Jakobsweg (2018)

26. April (Donnerstag)

Verrückt! Nach Asturien geht es über Lissabon! Die Mutter aller Umwege. Auf dem Weg sehen wir aus dem Fenster des Flugzeugs die schneebedeckten Berge Asturiens, die uns erwarten, auch jetzt, im April, noch. Das heißt, die anderen sehen sie. Ich schlafe den Schlaf der Seligen.

Wir haben gut drei Stunden Aufenthalt in Lissabon, zu lange, um am Flughafen herumzusitzen, zu kurz, um einen Ausflug in die Stadt zu riskieren. Finden jedenfalls die anderen. Der Kompromiss: Wir verlassen das Flughafengelände und sehen uns in der Gegend um. Ein fauler Kompromiss, wie ich finde. Was gibt es schon in der Nähe eines Flughafens zu sehen? Hotels? Kongresszentren? Parkplätze? Stadtautobahnen? Ich sollte mich eines Besseren belehren lassen.

Wir stehen erst etwas orientierungslos vor dem Flughafen und entscheiden dann, einfach immer einer abwärts führenden Straße nachzugehen, möglichst lange geradeaus. Schließlich müssen wir ja auch noch zurückfinden.

Nach dem Überqueren einiger breiter Straßen befinden wir uns plötzlich in einem Park. Ein ganz klein bisschen heruntergekommen, aber schön. Dann kommt ein Wohnviertel mit Reihen von niedrigen Einfamilienhäusern. Und dann kommen Schrebergärten – kaum zu glauben. Die anderen diskutieren, was hier angebaut wird: Wirsing, Lauch, Zwiebeln und verschiedene Kohlarten, darunter eine, die, wie wir später erfahren, typisch für Portugal ist und auch in dem Pote gallego serviert wird, eine Art Schwarzkohl.

Vor den Häusern stehen Zitronenbäume voller Früchte und ein weiterer Baum, dessen Früchte mich den ganzen Camino lang verfolgen sollten. Nardo kennt sie, weiß sogar, wie sie auf Spanisch heißen: nísperos. Erst verwechsle ich sie mit einer sehr bitteren Frucht, die in Griechenland kennengelernt habe, dann, nachdem ich sie probiert habe, kommt es mir wieder in den Sinn. Sie sind eher süßlich und haben mehrere Steine. Auch denen bin ich in Griechenland begegnet. Sie haben im Deutschen den etwas umständlichen Namen Japanische Wollmispel, laufen aber auch unter Loquat und Nispero (auch Mispero).

Es ist sonnig und warm, und wir gehen die breite Avenida de Berlim runter, in der Hoffnung, irgendwann ans Meer zu kommen. Wir fragen eine Passantin. Sie antwortet auf Englisch, ausgesprochen freundlich: Ja, wir sind richtig, links abbiegen, Bahnhof Vasco da Gama. Aber nicht Meer – Fluss. Da unten fließt der Tejo. Er scheint nahe, aber je näher wir ihm kommen, umso weiter scheint er sich wieder zu entfernen. Am Ende kommt der Bahnhof in Sicht, mit geschwungener grüner Bogenreihe. Allmählich dämmert es mir: Das ist die Estaçao Vasco da Gama von Calatrava. Da bin ich damals bei dem Ausflug nach Lissabon extra hingefahren, um ihn zu besichtigen, als Sehenswürdigkeit.

Wir kommen durch ein riesiges Expo-Gelände mit Pavillons und Einkaufszentrum, und dann tatsächlich an den Tejo. Der ist hier so breit, dass man nicht auf die Idee käme, es handele sich um einen Fluss. Links von uns die berühmte Brücke, der Ponte 25 Abril, eine der längsten Hängebrücken der Welt, rechts, in der Ferne, das Meer. Wir setzen uns auf eine Bank und ruhen uns aus. Der Spaziergang war länger als geplant. Als wir wieder am Flughafen sind, haben wir elf Kilometer zurückgelegt, und insgesamt an dem Tag dreizehn. Schon eine Art Aufwärmtraining für die Wanderung.

Im einem Einkaufszentrum am Tejo trinken wir einen Kaffee. Die anderen tragen Wanderschuhe. Sie haben, für den Fall der Fälle, ein komplettes Outfit am Körper und ein anderes im Rucksack. Falls der Koffer nicht ankommt! Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. In einem solchen Fall würde ich alt aussehen.

Am Flughafen gibt es vor dem Weiterflug Verwirrung. Das Gate ist noch nicht angegeben, aber wir wissen auch nicht, von welchem Terminal wir abfliegen.   Und auch nicht, in welchem Terminal wir uns befinden. Die Verwirrung wird gesteigert durch einen Hinweis auf einem Schild: no Terminal 1. Heißt das, dass wir nicht im Terminal 1 sind? Nein, das ist Portugiesisch. Es heißt im Terminal 1. (no = em +el).

Der Flug von Lissabon nach Oviedo, den ich wieder schlafend verbringe, versöhnt Nardo mit unserer Reiseroute. Er hatte für Luxemburg – Madrid und Weiterfahrt mit dem Zug plädiert. Aber die Aussicht auf die Landschaft hat ihn versöhnt.

In Oviedo ist es kühler als in Lissabon, aber immerhin trocken. Der Bus wartet auf uns. Er schafft die fünfzig Kilometer ins Zentrum in einer halben Stunde, über eine moderne Autobahn.

Links in der Ferne liegt das Meer, rechts bewaldete Berge. Die Natur ist hier im Norden ganz anders als im restlichen Spanien.

Dann kommen stillgelegte Industrieanlagen in Sicht. Von der alten Kohle- und Hüttenindustrie, für die Asturien bekannt war, ist wenig geblieben.

Man sieht auch ein paar abgebrannte Waldstücke. Waldbrände. Die werden begünstigt durch die vielen Eukalyptusbäume, aus Australien importiert wegen des schnellen Wachstums. Das Holz wurde für die Kohlenschächte gebraucht. Die Eukalyptusbäume haben ätherische Öle, und die feuern den Brand förmlich an.  Sie sind auch die Ursache für die verheerenden Waldbrände in Portugal.

Vom Bushahnhof geht es zu Fuß in die Innenstadt. Nach dem einen oder anderen Schlenker stehen wir dann vor dem Hotel. Es ist zehn Uhr. Um acht sind wir aufgebrochen. Vierzehn Stunden. In der Zeit kommt mal problemlos nach Shanghai oder Rio.

Wir wollen aber noch nicht ins Bett. In der Nähe finden wir noch ein paar Lokale, die geöffnet sind. Wir landen in einem namens La Gambita. Hier ist noch Betrieb. Wir bekommen Bier und Wein und Radler. Auf Kosten des Hauses gibt es leckere Brötchen mit chorizo und sehr leckere Oliven.

Bei der Bestellung das nächste sprachliche Schmankerl der Reise. Die Frauen wollen ein Radler. Was heißt auf Radler auf Spanisch? Keine Ahnung. Vergessen. Ich erkläre umständlich, was wir haben wollen: Bier, gemischt mit einer Art Zitronensaft. Es klappt. Als der Kellner das Radler bringt, frage, wie das heißt auf Spanisch. Die Antwort: un radler. Das Radler wird von einer internationalen Brauereikette in Spanien vermarktet. Unter diesem Namen. Später entdecken wir, dass eine andere Brauerei es unter dem Namen Shandy vermarktet. Aber das ist nur die erste Episode. Die nächste folgt in den nächsten Tagen: Als die deutschen Frauen auf Spanisch un radler bestellen, werden sie nicht von den spanischen Kellnern verstanden. Und die deutschen Frauen verstehen die spanischen Kellner auch nicht, wenn die fragen, für wen denn el radler sei! Die dritte Episode folgt dann erst zuhause: Als ich die Geschichte in Gegenwart einer Spanischlehrerin erzähle, sagt die: „Aber es gibt doch ein spanisches Wort für Radler – una clara.“ So ist es. Dem Vergessen anheimgefallen. Und wer weiß? Vielleicht in Spanien jetzt auch sprachlich ins Hintertreffen geraten durch die Werbekampagnen der internationalen Brauereien.

27. April (Freitag)

Bevor es am nächsten Tag losgeht, haben wir einen Tag frei, hier in Oviedo, so wie wir am Ende einen Tag in Santiago haben werden. Wir machen aber bald die Erfahrung, dass die Wanderung den meisten Platz im Kopf einnimmt und wir die Kultur nur halbherzig aufnehmen.

Wir machen einen Spaziergang zur Kathedrale, mit der bekannten unfertigen Fassade. Der linke Turm fehlt.

Drinnen wird bezahlt. Die freundliche junge Frau am Empfang bietet an, unsere Pilgerpässe zu stempeln, und die Mädels nehmen das Angebot an. Wir beiden haben unsere Pässe zuhause liegen lassen. Es erweist sich im Laufe der Zeit aber sowieso als schwierig – und ist auch nicht nötig – den Ausweis regelkonform voll zu bekommen – man benötigt dazu täglich zwei Stempel. Alles ist genau geregelt, damit nur die wirklich Verdienstvollen in Santiago ihre Pilgerurkunde bekommen!

Der Hingucker im Innenraum ist das Retabel, mit Darstellungen der biblischen Geschichte in 23 Flächen, angeordnet in fünf Bahnen, die von unten nach oben und von links nach rechts zu lesen ist. Es sieht nicht nach Holz aus, ist es aber, Nuss und Kastanie, aber alles ist farbig gefasst, in leuchtenden Farben und mit ebenso leuchtendem Gold eingerahmt.

Es ist von einem Detail bei der Darstellung der Hochzeit von Kana die Rede, das mit interessiert, das ich aber nicht ganz verstehe. Der Künstler hat hier nur fünf statt sechs Krüge dargestellt, aus einem bestimmten Grund, der mit der Kathedrale von Oviedo zusammenhängt: Im nördlichen Querhaus befindet sich nämlich die Hidria, ein großes irdenes Wassergefäß, und das soll schon bei der Hochzeit zu Kana zum Einsatz gekommen sein. Der sechste Krug also. Im Allgemeinen bleibt die Hidria den Augen der Öffentlichkeit verborgen. Nur gelegentlich wird sie gezeigt, unter anderem an dem Sonntag, an dem das Evangelium der Hochzeit zu Kana gelesen wird.

Für das Retabel musste Oviedo doppelt zahlen. Ursprünglich war Berruguete für das Retabel verpflichtet worden, aber der Auftrag konnte wegen eines Stadtbrands nicht ausgeführt werden. Also musste dem Künstler eine Entschädigung gezahlt und anschließend ein anderer Künstler engagiert werden.

Die Schatzkammer liegt hinter einem alten Turm, der wohl zu einem Vorgängergebäude gehört. Unter diesem Turm liegt der Kreuzgang mit hohen Bögen.

Ein gesonderter Weg führt zur Camara Santa, der Besonderheit der Kathedrale von Oviedo. Die Cámara Santa ist ein separates, zweigeschossiges Bauwerk, das vermutlich auf einen Königspalast zurückgeht. Hier sieht man, hinter einem Gitter, zwei vergoldete Kreuze, auf der einen Seite das Cruz de los Angeles (IX), ein griechisches Kreuz, auf der anderen das Cruz de la Victoria (X), ein lateinisches Kreuz. Das Cruz de los Angeles wurde angeblich von zwei Künstlern gefertigt, die dann verschwanden, ohne Lohn zu fordern. Der Legende nach handelte es sich um zwei Engel. Diese sind in goldener Form als Skulpturen unter dem Kreuz dargestellt. Das Cruz de la Victoria ist angeblich das Kreuz, das Don Pelayo in der Schlacht von Covadonga trug. Es wurde später vom König vergoldet.

Zwischen Kreuzen den Kreuzen befindet sich die Arca Santa, ein mit silbernen Reliefs verzierten Schrein aus Zedernholz, der bedeutende Reliquien enthält, zwei Holzspäne des Kreuzes Christi, ein Stück seines Gewandes, Dornen aus der Krone, ein Stück des Schweißtuchs der Veronika. Die Reliquien wurden von westgotischen Königen im Nahen Osten erworben und während der Herrschaft des Islam in den Bergen Asturiens verborgen. Vorne auf dem Kästchen befindet sich eine  Darstellung des Pantokrator mit den Aposteln. Die Inschrift unten ist erstaunlicherweise in kufischen Buchstaben! Vermutlich ein Resultat der bewegten Geschichte des Schreins.

Kunsthistorisch interessanter dürften die Apostelfiguren sein. Es ist mehr als ein Vorgeschmack auf Santiago, auf das Pórtico de la Gloria. Die Apostelfiguren befinden sich in dem Vorraum, einem überwölbten Raum, im Zweierpack. Es sind schlanke, überlange Figuren, mit ausdrucksstarken Gesichtern, an den Pfeiler gelehnt.

Über den Figuren Reliefs mit weltlichen Motiven, darunter ein Wildschwein, dem angesichts eines sich nähernden Jägers die Nackenhaare zu Berge stehen!

Im Anschluss an die Kathedrale machen wir einen Spaziergang durch das historische Zentrum. Oviedo ist schöner, als ich es in Erinnerung hatte: schöne Straßen, schöne Plätze, schöne Gebäude, darunter an exponierter Stelle das Rathaus und das Gericht.

Wir passieren eine Straße, deren Namen mir ins Auge fällt: Calle la Rua. Doppelt gemoppelt hält besser.

In der Nähe des Kathedralplatzes sehen wir eine moderne, eher konventionelle Bronzefigur, die Figur einer Frau in langem Kleid, mit Haube, Täschchen und Buch. Erst die Inschrift verrät die Bedeutung der Skulptur: La Regenta. Das ist die Protagonistin von Claríns berühmten Roman, dem spanischen Äquivalent von Madame Bovarie, Effie Briest und Anna Karenina. Er spielt in Oviedo.

Überall im Zentrum stoßen wir auf Skulpturen, eher normale wie die der Bella Lola, wohl auch eine literarische Figur, und eher verstörende wie die eines menschlichen Torsos mit dem Titel El Diestro.

Eine Bar wirbt mit der einleuchtenden Aufschrift: Café de día, copa de noche. Fasst die Funktionen einer spanischen Bar bestens zusammen.

Auch trifft man in Inschriften auf Besonderheiten des asturianischen Spanisch: In einem Geschäft steht Les Camises statt Las Camisas, auf einem Plakat La nueche ye tuya statt La noche es tuya.

Auf den alten Namen Oviedos, auch den Namen, den es in La Regenta hat, stößt man im Namen einer Versicherungsagentur: Vetusta.

Wir gehen, von Nardo angetrieben, in die Markthalle. Ein ästhetischer Genuss, alles frisch, schön präsentiert. Die Markthalle ist kein Paradies für Vegetarier: Wurst und Fleisch haben Vorrang, stehen aber in Konkurrenz zum Fisch. Die Wörter kommen mir alle bekannt vor, aber ich könnte heute nicht mehr viele identifizieren: merluza, rodaballo, rape, oricios, sepias.

