienen könnte.
Immer wieder bieten sich, von den verschiedenen Plätzen aus, Blicke auf die Zwiebeltürme von Liebfrauen. Die sind allgegenwärtig.
In einer Gasse stoße ich auf einen weiteren originellen Geschäftsnamen: Armer Josef. Der arme Josef schlägt sich damit durch, dass er gebrauchte Platten und CDs und alte Abspielgeräte unter die Leute bringt. Aber immerhin in zentraler Innenstadtlage. Die Öffnungszeiten stehen auf einem behelfsmäßigen, handgeschriebenen Zettel.
Die nächste Kirche, die ich mir ansehen will, ist St. Florin, aber ach, sie ist geschlossen. Öffnungszeiten: Mai bis Oktober. Wer das wohl entschieden hat?
Gegenüber der Kirche eine graue Basaltsäule, die man leicht übersehen kann. Es ist eine Reverenz an Nikolaus von Kues, den Cusanus. Der hatte eine Pfründe hier, in St. Florin. In den Reliefs der Säule sieht man sein Geburtshaus, das Stift, ein Moselschiff, sein Grabmal und eine merkwürdige Szene mit drei diskutierenden Männern. Oben sitzt er selbst, mit Kardinalshut, ein Buch auf den Beinen. Sein Wappen besteht aus einem Krebs – eine Anspielung Nachnamen Cryfftz – und ein Bischofshut.
Das Gebäudeensemble dieses schönen, aber ziemlich vernachlässigten Platzes kann ich mir jetzt genauer ansehen. Das zentrale Gebäude mit dem Augenroller, das Städtische Kauf- und Danzhaus, steht für das Bürgertum, der Bühresheimer Hof steht für den Adel, und das Schöffenhaus für den Kurfürsten. Früher waren hier das Mittelrheinmuseum bzw. die Stadtbibliothek untergebracht. Jetzt warten die Gebäude auf eine neue Bestimmung. Für das Städtische Kauf- und Danzhaus ist der Ausschank einer Brauerei vorgesehen. Das wäre bestimmt eine gute Lösung.
Jetzt geht es zur Mosel hinunter und nach St. Kastor. Vor der Kirche der Brunnen, den der französische Stadtkommandant errichten ließ, um den bevorstehenden Sieg Napoleons im Russlandfeldzug zu würdigen – etwas vorschnell, wie sich herausstellte. Napoleon kam geschlagen aus Russland zurück, verlor die Völkerschlacht bei Leipzig, und russische Truppen eroberten Koblenz. Der russische Kommandant ließ weder den Brunnen abreißen noch die Inschrift entfernen, sondern ließ in bestem Französisch einen ironischen Zusatz anbringen: Vu et approuvé par nous Commandant russe de la ville de Coblentz – Gesehen und genehmigt durch uns, den russischen Kommandanten der Stadt Koblenz.
Dann geht zur Kirche. An den Türmen erkennt man verschiedene Bauphasen. Die ersten drei Stockwerke sind älter, sie stammen aus dem 11. Jahrhundert. Die Türme wuchsen weiter empor, die nächsten Geschosse sind höher und haben Schallarkaden, und schließlich wurden die Rautendächer aufgesetzt. Sie stammen aus dem 13. Jahrhundert. Vom hellen Tuffstein des Mauerwerks farblich abgesetzt sind Lisenen, Eckpfeiler und Gesimse, aus rotem Sandstein und dunklem Basalt. Im zweiten Geschoss werden die Eckpfeiler bekrönt von Kapitellen mit w-förmigen Bändern mit Rosetten, Ranken und Trauben. All das lockert die fast fensterlose und weitgehend schmucklose Fassade auf.
In dem Giebelrelief über dem Portal sitzt im Zentrum die Madonna mit Kind, flankiert von der Seligen Rizza, St. Goar, Erzbischof Hetti und Ludwig dem Frommen. Darüber in einer Nische St. Kastor, dazwischen das Papstwappen. All das hat seine Bedeutung, steht im Zusammenhang mit der Geschichte der Kirche. Erzbischof Hetti hat die Kirche geweiht, Ludwig der Fromme gilt als ihr Bauherr (war aber bei der Einweihung nicht dabei) und St. Goar ist das Pendant zu St. Kastor. Beide stammten vermutlich aus Aquitanien und waren am Rhein als Missionare tätig.
Der heutige Bau stammt in seiner Grundstruktur aus dem 11. Jahrhundert. Die von Bischof Hetti 836 eingeweihte Vorgängerkirche wurde im Normannensturm zerstört. Am Tag vor der Einweihung wurden Reliquien von St. Kastor in die Kirche überführt. Von ihnen scheint es keine Spur mehr zu geben.
St. Kastor ist die bedeutendste Kirche von Koblenz. Sie ist der einzige erhaltene Teil eines Stifts. Im Mittelalter schloss die Stadtmauer das Stift mit ein. In der Franzosenzeit kam es zur Auflösung des Stifts und dem Abriss der Stiftsgebäude. Das erklärt die große Esplanade zu allen Seiten der Kirche, ganz anders als bei der Liebfrauenkirche. Zur 2000-Jahr-Feier der Stadt Koblenz wurde St. Kastor in den Rang einer Basilika Minor erhoben. Das erklärt sowohl die Präsenz des Papstwappens an der Fassade als auch die von Tintinnabulum und Conopeum im Chor.
Der Raumeindruck ist ganz anders als bei Liebfrauen. Die Kirche ist breiter und niedriger, oder wirkt jedenfalls so. Durch die Gestaltung des Chors hat sie fast etwas Byzantinisches.
St. Kastor, der einen schon an der Fassade in Empfang nimmt, ist gleich viermal in der Kirche vertreten. An der Westwand hängt ein lebensgroßes, ganzfiguriges Bildnis des Heiligen, mit einem Modell seiner Kirche auf den Armen. Das Bild ist ein Geschenk eines Kurfürsten, der das Bild gleichzeitig ausnutzte, um die von ihm erbaute Philippsburg darstellen zu lassen. Das Gegenstück dazu bildet, auch an der Westwand, aber im nördlichen Seitenschiff, das Bildnis von St. Goar. An der Ostwand befindet sich Kastor auf einem reich bebilderten barocken Epitaph, auf der Außenseite. Als sein Pendant ist auf der anderen Außenseite St. Florin dargestellt. Dann befindet sich Kastor, von unten schwer erkennbar, auf einer Konsole in der Vierung, auch hier mit dem Modell seiner Kirche in den Armen. Hier sieht er bescheidener aus, fast mönchisch, ganz anders als auf dem Porträt an der Westwand. Und dann hat er noch seinen Auftritt in einem außergewöhnlichen Gemäldezyklus, der ursprünglich an der Chorschranke hing. Es handelt sich um insgesamt 16 Gemälde, in zwei Reihen aufgehängt, darunter die 12 Apostel. St. Kastor ist ganz links. Um die Apostelköpfe schlingen sich Spruchbänder, die das Apostolische Glaubensbekenntnis enthalten, beginnend mit „Credo in patrem omnipotentem“.