Entgegen der Wettervorhersage ist es sonnig und warm, wenn auch nicht wolkenlos. Auf jeden Fall ist es warm genug, sich draußen hinzusetzen, in ein Lokal direkt neben der Markthalle. Nardo hat uns dahin geführt, angelockt von dem Kellner, der am Nebentisch Sidra serviert. Wir bestellen auch Sidra. Unsere Frage, ob es die auch per Glas gebe, entlarvt uns als Ignoranten. Wir brauchen aber nicht selbst einschütten. Das besorgt der Kellner, in der landestypischen Weise, die Flasche ganz weit oben über den Kopf haltend, das Glas unten auf Höhe des Knies. Dafür gibt es sogar eigens ein Verb: escanciar. Nachdem er jedem einzelnen eingeschüttet hat, animiert uns der Kellner zum Trinken. Bei der Sidra gelte: Einschütten – Austrinken.

Bald stellt sich Hunger ein. Aber es ist noch viel zu früh für ein spanisches Mittagessen. Aber Nardo gibt nicht klein bei. Und fragt den Kellner, ob es jetzt schon etwas zu essen gebe. Ja, natürlich. Auch Fabada? Ja, natürlich. Wir bestellen für drei. Resultat: Es gibt nicht etwa drei Teller Fabada, sondern drei leere Teller und einen Riesentopf Fabada. Sie schmeckt himmlisch. Nardo will wissen, woher denn die Bohnen kämen. Aus Kenia? Nein, protestiert der Kellner, aus Asturien. Nardo verbirgt seine Zweifel, aber die werden später im Internet definitiv beseitigt. Asturien baut die Bohnen für die eigene Fabada selbst an, in den Flusstälern des Nalón und des Navia. Das milde und feuchte Klima begünstigt den Anbau.

Lange diskutieren wir, ob wir die berühmten vorromanischen Kirchen außerhalb der Stadt nicht morgen im Zuge der Wanderung besichtigen können, es wäre schließlich nur ein Schlenker, aber ich plädiere so vehement dagegen, dass die anderen ein Einsehen haben. Später haben sie sogar die Größe, zuzugeben, dass das eine gute Entscheidung war.

Die Kirchen, San Miguel de Lillo und Santa María del Naranco, benannt nach dem Hügel, auf dem sie liegen, befinden sich gut drei Kilometer außerhalb des Zentrums. Sie sind wahre Schmuckstücke, einfach und doch kunstvoll. San Miguel de Lillo war die Palastkirche der asturianischen Könige, Santa María del Naranco war ursprünglich selbst ein kleiner Palast, der dann später zur Kirche umgestaltet wurde.  An San Miguel de Lillo fällt vor allem eine Fensteröffnung mit kannelierten Säulen und einem verzierten Rundbogenfenster darüber auf. Der Bau war ursprünglich dreischiffig, wurde aber durch einen Erdrutsch beschädigt. Das erklärt seinen etwas merkwürdigen Grundriss. Bei Santa María del Naranco, einem langen und hohen und schmalen Bau, fällt eine Loggia im zweiten Stock besonders ins Auge, mit Dreierarkaden und Rundbögen. Dass überhaupt Säulen statt Pfeiler verwendet wurden, war eine frühe Besonderheit dieser Gebäude.

Die Kirchen sind um diese Zeit, noch spanische Mittagszeit, geschlossen, aber das macht uns nichts. Wir legen uns ins Gras vor den Kirchen und diskutieren wichtige Fragen wie die adäquate Tonhöhe von Kuhglocken und die relative Verwandtschaft von Bananen und Kohlrabi. Und lassen die Szenerie auf uns wirken. Auf der Wiese vor den Kirchen grasen dicke Schafe mit dichtem Fell. In der Ferne sieht man die Stadt und die Berge. Den Blick auf die Altstadt versperren die Hochhäuser der Umgebung und ein auffälliges, modernes Gebäude, die Expo. Wieder, wie in Lissabon, Calatrava.

Wieder im Zentrum machen wir uns auf die Suche nach einer Eisdiele. Eine Odyssee. Es scheint keine zu geben. Ganz am Ende sagt uns eine junge Frau, doch, es gebe eine, in einer Einkaufsstraße, ganz in der Nähe der Statue von Woody Allen. Woody Allen? In Oviedo? Ja, tatsächlich. Woody Allen hatte ein Faible für Oviedo und hat Szenen aus verschiedenen Filmen hier gedreht. Als wir die Eisdiele dann schließlich finden, stellt sich heraus, dass sie geschlossen ist. Wandererglück.

Am Abend kaufen wir Proviant für den nächsten Tag. Die Mädels wollen unbedingt Mineralwasser mit Kohlensäure, es gibt aber vorwiegend Mineralwasser ohne Kohlensäure, in allen Varianten und Quantitäten. Dann haben sie was gefunden und fragen mich, ob das richtig sei. Und ich sage ja – und mache einen Anfängerfehler. Es ist nicht das richtige. Es ist gaseosa, Sprudel, Limonade, nicht agua con gas.

28. April (Samstag)

Nur 3-4% aller Pilger nehmen den Camino Primitivo, der aber als der älteste aller Pilgerwege gilt. Die meisten nehmen den Camino Francés, gefolgt vom Camino Portugués. Der Camino Francés verläuft südlich von uns, nördlich von uns gibt es noch einen Weg an der Küste entlang.

Punkt 8 Uhr geht es los – zum Bäcker! Außer Brot kaufe ich noch quesada, die ihrem Namen zum Trotz nichts mit Käse zu tun hat, sondern eine Süßspeise mit Karamellgeschmack, die es beim Picknick zum Nachtisch gibt.

Schon nach wenigen Minuten müssen wir die Ausreißerinnen zurückpfeifen: Gemach, Mädels, gemach! Wir haben 25 Kilometer vor uns. Ab da an geht es gemächlich weiter.

Eine halbe Stunde brauchen wir, bis wir aus Oviedo heraus sind. Der Weg wird bezeichnet durch in den Bogen eingelassene goldene Muscheln oder gelbe Pfeile oder beides, und wenn wir doch mal einen Moment suchend stehenbleiben, kommt sofort ein Einheimischer und zeigt uns unaufgefordert den Weg. Sehr freundlich alle hier.

Sobald man aus der Stadt heraus ist, sind die Muscheln statt in den Boden eingelassen auf Pfeilern angebracht. Gegen die Intuition weist das schmale Ende der Muschel die Richtung. In  Galicien soll es umgekehrt sein.

Sobald man aus der Stadt heraus ist, kann man in vollen Zügen die Natur genießen: „Man glaubt kaum, dass man in Spanien ist.“ Kann ich nur voll zustimmen. Wenn man Durchschnittsdeutschen Photos von der Umgebung vorliegen würde, würden neun von zehn vermutlich nicht auf Spanien kommen. In seiner üppigen Vegetation unterscheidet sich der Norden substantiell vom Rest Spaniens.

Eine Augenweide sind der Blick auf die Berge, das intensive Grün, vor allem aber das, was am Wegesrand wächst. An Hecken, Mauern und Leitplanken wuchert es wild empor, alles durcheinander, eine Natur, die weitgehend so belassen wird, wie sie ist. Nardo kommt aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus. Er zeigt uns Ringelblümchen und Fenchel (riecht gut) und Zistrosen, eine alte und starke Heilpflanze (die ihre Spuren auf dem Turiner Grabtuch hinterlassen hat) und die einfach so aus dem Fels herauswachsen.

Das ist die Natur, die auch die Vögel lieben. Er zeigt uns Distelfinken, Rotkehlchen, Grasmücken (die hört man nur) und Zaunkönige, aber wir erwischen die immer nur im Wegfliegen.

Es geht durch einige kleinere Orte mit fremd klingenden Namen wie Taraniello und Puerma. Ein Ort in der Nähe des Ziels ist sogar zweisprachig angezeigt. Das wirkt etwas angestrengt, so als würden wir Wasserbillig/Wasserbillisch schreiben.

Manchmal muss man ein Stück an der Landstraße entlang, aber meistens geht es über Wege abseits der Straße oder mitten durch den Wald. Gelegentlich begegnet man anderen Pilgern. Ich finde, es sind wenige unterwegs, die anderen finden, es sind viele. ¡Buen camino! ist der Standardgruß, sowohl unter Pilgern als auch von Einheimischen an Pilger. Mir kommt das unidiomatisch vor. Ich kann mich nicht erinnern, jemals jemanden außerhalb dieses Kontextes so einen Gruß benutzt zu haben.

Immer wieder kommen wir an den typisch asturianischen Getreidespeichern vorbei, den hórreos. Das  sind erhöhte, auf Pfeilern stehende Holzbauten, deren Konstruktion dafür gedacht ist, Ratten, Mäusen und Käfern den Weg zum Getreide zu versperren. Aber können Ratten, Mäuse und Käfer nicht klettern? Wir fragen uns, ob die erhöhte Konstruktion vielleicht doch nur der Trocknung des Getreides dient. Aber dann findet Krissi die Antwort: Auf den Pfeilern ruhen waagerecht liegende Steinblöcke. Wenn die Tiere also am Ende des Pfeilers ankommen, versperren die ihnen den Weg. Sie müssten an denen entlang laufen wie an einer Decke. Und das können, wie wir jetzt von Nardo erfahren, nur Geckos.

Heute sind viele der Getreidespeicher zweckentfremdet, als Rumpelkammer oder als „Ferienwohnung“ von Typus Baumhaus.

Irgendwann überqueren wir auf einer Brücke mit stahlblau gestrichenem Geländer den Nalón, ein richtiger Fluss ohne Begradigung und Kanalisierung, mit glasklaren Wasser und starker Strömung.

An einem Baum hängt ein mehrsprachiges Hinweisschild zur Flor de Santiago. Der deutsche Text lautet: „Erfasst Glühbirne und es Pflanze, wenn sie nach Hause kommen, die Belohnung für die Reise durch die primitive Straße wird.“

Außer dem ersten und dem letzten Kilometer geht es den ganzen Tag nur rauf und runter, manchmal so steil, dass man aufpassen muss, nicht nach vorne oder nach hinten umzukippen. Nach sechs Stunden und achtzehn Kilometern schwinden die Kräfte, und die letzten 700 Meter durch Grado und an das andere Ende des Ortes sind die reinste Qual. Das sollen nur 700 Meter sein?

Die Rucksäcke werden, obwohl sie immer leerer werden, immer schwerer. Alle Gesetze der Physik scheinen außer Kraft gesetzt zu sein.

Am Ortseingang von Grado fragen wir in einem etwas schäbigen Café nach dem Weg, und die Wirtin wetteifert mit zwei Kundinnen darum, uns den Weg zu erklären. Als wir dann endlich das etwas schäbige Café am anderen Ende des Ortes erreichen, müssen wir noch anderthalb Stunden auf das Taxi warten, das uns zu unserer Unterkunft bringen soll.

Das schäbige Café erweist sich aber als beliebte Pilgerherberge. Es scheint komplett ausgebucht zu sein. Eine Australierin muss sich ihr Zimmer mit einer anderen, unbekannten Pilgerin teilen. Außerdem hätte man hier sofort aufs Zimmer gekonnt und hätte ein Abendessen bekommen.

Der Taxifahrer kommt dann aber eine halbe Stunde früher als vereinbart. Er ist sehr gesprächig. Sein Sohn lebt seit sieben Jahren in Frankfurt, als Krankenpfleger. Erst hat er drei Jahre gearbeitet und Deutsch gelernt, dann hat er seine Freundin nachgeholt. Er sei sehr zufrieden in Deutschland und spreche fließend Deutsch. Als der Taxifahrer mit einer politischen Suada ansetzt – Putin mache das richtig, er fordere von den Muslimen „Passt euch an oder ihr fliegt raus“ – bringe ich ihn wieder auf den persönlichen Pfad zurück und frage nach den Mietpreisen in Frankfurt. Alles bestens. Die Wohnung befände sich auf dem Gelände des Krankenhauses und werde vom Krankenhaus gestellt. Sein Sohn wohne hier und da, da, wo der Strommast ist, da arbeite er.

Wir haben genug Zeit, das alles zu besprechen, denn unsere Unterbringung ist in Sama de Grado, zwölf Kilometer außerhalb. Dort sind wir in einem Landgasthof von rustikaler Eleganz untergebracht, mindestens eine Klasse besser als es sich für Pilger gehört. Alles ist sehr, sehr geschmackvoll eingerichtet. Wenn ich einen Landgasthof betreiben würde, so ähnlich würde er aussehen.

In dem Ort gibt es nichts, kein Lokal, kein Geschäft, aber der Landgasthof bietet auch Essen an. Wir scheinen die einzigen Gäste zu sein, und weit und breit ist außer der jungen Frau, die uns in Empfang genommen hat, niemand zu sehen. Ob sie auch kocht?

Dann kommt ein sehr freundlicher junger Mann in den Salon, wohin ich mich zurückgezogen habe, statt auf dem Zimmer zu hocken. Er ist der Ehemann der jungen Frau, „un simple empleado“, wie er ironisch bemerkt. Er fragt, ob alles in Ordnung sei und erkundigt sich nach der ersten Etappe. Sein Bruder lebt am Zielort unserer dritten Etappe. Da ändere sich die Landschaft noch einmal erheblich, sie werde rauer – „más rupestre“ – und nach den Anstiegen käme man dann auf eine Art Meseta. Er löst auch die Frage nach dem Koch auf. Das ist er selbst.

Beim Abendessen fragen wir ohne Angst vor Neugierde nach: Die beiden betreiben das Geschäft seit elf Jahren, und Haus und Grundstück sind ihr Eigentum. Sie machen alles selbst und haben nur eine Putzhilfe angestellt. Im Januar und Februar schließen sie – zwei Monate zur Erholung. Eine richtig gute Geschäftsidee.

Die Speisekarte ist bescheiden, aber was aufgetischt wird, kann ich sehen lassen. Als Hauptspeise gibt es Fisch (oder als Alternative Artischocken mit Schinken), vorher eine sämige Gemüsesuppe und nachher ein Stückchen Käsekuchen. Wir sind alle sehr angetan von unserer Unterkunft. Der Umweg hat sich gelohnt.

29. April (Sonntag)

Als ich am Morgen zum Frühstück herunter komme, sagt mir der Wirt, es sei ziemlich kalt draußen und es müsse mit Regen gerechnet werden. Er erzählt, wie sie letztes Jahr noch eine unverhoffte Kälteperiode gehabt hätten, die dem Obst und dem Wein im Norden Spanien schwer geschadet hätte. Dasselbe Problem habe es bei uns gegeben, sage ich, und erzähle ihm von unserem Wein. Daraufhin erzählt er mir, dass er die Gegend gut kenne. Das sei doch da, wo der Riesling angebaut werde. Er hat als junger Erwachsener ein Jahr in Nancy verbracht, um Französisch zu lernen und sei damals munter durch die Gegend gereist. Seine Schwester lebe da, in Luxemburg. Sie arbeite für die EU, verheiratet mit einem Deutschen, der von Kindsbeinen an in Luxemburg lebt.

Beim Frühstück fragt Nardo, was der Mann denn von Mallorca erzählt habe. Keine Ahnung, kann ich mich nicht dran erinnern. Doch, meint Nardo, er habe das Wort mallorquín gehört. Ich gehe in Gedanken das Gespräch noch mal durch, aber kann mich beim besten Willen nicht erinnern, dass von Mallorca die Rede gewesen sein soll. Dann endlich fällt der Groschen: Der Mann hat von seiner Schwester gesprochen und von ihr gesagt, sie sei älter als er, mayor que yo. Das sollte man in jedes Sprachlehrbuch schreiben.

Diesmal haben drei von vier gut geschlafen, aber ett Usch immer noch nicht. Die Arme! Schon die dritte Nacht in Folge. Es habe ein lautes Geräusch gegeben, vermutlich von der Heizung. Unterwegs ist sie trotz Schlafmangels diejenige, die voranschreitet. Wenn es nach ihr ginge, wäre wir ein ganzes Stück schneller.

Die Mädels haben einen Fehler in der Organisation gefunden: Ein Transfer ist für den falschen Tag gebucht. Uns beiden wäre das noch nicht einmal aufgefallen. Es bleibt uns Gott sei Dank noch der Montag, um das zu klären. Telefonisch. Sie haben aber sicherheitshalber schon mal eine Mail an den Veranstalter geschickt. Solche Reisebegleiterinnen … man sich.

Noch bevor es losgeht, lerne ich von Nardo ein neues Wort: bordón. Das bezeichnet den klassischen Pilgerstab, den, der höher als der Pilger ist.

Bei der Rückfahrt in den Ort sehen wir auch hier das zweisprachige Ortschild: Grado/Grau. Wir überqueren den Sama. Deshalb hieß der Ortsteil, in dem das Landgasthaus lag, Sama de Grado.

Vor einem größeren Gebäude steht eine längere Schlange. Sonntagmorgen. Kirche? Ja, denkste, Schwimmbad!

Noch schnell etwas Proviant aus dem Supermarkt. Der öffnet auch am Sonntag. Wir kaufen alle weniger als am Tag zuvor. Und dann geht es los. Einen halb asphaltierten Schotterweg rauf, immer weiter rauf, es will gar nicht aufhören. Und das gleich am Anfang. Wir kommen bald ins Schwitzen. Vom angekündigten Regen noch keine Spur.

Die ganze Strecke ist heute ein ewiges Auf und Ab. An einer Stelle geht es einen matschigen, steinernen Waldweg hinunter. Da will jeder Schritt überlegt sein. Bei anderen, ebeneren Passagen erteilt Nardo uns den Rat des ehemaligen Crossläufers: nicht zu langsam, sonst rutscht man aus.

Obwohl die Strecke kürzer ist, brauchen wir wieder acht Stunden. Und wieder geht es die letzten beiden Stunden durch heftigen Regen. Und wieder machen wir drei Pausen, alle zwei Stunden: kurz-lang-kurz. So hat Krissi es vorgeschlagen, als erfahrene Wanderin. Das bewährt sich.

Von weitem sehen wir, wie auf einer Weide ein Esel eine Kuh besteigt. Wir fragen uns, was bei solchen Spielereien wohl herauskommen kann, aber als wir näher kommen, erweist sich die Kuh als Pony. Und in unserer Gegenwart verhalten sich die beiden sehr dezent. Nardo gibt beiden eine Möhre. Dafür bekommt er am Ende eine gewischt. Elektrozaun. Der Fluch der guten Tat.

Die im Wettbewerb krähenden Hähne und bellende Hunde runden das Naturerlebnis ab, das man hier auf Schritt und Tritt erfährt. Wir fragen uns, warum es Leute gibt, die jeden Autolärm hinnehmen, aber keine krähenden Hähne akzeptieren.

Krissi, als erfahrene Wanderin, glaubt, dass Wanderer eine besondere Spezies seien, eher gewillt, Dinge hinzunehmen als sich über jeden Mist aufzuregen. Da kann was dran sein. Sie macht allerdings eine Einschränkung. Es gebe eine Ausnahme: Lehrer.

Immer wieder intensive Gerüche der Pflanzen. Mal riecht es nach Jasmin, mal nach Pfefferminze, meist ist der Geruch einfach nur intensiv, nicht identifizierbar.

Wir halten an einem Baum oder Strauch, bei dem die anderen nicht sicher sind, was es ist. Der Test wird gemacht, indem man ein Blatt in der Hand reibt. Ergebnis: Walnuss. Ich finde das ganz wunderbar und fast etwas seltsam: Es riecht nach Nuss, obwohl noch keine Nuss am Baum ist.

Auf den Weiden stehen Kühe mit richtigen Hörnern, braune Kühe. Welche Rasse das ist, wissen wir noch nicht. Sie scheinen das ganze Jahr über draußen zu sein. Eine Kuh leckt ihr Kalb zärtlich ab. Kühe ganz normal auf der Weide zu haben und nicht in riesigen Ställen scheint sich hier zu rentieren. Aber wer melkt die, will ich wissen. Und kommen dabei Maschinen zum Einsatz? Die anderen sagen, es handele sich um keine Milchkühe. Die hätten gar nicht so ein großes Euter. Die Milch bekommen die Kälber. Melken findet nicht statt. Andererseits ist aber Asturien bekannt für seine Milchwirtschaft. Die Milchkühe müssen also doch wohl irgendwo stehen.

Dem Boden auf den frisch gepflügten Feldern sieht man es förmlich an, auch mit den Augen eines Laien, dass er fruchtbar ist: dicke, dunkelbraune, feuchte Klumpen.

Wir treffen den ganzen Tag über nur auf einen einzigen Pilger, einen einsamen Pilger, der uns in einem Waldstück überholt. Die anderen Pilger sind vermutlich eher gestartet.

Die Mittagspause ist an einem Holztisch in einem Park. Nardo hat eine Überraschung angekündigt. Und jetzt serviert er sie: cabrales. Trocken, krümelig, intensiv im Geschmack. Das ist ein Käse! Roquefort war gestern. Wieder eine asturianische Spezialität.

Hier stoßen wir auf ein Schild mit einem unbekannten Wort: Centro de Información y Precintaje. Was bedeutet precintaje? Wir fragen in dem Kiosk nach, als wir da noch einen Kaffee trinken: Es geht um die Lachse. Sie werden hier gemessen und gewogen und dann wohl an einer anderen Stelle des Flusses wieder ausgesetzt. Es handelt sich auf jeden Fall um eine konservatorische Maßnahme.

Gleich danach überqueren wir den Nalón, einen klaren Gebirgsfluss mit starker Strömung. Es ist ganz seicht. Man sieht von oben die vielen rundlichen Steine auf dem Flussbett.

Wieder lauter freundliche Einheimische, die uns den Weg weisen. Einer hält sogar im Auto an, um uns eine Alternative zu empfehlen. Das ist in Cornellana, einem Ort, in dem aus dem Nichts ein riesiges Kloster auftaucht, San Salvador. Wir bleiben aber auf dem eigentlichen Pilgerweg. Lieber nichts riskieren.

In einem Dorf kommen wir an einer Konditorei vorbei, aus der es verlockend riecht. Im Schaufenster sind alle möglichen Arten von empanadas ausgestellt, darunter casadielles, eine der süßen empanadas. Sie sind typisch für Asturien, mit Nüssen und Anis gemacht.

Unterwegs diskutieren Nardo und ich wichtige Fragen: War Deportivo La Coruna schon mal spanischer Meister? Wie hieß der langjährige sowjetische Außenminister? Was heißt Ginster auf Spanisch? Wie heißt der galicische Weißwein?  Erst am Abend finden wir die Antworten: Ja, 2000. Andrei Gromyko. Genista. Mal sammelt der eine, mal der andere Punkte. Beim Weißwein geht es unentschieden aus. Nardo meinte die Rebsorte, Albaniño, ich das Anbaugebiet, Ribeiro.

Nardo zeigt mir unterwegs eine Pflanze, ein Kraut oder Gras. Er pflückt sie und steckt sie sich in den Mund. Bärlauch. Ich lehne die Einladung zum Essen dankend ab, reibe aber den Bärlauch weisungsgemäß zwischen meinen Fingern. Ob die Mädels den Bärlauch identifizieren können? Ja, beide, auf Anhieb.

Auf Spanisch heißt Bärlauch ajo silvestre, ein interessanter Name, der eine Verwandtschaft der Pflanze mit Knoblauch nahelegt.

Als wir aus dem Wald herauskommen, taucht plötzlich eine Art Halde auf, mit Förderband. Darunter türmt sich eine feinkörnige, weiße Masse auf, eine Rampe bildend. Salz? Nein, Sand. Der wird hier als Baustoff abgebaut bzw. hergestellt.

Irgendwo stoßen wir auf das Schild einer Pension, das mehrsprachig damit wirbt, dass es auf dem Weg liegt. Auf Englisch: We are in the way.

Eine Besonderheit der spanischen Orthographie lässt sich an einem winzigen Örtchen beobachten, die lautliche Gleichheit von <b> und <v>: Der Ort heißt heißt Devesa, die Brücke heißt Puente de Debesa.

Als es endlich auf Salas zugeht, unser Ziel, holt Krissi ihre Unterlagen raus, um nach dem Namen der Unterkunft zu suchen: Castillo de Valdés. Ich lästere ein bisschen herum. Eine Burg? Da werden die Mädels von Rittern auf federgeschmückten, weißen Pferden durch die Wälder geritten, und uns wird von schönen Burgfräuleins Wein aus großen Krügen serviert.

Wir kommen dann endlich in das historische Zentrum des Ortes, die anderen mir immer ein paar hundert Meter voran. Wir kommen an einer schönen, romanischen Kirche vorbei. Das ist etwas, was man in Spanien nur hier im hohen Norden sieht. Als die Reconquista weiter südlich vorgedrungen war, hatte sich längst die Gotik durchgesetzt.

Dann kommen wir zu der Burg. Die anderen sehen hinauf und machen ein paar ironische Bemerkungen. Da oben sollte ich mir schon mal eine Kemenate aussuchen. Nur halb ironisch. Wir sind wirklich in der Burg untergebracht!

Die Zimmer gruppieren sich um einen wunderschönen, doppelstöckigen Innenhof mit hölzernem Geländer. Überall Blumen und Gegenstände, die an die historische Vergangenheit des Baus als Burg erinnern.

Abendessen gibt es auch hier, und da es immer noch regnet und unser Bewegungsdrang ohnehin nicht mehr so ausgeprägt ist, machen wir von der Möglichkeit Gebrauch. Es gibt ein viergängiges Pilgermenu für unschlagbare 10 €. Keine große Kochkunst, aber wohlschmeckend: ein Käsetoast mit Paprikamarmelade, eine Gemüsesuppe, Lendchen mit Pommes und ein Stückchen Käsekuchen.

Nardo schwärmt immer noch von der fabada. Nichts gehe über „de Buhnensupp“. Dagegen sei dies hier nullachtfünfzehn. Kann sein. Aber wir anderen sehen das weniger kritisch. Hier, in einem schönen Ambiente, ein schmackhaftes Essen für wenig Geld zu bekommen, am Ende eines anstrengenden Wandertages, das ist nicht zu verachten. Darauf bestellen wir noch eine Flasche Wein.

30. April (Montag)

Die Mädels haben ihre ersten Gehversuche mit dem Spanischen gemacht: Begrüßungen, danke und bitte und es hat gut geschmeckt. Sie machen das gut.

Beim Frühstück spricht uns ein junger Mann an, ein deutscher Pilger, äußerst freundlich. Er macht den Camino in umgekehrter Richtung, von Santiago nach Oviedo (und dann weiter nach Llanes). Im wahrsten Sinne des Wortes begegnet er vielen Pilgern. Andererseits muss er den Reiseführer rückwärts lesen, und auch die Beschilderung ist bestimmt schwerer zu finden. Das bestätigt er, aber er hat ein App, mit der man vorher den Weg herunterladen kann. Der Weg, der dann angezeigt wird, ist praktisch identisch mit dem des Pilgerführers. Er gibt Krissi den Namen der App, Komoot. Ihr Rechtschreibprogramm macht daraus Kompott.

Wieder geht es die ersten anderthalb Stunden unentwegt steil bergauf. Dann kommen wir auf ein Plateau. Da stehen Windräder. Hier ist es windig. Komisch. Und kalt. Ungemütlich kalt.

Eine ziemlich trostlose Wanderung heute. Als wir die Burg verlassen, ist es noch trocken, aber kurz nachdem wir den Proviant für den heutigen Tag gekauft haben, fängt es an zu regnen und hört, bis auf kurze Unterbrechungen, gar nicht mehr auf. Sieben Stunden am Schreibtisch zu sitzen und dem Regen zuzusehen ist keine Freude, aber sieben Stunden durch den Regen gehen auch nicht.

Die Mittagspause findet in der überdachten Vorhalle einer Kirche statt, im Stehen. Wir sehen dabei auf den Regen vor uns.

Der größte Teil der Strecke führt heute durch den Wald. Der Boden ist aufgeweicht. Meist hat man nur die Wahl zwischen Pfütze und Morast. Bei jedem Schritt überlegt man, wo man nicht so tief einsinkt. Manchmal versucht man, sich an der Böschung entlang zu hangeln, aber die ist oft rutschig und man hat das Gefühl, dass man im nächsten Augenblick umknickt oder in die Pfütze fällt. Das zehrt an den Kräften. Die Beine werden immer schwerer, ganz wörtlich genommen. Es zehrt auch an den Nerven, obwohl wir alle versuchen, gelassen zu bleiben und keiner anfängt zu lamentieren. Ich frage mich, wie es wohl wäre (oder sein wird!), wenn man wirklich zwei Wochen lang so ein Wetter hat.

In einem Unterstand treffen wir auf eine Madrilenin. Sie ist mit Mutter und Tante unterwegs. Nur fünf Tage. Um von der Arbeit wegzukommen.

Später treffen wir auf eine Gruppe aus Málaga. Die kommen jedes Jahr hierher und kennen schon alle gängigen Pilgerwege. Eine der Frauen ist Kindergärtnerin, und Nardo wundert sich, dass sie sich als profesora bezeichnet. Das ist mir entgangen. Eine andere hat einen Sohn, der in Holland studiert. Aber es dauert eine Zeit, bis wir uns über den Namen der Stadt verständigt haben: Enschede. Die Frauen sagen, sie seien begeisterte Flamenco-Tänzerinnen, aber von Zigeunerinnen haben sie gar nichts, und an ihnen ist auch nichts erkennbar Andalusisches. Sie sprechen akzentfrei und könnten auch aus Soria oder Toledo sein.

Und immer wieder geht es durch den Schlamm. Inzwischen klebt er nicht nur an den Schuhen, sondern auch an den Hosenbeiden. Und das schmatzende Geräusch des Schuhs, der aus dem Schlamm gezogen wird, begleitet uns den ganzen Tag. Die reinste Kakophonie.