Wie in Liebfrauen ist auch hier das Gewölbe ein echter Hingucker, ein Sterngewölbe mit skulptierten Schlusssteinen. Im westlichen Joch ein Schlussstein, der einer der echten Kuriositäten der Kirche ist, auch er von unten nicht leicht zu erkennen. Er zeigt Maria und den Jesusknaben am Steuer eines Oberländers, eines für den Mittelrhein typischen Schiffs. Das Segel bläht sich im Wind, und hinten sorgt ein Engel an einem Ruder dafür, dass man nicht vom Weg abkommt.
Sehr schön ist auch die Kanzel, bunt gefasst, barock. Der Kanzelkorb ruht auf einer Säule, auf der putzige, eher weltlich aussehende Engelsköpfe dargestellt sind. Auf der Kanzel selbst die vier Evangelisten und die vier Kirchenväter, immer abwechselnd. Wie so oft ist die interessanteste Darstellung die von Lukas, der Tradition gemäß als Maler dargestellt. Er sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem einfachen Stuhl. Die Krampfadern an den Beinen treten deutlich hervor. Er macht Skizzen in einem Buch. Hinter ihm die Staffelei. Auf der steht ein Bild der Madonna mit Kind. Zu seinen Füßen der Stier, sein Emblem. Der schaut in aller Ruhe zu. An der Wand noch ein Objekt, das nicht leicht zu identifizieren ist, vielleicht ein eisernes Schloss. Wenn man genauer hinguckt, sieht man, dass Lukas Sandalen mit goldenen Riemen trägt, und auch sein einfacher Umhang hat einen Saum aus Gold.
Schon immer habe ich mich gefragt, woher wohl der Name Rizzastraße kommt, in der Nähe des Bahnhofs. Die Antwort gibt es hier. Sie war eine adelige Frau, über deren Leben man nicht so viel weiß. Aber man weiß, dass sie dem Stift ihren Hof in Kobern vermacht hatte. Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft. Es lohnte sich für sie. Sie wurde zur Protagonistin aller möglichen Legenden, und am Ende wurde sie seliggesprochen. Der Schrein mit ihren Reliquien befindet sich hier, im nördlichen Seitenschiff. Auf dem Bild in der Mitte sieht man sie bei ihrer legendären Überquerung des sturmbewegten Rheins.
Gegenüber, an der Wand des südlichen Seitenschiffs, fällt ein Grabdenkmal auf, das des Friedrich von Sachsenhausen und seiner Frau. Beide haben die Hände zum Gebet gefaltet. Sie ist in ein dickes Gewand gehüllt, das nur ihr Gesicht und ihre Hände sehen lässt. Bei ihm ist es sogar nur das Gesicht, denn er trägt eine Rüstung mit eisernen Handschuhen. Das Gesicht guckt dankt des hochgeklappten Visiers hinter dem Helm hervor. Über ihnen, über einem Gesims, das wiederum von einer Blendarchitektur abgeschlossen wird, das jeweilige Familienwappen.
Um die beiden Grabmäler, die als die wichtigsten Ausstattungsstücke der Kirche gelten, überhaupt zu sehen zu bekommen, muss man in den Chor gehen, durch eine schmale Pforte im Seitenschiff. Die beiden Grabmäler befinden sich einander gegenüber, an den Seitenwänden des Chors, und ähneln sich. Es sind Grabmäler für zwei Erzbischöfe und Kurfürsten, Kuno von Falkenstein und Werner von Falkenstein (XIV). Beide Figuren liegen, den Kopf auf ein Kissen gebettet, aber sie sind auch so dargestellt, als würden sie stehen, und zwar unter einem Baldachin. Die Skulpturen zeichnen sich durch viele Details aus wie den Hund, der an Kunos Pontifikalschuhen leckt, wohl als Zeichen der Unterwerfung. Genau ausgebildet sind die Gesichter, mit vielen realistischen Zügen. Kunos Augen sind nur halb geschlossen, das Gesicht ist rund und feist, er hat eine kleine Nase und abstehende Ohren und über dem Auge eine geschwollene Vene. Werners Gesicht ist bis in die Bartstoppeln hinein ausgearbeitet, und seine Haut zeigt Zeichen der Epidermis. Werner war Propst von St. Florin und als Erzbischof Nachfolger Kunos. Der war 40 Jahre lang in höchsten Stellungen tätig und mischte auch in der Reichspolitik mit, als Vertrauter Karls IV. Sein Leichnam wurde auf Veranlassung von Werner nach Koblenz überführt, denn er hatte einen Widerwillen gegen Trier, wo er wegen all der Streitigkeiten mit dem Rat und den Bürgern nicht mehr residierte. Wer könnte ihn nicht verstehen?
Jetzt fehlt nur noch der Rundgang um die Kirche außen herum. Sehr schön ist der Blick auf die Kirche von Süden her, wo man alle vier Türme gleichzeitig sieht, und von Osten her. Die Apsis, halbkreisförmig, ist stark gegliedert durch Säulen und Arkaden. Die untere Zone hat Kleeblattblenden und Halbsäulen, darüber Rundbogenfenster, und darüber eine Zwerggalerie mit Arkaden und schlanken Säulen. In der Mitte zwei Löwen, die sich mit gebleckten Zähnen ansehen. Romanik vom Feinsten.
Auf dem Rückweg sehe ich noch am Moselufer drei Steinplatten, alle gleich, etwas versetzt aufgestellt. Es sind Teile der Berliner Mauer und sie dienen als Erinnerung an die Teilung und deren Opfer. Warum sind es ausgerechnet drei Teile? Zufall? Oder stehen sie für Einigkeit und Recht und Freiheit.
Ganz in der Nähe ein Denkmal, das an Peter Altmeier, den ersten Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz und an die Gründung des Landes erinnert. Er besteht aus vier unterschiedlich großen, aber gleichförmigen rötlichen Sandsteinblöcken, die alle irgendwie miteinander verkeilt sind. Sie stehen für die vier sehr unterschiedlichen Territorien, aus denen das Land geformt wurde: die preußische Rheinprovinz, Hessen-Nassau, Rheinhessen, die Pfalz. Peter Altmeier wird das Verdienst zugesprochen, Rheinland-Pfalz geöffnet zu haben, Verbindungen zu den westlichen Nachbarn, vor allem zu Burgund geknüpft zu haben.
Jetzt geht es zurück zum Forum. In der Touristeninformation erfahre ich, dass die Fähre erst ab Ostern wieder fährt. Auch das Mutter-Beethoven-Haus und die Matthiaskapelle in Kobern öffnen erst ab Ostern wieder. Ich bin offensichtlich eine Woche zu für hier.
Danach steht mir noch der schwierige Anstieg mit dem Fahrrad in den Höhenstadtteil bevor.