Endlich nähern wir uns unserem Ziel. Wir sehen die Stadt, Tineo, unter uns liegen. Schon zieht Krissi die Kopie des Stadtplans heraus, damit wir den Weg zum Hotel finden, als der Weg einfach noch mal eine Biegung macht und uns in weitem Bogen um die Stadt herumführt. Bis wir sie wieder aus den Augen verlieren. Dann kommt sie wieder in Sicht. Man sieht in der Ferne ein Messegelände mit Hunderten von Traktoren. Überall unterwegs waren schon Plakate zu sehen, die auf die Ferias hinwiesen. Wir müssen noch ein ganzes Stück durch den Wald. Dann kommt ein steil abschüssiger Weg, der uns in die Stadt hinunterführt. Es regnet immer noch. Wir stehen orientierungslos am Straßenrand. Es gibt keinen Hinweis darauf, wo hier das Stadtzentrum sein könnte, geschweige denn die Kirche, die uns als Orientierung dienen soll. Da hält ein Autofahrer an und fragt uns, was wir suchen. Er weiß sofort Bescheid. Es sei nicht mehr weit. Aber weit ist relativ. Wir schleppen uns die Hauptstraße entlang. Jeder Schritt ist mühselig. Man mag die Füße kaum noch anheben. Dann fragen wir ein letztes Mal, und es stellt sich heraus, dass wir praktisch vor dem Hotel stehen. Wir haben es für das Rathaus gehalten.

Am Abend gehen wir durch den Ort. Gleich gegenüber dem Hotel wird eine riesige Bühne aufgebaut. Es droht Ungemach für heute Nacht, für unsere schlechten Schläfer. Die Befürchtungen bewahrheiten sich.

Der Ort ist sehr steil. Wir gehen zwei parallel laufende Straßen hinauf und hinunter, auf der Suche nach einem Lokal. Finden aber nichts. Eine Passantin gibt uns einen Tipp: rechts rauf, und dann nicht das erste, sondern das zweite Lokal. Da gebe es gutes Essen, einheimische Kost. Wir gehen durch den Nieselregen, und endlich kommt das Lokal in Sicht. Ob es geöffnet ist? Ja, Gott sei Dank. Wir gehen rein. Viel Platz. Noch kein einziger Gast da. Wir fragen, wie es mit dem Abendessen stünde. Der Wirt sagt: Bedauere sehr, habe heute das Lokal mit Gästen von der Feria voll. Alles ausgebucht. Wir gehen zum Hotel zurück und essen dort.

1. Mai (Dienstag)

Der Tag beginnt mit Schuheputzen. Dafür habe ich mir eigens gestern im Supermarkt eine Bürste gekauft, keine Schuhputzbürste (die scheint es nicht mehr zu geben), sondern eine normale Haushaltsbürste. Die tut ihren Dienst. Die Schuhe sehen nicht gerade neu aus, aber viel besser als vorher. Aber ach: Es ist vergebliche Liebesmüh. Am Abend sehen sie wieder so aus wie vorher.

Unser Hotel, das erste am Platze, mit gemeißeltem Wappen über dem Eingang, verlassen wir ohne Bedauern. Der Empfang war nüchtern bis frostig, man ließ uns wortlos an der Rezeption stehen, um geschäftliche Dinge zu erledigen, das Abendessen war in Ordnung (aber nicht mehr) und relativ teuer, das Frühstück war mäßig, das Internet funktionierte schlecht oder gar nicht, und als ich am Abend der Rezeption fragte, wo man sich hier hinsetzen könne, wurde auf ein hohe Stühle in der Art von modernen Barhockern  verwiesen, die gegenüber der Rezeption standen, ohne Tische. Beim Essen bin ich noch am besten dabei weggekommen: Das englische Frühstück am Morgen und der Cachopo Vaqueiro, eine Art asturianisches Cordon Bleu, am Abend, waren gar nicht so schlecht.

Als ich aus dem Hotel komme, ist Nardo bereits da. Er spricht mit einem spanischen Ehepaar. Der Mann trägt eine kurze Hose. Sein Kommentar: An den Beinen friert man nicht, und wenn es regnet, nichts trocknet so schnell wie die Haut.

Der Mann kündigt gutes Wetter an: Der Nebel werde sich lichten, die Sonne werde herauskommen und es werde den ganzen Tag lang nicht regnen. Genauso kommt es! Die beiden steigen in ein Taxi. Sie lassen sich einen Teil des Weges fahren und machen den anderen Teil zu Fuß. Warum nicht?

Wieder geht es sofort steil hinauf, noch bevor wir aus dem Ort kommen. Bald aber werden wir mit der spektakulärsten Aussicht belohnt, die der Weg bis jetzt zu bieten hat. Links oben steht die Sonne. Die Sonnenstrahlen fallen schräg auf den Abhang mit den satten grünen Wiesen vor uns. Das ganze Tal liegt im Dunst verhüllt. Und ganz hinten ragen aus dem Dunst die Gipfel der schneebedeckten Berge heraus. Man braucht kein Naturschwärmer zu sein, um das schön zu finden.

Die Sonne scheint zwar, und es bleibt trocken, aber das bedeutet nicht, dass die Wege auch trocken sind. Immer wieder stampfen wir durch den Morast, aber es ist nicht mal halb so wild wie gestern. Krissi geht entschlossen mitten durch die Pfützen. Schließlich hätten wir wasserdichte Schuhe. Wasserdichte Schuhe sind solche, bei denen die Zunge Teil des Ganzen ist, an den Rändern mit dem Schuh verbunden. Tatsächlich haben sie bisher dicht gehalten.

Zwischen zwei Waldstücken geht es einen Kilometer auf einem Feldweg parallel zur Landstraße entlang. Nicht ein einziges Auto fährt in der Zeit vorbei.

Ganz steil geht es einen landwirtschaftlichen Weg hinauf. Der führt uns in ein Dorf hinein, ein paar Bauernhöfe und Stallungen, sonst nichts. Oben an der Mauer haben sie einen Ring als Basketballkorb angebracht. Als Brett dahinter dient ein ausrangiertes Vorfahrtszeichen.

Heute sehen wir zwar wieder Kühe draußen, in einem Fall auf einer steil abfallenden Weide, wo man sich fragt, wie die eine Hälfte da runter oder die andere Hälfte da rauf gekommen ist, aber wir kommen auch an Stallungen vorbei. Da werden wohl die Milchkühe gehalten.

Wir kommen durch El Fresno. Während ich noch darüber nachsinne, woher der Name mir bekannt kommt, gibt Nardo schon die Antwort: Es bedeutet ‚Esche‘.

Dann geht es wieder in den Wald. An einem Zaun am Rande des matschigen Waldweges hängt ein Schild: Taxi – Aquí y Ahora. Wir widerstehen der Versuchung.

Hinter dem Wald kommen wir in einen Ort mit dem seltsamen Namen Borres. Hier gibt es zwei, drei Cafés, und jede Menge Pilger, die hier Pause machen. Wir entscheiden uns für das, wo man in der Sonne sitzen kann. Zum ersten Mal ist ernsthaft Sonnencreme vonnöten.

Über unserem Tisch ein Insekt, das in der Luft zu stehen scheint. Sieht für mich wie eine Art Hummel aus. Aber Nardo weiß es besser: eine Schwebefliege. Das sind Fliegen, die zur Abschreckung von Fressfeinden das Aussehen von Hummeln oder Bienen annehmen. Kluger Schachzug der Natur. Und klarer Fall von Mimikry.

Die Mädels lernen, welchen Lautwert <q> und <ll> im Spanischen haben: queso, lleno, mantequilla. Nardo hat viel bessere Beispiele: Mallorca, Sevilla, Quito.

Verwirrung stiftet die Bezeichnung für die Toiletten. Die heißen hier im Wirtsraum Aseos und auf dem Weg zu ihnen Servicios. Bisher haben sie immer Lavabos gelernt. Später kommt noch Baños dazu.

Weiter geht’s. Wir kommen nach Las Tiendas, einen Ort am Rande der Landstraße. Und sind nach zweihundert Metern wieder draußen. Der Ort besteht nur aus einem Gehöft, gleich am Rande der Straße gelegen. Aber er hat ein ordnungsgemäßes Orteingangsschild und ein ordnungsgemäßes Ortsausgangsschild.

Dann geht es wieder in den Wald. Immer wieder habe ich in den letzten Tagen versucht, mich an den Namen des spektakulären Wanderwegs zu erinnern, den wir vor vielen Jahren hier in Asturien gemacht haben, eine Tageswanderung, nicht mehr. Nie ist er mir eingefallen. Jetzt, ohne es zu wollen, fällt er mir wieder ein: La Ruta del Cares.

Mittagspause machen wir auf einer Bank zwischen Besenginster und Goldregen und einer violett blühenden, üppigen Pflanze. Mit Blick in das Tal hinunter. Kein Vergleich zu dem Kirchenportal von gestern.

Am Rande einer Weide ein von der Böschung halb herabgestürzter Baum in voller Blüte, weißlich und rosafarben: ein Apfelbaum.

Als es ein ganzes Stück auf einem Feldweg am Rande einer Landstraße entlang geht, jeder von uns in Gedanken verloren, hören wir plötzlich eine Stimme hinter uns: „Hier geht es her!“ Wir sind alle drei, gedankenverloren, an einer Abbiegung vorbeigelaufen, haben einen Pfeil übersehen. Aber Krissi hat aufgepasst. Gott sei Dank! Es wäre eine Horrorvorstellung, wenn es plötzlich hieße: „Wir hätten vor drei Kilometern abbiegen müssen.“

Im Wald gilt es mehrmals, das Hindernis von hinabgestürzten Baumstämmen zu überwinden, vermutlich Folge eines Sturms. Im Wald wachsen hier anstelle der Eukalyptusbäume Kiefern, eine bestimmte Art, die besonders schnell wächst.

Der Weg zieht sich. Es ist die längste Strecke bisher, und wir sind insgesamt neun Stunden unterwegs. Immer wieder falle ich ein Stück hinter den anderen zurück. Mit schwindenden Kräften kraxele ich mich einen Abhang hoch, mich an den Wurzeln an der Seite festhaltend. Nur ein kurzes Stück, aber kräftezehrend.

Dann sind es noch dreieinhalb Kilometer bis zu unserem Ziel, Pola de Allande. Es geht über einen befestigten Waldweg. Eigentlich leicht zu gehen, aber er führt steil hinunter. Zum Schluss geht es dann noch mal zur Abwechslung steil bergauf. Dann kommt der Ort, und wie immer liegt das Hotel am anderen Ende des Ortes. Die letzten Meter schaffe ich nur noch mit letzten Kräften.

Die Begrüßung durch den freundlichen Wirt, kugelrund und redselig, entschädigt für den langen Weg. Er fängt uns schon am Eingang ab und erkundigt sich nach der Wanderung. Das Hotel hat wie das Lokal einen etwas altmodischen Charme. Hier gibt es noch richtige Schlüssel. Die Zimmer seien klein, aber er wolle uns alle auf derselben Etage unterbringen. Wir sollten uns aber melden, wenn wir ein größeres Zimmer wollten.

Er will wissen, aus welchem Teil Deutschlands wir kommen. Wir fragen, ob er schon mal in Deutschland war. Er sagt ja. Auf die Frage, wo denn da, sagt er: In der Schweiz.

Das Lokal ist bekannt für asturianische Küche. Schon draußen hängen alle möglichen Auszeichnungen, und in der Diele Zeitungsausschnitte, die die Küche loben, vor allem die Fabada und den Pote Asturiano. Der Wirt lädt uns ein, heute Abend hier zu essen. Es gehe aber erst um halb neun los. Sie hätten gerade erst das Mittagessen abgedeckt. Es sei rappelvoll gewesen. Wegen des Feiertags.

Bevor es auf die Zimmer geht, gibt es noch anhand eines Wappens am Eingang des Hotels eine Erklärung zum Namen des Hotels, La Nueva Allandesa. Während Allande der Namen des Ortes ist, ist Allandesa der Name des Bezirks. Es bedeutet so etwas wie ‚jenseits von‘. Auf dem Wappen erscheint das Cruz de los Angeles, und drum herum eine Reihe von halbmondförmigen Symbolen. Die haben einen Bezug zu der berühmten Schlacht von Navas de Tolosa gegen die Moren (1212), aber was das wiederum mit pola zu tun hat, wird mir nicht klar.

Wir bleiben zum Essen am Abend dann auch wirklich hier, und es lohnt sich. Es gibt ein viergängiges Menü! Es geht los mit Pote Asturiano, dann gibt es eine Art Mus aus Gemüse mit Tomatensoße, dann die asturianische Variante von Kohlroulade und dann noch zwei kleine süße Stückchen, eins davon Tarta de la Abuela genannt. Alles ist sehr schmackhaft, aber Pote und Nachtisch hätten völlig gereicht, zumal sie eindeutig besser als die eher normalen „Zwischengerichte“ sind. Der Pote Asturiano, haben wir uns vorher erklären lassen, habe nichts mit der Fabada zu tun. Es ist das ältere Gericht, das Gericht der Armen. Die wichtigsten Zutaten sind Grünkohl und Bohnen, obwohl im Rezept auch von Muscheln die Rede ist (die wir aber nicht identifizieren). Dazu gibt es, auf einem extra Teller gereicht, chorizo, Speck und morcilla, nicht anders als bei der Fabada. Der Geschmack ist umwerfend gut.

Das Lokal hat sich allmählich halb gefüllt. Alle sitzen um den Fernseher herum. Real Madrid gegen Bayern. Die Tore von Madrid werden freudig, aber nicht enthusiastisch gefeiert. Am Nachbartisch ein Mann mit Sohn und Tochter. Die drei sind sich einig: Jede Entscheidung des Schiedsrichters zugunsten von Madrid wird gefeiert, jeden Entscheidung des Schiedsrichters gegen Madrid wird beschimpft, bei jedem Foul eines Bayern-Spielers wird die Gelbe Karte gefordert, bei jedem Foul eines Madrilenen wird der Bayernspieler der Schauspielerei beschuldigt.

Am Fernsehen Bilder von Hagelstürmen und Schneeverwehungen. Wo kann das denn sein? Cádiz. Unglaublich. Die Sprecherin: „Es steht uns ein ungewöhnlich kalter und feuchter Mai bevor.“

2. Mai  (Mittwoch)

Die Versuchung ist einfach zu groß. Ich kann ihr nicht widerstehen. Ich mache blau, ich schwänze, ich lasse eine Etappe aus, schlabbere einen Tag. Wir sind zwei Nächte hintereinander in demselben Hotel untergebracht, und es wurde dieser Tage schon mal ganz unverbindlich angedeutet, dass dies eine gute Gelegenheit wäre, zu pausieren, wenn man das Bedürfnis hätte. Habe ich. Wenn ich noch Zweifel gehabt hätte: Die Wetteraussichten sind schlecht, und die Etappe gilt als eine der schwersten des Wegs, mit 700 Metern Höhenunterschied.