12. April (Dienstag)
Ich gehe zu Fuß zur Festung Ehrenbreitstein, aber nicht, um da zu bleiben, sondern um mit der Seilbahn in die Stadt zu fahren.
Wenn man auf das Gelände der Festung kommt, hat man rechts und links Kinderspielplätze, Spazierwege, Grünanlagen und einen Kiosk, an dem man Bollerwagen, Stehtische und Liegen ausleihen kann. Gratis! In der Ferne sieht man schon das futuristische Gehäuse der Abfahrtshalle der Seilbahn silbern in der Sonne glänzen.
Erst kommt aber noch der „Rhein-Mosel-Blick“, eine Aussichtsplattform aus Holz, aus einheimischen Douglasien gebaut. Zu besseren Zeiten sind wir mal hier raufgejoggt. Zu dritt. Die Aussichtsplattform führt auf breiten Rampen sanft hinauf. Oben hat man einen Blick ins Tal und auf den Rhein.
Die Seilbahn wurde, wie wir schon bei der Stadtführung erfahren haben, zur Bundesgartenschau errichtet, sollte aber später nach dem Willen der UNESCO wieder abgebaut werden. Dagegen erhob sich Protest – zurecht. Die UNESCO lenkte ein und erlaubte den Betrieb bis 2023. Jetzt gibt es eine Verlängerung bis 2026. Es wäre eine Schande, wenn die Seilbahn abgebaut würde. Warum sie das Rheintal verschandeln soll, ist nicht einzusehen. Dann müsste man auch die Bahntrassen abbauen.
Bei der Seilbahn gibt es, wie häufig in Koblenz, Seniorenrabatt. Zugegeben, man spart nur einen Euro, aber es geht wohl nach dem Motto: „Wer den Euro nicht ehrt …“
Bei der Fahrt in den geräumigen Kabinen geht es runter und dann auf die andere Rheinseite. Von oben hat man einen guten Blick auf das Deutsche Eck und sieht aus mehreren Perspektiven alle drei Doppelturmfassaden auf einen Blick. Ich verpasse aber die Gelegenheit, auf das Wasser von Rhein und Mosel zu achten. Das soll sich in der Farbe unterscheiden.
Unten angekommen, fällt mein Blick auf ein Ausflugsschiff mit dem Namen Confluentia. Dann geht es zu Fuß weiter Richtung Forum. Ich komme an einem Sandsteinrelief vorbei, das in die Außenmauer eines Hauses eingelassen ist, „Die gute alte Zeit“. Es befand sich früher an der Fassade des Hotels Rheingold. Man sieht drei Männer beim Kartenspielen in einem Gasthaus, Krüge und Pokale vor sich. Einer raucht Pfeife, einer raucht Zigarre, und zwei von ihnen haben lange prächtige Zöpfe. Rechts hinter ihnen beobachtet ein zigarrerauchender Mann mit Zipfelmütze die Szene, vermutlich der Wirt.
Dann passiert man die Kastorpfaffenstraße und kommt auf eine Fußgängerstraße. Hier, so kommt mir vor, bin ich noch nie gewesen. Dann aber öffnet sich die Straße auf einen Platz, und da mache ich eine kuriose Entdeckung. Heute Morgen noch habe ich daran gedacht, dass ich vor Jahren bei einer Besichtigung von Koblenz mal eine Säule gesehen habe, die die Geschichtsepochen der Stadt darstellt. Seitdem bin ich nie wieder auf sie getroffen. Und jetzt stehe ich unverhofft vor ihr. Es ist die Historiensäule. Sie stehtdie in der Mitte eines Brunnens. Über einem römischen Weinschiff, von kraftvollen Ruderern bewegt, sind die Etappen von Koblenz in verschiedenen Schichten abgebildet, von der römischen Stadt bis zur heutigen Stadt. Die fränkische Stadt ist vertreten, die Zeit der Kurfürsten, die Hexenprozesse, der Dreißigjährige Krieg, die preußische Zeit, der Zweite Weltkrieg. Alles ist dargestellt anhand einer Vielzahl von Gebäuden und Figuren. Ganz oben sieht man die Zwiebeltürme der Liebfrauenkirche.
Es ist noch ziemlich ruhig auf dem Platz um diese Zeit. Ich entdecke einen Friseursalon mit dem Namen Männerhort und ein Bekleidungsgeschäft für Kinder mit dem Namen Wunschkind. Ganz in der Nähe ein Friseursalon, der einfach Friseur heißt.
Dann weiß ich auf einmal, wo ich bin. Die Straße läuft in den Jesuitenplatz ein. Von hier aus sind es nur noch ein paar Schritte bis zum Forum.
Als erstes steht das Mittelrheinmuseum auf dem Programm. Am Eingang steht der Originalkopf der Reiterstatue von Wilhelm I. vom Deutschen Eck. Der beweist vor allem, wie groß die Statue sein muss.
Das Museum befindet sich im oberen Stockwerk. Es gibt viel zu sehen, und alles ist sehr gut präsentiert. Besonders in Erinnerung bleibt mir ein Gemälde von dem zugefrorenen Rhein (1767), auch damals ein ungewöhnliches Ereignis. Es herrscht Volksfeststimmung. Man sieht Musiker und Schlittenfahrer und eine Art Bierzelt, aber auch Handwerker, die dem staunenden Volk ihre Handwerkskünste präsentieren. Und ein Barbier hat hier seinen Salon eröffnet. Man sieht auch einen Reiter, der auf dem Weg nach Ehrenbreitstein ist. Der zugefrorene Rhein verkürzte den Weg erheblich.
Auch interessant sind die Gemälde aus dem 19. Jahrhundert, die Landschaften aus dem Mittelrheintal darstellen. Sie stammen fast ausschließlich von englischen Malern. Die Engländer hatten das Mittelrheintal als Reiseziel neu entdeckt, nachdem bei der Grand Tour im 18. Jahrhundert Deutschland meist links liegen gelassen wurde. Die führte nach Frankreich und Italien. Jetzt hatte man das Mittelrheintal entdeckt. Es gab 1830 schon 16.000 englische Touristen, eine Riesenzahl, wenn man in Rechnung stellt, wie viele sich überhaupt so eine Reise leisten konnten. Mit dem Reisen wuchs auch das Bedürfnis nach Reisesouvenirs“. Man wollte zu Hause zeigen, was man gesehen hatte. Und diese Funktion erfüllten die Gemälde. Die Maler selbst waren teils gar nicht hier gewesen, sie malten nach Skizzen von Reisenden, so dass die Darstellungen oft nur vage der Wirklichkeit entsprachen. Aber darauf kam es nicht an. Es ging darum, das Mittelrheintal in ein romantisches Licht zu hüllen, und das ist hier immer der Fall. Das Licht selbst, die Wolken, die spiegelglatte Wasserfläche und natürlich die Burgen gehörten zu den obligatorischen Zutaten, auch auf den Stadtansichten von Cochem, Beilstein und Koblenz.
Als Kuriosität kann eine Bilderuhr durchgehen. Das Gemälde zeigt Ehrenbreitstein und Pfaffendorf. Der Kirchturm von Ehrenbreitstein hat ein Ziffernblatt und zwei echte Zeiger, die sich bewegen und die Zeit anzeigen.
Es gibt eine große Zahl an mittelalterlichen Statuen, meist aus dieser Gegend, meistens die Jungfrau darstellend, mal mit Trauben, mal mit Palmwedeln, mal stehend, mal sitzend, mal mit, mal ohne Jesuskind, mal als Herrscherin, mal als Mutter. Allen Statuen ist gemeinsam, dass sie „bewegt“ sind. Die Madonna dreht den Kopf dem Kind zu oder beugt sich hinunter, an der Wölbung des Gewands kann man ablesen, dass die Beine oder Hände sich bewegen. Bei allen Statuen sind Haare und Accessoires und der Faltenwurf genau dargestellt.
Gemälde gibt es in großer Zahl, biblische Motive, Landschaften, Städtepanoramas, Stillleben, abstrakte Gemälde, surrealistische, aber bei vielen fehlt einem der konkrete Bezug zu Koblenz oder zum Rhein.
Einen regionalen Bezug haben die Gemälde von Januarius Zick, nicht durch die Motive, sondern deshalb, weil er Hofmaler der Kurfürsten war. Besonders fällt mir hier ein Doppelporträt eines alten Mannes und einer alten Frau mit tief zerfurchten Gesichtern auf.
In einem abgedunkelten Raum ist die Schatzkammer des Museums untergebracht. Ein Jadebeil aus den Dolomiten, das vor 6.000 Jahren hierherkam, ist das älteste Ausstellungsstück. Aus der keltischen Zeit, aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert, stammt eine winzige punzierte Reiterfigur aus Bronzeblech. Sehr schön ein fränkischer Halsschmuck aus Bernstein, bestehend aus farblich unterschiedlichen Kugeln, Zylindern und Würfeln. Aus dem Mittelalter stammt ein Münzschatz mit Silberdenaren aus Burgund. Schon aus der Neuzeit ein vielteiliges Reiseservice mit Besteck, Glas, Schere, Spiegel und vielem mehr. Alles wird in passgenau angefertigte, mit rotem Samt ausstaffierte Fächer in einem Reisekoffer aus Leder transportiert.
In einer Ecke des Museums steht ein Modell der Statue Wilhelms I. vom Deutschen Eck. Hier kann man alles erkennen, was man am Standort selbst nicht sieht: die Uniform, das Zaumzeug, die Mähne des Pferdes, die erhobene Vorderhand des Pferdes, den Kommandostab, den der Kaiser in der einen Hand und die Zügel, die er in der anderen Hand hält und, nicht zuletzt, des Kaisers Bart, den Kaiser-Wilhelm Bart, bei dem der Schnäuzer von einem reicht gelockten Backenbart gerahmt wird. Vor allem sieht man aber die Figur an seiner Seite, eine geflügelte barbusige Frau, die die schwere Krone auf ihren Knien hält.
Lange stehe ich vor einem Modell von Koblenz aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. Man sieht noch die Stadtmauer mit Türmen, aber sie hat schon nur noch zwei Seiten. Das Rheinufer Ehrenbreitstein gegenüber ist nicht mehr befestigt. Die andere Moselseite und Ehrenbreitstein sind dichter besiedelt als Koblenz selbst. Man sieht nur eine Brücke, und die führt über die Mosel. Deutlich sieht man, dass das heutige Deutsche Ecke noch eine Insel ist, ohne Bebauung. Außerhalb der Stadtmauer gibt es gar keine Gebäude. Das war eine Bestimmung aus militärtaktischen Gründen: Man wollte den Feind von weitem sehen und ihm keine Möglichkeit geben, sich hinter Gebäuden zu verschanzen.
Später, in der preußischen Zeit, durften, wie ich aus zuverlässigen Quellen weiß, außerhalb der Stadtmauer bzw. vor Festungen nur Rayonshäuser gebaut werden, also solche, die im Falle eines Angriffs schnell zerlegt werden konnten. Auch das Baumaterial musste schnell entfernt werden. Dazu machte das Reichsrayonsgesetz genaue Vorschriften. Es durften nur Fachwerkhäuser gebaut werden, aber mit Kiefer statt mit Eiche, und sie durften nur zwei Stockwerke haben. Auch für die Dicke und die Verzapfung der Balken gab es genaue Vorschriften. Koblenz, als alte Festungsstadt, verfügt bis heute über einige solcher Häuser.
Zum Schluss sehe ich noch etwas, das eigentlich ganz am Anfang hätte stehen sollen: einen Pfahl der ersten Römerbrücke, aus dem Jahr 14. n.Chr. Der Pfahl läuft nach unten spitz zu. Neben dem Pfahl sieht man den Pfahlschuh. Das ist die eiserne Verstärkung, die unten an dem Pfahl angebracht wurde. Er diente der Verstärkung und erleichterte das Einrammen des Pfahls in den Flussgrund. Zu meiner Verwirrung heißt es hier, die erste Römerbrücke habe über den Rhein geführt, nicht über die Mosel.
Ich mache eine Kaffeepause auf dem Plan, wieder in demselben Café, und lasse mir die Sonne auf den Pelz scheinen. Dann geht es zurück zum Forum und ins Romanticum. Für das Museum habe ich noch eine Eintrittskarte aus einem alten Geschenkkorb. Die Frau an der Rezeption sieht mich skeptisch an und sagt, die Eintrittskarte sei doch wohl schon verbraucht. Dann sieht sie aber nach, und alles ist in Ordnung.
Im Romanticum geht man auf eine virtuelle Reise durch das Rheintal. Das war lange nur eine Durchgangsstation auf dem Weg nach Süden, bis es als Reiseziel entdeckt wurde. Gefördert wurde dieser frühe Tourismus durch den Bau der Eisenbahn und das Aufkommen der Dampfschifffahrt.
Eine Attraktion auf der Reise war das Echo an der Lorelei. Die Dampfschiffe machten dort extra Halt und ließen ein paar Böllerschüsse los, damit die Besucher das Echo erleben konnten.
Die andere Attraktion waren die vielen Burgen, die meisten entweder Ruinen oder wieder aufgebaut und kaum mehr als 200 Jahre alt. Aber von den meisten Besuchern wurden sie vermutlich als mittelalterlich wahrgenommen.
Man erfährt hier anhand von Schaubildern auch etwas über die Bodenbeschaffenheit des Rheintals, das ursprünglich vom Ozean bedeckt war. Aus dem Sand des Meeresbodens wurden Sandstein und Quarzit, aus dem Ton des Meeresbodens wurde Tonstein und aus dem Tonstein Schiefer.