Beim Frühstück im Fernsehen eine Nachricht, aus der wir keinen Sinn machen können: Podemos pide la dimisión de Catalá. Es stellt sich heraus, dass das entscheidende Wort, Catalá, nichts mit Katalonien zu tun hat, sondern ganz einfach der Nachname des Justizministers ist. Außerdem muss man wissen, dass Podemos eine politische Partei ist. Nur dann ergibt es Sinn. Ein paar Tage später eine weitere, erst auf den zweiten Blick einleuchtende Nachricht: El chicle ante el juez. Kaugummi vor Gericht? Vielleicht ein Prozess wegen der illegalen Vermarktung eines Kaugummis, eines Kaugummis, das aus nicht erlaubten Substanzen besteht? Nein. El Chicle ist der Spitzname eines Straftäters.

Der 2. Mai ist ein besonderer Tag in Spanien, vor allem in Madrid. Das ist der Tag des Aufstands gegen Napoleon, gleichzeitig Titel eines eindrucksvollen Gemäldes von Goya. In Madrid ist es offizieller Feiertag, ob hier auch, ist im Moment nicht festzustellen.

Die Pause gibt mir Gelegenheit, eine andere Streitfrage zwischen Nardo und mir zu klären, ob und wo der Duero der Grenzfluss zwischen Spanien und Portugal ist. Ist er, auf gut 100 Kilometern Länge, aber im Norden und natürlich nicht in der Extremadura. Da ist der Guadiana etwa genauso lang der Grenzfluss.

Der freie Tag lässt es zu, sich einige Gedanken zu machen über die Organisation. Ein klarer Fehler: Innerhalb des Rucksacks muss alles noch einmal verpackt werden. Die anderen haben das perfekt gemacht. Ich nicht so gut. Dem Regen sind der Pilgerausweis, eine Broschüre zum Jakobsweg, ein Notizblock zum Opfer gefallen, und Adressbuch und Kalender sind aufgeweicht. Wenigstens habe ich Medikamente und ähnliches extra verpackt.

Der andere Fehler ist der völlig ungeordnete Koffer. Nardo hat einen zweiten Rucksack. Der ist im Koffer und enthält alles, was man jeden Tag braucht. Ich durchsuche immer alles, bis ich an Schlafanzug, Zahnbürste und Aufladekabel komme.

An jedem Wandertag war es bisher so: Es ist uns kalt, wenn es am Morgen losgeht. Nach wenigen Minuten nicht mehr. Dann immer wieder nur, wenn man stehenbleibt. Nach der Ankunft im Hotel überkommt einen eine Art Schüttelfrost, und dann fängt man an zu glühen. Von innen her.

Wir spielen dieser Tage, aus guten Gründen, den hypothetischen Fall durch, was man tun würde, wenn der Personalausweis verloren ginge. Auf der Fahrt von Sama de Grado zum Start der neuen Etappe finde ich plötzlich meinen Personalausweis nicht mehr. Erste Möglichkeit: Ich habe ihn liegen gelassen. Dann könnte man die Wirtsleute bitten, ihn nachzuschicken. Aber wohin? Bisher wurde von uns an jedem Ort von allen die Vorlage des Personalausweises verlangt. Zweite Möglichkeit: Er ist im Koffer. Aber wie soll er da reingekommen sein? Wir haben die Pässe am Tag zuvor bei der Rezeption abgegeben und dann später, als wir im Salon saßen, zurückbekommen. Ich erinnere mich nicht, ihn irgendwann noch mal in der Hand gehabt zu haben. Aber es lagen noch andere Dinge von mir da herum, Notizblock, Reiseführer, Unterlagen. Habe ich ihn, ohne es zu merken, irgendwo dazugelegt? Dritte Möglichkeit: Er ist weg. Was tun in einem solchen Fall? Wo gibt es hier ein deutsches Konsulat? Santiago? Lässt sich das an dem einen freien Tag dort erledigen? Bilbao? Wie kommt man dahin? Und wieder zurück? Und: Muss man dann dort übernachten? Glücklicherweise findet sich der Pass wieder. Und es stellt sich heraus: Weder in Santiago noch in Bilbao gibt es ein deutsches Konsulat. Im Norden gibt es nur eins in Barcelona, und für uns ist das nächste Madrid!

Aus 4 mach 8. Heute kommen die Nachzügler zu uns. Bisher waren wir 2 Frauen und 2 Männer, ab jetzt sind wir 4 Frauen und 4 Männer. Für Geschlechterproporz ist also gesorgt. Die anderen kommen auf dem gleichen, komplizierten Weg nach Asturien und müssen dann noch am Abend, statt nach Bilbao, hierher kommen. Wie sie das machen, wissen wir nicht. Und auch nicht, ob wir sie heute Abend noch zu sehen bekommen. Vorsichtshalber werden wir aber schon mal Proviant für sie besorgen. Denn sie müssen morgen sofort durchstarten.

Am frühen Nachmittag eine SMS: „Wir sind schon am Ziel!“ Die drei haben ohne mich als Bremsklotz, trotz des großen Gefälles, des größten aller Etappen auf der gesamten Strecke,  einen Tempolauf hingelegt, angetrieben von der Kälte und dem Regen in den Bergen. Von den Schönheiten der Natur haben sie wenig mitbekommen. Nardo hat die Gelegenheit genutzt, sich ausgiebig mit dem Taxifahrer zu unterhalten.

Als die Nachzügler am Abend eintreffen, mit dem Taxi vom Flughafen Asturias, bekommen sie noch ein vollständiges Menu. Wir haben vorher schon gegessen, wieder von freundlichen, aber etwas verwirrten Kellnern bedient, was eine viel höhere Rechnung als gestern zur Folge hat. Aber es lohnt sich. Vor allem die merluza, die in diesen Tagen mehrmals auf den Teller kommt, hat es den anderen angetan. So gut wie hier ist sie nirgends. Sie wird in drei verschiedenen Zubereitungsarten angeboten, empfohlen wird die Variante a la plancha. Was die richtige deutsche Entsprechung für den Fisch ist (Hecht? Barsch?) bleibt ebenso offen wie die Frage, ob es eine deutsche Entsprechung für a la plancha gibt.

3. Mai (Donnerstag)

Die Wanderung beginnt für die Nachzügler im Taxi. Wir werden nach Berducedo gebracht, dem Ziel der gestrigen Wanderung und Ausgangspunkt des heutigen Weges, 900 Meter hoch gelegen. Von dort gehen wir auf 1000 Meter rauf, auf 800 Meter runter, auf 1100 rauf, auf 200 runter und auf 600 rauf. Gut, dass ich noch nicht ahne, was auf mich zukommt.

Die Taxifahrerin hat sich inzwischen beruhigt, nachdem sie erst schon abgedreht war. An der Rezeption hatte man ihr gesagt, wir wären schon weg, dabei waren wir nur im Supermarkt. Sie gibt uns am Ende ein paar Tipps für Lokale am Zielpunkt, Grandas de Salime, vor allem für eine Pulpería. Wir sind zwar noch in Asturien, aber das klingt schon nach Galicien.

Die Nachzügler haben gleich eine schwere Etappe erwischt für ihren Einstieg, aber sie halten sich tapfer. Die Gruppe wird etwas mehr auseinandergezogen als vorher, aber grundsätzlich ändert sich nichts. Einer der Nachzügler ist noch nie in Spanien gewesen. Als wir auf einer Bergkuppe sind, ruft er verzweifelt aus: „Das soll Spanien sein?“ Verständliche Verblüffung. Kein Meer, kein Strand, keine Sonne, keine Sangría. Stattdessen Wälder, Berge, Wolken und richtig niedrige Temperaturen.

Sprachlich bringen die Nachzügler eine Erweiterung des Programms mit sich: Manu spricht fließend Portugiesisch und fragt in den nächsten Tagen immer wieder nach, wie etwas auf Spanisch heißt. Sie versteht nicht nur sehr viel, sondern macht auch, mit erstaunlichem Erfolg, erste Gehversuche bei der aktiven Sprachverwendung. Später, als wir nach Galicien kommen, ist sie ganz in ihrem Element. Galicisch ist ein Dialekt des Portugiesischen und nicht, wie, unserem Reiseführer nach, viele glauben, eine keltische Sprache.

Meine Schmerzen, die ich in den ersten Etappen versucht habe, zu ignorieren, lassen sich nicht mehr ignorieren. Ich habe bisher auch tapfer aufs Klagen verzichtet, so wie die anderen auf das Klagen über ihre Schlaflosigkeit verzichtet haben. Aber jetzt wird es zu offensichtlich. Ich komme nur noch humpelnd weiter, auf den Wanderstock gestützt, den ein guter Geist mir mitgegeben und sich über meine anfängliche Weigerung hinweggesetzt hat.

Zu allem Unglück beschließt die Mehrheit, gegen Nardos und meine Stimme, einen Umweg zu nehmen. Der wird auf einem Schild empfohlen, wegen eines Waldbrands. Das bedeutet weitere Kilometer und weitere Steigungen. Ich gehe ganz langsam voran, meist hinter den anderen her.

Der Weg führt zwischen Baumplantagen hindurch mit riesigen Brandschneisen. Die sehen aus, als hätte hier jemand eine Skipiste geplant.

Oben, an einer Wegkreuzung mit Blick ins Tal, sehen wir einen Geier. Wir haben es Nardo zu verdanken, dass wir wissen, dass es sich um einen Geier handelt.

Als wir wieder im Tal sind, kommen wir an einem steinsichtigen Privathaus vorbei. Zwei fast identische, kleine Katzen hocken im Vorgarten, in fast identischer Haltung, am Boden kauernd, als ob sie eine Gefahr kommen sähen. Sie lenken die Aufmerksamkeit unserer Katzenbesitzer auf sich. Es soll sich um ganz besondere Katzen handeln. Dann taucht dahinter ein dicker Kater auf. Die alte Frau, die auf der Terrasse vor dem Hauseingang sitzt, ruft ihn beim Namen: „Leo!“

Immer noch auf  dem Umweg machen wir Pause, an einer wenig adäquaten Stelle. Ich bin froh, mich kurz auf einen Stein setzen zu können, aber die Schmerzen lassen nicht nach.

Dann kommt Wasser in Sicht, ganz unten im Tal gelegen. Ein Staudamm. Einer der zahlreichen Staudämme, die von Franco initiiert und vom Caudillo persönlich eingeweiht wurden. Es war ein Mega-Projekt, eine Zeitlang der größte Stausee Spaniens und der zweigrößte Europas. Der Fluss, der Navía, wurde umgeleitet, 3.000 Arbeiter aus Andalusien wurden rekrutiert und vorübergehend hier untergebracht und, vor allem, die Bevölkerung wurde der Einfachheit halber umgesiedelt, nach Grandas de Salime, unserem heutigen Etappenziel.

Während die anderen sich die Stauanlage ansehen, humpele ich weiter, um Vorsprung zu gewinnen und zu dem Café zu kommen, das schon in Sichtnähe ist. Aber es geht dahin noch ein Stückchen bergan, immer der Landstraße nach. Hier unten ist es viel wärmer als oben.

Die Pause in dem Café ist die reinste Wonne. Wir sitzen draußen, blicken auf den Stausee und genießen die Wärme. Aber wir haben noch fünf Kilometer vor uns, mit einer beträchtlichen Steigung. Als auch die bewältigt ist und wir in der Pension in Grandas de Salime ankommen, ziehe ich mich auf mein Zimmer zurück und verzichte auf das Abendessen.

4. Mai (Freitag)

Am nächsten Morgen wird berichtet, dass die anderen zwar nicht in der eigentlichen Pulpería gelandet waren, sondern in dem anderen von der Taxifahrerin empfohlenen Hotel und dass dort einige den pulpo probiert haben.

Ich muss mich nach Möglichkeiten umsehen, an das nächste Etappenziel zu kommen. Gehen geht nicht. Es kommt zu einem Missverständnis mit dem Wirt: Kann mich der Gepäcktransport nun mitnehmen oder nicht? Es scheint einmal ja, einmal nein gesagt zu haben. Die Sache ist so: Correos, die unser Gepäck transportieren, dürfen, vermutlich aus versicherungstechnischen Gründen, keine Passagiere mitnehmen. Es gibt aber noch eine andere Organisation, die den Gepäcktransport macht, und mit der kann ich fahren.

Kurz nachdem die anderen aufgebrochen sind, kommt das Auto schon. Die Frau holt noch einen weiteren Mann ab und setzt ihn unterwegs irgendwo ab und bringt mich dann nach Fonsagrada. Sie kassiert ordentlich ab, doppelt so viel wie der Wirt vermutet hat, und das, obwohl sie auch bei dem anderen Passagier abkassiert hat. Sie selbst ist aus Galicien, stammt von den Rías Bajas, ist aber schon seit Jahrzehnten hier beheimatet.

Fonsagrada befindet sich schon in Galicien. Die anderen müssen bei  der Wanderung die Grenze passieren, sie soll irgendwo mit einer Markierung auf dem Weg gekennzeichnet sein. An der Stelle werden traditionell von Pilgern allerhand Riten vollzogen. Es gehört sich offensichtlich, dass man über die Grenze nicht geht, sondern springt. Davon bekomme ich aber nichts mit.

Die Unterkunft ist zweigeteilt und beherbergt sowohl pensión als auch albergue. An der Rezeption sitzt niemand, aber irgendwann erscheint eine Frau, die sich um mich kümmert. Es dauert etwas, zunächst kann sie mich nicht einordnen, aber dann klappt es doch. Das Zimmer ist verständlicherweise noch nicht fertig.

Fonsagrada scheint ein hübscher Ort zu sein, aber ich kann ihn nicht erkunden. Ich schaffe es aber die vielleicht hundert Meter über die schmale Kopfsteinstraße hoch zu dem nächstgelegenen Café. Ich bin der einzige Gast, komme aber mit dem Wirt ins Gespräch. Er hat lange in der Schweiz gelebt und ist dann hierher, in seine Heimat, zurückgekehrt. Wir unterhalten uns über Sprachen und Bier und Fußball und den Camino und das Leben im Ausland, und ich finde erstaunlicherweise Trost in dieser nicht sehr tiefschürfenden, aber lebendigen Unterhaltung. Er fragt auch, mit genuinem Interesse, nach meinen Schmerzen.

Dann ziehe ich mich zur Lektüre auf mein Zimmer zurück. Ich habe, einer Empfehlung folgend, das Buch eines französischen Arztes, Mitglieds der Académie Française, mitgenommen, Pilgern für Skeptiker, und das lohnt sich. Er hat den Weg ganz alleine gemacht, von der französischen Grenze aus, erst an der Küste entlang, um dann auf den Camino Primitivo abzubiegen. Er hat sein ganzes Gepäck, einschließlich Zelt, getragen und schaut mit einer gewissen Überheblichkeit auf „Pilger“ herab, die irgendwie von diesem Ideal abweichen, die Taxis für Teilstrecken nehmen, die mit dem Bus anreisen, die sich das Gepäck transportieren lassen, die erst 100 Kilometer vor dem Ziel einsteigen, die in guten Pensionen absteigen (was er sich auch gelegentlich leistet). Aber damit kann man leben. Das Buch ist einfach stimulierend, und sehr kritisch gegenüber den Idealen und den Ideen, die mit dem Camino verbunden werden. Auch über Santiago selbst und über die touristische Infrastruktur äußert er sich sehr kritisch. Die größten Erlebnisse sind für ihn das Alleinsein in der Natur und die eine oder andere Begegnung.

Eine Passage bleibt mir in Erinnerung. Da spricht er von einem Marathonlauf, der den Pilgern den Weg versperrt, in Lugo. Er sieht mit etwas Verachtung auf diese verrückte Meute hinab, wird sich dann aber klar, dass er selbst ihnen nähersteht als dem mittelalterlichen Pilger.

In einer Fußnote verweist er auf akademische Forschung zum mittelalterlichen Pilgerweg. Diese Forschung stellt die Vorstellung der Massen von armen Pilgern in Frage und behauptet, dafür gebe es keine Belege. Sie nimmt an, dass die meisten mittelalterlichen  Pilger Adlige oder Kaufleute waren.

In den Anfangszeiten der Pilgerfahrt spielten die Werte der Einfachheit, der Einheit mit der Natur, der Selbstentfaltung, die heute so wichtig sind, keine Rolle. Der moderne Pilger ist meist nicht im engeren Sinne christlich motiviert. Seine Hypothese: Es würden genauso viele Pilger gekommen, wenn der Camino von einer anderen Religion angeboten würde.

Am späten Nachmittag gehe ich in eine Apotheke. Die beiden Apotheker sind sich nicht einig. Am Ende geben sie mir lediglich eine Art Roller, mit der man das Knie kühlen kann. Schließlich habe ich ja Tabletten und Salbe selbst.

Als ich wieder Richtung Hotel humpele, höre ich plötzlich meinen Namen. Auf dem erhöhten Platz vor der Kirche sitzen drei unserer Wanderer, die vom Anfang. „Das sieht ja übel aus“, sagen sie. Sie haben mich über den Platz humpeln sehen. Und sie können durch die Hose sehen, dass das Knie angeschwollen ist. Dabei habe ich das Knie in den ganzen Tagen zuvor gar nicht als die eigentliche Schwachstelle angesehen.

Sie sehen alle ganz entspannt aus und genießen die Sonne auf dem Platz. Die Etappe sei nicht sonderlich schwer, aber auch nicht sonderlich interessant gewesen.

Am Abend gehe ich dann mit in ein Lokal, das den anderen empfohlen worden ist. In der schönen Atmosphäre verblassen allmählich meine Gedanken, meine Sachen zu packen und abzureisen. Was hätte das für sich? Ich kann zumindest von Etappe zu Etappe fahren und mich mit den anderen am Abend treffen.

5. Mai (Samstag)

Beim Frühstück werden wir von einem besonders höflichen und liebenswerten Kellner bedient, der frischen Kaffee kocht und jedem nach eigener Vorliebe eine Eierspeise zubereitet. Außerdem hat er schon, ohne Aufforderung, alle Koffer nach unten getragen. Er spricht mit Manu Portugiesisch und mit anderen Gästen fließend Französisch. Wir haben ihn alle auf den ersten Blick irgendwie liebgewonnen. Alle fühlen nach dem Frühstück das Bedürfnis, zu sagen, wie freundlich er war. Komisch. Wodurch haben einige Menschen eine solche Wirkung auf andere?

Von Fonsagrada aus komme ich schon früh zum nächsten Ziel, O Cadavo, auf der ersten Silbe betont, wie ich beim Kauf des Tickets bemerke. Es ist ein kleiner Bus, und der Fahrer legt los, als gelte es, ein Rennen zu gewinnen.

O Cadavo ist ein außerordentlich nichtssagender Ort. Die Pension ist der verlängerte Arm der Dorfkneipe. Ich kann schon in das Zimmer und widme mich der Lektüre. In einer Broschüre, die man uns mitgegeben hat, lese ich zu meiner Überraschung, dass die meisten Pilger auf dem Jakobsweg nicht Deutsche oder Franzosen sind, sondern Spanier! Das deckt sich mit unserer Erfahrung. Die zweitgrößte Gruppe sind die Portugiesen! Die tauchen hier kaum auf. Sie nehmen den Camino Portugués, immer der Küste entlang, von Lissabon über Porto.

Dann nehme ich mir wieder Pilgern für Skeptiker vor. Ich bin immer mehr begeistert von dem Buch. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung glaubt er nicht, dass man auf dem Probleme oder Fragen lösen kann, die man zuhause nicht gelöst hat. Man zwingt sich zwar unterwegs geradezu zum Denken, ist aber doch zu sehr mit anderen Dinge beschäftigt: Man muss die Wegmarkierungen im Auge behalten, man muss Autos und Hunden ausweichen, man muss auf den Untergrund achten und Steinen und Schlamm ausweichen, man spricht mit einem Passanten, die Schmerzen melden sich zu Wort, Durst und Hunger ebenfalls, man wechselt die Kleidung, wenn es plötzlich kälter oder wärmer wird oder es zu regnen anfängt (für mich ein größeres Problem, da ich keinen systematischen Plan habe, was wo hingehört, wenn man die Jacke auszieht),  man sieht Dinge am Wegesrand oder in der Ferne und fragt sich, wie viele Kilometer man wohl schon hinter sich hat. Und selbst wenn dann mal eine Lösung zu einem Problem, sei es persönlicher oder akademischer Art, sich in aller Klarheit abzeichnet, ist sie wieder weg, sobald man den nächsten Ort erreicht oder auch nur ein Café, und manchmal ist nicht nur die Lösung weg, sondern sogar die Frage! So geht es ihm mit seinen Plänen für einen neuen Roman. So ähnlich geht es mir auch. Nur Erinnerungen an Erlebnisse mit dem Spanischen, teils in ferner Vergangenheit, stellen sich immer wieder ein und akkumulieren sich im Laufe der Tage zu einer Sammlung, mit der man etwas anfangen könnte. Allerdings auch nur mit Hilfe des Notizblocks, der abends zum Einsatz kommt.

Gegen die Verklärung des Jakobsweg sagt der Autor lakonisch: „Der Jakobsweg ist ein Weg. Das ist alles.“ Und zu dem Gepäck, das man mitträgt: „Gewicht ist Angst.“

Die stellvertretende Wanderung durch die Lektüre über die Wanderung mag zwar interessant sein, aber ich kann mich doch nicht so leicht mit meiner Rolle als „gescheiterter Pilger“ abfinden. Der Gedanke wird unterdrückt, lässt sich aber nicht so leicht unterdrücken: Die ganze Vorbereitung, das Hin und Her, die Rechnungen, die Wanderungen zuhause, um fit zu werden, alles für die Katz.

Nicht gerade in Hochstimmung trinke ich in der Dorfkneipe einen Kaffee und gehe dann in den Supermarkt gegenüber, um ein paar Kleinigkeiten zu besorgen. Dann die Straße rauf zu einer Apotheke. Eine streng aussehende Apothekerin bedient eine Frau aus dem Ort, die eine Art Jahreseinkauf zu machen scheint. Fast verliere ich die Geduld, aber dann sage ich mir, dass ich ohnehin nichts Besseres tun kann und warte ab, mehr oder weniger geduldig. Und das sollte sich auszahlen! Die Apothekerin hört mir aufmerksam zu und fragt genau nach den Symptomen. Dann verkauft sie mir Tabletten und eine Salbe eines deutschen Herstellers, für einen Bruchteil des Geldes, das man in Deutschland dafür bezahlen würde, und das, obwohl die Tabletten stärker sind als das, was man in Deutschland rezeptfrei bekommt.

Die Wanderer kommen am späten Nachmittag an, ziemlich erschöpft, vor allem die Nachzügler. Abendessen gibt es natürlich erst zu spanischen Zeiten, und sie müssen sich noch etwas gedulden. Hier in diesem Ort gibt es keine Alternative zum Essen in der Kneipe. Das ist ordentlich, nicht mehr, nicht weniger.

Außer uns ist nur eine kleine französische Gruppe da. Dann kommt plötzlich Bewegung in die Sache. Der Saal füllt sich mit einer Heerschar von Menschen, Einheimische, mit runden, roten Gesichtern und ordentlichem Bauchumfang, salopp bis nachlässig gekleidet. Frauen und Männer sind vertreten, auch Junge und Alte. Sie machen sich lautstark über eine große Anzahl von Tapas her, die auf einer langen Tafel serviert werden. Wir fragen uns, was das sein kann. Ein Fest wohl kaum, dazu geht es nicht feierlich genug zu. Die Kellnerin gibt uns Auskunft: Am Montag eröffnet hier im Ort eine neue Metzgerei. Sie hat eingeladen, um Werbung für ihre Produkte zu mache. Das ganze Dorf. Es kann kommen, wer will. Das haben sie sich nicht entgehen lassen.

6. Mai (Sonntag)

Die Nachzügler legen einen Ruhetag ein und fahren mit mir mit dem Bus nach Lugo, der einzigen größeren Stadt auf dem Weg. Die Busfahrt ist noch billiger als gestern, kostet weniger als ein Busticket für die Innenstadt von Trier.

Als wir losfahren, ist es sonnig, aber sobald es in die Berge geht, legt sich ein Schleier aus Dunst über die Gegend. Auch in Lugo ist es noch diesig, aber von dem Moment unserer Ankunft an lichtet sich die Sache, und es wird ein richtig schöner, sonniger Tag.

Die Außenbezirke und der Busbahnhof sind an Hässlichkeit kaum zu übertreffen, aber sobald man in die Innenstadt kommt, präsentiert sich Lugo als schöne, historische Stadt, mit grauem Stein, vermutlich Granit, als beherrschendes Baumaterial. Das lässt alles wie aus einem Guss aussehen. Wir kommen durch ein Tor der Stadtmauer auf einen großen Platz, und zwei freundliche alte Herren auf einer Bank weisen uns den Weg zum Hotel, dem ersten am Platz, völlig überdimensioniert für eine Wanderreise. Jeder bekommt eine komplette Suite, mit zwei Badezimmern. Ich benutze nur das Beistellbett und das zweite Badezimmer und lasse den großen Teil der Suite unberührt.

Die Medikamente, die ich in der Apotheke gestern bekommen habe, zeigen fulminante Wirkung. Immer noch setze ich mit aller Vorsicht ein Fuß vor den anderen, und immer noch habe ich Schmerzen, aber ich komme voran, wenn auch ganz langsam. Die anderen passen sich meinem Tempo an. Sie haben ja auch keine Eile.

Die Stadtmauer ist nicht rechteckig, aber auch nicht rund und auch nicht oval. Sie verläuft unregelmäßig. Warum, bleibt offen. Ein weiteres historisches Rätsel ist ihre Anlage. Bei dem Bau wurden wichtige Wohn- und Verwaltungsbezirke außen vor gelassen, aber dafür Felder und Gärten mit einbezogen. Keiner weiß, warum.

Die Stadtmauer ist römisch und hat all die Jahrhunderte überdauert. Erstaunlich. Auch als Steinbruch hat sie nicht herhalten müssen. Wie viele Veränderungen und Instandsetzungen im Laufe der Zeit vorgenommen wurden, ist nicht ersichtlich. Das Ensemble sieht äußerst homogen aus.

Die Charakteristika der Stadtmauer sind die gedrungenen, runden Halbtürme, die in regelmäßigen Intervallen auf der Landseite angebracht sind.

Die Römer hätten es sich nicht träumen lassen, dass sie mit der Stadtmauer eine moderne Freizeitanlage geschaffen haben. Die Stadtmauer ist breit und ideal für Spaziergänger, Touristen, Freizeitläufer und Hundebesitzer.

Nach einem Kaffee auf einer Terrasse an dem zentralen Platz mache ich auch noch einen Gang durch die Kathedrale und außen herum. In der Mittagszeit ist man hier praktisch ganz für sich alleine.

Ich suche, vergeblich, nach dem Zugang zu dem Kreuzgang, von außen gut sichtbar. Nicht nur wegen des Kreuzgangs will ich ihn finden, sondern auch wegen einer Steinplatte mit Inschrift, dem einzigen Überbleibsel aus der Vorgängerkirche, einer Inschrift, die in den Anfangsbuchstaben der Zeilen den Namen des Bischofs oder Begründers angibt.

Die Etappe, die wir heute gemeinsam geschwänzt haben, ist eine der längsten des Weges, und dennoch tauchen unsere Hobbywanderer schon am frühen Nachmittag in Lugo auf. Sie haben so gut wie keine Pause gemacht. Die Landschaft hatte nichts Aufregendes zu bieten.

Am Abend kommen wir in das richtige Lokal, ein rustikales Lokal, das als mesón durchgehen würde. Natürlich sind wir wieder zu früh. In der Wartezeit gibt es ein kaltes Bier – Nardo kann sich immer noch nicht darüber beruhigen, dass die caña hier nicht so klein ist wie in Andalusien – und leckere Stücke empanada, mit Fleisch und mit Thunfisch gefüllt, als tapa auf Kosten des Hauses dazu. Später fragen wir den Wirt, mit welchem Fleisch denn die empanada gefüllt waren. Er lässt und raten, aber wir kommen nicht auf die Antwort: Kaninchen.

Das Essen gibt es oben. Ich versuche mich an Kutteln, ohne den anderen zu sagen, was es ist. Die, die probieren, sind ganz angetan. Mir schmecken sie ausgesprochen gut. Längst nicht so beißend wie die, die ich in Salerno probiert habe. Zum Nachtisch gibt es hier zum ersten Mal Tarta de Santiago, einen trockenen Mandelkuchen, den wir dann immer wieder mal probieren.

Wir kehren dann, trotz allem müde, in unsere Nobelherberge zurück. Die Rezeptionistin führt für mich ein Telefongespräch, damit ich die weit abgelegene Unterkunft am nächsten Tag finde. Das erweist sich als sehr hilfreich. Kein Mensch kennt Ferreira, wie sich herausstellen wird.

7. Mai (Montag)

Die Rezeptionistin hat mir mit einem Telefongespräch geholfen. Sie hat bei sehr weit abgelegenen Unterkunft angerufen, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zu erreichen ist und herausgefunden, wie ich wenigstens in die Nähe komme. Das soll sich auszahlen. Der Bus bringt mich nach Palas de Rei, ein umtriebiger Ort, der sich an einer Straße entlang entwickelt hat. Ich gehe in ein zentral gelegenes Café und gönne mir einen Kaffee. Der Wirt weiß nicht, wo Ferreira ist. Er weiß aber, wo der Camino ist: Immer die Straße runter. Aber ich traue dem Braten nicht. Zurecht. Wenn ich dem gefolgt wäre, wäre ich nicht zu unserer Unterkunft gekommen.