In dem Museum stehen überall Figuren herum, die dem Besucher aus ihrer Sicht etwas über das Rheintal erzählen, darunter ein Lotse, ein Besatzungssoldat und ein Kameramann. Aber auch namentlich bekannte Personen sind hier vertreten, darunter Clemens von Brentano, der Dichter der Ballade von der Lorelei. Die Tradition lieferte ihm schon die wichtigsten Zutaten, das Echo, eine schöne Landschaft, eine unglückliche Liebe, eine schöne Frau. Bei der Verfassung der Ballade orientierte er sich an dem Echo-Mythos von Ovid. Die Volkserzählung fügte er ein dramatisches Element hinzu: Die unglückliche Lorelei stürzt sich am Ende selbst von dem Felsen in den Rhein.
Auch Sophie von La Roche spricht zu einem. Sie führte einen literarischen Salon in ihrer Villa in Ehrenbreitstein, in dem viele der Größen der Zeit verkehrten. Sie berichtet von dem Besuch Goethes bei ihr. Der habe sie auf die Geschichte des Fräulein von Sternheim angesprochen, einen Roman, der zu dieser Zeit in aller Munde war. Er lobte das Werk, ohne zu ahnen, wer der Autor des Werkes war. Das war nämlich Sophie von La Roche. Sie hatte Wieland den Text gegeben, und der hatte ihn anonym herausgebracht.
Auch Turner spricht zu dem Besucher. Er reiste immer wieder ins Mittelrheintal, von dessen Landschaft er sich inspiriert fühlte. Bei jedem Besuch machte er den Weg von Bingen nach Koblenz, meistens zu Fuß. Er fertigte Skizzen von der Landschaft an, malte aber die Bilder im heimischen Atelier in England.
Zum Schluss gibt es noch etwas zu den kulinarischen Spezialitäten des Rheintals. Auf einem virtuellen Teller steht eine Glocke, und wenn man sie hebt, erhält man das Bild, den Namen und das Rezept einer Spezialität: Rieslingsuppe, Rheinzander, Himmel und Erd, Dübbekuchen. Hungrig trete ich den Rückweg an.
13. April (Mittwoch)
Wieder geht es nach Ehrenbreitstein, aber diesmal nicht, um runter zu fahren, sondern um hier zu bleiben und die Festung anzusehen.
Als ich auf das Gelände der Festung komme, sehe ich von weitem eine ganze Gruppe von Frauen auf dem Boden sitzen, alle in unterschiedlichen Stellungen. Erst denke ich an Frühsport, aber dann merke ich, dass sie sich den Grünanlagen widmen. Es sind Freiwillige, die Unkraut jäten, Rasen mähen und Blumen pflanzen, um die Anlagen in Ordnung zu halten.
Man betritt die Festung durch das Unbenannte Tor. Dann geht es stracks in die Ausstellung zur Festungsgeschichte. Sehr interessant, vor allem in der unteren Etage, und sehr gut präsentiert.
Man erfährt, dass die Festung bereits in der Bronzezeit besiedelt war. Das Hochplateau bot Schutz, und den verstärkte man noch durch Gräben und Palisadenzäune.
Fundstücke gibt es sogar aus der Steinzeit, ein Steinbeil und Teile von Keramik. Besonders schön ein Halsring aus der Eisenzeit, grün, mit einem spiralförmigen Muster und einem Verschluss. Wie sie das wohl alles hinbekommen haben?
Auch die Römer hatten hier oben eine Verteidigungsanlage. Sie diente einerseits der Sicherung der Transportwege, andererseits sicherte sie den Zugang zu den Erzlagerstätten im Mittelrheintal. Ausgestellt sind hier Schleuderbeile und Geschossspitzen. Aus denen schließen die Archäologen auf einfallende Germanenstämme.
Der erste bekannte Burgherr von Ehrenbreitstein hieß Ehrenbrecht. Nach ihm wurde die Anlage benannt – sie hieß jahrhundertelang Ehrenbrechtstein.
Dann ging die Burg an die Erzbischöfe von Trier über. Sie machten aus der Burg eine Festung (XV). Es entstanden Wohngebäude, Verwaltungsgebäude, eine Kapelle, und es siedelten sich Lehnsleute, Dienstleute und Handwerker an.
Die Kurfürsten verlegten dann ihre Residenz von Trier nach Koblenz (XVII). Wegen der ständigen Franzosengefahr, wie es heißt. Aber auch der ständige Ärger mit dem Rat und den Bürgern von Trier dürfte eine Rolle gespielt haben. Der Ehrenbreitstein war eine Zeitlang Residenz der Kurfürsten, aber die war nicht mehr zeitgemäß. Bald entstand Schloss Philippsburg, unten am Rhein, leichter erreichbar und komfortabler.
Es wurde auch eine Hofkapelle gegründet, unter dem Kurfürsten von der Leyen. Hier ausgestellt ist eine extra für die Hofkapelle geschriebene Partitur mit dem Kyrie Eleison.
Daneben ausgestellt ist eine Originalausgabe von Goethes Dichtung und Wahrheit, in Frakturschrift. Aufgeschlagen ist die Stelle, an der er von seinem Besuch bei Sophie von La Roche in Ehrenbreitstein berichtet.
Dann kommt eine ganz besondere Vitrine. Hier ist ein Münzschatz ausgestellt, 1947 auf dem Dachstuhl eines Hauses in Ehrenbreitstein gefunden, in einem Krug aus Westerwälder Keramik. Er umfasst sagenhafte 4.640 Münzen! Die Münzen hat man datieren können auf die Zeit zwischen 1599 und 1688. Wahrscheinlich steht der Münzschatz im Zusammenhang mit dem französischen (am Ende erfolglosen) Eroberungsversuch von Ehrenbreitstein im Pfälzischen Erbfolgekrieg. Warum der Schatz versteckt, aber danach nie wieder gehoben wurde, weiß man nicht. Die meisten Münzen sind sog. Petermännchen, die gängigste Münze für den alltäglichen Zahlungsverkehr im Erzbistum Trier. Einige Münzen sehen noch brandneu aus. Wegen der großen Zahl an kleinen Münzen vermutet man, dass es sich um die Kasse eines öffentlichen Amtes handelt. Muss ein tolles Erlebnis gewesen sein für denjenigen, der plötzlich auf den Schatz getroffen ist, gleich nach dem Krieg. Der Schatz ist hier auch sehr schön präsentiert, so als wären die Münzen gerade aus dem auf dem Boden liegenden Krug herausgerollt.
Hinter dem Münzschatz eine Abbildung von Koblenz aus dieser Zeit. Man sieht die Häuser der Stadt in Flammen stehen. Auf der Karte sind namentlich gekennzeichnet ℭ𝔬𝔟𝔩𝔢𝔫𝔷 𝔈𝔯𝔢𝔫𝔟𝔯𝔢𝔦𝔱𝔰𝔱𝔢𝔦𝔫 𝔐𝔬𝔰𝔢𝔩𝔩 ℜ𝔥𝔢𝔦𝔫 𝔉𝔩𝔲𝔰ſ.