Ich gehe ich Straße rauf und runter und frage Passanten. Keiner kennt Ferreira. Aber es gibt einen Hinweis zu einem Punto de Información. Die Straße rauf. Aber bis zum Ortsausgang taucht sie nicht auf. Dann geht es wieder die Straße runter. Wieder ein Hinweisschild. Wieder kein Punto de Información. Aber irgendwann stoße ich auf ein Schild, das nach Casa da Campo weist. Das ist unsere Unterkunft. Ich folge dem Schild, aber es stellt sich heraus, dass es sich um eine gleichnamige Unterkunft hier im Ort handelt. Dann sehe ich ein Frau mit einer Kiste voller Pflanzen aus einem Lieferwagen aussteigen: Gärtnereibetrieb. Die weiß Bescheid. Folgen Sie den Schildern Richtung Friol. Dann fragen Sie später noch einmal. Das tue ich und komme aus dem Ort raus. Es geht eine schöne, wenig befahrene Straße entlang. Plötzlich hält ein Auto auf der anderen Straßenseite. Der Fahrer winkt mir zu und hält mich an. Wollen Sie nach Santiago? Ja, erkläre ich ihm. Aber nicht auf direktem Weg. Ich will erst nach Ferreira. Er weiß Bescheid. Ich bin auf dem richtigen Wege. Er sagt mir, in typisch spanischer Manier: Geradeaus und dann die erste … die zweite … die nicht, die dritte Kreuzung rechts. Dann kommen sie zu einer Autobahn. Die nehmen sie … nicht. Sie nehmen die Landstraße. Immer geradeaus Richtung Friol. Bis links ein Schild kommt. Es stellt sich alles als absolut korrekt heraus. Und er hat extra angehalten, weil er glaubte, ich wäre auf dem falschen Weg.

Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass es hier ohne Spanisch schwer geworden wäre. Es ging ja nicht nur darum, nach dem Weg zu fragen, sondern auch zu erklären, welchen Weg man will und was man schon vorher alles unternommen hat, um den Weg zu finden. Und dass es sich nicht um die Unterkunft hier im Ort handelt.

Tatsächlich taucht, nachdem man an einigen hübschen Bauernhäuschen vorbeigekommen ist, aus dem Nichts eine Autobahn auf, allerdings Autovía, nicht Autopista. Weisungsgemäß nehme ich die nicht, sondern gehe auf der Landstraße weiter. Immer weiter. Es passiert kaum man ein Auto. Das Hin- und Hergehen in Palas de Rei hat mich schon genug angestrengt, aber das Knie macht noch mit und ich beschließe, erst einmal weiterzugehen. Wenn es gar nicht mehr geht, will ich ein Auto anhalten.

Es gibt keine Entfernungsangaben. Nur ab und zu taucht ein kleines, halboffiziell aussehendes Schild auf, das einen auf einen Weiler links oder rechts der Straße verweist. Es geht immer weiter. Eine Sitzmöglichkeit bietet sich nirgends. Ich bleibe höchstens mal am Straßenrand stehen, um etwas Wasser zu trinken.  Wie weit ich gekommen bin, weiß ich nicht, ich kann nur schätzen, nach der abgelaufenen Zeit. Vielleicht die Hälfte der zehn Kilometer, viel etwas mehr. Dann taucht urplötzlich ein Schild mit dem Namen unserer Unterkunft auf, nach links. Das bringt mich in eine ganz verlassene Gegend mit wunderbarer, üppiger Natur. Ich überquere einen Bach, und der Blick in der Sonne auf den Bach und die Wiesen und die Bäume und Sträucher ist einer der schönsten der gesamten Wanderung. Immer noch habe ich keine Ahnung, wie weit es noch sein könnte. Dann komme ich zu einer Wiese mit Steinbänken und –tischen. Ein idealer Rastplatz. Ich setze mich hin, hole meinen Proviant raus und genieße die Stille und die Einsamkeit.

Dann mache ich mich wieder auf den Weg. Und stehe direkt vor unserer Unterkunft. Die ist keine hundert Meter von dem Rastplatz entfernt.

Dort empfängt mich eine sehr freundliche, kleine Frau. Ich erkläre, wer ich bin und sie weist mir ein wunderschön eingerichtetes Zimmer auf der oberen Etage zu. Die Frau ist nicht, wie ich vermutet habe, die Eigentümerin, sondern die Betreiberin der Pension. Sie und ihr Mann sind erst seit einem Monat hier. Sie haben sich auf dem Camino kennengelernt. Sie stammt aus Toledo, er aus Huelva. Es hat ihnen hier so gut gefallen – und sie haben sich gegenseitig so gut gefallen – dass sie beschlossen haben, sich hier nach einer Arbeit umzusehen. Dabei hat ihr Mann eine Stelle in einem Hotel in Palas da Rei und sie die Stelle hier in der Pension gefunden. Eine Geschichte wie aus einer Erzählung.

Ich setze mich in den Innenhof und genieße die Stille, die Sonne, das gute Gefühl, doch schon wieder ein paar Kilometer gegangen zu sein und ein kühles Bier.

Bald tauchen die Wanderer auf, alle gut gelaunt, alle zufrieden mit der Etappe, alle sehr angetan von der schönen Unterkunft. Wir sind die einzigen Gäste. Wir vergnügen uns die Zeit bis zum Abendessen mit gegenseitigen Berichten. Das Abendessen wird von der Frau aus Toledo gekocht und serviert. Eine Alternative hätte es hier, in dieser verlassenen Gegend, gar nicht gegeben. Sie hat eine ausgezeichnete Tortilla gemacht, der Rest ist weniger bemerkenswert. Einige von uns hätten gerne noch ein bisschen mehr bekommen. Zum Abschluss gibt es noch einen grünlichen Likör, hierba. So was Ähnliches gab es auch gestern in Lugo schon, aber sie beeilt sich, den Unterschied zu erklären. Der aus Lugo schmeckte nach Anis, dieser nicht.

8. Mai (Dienstag)

Nach einigem Schwanken entschließe ich mich, weil es gestern einigermaßen gut gelaufen ist, mit den anderen zusammen aufzubrechen. Ich will mit ihnen gehen oder besser hinter ihnen her. Wir machen aus, dass ich mich im Zweifelsfalle zurückfallen lasse und dann irgendwie per Bus oder Taxi ans Ziel komme.

Es stellt sich aber heraus, dass ich hinterherkomme und den großen Teil der Strecke bewältige.

Unterwegs kommen wir immer wieder an hórreos vorbei. Sie sind ganz anders als die in Asturien, kleiner, länglich, mit Satteldach. Sie haben fast etwas sakrales, und tatsächlich haben einigen am Ende des Satteldachs ein Kreuz.

Nardo identifiziert den Ruf des Wiedehopfs. Den habe er vorher, in Asturien, nicht gehört. In Andalusien sei er ständig präsent.

Diesmal machen wir schon sehr früh eine Kaffeepause, in einem schönen Innenhof mit Wänden aus Naturstein. Man sitzt auf Barhockern aus Weinfässern. Neben uns eine Gruppe junger Spanier, lauter Männer, in bester Stimmung. Sie genehmigen sich schon ein Bierchen. Als sie uns überholen, spreche ich einen auf das frühe Bier an. Gutgelaunt, aber lakonisch, sagt er: gasolina. Als wir später eine Mittagspause einlegen, sitzen sie schon bei ihrem nächsten Bier.

In einem Waldstück kommen wir an einer Weide vorbei. Eine Frau mit Kopftuch steht auf dem abschüssigen Gelände, eine Sense in der Hand. Ein paar Meter entfernt stehen ein paar Schafe. Ich spreche sie an. Ob das ihre Schafe seien? Ja. Ob sie was mit dem Fell anfangen könne? Nein, dafür bekomme man heute nichts mehr. Und mit der Milch? Auch nicht. Die sei für die Lämmer. Ich wage nicht zu fragen, ob die Schafe denn wenigstens ihre Fleischversorgung sicherstellen. Und warum schneidet sie das Gras? Die Schafe können sich doch selbst bedienen. Vielleicht, meinen die anderen, ist es für den Winter.

Die Frau bemüht sich, castellano zu sprechen, hat aber große Schwierigkeiten damit. Da ist sie eine Ausnahme, aber ich bin doch überrascht, wie stark die Präsenz des gallego ist: Straßennamen, Hinweisschilder, Informationstafeln in Museen, alles auf Galicisch.

Nardo identifiziert den Ruf des Wiedehopfs für uns. Den habe er bisher auf unserem Weg kaum gehört. In Andalusien sei er allgegenwärtig.

Es ist eine einsame Strecke, eine der schöneren des Caminos. Mittagspause gibt es erst weit nach Mittag, in der Bar El Carbuno. Da es schon spät ist und auch ziemlich warm – aber nur in der Sonne – leisten wir uns ausnahmsweise ein Bier zum bocadillo, vielleicht angespornt von den jungen Spaniern.

Auf dem Weg ist ein Hinweis zur Albergue Alfonso II. Das ist der, der an allem Schuld ist. Er ist der erste, der, der Tradition zufolge, sich auf den Pilgerweg nach Santiago gemacht hat, und zwar von Oviedo aus. Schließlich war er König von Asturien.

Wir werden von zwei blutjungen Kellnern bedient, einem Mädchen und einem Jungen, Schwester und Bruder, wie sich herausstellen sollte, beide schmächtig und klein, mit einem freundlichen, aber etwas traurigen Lächeln auf den Lippen.

Als wir aufbrechen, fragen sie uns, woher wir kommen. Deutschland. Daraufhin lächeln sie etwas verschämt. Warum? Sie sind Brasilianer: 1:7. Um Gottes Willen, das ist doch Geschichte. In der Zwischenzeit hat Brasilien schon zweimal gegen Deutschland gewonnen. Sie sind mit den Eltern hierhergekommen. Es ist natürlich einleuchtend für Brasilianer, sich nach Galicien zu orientieren. Die Sprachbarriere liegt hier niedriger als im restlichen Spanien. Über Deutschland haben sie nur Positives zu sagen.

Auf dem weiteren Weg haben Pilger ein paar Steine zu einem Pfeil auf dem Boden zusammengefügt, weiße Steine auf blauem Grund. Eine schöne Geste, denn die Richtung ist ohnehin klar.

Es wird dann immer wärmer, und als wir Melide erreichen, steht die Sonne senkrecht auf dem ganz hübschen zentralen Platz der Altstadt. Die Stadt ist wie ausgestorben. Dies ist noch spanische Mittagszeit.

Wir setzen uns draußen in ein Café. Ich begnüge mich mit Kaffee, einige der anderen trinken ein zweites Bier. Eigentlich müsste es umgekehrt sein. Denn ich habe entschieden, für den Rest der heutigen Etappe ein Taxi zu nehmen.

Der Supermarkt macht erst um 17 Uhr auf, also machen sich die anderen auf den Weg und ich verpflichte mich, zu warten und den Proviant für den nächsten Tag zu besorgen. Bis dahin gehe ich in ein anderes Café. Es ist dunkel, und erst auf den zweiten Blick sieht man, dass alle Tische entlang der Theke besetzt sind. Lauter Männer, Pensionäre, beim Kartenspiel. An jedem Tisch die Spieler, und drumherum Zuschauer, die sich unbeliebt machen, indem sie kluge Kommentare machen. Das führt zu heftigen, lautstarken Kontroversen. Auch die Spieler schenken sich nichts. Nach jedem Spiel wütende Klagen über die völlig hirnlose Spielweise der Mitspieler.

Die einzige Frau, außer der Wirtin, sitzt weit abseits und beschäftigt sich mit Bastelarbeiten. Sie macht aus Eierlagen bunte Hütchen.

Dann ruft die Wirtin mir, nachdem ich den Einkauf erledigt habe, ein Taxi. Eine junge Frau bringt mich zur Casa Garcea, an einer Landstraße gelegen, außerhalb jeder Ortschaft. Der Taxipreis richtet sich nach Kilometern: 11 € für 11 km. Die Taxifahrerin erzählt mir, die Pensionäre spielten jeden Tag Karten in dem Café, von Montag bis Samstag. Jeden Tag von 3 bis 7.

In der Pension, die einem kleinen Laden angeschlossen ist, kündige ich die Ankunft der anderen an. Wir bekommen schöne Zimmer in einem Bungalow, der hinter dem eigentlichen Gebäude liegt, vor dem Wald, am Rand einer Wiese.

Die anderen treffen bald ein, ziemlich gerädert. Die letzten Kilometer haben ihnen zu schaffen gemacht, vor allem die letzten zwei, als sie den Camino verlassen mussten, um zur Casa Garcea zu kommen.

Gerne nehmen wir das Angebot der beiden jungen Eigentümer an, uns ein Abendessen zu kochen. Wir müssen nur vorher wählen. Das tun wir und sind selbst überrascht, dass wir fast alle für alle drei Gänge gleich gewählt haben. Macht die Sache für die Gastgeber einfacher.

Als ich nach dem Abendessen in den Laden gehe, um nach der Zeit für das Frühstück zu fragen, redet der Wirt mit Nachdruck auf einen Freund ein. Er zeigt dabei auf ein Paar Wanderschuhe. Seine Frau hört zu. Ich lasse ihn ausreden. Als er fertig ist, fragt er mich, ob ich etwas verstanden hätte. Nein, kein Wort, mit einer Ausnahme: La hostia. Allgemeines Gelächter.

9. Mai (Mittwoch)

Die anderen brechen auf. Der Empfehlung der Taxifahrerin von gestern gemäß, nehme ich für die erste Teilstrecke, bis Arzúa, den Bus. Das sei der härteste Streckenabschnitt, meint sie.

Es bleibt noch eine Stunde Zeit. Ich komme mit dem Wirt ins Gespräch. Er ist ein echter Naturbursche, liebe Fische und Vögel und Bäume und Bienen. Er geht selbst auf Fischfang und, mit einer Gruppe von Freunden, Bärenbeobachtung in der Bergen von Asturien, in der Nähe von Grandas de Saline, genau da, wo wir herkommen. Auch von Wölfen und deren Habitat und Lebensweise spricht er mit großer Expertise. Nardo, wo bist Du? Das ist dein Mann!

Dann verabreicht er mir noch einen Löffel Honig. Mein Husten hat ihn gereizt. Ich hätte einen catarro, und der käme nicht von der Kälte, sondern von der Sonne in den Bergen. Der Honig ist dunkel und wohlschmeckend, mit einer ganz leichten bitteren Note. Kastanienhonig.

Wir kommen auf Literatur zu sprechen, und er vergleicht, wie viele Spanier, Delibes mit Cela. Und, wie bei vielen Spaniern, geht der Vergleich zugunsten von Delibes aus. Der hätte den Nobelpreis bekommen sollen, nicht Cela. Er sei außerdem viel sympathischer gewesen, nicht so arrogant wie Cela.

Die Qualität von Delibes habe er selbst erlebt, als er in der Nähe von León zum Angeln war. Das seien Angelgründe, die Delibes beschreibt. Wenn man die Beschreibung lese, glaube man, an dem Ort zu sein, und wenn man dann hinkomme, glaube man, schon mal da gewesen zu sein.

Zeit für den Aufbruch. Der Bus kommt mit einiger Verspätung. Ein fast vollbesetzter, riesiger Reisebus. Nach Arzúa sind es gerade mal zehn Minuten.

Wieder so ein langgestreckter Ort. Ich gehe bestimmt einen Kilometer, bis ich ins Zentrum komme, und plötzlich stehen die anderen mir gegenüber, als ob sie mich erwartet hätten. Alles ohne Absprache. Ein schönes Gefühl.