Im oberen Stockwerk geht die Ausstellung weiter. Hier geht es um das Leben der preußischen Soldaten in Koblenz. Sie waren zuerst in Privatquartieren untergebracht, weil die Festung sich noch im Bau befand. Hier oben wurde dann sehr auf Hygiene und Sauberkeit geachtet, und es gab sogar einen gewissen Komfort: regelmäßiger Wechsel der Bettwäsche, ein eigenes Bett, eigene Handtücher – keine Selbstverständlichkeit für einen Jungen vom Lande zu dieser Zeit.
Man erfährt auch etwas über das Strafsystem. Spießrutenlaufen und Prügelstrafe waren 1808 abgeschafft worden. Die häufigste Strafe war der Arrest. Hier sind vier Zellen erhalten, zwei mit, zwei ohne Pritsche. In denen musste man wahrscheinlich stehen. Kein Vergnügen, aber immerhin gab es Tageslicht. Und man wurde verpflegt. Mit den dunklen Kerkern der Vergangenheit hatte das nichts zu tun.
In einer Vitrine sind Duellpistolen ausgestellt, punziert, mit langem Lauf und einem hölzernen Griff. Das Duellieren wurde bestraft, aber es gab meist schnelle Begnadigungen. Man sieht, dass das Duellieren noch sozial akzeptiert war.
Ich mache eine Kaffeepause in einem Café ganz am Rande der Festung. Man sitzt direkt an der Außenmauer und blickt hinunter auf das Deutsche Eck. Wunderbar! Es ist sommerlich warm, auch wenn mehr und mehr Wolken aufziehen. Leider kann man das Café nur im Rahmen der Besichtigung aufsuchen.
Dann gehe ich durch die Festung. Schnell verliert man sich auf dem riesigen Gelände. Immer wieder befinde ich mich ganz alleine und ziemlich orientierungslos auf einem riesigen Innenhof. Das Leben einer Garnison hier kann man sich kaum vorstellen. Was ins Auge fällt, ist die Mauertechnik. Die hat einen ganz konkreten Grund, einen praktischen, denn die Bogen im Mauerwerk verhindern das Einstürzen der gesamten Wand. Aber wenn man nahe genug herangeht, sieht es fast wie ein Kunstwerk aus.
Die gesamte Festung ist ein Paradebeispiel preußischer Effizienz, aber paradoxerweise wurde sie nie angegriffen und war bei ihrer Fertigstellung schon veraltet! Dazu kommt noch, dass sich die Grenze nach Westen verschoben und die Festung an strategischer Bedeutung verloren hatte.
Das Söldnerheer war abgeschafft und eine allgemeine Wehrpflicht eingeführt worden. Das war neu. Es half, Disziplin und Kampfbereitschaft zu erhöhen. Und der Bau der Festung nach den neuesten strategischen Erkenntnissen tat ein Übriges. Die schmale Tordurchfahrt verhinderte ein schnelles Eindringen großer Massen des Feindesheeres. Schießscharten wurden in verschiedenen Geschossen und in verschiedenen Winkeln angebracht, so dass es keine toten Winkel gab. Die Einzelteile der Festung waren durch Zugbrücken verbunden. Die konnte man hochziehen, so dass die Festung nur in kleinen Schritten erobert werden konnte. Man hatte Kanonen mit Vorderlader. Die hatten eine größere Reichweite – bis zu 3.000 Meter! – und konnten schneller geladen werden. Die Grasbepflanzung auf dem Dach konnte im Angriffsfall bewässert werden – eine Brandschutzmaßnahme. Das Gelände vor der Festung war bepflanzt. Im Angriffsfall konnten die Bäume binnen 24 Stunden gerodet werden. Das garantierte die Versorgung der Festung mit Holz und machte außerdem das Gelände uneben, eine zusätzliche Schwierigkeit für den Angreifer. Verrückt, was der Mensch sich so alles einfallen lässt, wenn es um das Militärische geht.
In der Festung gibt es noch ein gut ausgestattetes archäologisches Museum, aber um sich das anzusehen, muss man noch mal wiederkommen. Dafür sehe ich mir noch eine Photographieausstellung an. Hier stellt eine Künstlerin aus, deren Photographien wie Gemälde aussehen. Ihre Motive sind Treppen, Fassaden, Mauern, alles, was mit Architektur zu tun hat, und die Aufnahmen stammen aus allen Enden der Welt, von Seoul und Macao über Palermo und Potsdam bis Boppard. Die Objekte werden aber verfremdet, man erkennt auf den ersten Blick meist nur Linien und Formen, wie bei einer Mauer mit Schießscharten hier in der Festung Ehrenbreitstein. Die davorstehenden, kahlen Bäume erkennt man erst auf den zweiten Blick. Auf einem anderen Bild wird aus der Verkleidung von Mülltonnen ein Lattenrost für grüne Blätter. Auf noch einem anderen Bild sieht man das Parthenon von Athen. Hier entsteht die Verfremdung durch die Farbe. Ein Teil der Fassade ist gräulich-weiß, ein anderer ist orangefarben abgesetzt und sieht dadurch aus, als stehe er davor. In einem Video sieht man, wie die Künstlerin die Photos mit einem Pinsel oder einer Bürste bearbeitet. Das ist alles ganz originell, aber auf die Dauer lässt die Wirkung doch nach. Ich mache mich auf den Rückweg.
Beim Ausgang spricht mich auf dem Gehweg eine alte Frau an, auf einen Stock gestützt, ganz ohne Anlass und so, als würden wir uns kennen. Sie erzählt mir ihre ganze Lebensgeschichte, dass sie aus Arzheim stamme und jetzt in Ehrenbreitstein wohne, dass sie zwei Töchter habe, von denen eine ihr den Kontakt mit den Enkeln verweigere – das müsse man akzeptieren, findet sie, die Dinge seien eben manchmal so – dass sie wider Erwarten doch noch mal vom Operationstisch aufgestanden sei, dass das Wichtigste die Freundlichkeit sei, sie sei immer zu allen freundlich, dass sie mit ihrer Therapeutin immer auf die Aussichtsplattform gehe, dass sie jetzt eine Bratwurst essen gehe (die mache sie nicht zu Hause wegen des Gestanks) und dass ich unbedingt mal in die Dönerbude unten an der Seilbahn gehen solle. Und dann sagt sie einen bemerkenswerten Satz: Worin wir Menschen uns am meisten unterschieden, das sei die Höflichkeit. Dann geht es um die Familie in dem wegfahrenden Auto, der sie gerade hinterherwinkt, völlig Fremde, und ich muss einen auf dem Parkplatz wartenden Neffen erfinden, um mich von ihr zu lösen. „Schönen Tag noch, und grüßen Sie ihren Cousin!“
Am Abend gehe ich in den Roten Hahn, ein italienisches Lokal hier im Höhenstadtteil. Unterwegs fällt mir eine Kneipe mit dem Namen Klönsack auf und die Großschreibung in dem Straßennamen An den Zehn Nussbäumen.
Ich bin extra zu Fuß gegangen, um Wein trinken zu können, aber das Lokal hat die Schanklizenz verloren. Der Kellner empfiehlt alkoholfreien Wein. Alkoholfreier Wein? Gibt es sowas überhaupt? Ja, meint er, es gebe ja auch alkoholfreies Bier. Ich lasse mich darauf ein, nur um es sofort zu bereuen. Das ist kein Wein, das ist Saft, Brombeersaft oder so was. Der erste Schluck ist gleichzeitig der letzte.
Im Laufe des Abends kommen zwei Männer aus einem anderen Raum des Lokals und zwei Kunden kommen, um eine bestellte Pizza abzuholen. Das ist alles. Ansonsten bin ich alleine, der einzige Gast in dem großen Schankraum. Wie soll sich so etwas tragen? Miete, Strom, Heizung, Köche, Kellner, Putzfrauen, Geschirr, Einrichtung, Abgaben. Das kann doch nur bei voller Bude gutgehen. Und das alles nach den schweren Monaten der Pandemie. Kein Wunder, dass so viele Betriebe schließen. Die anderen, die Stehcafés und Selbstbedienungsbäckereien und die Dönerbuden, die haben es einfacher.
14. April (Gründonnerstag)
Heute kommt Verstärkung aus der Heimat. Das bedeutet Gesellschaft und Ortskenntnis. Beides kommt mir zugute.
Wir gehen runter in die Stadt, diesmal wirklich über die Straße mit dem vielsagenden Namen Kniebreche. Ein junger Radfahrer kommt uns entgegen, der sein Rad schiebt. Kein Wunder. Es soll aber Radfahrer geben, die diese Steigung bewältigen.
Unterwegs sehen wir einen vom Blitz getroffenen Baum, von dem nur noch der gespaltene Stamm übriggeblieben ist. Aber an der Seite wächst ein neuer, kräftiger Ast mit mehreren Zweigen, die gerade ausgeschlagen haben. Ein tröstliches Bild.
In Ehrenbreitstein sehen wir den Dähler Born, einen Brunnen, der heilsames Wasser spendet. Man kann es probieren. Der Geschmack ist nicht so umwerfend, aber wenn’s denn der Gesundheit dient. Die Rinne ist von dem eisenhaltigen Wasser rot gefärbt. Der Brunnen und das Brunnenhaus gehen auf die Preußenzeit zurück.
Am Straßenrand wird auf einer Gedenkplatte an Luther erinnert, der sich hier aufhielt, in einem an dieser Stelle ursprünglich stehenden Augustinerkloster. Der in der Nähe stehende Heribertturm mit einem neugotischen Dachaufsatz ist ein ehemaliger Teil des Klosters. Er wurde später in die Stadtmauer einbezogen und diente dann als Glockenturm.
Noch weiter oben steht die Kreuzkirche, eine moderne Kirche, ein zeltartiger Rundbau. Die Kirche hat ausgedient und steht zum Verkauf an.
Auf dem Weg in den Ort Ehrenbreitstein passieren wir die Humboldtstraße. Sie erinnert an Alexander von Humboldt. Der müsste auf seiner Forschungsreise mit Forster hier in Koblenz gewesen sein, als sie von Mainz über den Niederrhein nach England reisten.
Dann kommen wir zum Marktplatz und machen Pause im Café am Markt. Wir werden ungewollt Zeuge eines lautstarken Streitgesprächs zwischen einem Gast und der Wirtin, bei dem es um nichts geht als ums Rechtbehalten. Beide fangen immer wieder von neuem an. Der Gast ist Offizier und hier in Koblenz stationiert. Immer wieder betont er, dass er mehrere Jahre „in den Staaten“ gelebt habe.
Später spreche ich die Wirtin auf die Mauer an, von der sie dieser Tage gesprochen hat. Sie bestätigt, dass es sich um die Wasserschutzmauer handelt und dass die tatsächlich am Sonntag hochgezogen worden ist. Sie sei vor zehn Jahren angelegt worden und habe schon viel Schaden vermieden. Die Wirtin erinnert sich mit Grauen an die Zeit davor, wo alle zwei bis drei Jahre die Häuser überflutet wurden, und an den Gestank, der dabei entstand. Als sie hierher zog, verstand sie gar nicht, was man ihr sagen wollte bei der ersten Überflutung. Dann verstand sie: Sie musste den Schlamm bewegen, damit er nicht hart wurde.
Wir gehen zum Rhein runter, genau an der Stelle vorbei, an der die Wasserschutzmauer steht, wenn Hochwasser droht. Jetzt ist sie in den Boden versunken. An der Mauer sind die Wasserstände der verschiedenen Jahre angezeigt, in denen es Hochwasser gab. Der höchste Stand ist 1993 gemessen worden, aber schon 1995 kam dann wieder ein schreckliches Hochwasser, das zweithöchste überhaupt. Wie frustrierend das muss sein!
Der Weg gleich dahinter heißt An der alten Römerbrücke. Es muss genau die Stelle sein, an der die erste Römerbrücke stand, vor 2.000 Jahren!
An der Uferböschung sehen wir putzige Nagetiere, vielleicht Nutrias, die sich durch uns nicht stören lassen und unentwegt weiter fressen. Mit den Zehen halten sie den Zweig fest, an dem sie sich gerade zu schaffen macht, damit der nicht die Böschung runterrutscht.
Jetzt erfahre ich, wo genau die Rheinfähre abfahrt. Beide Male, als ich hierhergekommen bin, habe ich sie nicht entdeckt. Es gibt auch kein Hinweisschild. Aber jetzt machen sich Bauarbeiter an ihr zu schaffen. Wohl für die Eröffnung am Sonntag.
Auf der anderen Seite kommen wir am Studio des SWR vorbei, der in einem schönen alten Haus untergebracht ist.
Dann geht es zur Christuskirche, deren Turm schon von weitem zu sehen ist. Sie war die zweite evangelische Kirche nach der Florinskirche und wurde nötig nach der Erweiterung der Stadt nach Süden. Ausgerechnet donnerstags ist hier das Café Atempause geöffnet, und wir können die Kirche besichtigen. Sie ist ganz einfach eingerichtet, mit den für evangelische Kirchen typischen Emporen. Die kirchliche Ausstattung ist aufs Äußerste reduziert: Außer dem Altar, einem Kreuz und einer kleinen Kanzel gibt es nur ein Glasfenster im Chor mit modernen Formen, in denen man mit Mühe ein Kreuz und einen Engel entdecken kann.
Dann kommen wir in die Innenstadt. Es geht in einen Innenhof, in dem das neue Justizzentrum von Koblenz untergebracht ist, insgesamt sieben Institutionen, vom Amtsgericht bis zum Oberverwaltungsgericht. Die Passage heißt Deinhardpassage, nach dem Stammhaus von Deinhard, das sich hier befindet. Da kann man nach dem Ende des Prozesses gleich den Erfolg begießen – oder die Enttäuschung über die Niederlage im Alkohol ersäufen.
Wenn man auf der anderen Seite der Passage herauskommt, steht man vor dem Theater, einem klassizistischen Gebäude mit der Aufschrift musis moribus et publicae laetitiae erectum mdcclxxxvii – den musen den sitten und dem publikum zur freude errichtet 1787.
Wieder sehen wir einige der neu aufgestellten Figuren, die ganz normale Personen bei alltäglichen Verrichtungen darstellen. Am Rhein stehen drei unter der Dusche, in einem Park treffen sich einige beim Einkauf, im Schlosspark machen einige eine Polonaise und beim Theater steht einer auf dem Balkon und sieht auf das Treiben unter ihm hinunter.
Im Schlossgarten machen wir Pause auf einer Parkbank. Der Schlossgarten ist von Linné angelegt worden, mit der Besonderheit, dass ein Teil für den Kurfürsten abgetrennt wurde, ein anderer aber der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.
Vom Schlossgarten aus blickt man Richtung Rhein auf eine überlebensgroße Statue mit einer erhobenen Hand, die selbst über den Rhein blickt. Das Denkmal erinnert an Görres, den in Koblenz geborenen katholischen Publizisten. Die Figur stellt keine konkrete Person dar, sie ist allegorisch gemeint und soll, mit dem Buch vor der Brust und dem Adler, der sie flankiert, an Görres‘ mahnende Rufe nach Recht und Freiheit erinnern. Auf dem Sockel steht ein Zitat von Görres, an dem wir uns die Zähne ausbeißen. Vergeblich.
An der Rheinpromenade erinnert eine Plakette im Boden an das Geburtshaus von Giscard d’Estaing, das hier stand. Giscard wurde 1926 in Koblenz geboren und später Ehrenbürger der Stadt – und ganz nebenher auch noch französischer Staatspräsident.
Auch zum Kleinen Riesen, den ich die ganzen Tage vergeblich gesucht habe, werde ich mit sicherer Hand geführt. Hier sitzt man auf der Terrasse im ersten Stock und blickt direkt auf den Rhein und auf Pfaffendorf am anderen Ufer, ein Ort, der von hier aus hübscher aussieht als er ist.
Wir lassen den zurückgelegten Weg noch mal in Gedanken Revue passieren und kommen zu dem Schluss, dass wir genug gelaufen sind für einen Tag. Wir nehmen der Bequemlichkeit halber den Bus zurück nach Hause.
Beim Überqueren der Pfaffendorfer Brücke reduziert der Bus auffällig das Tempo. Das hat wohl was mit dem Zustand der sanierungsbedürftigen Brücke zu tun. Das wird ein riesiges, millionenschweres Projekt, bei dem es vor allem darum geht, die alte Brücke nicht einfach abzureißen und dann die neue zu bauen. Das würde zwei Jahre in Anspruch nehmen und den Kollaps des Verkehrs in Koblenz bedeuten. Daher soll die neue Brücke zunächst auf Hilfsstützen unmittelbar neben der alten errichtet werden, auf der Schloss-Seite. Wie dann aber der Übergang von der alten zu der neuen Brücke vonstattengehen soll, das übersteigt meine Vorstellungskraft.
15. April (Karfreitag)
Diesmal gehen wir in die andere Richtung, bergauf statt bergab. Wir kommen an einen hohen Punkt im Wald, und dann geht es steil runter in das idyllische Mühlental. Unterwegs sehen wir blühende und efeuumschlungene Bäume, Wiesen mit Löwenzahn und Dotterblumen. Sattes Grün überall. Wir kommen vorbei an einem Bauernhof, wo es Milch „zum Selberzapfen“ gibt, an Schafen mit neugeborenen Lämmchen und Kühen mit einem neugeborenen Kälbchen. Das Ganze im hellsten Sonnenschein, der dann aber immer wieder verschwindet, wenn sich die Sonne hinter den Wolken versteckt. Dann wird es plötzlich spürbar kälter.
In den Wald hinauf führt eine Straße namens Rheinblick, aber sie hält nicht, was ihr Name verspricht. Dafür bringt sie uns schnurstracks zu einer Stelle oben im Wald, zu der wir ohnehin wollten, einem alten Galgenplatz, Gintgens Galgen an der Dreispitz. Eine Tafel informiert über den historischen Hintergrund. Sowohl zur Zeit der Kurfürsten als auch vorher schon, unter der reichsunmittelbaren Herrschaft der Helfensteiner, fanden hier Hinrichtungen statt. Schöffen aus zwei Orten der Nachbarschaft kamen zusammen mit dem Hochgerichtsherrn und fällten ihr Urteil. Namentlich bekannt ist ein Arenberger namens Gintgen, der Namensgeber des Platzes, der bereits im 13. Jahrhundert hier gehenkt wurde. Aus dem 16. Jahrhundert weiß man von zwei Frauen, die hier als Hexen verbrannt wurden und von einem Mann, der wegen Mords gehenkt wurde. Die Schwurhand abgeschlagen wurde einem Mann, der Ehebruch begangen und dann einen Meineid geschworen hatte. Die abgeschlagene Hand versenkte man in dem Brunnen des verfeindeten Montabaur, aus dem das Gesinde und die ganze Gemeinde noch eine ganze Zeitlang tranken. Wegen Diebstahls wurde ein Mann im 17. Jahrhundert hingerichtet, während seine Frau mit Peitschenhieben davonkam. Danach ließ man sie laufen.
Nach dem steilen Abstieg kommt noch mal ein Aufstieg, und dann sind wir reif für das Sofa und eine Pause zur Regenerierung der müde gewordenen Beine. Am Abend geht es dann zum Abschluss ins Alte Brauhaus, dem Stammhaus der Königsbacher Brauerei. Dort gibt es deftige Hausmannskost, darunter das im Mittelrheinmuseum vorgestellt Himmel und Erd. Es ist ziemlich voll, hier bekommt man ohne Reservierung in der Regel keinen Platz. Auch ausländische Gäste sind da, Amerikaner oder Briten.
In der gesamten Altstadt ist viel Volks unterwegs. Es herrscht eine sommerliche Atmosphäre, und von Karfreitag spürt man den ganzen Tag über so gut wie gar nicht, außer dem Geräusch von Ratschen irgendwo am Vormittag. Alle Lokale haben geöffnet, und vor der beliebtesten Eisdiele von Koblenz steht die obligatorische Schlange. Die Leute sitzen auf Treppenstufen und essen ihr Eis, denn die Eisdiele hat keine eigenen Sitzplätze.
Auch am Abend, am Ende einer schönen Woche in Koblenz, die mit Schnee begonnen hatte, scheint die Sonne noch.