Sie sind auf dem Weg in eine Churrería. Die wird ausdrücklich im Reiseführer empfohlen. Fast alle probieren chocolate con churros, nur Nardo kennt sie bisher. Die churros sind ausgezeichnet, frisch gemacht, die Schokolade könnte noch dickflüssiger sein. Die Bedienung ist sehr freundlich.

Bevor es weitergeht, mache ich noch einen ganz kleinen Abstecher zum Marktplatz. Dort ist das Denkmal an die Queixeira. Davon hatte mir der Wirt ebenfalls erzählt. Arzúa ist ein bekanntes Zentrum der Käseproduktion. Kuhmilch. Es ist ein konventionelles Denkmal. Die Frau sitzt auf einem Stuhl und hat die fertigen, runden Käselaibe vor sich auf dem Boden liegen.

Dann geht es endlich los. Die Strecke ist lang, aber machbar. Das Gefälle ist nicht mehr so groß wie in den ersten Etappen. Häufig geht es, anders als in Asturien, durch gut angelegte Waldwege, manchmal aber auch der Straße entlang. Seit Melide, wo die verschiedenen Wege zusammentreffen, gibt es mehr Pilger. Auch Souvenirstände tauchen jetzt auf mit Pilgerhüten, Muscheln, Wanderstäben und allerhand Kitsch.

Wir kommen durch Campino, eine kleine Ortschaft. Ich will eine Verbindung zu den Toten Hosen herstellen, aber die anderen weisen das zurück. Da fehle doch die Tilde. Ob das nicht zu kurz gedacht ist?

Dann kommen wir durch Compostela, einen weiteren kleinen Ort. Hier ist der Name aber wirklich relevant. Compostela – das ist ja auch der Beiname Santiagos. Compostela, das ist das ‚Sternenfeld‘, das mit seinen Lichtern, die auch von einigen Hirten gesichtet wurden, dem Mönch Pelayo 813 den Weg zu den Gebeinen des Apostels wies. Compostela ist also Campus Stellae. Nur. Warum ist es dann nicht Campostela? Und warum gibt es in der Umgebung und anderswo weitere Orte wie diesen hier, die Compostela heißen? Die Antwort ist: Vermutlich stimmt die Ableitung einfach nicht, so sehr sie sich auch in dem kollektiven Bewusstsein verankert ist. Vermutlich handelt es sich um einen älteren Namen. Der sich von Compositum Tellus ableiten könnte, mit der Bedeutung ‚Grabhügel‘, ‚Friedhof‘. Tatsächlich hat sich unter der Kathedrale von Santiago ein frühchristlicher Friedhof gefunden.  Es gibt eine Reihe anderer Erklärungsversuche, man ist sich so gut wie einig, dass es nicht das Sternenfeld ist.

Statt mit Fragen der Etymologie beschäftigen uns aber jetzt eher Fragen der Alltagsprobleme des Wanderers. Seit ein paar Tagen habe ich eine Art Ausschlag hinten an der Wade. Rote Pickel überall. Sieht verheerend aus, ist aber nicht zu spüren. Es juckt noch nicht einmal. Trotzdem denke ich erst an Brennnesseln. Ich bin eher als die anderen auf kurze Hose umgestiegen. Aber das ist es nicht. Krissi weiß es: Sonnenallergie. Die Diagnose bestätigt sich. Jetzt haben auch einige der anderen Waden wie Streuselkuchen.

Unterwegs treffen wir auf einen jungen Deutschen, großgewachsen, mit großen Schritten und schwerem Rucksack mit zwei Stöcken voranschreitend. Er hat bereits 800 Kilometer hinter sich. In 30 Tagen. Schmerzen? Probleme? Nein, keinerlei. Jetzt reiche es aber auch, meint er.

Nardo macht sich weiterhin Gedanken um die Eukalyptusbäume (ich selbst habe Schwierigkeiten, Eukalyptusbäume zu sagen, es kommt immer Eukalyptusbonbons heraus). Wie besorgen sie die Wasserversorgung? Sie haben keine Rinde. Wenn man anderen Bäumen die Rinde nimmt, gehen sie ein. Ausnahme: Korkeichen. Aber die werden immer nur in kleinen Abschnitten von unten nach oben frisiert.

Manu fragt nach der Bedeutung eines Schilds, das sie nicht ganz versteht. Ist allerdings auch nicht ganz leicht. Es handelt sich um einen Hinweis auf ein Trainingsgelände für Jagdhunde. Später taucht das Schild nochmals auf, mit einer kleinen, aber bedeutenden Veränderung: Cans de caza. Zona de adestramento. Statt perros heißt es jetzt cans, statt castellano wird gallego gebraucht.

Unsere Unterkunft ist in Rúa, einer winzigen Ortschaft ein bisschen abseits des Pilgerwegs. Zum ersten Mal auf dem ganzen Weg haben wir Schwierigkeiten, die Unterkunft zu finden. Die Beschreibung passt nicht so richtig zu den Wegen zwischen den vereinzelten Häusern, zwischen denen wir stehen. Dann entdeckt jemand eine grüne Fläche auf dem Plan und zieht den naheliegenden Schluss: Wir müssen noch durch das Wäldchen. So einfach ist das. Als wir aus dem Wäldchen herauskommen, findet sich alles schnell.

In Rúa haben wir eine Pension, die in ihrer Einfachheit einer Wanderreise, und noch mehr einer Pilgerreise angemessen ist. Hier gibt es sogar noch richtige Schlüssel.

Aber welche Überraschung abends in dem der Pension angeschlossenen Restaurant. Alles vom Feinsten. Nardo und ich bekommen Kaninchen, am anderen Ende des Tisches gibt es ein mehrgängiges Menu. Und auch der Wein ist besser als in den Tagen zuvor, der rote, vor allem aber der weiße. Wir fragen nach den Anbaugebieten und bekommen eine mehrfarbige Karte von Galicien, in denen die einzelnen Gebiete eingetragen sind. Alle liegen südlich von hier. Deshalb sind wir noch auf keinen einzigen Rebstock gestoßen.

Am Nachbartisch eine größere Gruppe von Pilgern. Lauter Frauen und ein Mann. Der Mann, wird bei uns spekuliert, sei bestimmt der Busfahrer. Eine Frau gibt Informationen zum nächsten Tag, die Reiseführerin offensichtlich. Die Neugierde ist groß, und ich werde beauftragt, nachzufragen. Mit einem etwas mulmigen Gefühl frage ich eine Frau aus der Gruppe, als sie an unserem Tisch vorbeikommt. Nein, der Mann sei kein Busfahrer, sondern Pilger wie sie alle. Reiner Zufall, dass da so viele Frauen dabei wären. Sie und der Mann und die Reiseführerin seien die einzigen Spanier. Die anderen Argentinierinnen, Mexikanerinnen und Kubanerinnen. Später stellt sich heraus, dass die Führerin der Gruppe auch ganz gut Deutsch spricht.

10. Mai (Himmelfahrt)

Die letzte Etappe. Sie ist eher leicht. Es geht weitgehend flach über Waldwege mit festgetretenem Boden. Erst gegen Ende kommt ein unwillkommener Anstieg.

Ich spreche unterwegs mit zwei Frauen aus Las Palmas, mit einer Schwedin aus Jönköping (in einer mit Nationalflagge ausgerüsteten Truppe von fünf Frauen unterwegs) und mit einem Ostfriesen. Er kennt alle spanischen Inseln und ist zum ersten Mal auf dem spanischen Festland – und sehr angetan.

Es wird voller, aber von den „Pilgerströmen“ oder der „Völkerwanderung“, von denen in dem kleinen Pilgerführer die Rede ist, kann keine Rede sein. Die Preise steigen unterwegs etwas an, es ist schwerer, in der Cafeteria einen Platz zu bekommen, und der Umgangston wird etwas rauer. Und immer mehr hört man Englisch als lingua franca unter den Pilgern und zwischen Einheimischen und Pilgern.

Vor privaten Häusern sehen wir mehrfach Palmen stehen, sehr unterschiedliche Arten. Ich hatte nicht in Erinnerung, dass sie sich hier im Norden halten.

An einer Abbiegung fällt mein Blick auf ein Graffiti, das mir in Erinnerung bleibt: La vida es corta pero ancha.

Wir kommen an einer modernen Anlage vorbei, deren Funktion wir uns nicht erklären können. Es sind einstöckige Gebäude in zwei Reihen, viel Glas, eins mit dem anderen identisch. Jemand spricht von einem Militärquartier, aber es sind keine Soldaten – und überhaupt keine Menschen – zu sehen, und auch keine Flaggen oder Zäune. Später stellt sich heraus. Es ist eine große zusätzliche Pilgerherberge außerhalb der Stadt. Die wird nur zu Hochzeiten in Anspruch genommen.

Der Monte del Gozo, der ‚Berg des Entzückens‘ (etymologisch, vermute ich, mit Gaudi zusammenhängend), der Hügel, von dem man den ersten Blick auf Santiago hat, ist eine einzige Enttäuschung. Man sieht in eine moderne Stadt hinunter, die überall sein könnte. Die Altstadt ist nicht zu erahnen. Auf dem Hügel stehen ein paar verlorene Bäume. Und an der Spitze steht ein viel zu kolossales Monument, das in die Kategorie „christlicher Kitsch“ gehört.

Die Eisverkäuferin – das Wetter ist heute passabel bis schön – erzählt, sie habe selbst den Camino Primitivo gemacht, im Winter, durch den Schnee. Sie ist vollauf begeistert von der Erfahrung. Jetzt blieben uns noch viereinhalb Kilometer, sagt sie.

Das sind nicht gerade die schönsten des Jakobswegs. Es geht durch gesichtslose Vorbezirke. Auf der anderen Straßenseite sieht man eine Herberge mit dem Namen Santo Santiago – doppelt gemoppelt.

Dann kommt die Innenstadt. Sie präsentiert sich ganz anders als ich sie in Erinnerung habe, mit kleinen, unregelmäßigen Gassen, deren Verlauf etwas Mittelalterliches hat. In einer Bäckerei kaufen wir als allerletzte Wegzehrung zwei Stücke empanada.

Und dann, unmittelbar vor dem Ziel, verlieren wir tatsächlich noch einmal die Orientierung. Die Türme der Kathedrale sind nicht zu sehen, und die Straßen verwinkelt. Wir fragen drei Schulmädchen nach dem Weg. Die weisen etwas unsicher auf ein Tor. Ich gehe drauf los, um zu sehen, ob er der richtige Weg ist, und als ich kurz davor bin, schließen sich die beiden Flügel der Pforte, wie von Geisterhand geführt, so als wollten sie sagen: Dich dreckigen Pilger lassen wir hier nicht rein.

Wir müssen durch eine andere Pforte, über einen Weg, der steil ab führt. Und dann, just in dem Moment, wo man sich in aller Stille, trotz der Souvenirverkäufer am Wegesrand, auf die Ankunft einstellen will, hört man die ersten Töne des Liedes eines Dudelsackspielers, der genau dann voll aufdreht, als wir unter dem Torbogen an ihm vorbeikommen.

Dann stehen wir vor der Kathedrale. Auf der berühmten Praza do Obradoiro. Geschafft. Der Platz mit seinen prächtigen Gebäuden zu allen Seiten ist genauso, wie ich ihn in Erinnerung habe. Es sind zwar viele Pilger hier, aber sie verlieren sich in der Weite des Platzes. Dem fehlt bei seiner Größe einfach ein Mittelpunkt, ein Brunnen oder ein Obelisk oder eine Skulptur.

Wir halten einen Moment inne und gehen dann zum Hotel, um die Wanderklamotten abzulegen. Den Nachmittag verbringe ich alleine, trinke einen Kaffee auf einem Platz und dann ein Bierchen auf einem anderen Platz und lasse mich von der Sonne bescheinen.

Ein Lokal, das man mir an der Rezeption empfohlen hatte, ganz in der Nähe des Hotels, hat ausgerechnet heute Abend geschlossen, wegen des Feiertags. Wir gehen deshalb zu dem anderen Platz, an dem ich gesessen habe. Dort gibt es eine Casa de Comida mit einem guten Pilgermenu. Als Hauptgericht nehme ich Lamm, aus dem Backofen, auf Empfehlung des Kellners. Die meisten anderen essen Paella. Lecker, aber nicht genug Meeresfrüchte, befindet man.

11. Mai (Freitag)

Der letzte Tag vor der Rückreise. Ich komme mit der jungen Frau an der Rezeption ins Gespräch. Sie hat Psychologie studiert, hier in Santiago, dann in Madrid gearbeitet, sich dann aber neu orientiert, als ein Verwandter dieses kleine Hotel gekauft und ihr eine Stelle angeboten hat. Es gehe hier sehr ruhig zu. Man müsse nicht ständig an der Rezeption sein, sondern könne sich auch um andere Dinge wie das Frühstück kümmern. Und man komme mit vielen Menschen in Kontakt. Sie hat eine deutsche Freundin, aus Münster, die sie regelmäßig besucht.

Der Himmel ist bewölkt, es ist viel kälter als am Vortag. Ich muss ins Hotel zurück, um mir passendere Kleidung anzuziehen. Das Wetter hat auch seine positive Seite: Es gibt ein paar wunderbare Photomotive, mit immer wieder neuen Türmen vor den vorbeiziehenden Wolken. Besonders gut ein Bild, auf dem von links der lange Arm eines Krans kommt, an dem eine Schubkarre baumelt, scheinbar direkt neben dem barocken Turm der Kathedrale.

Auf dem Weg ins Zentrum, der jetzt schon vertraut ist, komme ich an einer Kirche vorbei, die ein einziges Relief an der ansonsten fast schmucklosen Fassade trägt. Eine merkwürdige Angelegenheit, leicht in Rosatönen schimmernd. Man sieht auf den ersten Blick nur Köpfe, der Reihe nach aufgelistet, zur Mitte hin leicht ansteigend. Auf den ersten Blick denkt man an das Abendmahl, aber es sind nicht genug Figuren, nur neun statt dreizehn. Außerdem sehen alle weiblich aus. Ich kann die Sache ganz und gar nicht einordnen, bis mein Blick auf den Namen der Kirche fällt: Capilla de las Animas. Jetzt fällt der Groschen. Es sind personifizierte Seelen, die im Fegefeuer büßen. Daher die leicht rötliche Farbe. Das sind die Flammen des Fegefeuers.

Als ich das später erzähle, hakt Nardo nach, in bewährter Manier: Was ist der Unterschied zwischen ánima, ánimo und alma. Es stellt sich heraus, dass ánima tatsächlich, wie hier, nur für die armen Seelen gebraucht wird, während alma die menschliche Seele bezeichnet und ánimo so etwas wie das Gemüt.

Ich versuche mich, auf der Praza do Obradoiro etwas zu orientieren. Sie ist eine der wenigen Szenerien, die ich von damals noch in Erinnerung habe. Gegenüber der barocken Fassade der Kathedrale ein langgestrecktes Gebäude, in dem heute die Regionalregierung untergebracht ist, die Xunta de Galicia. Santiago ist zwar keine Provinzhauptstadt, aber die Hauptstadt ganz Galiciens. Die Hauptstädte der vier Provinzen sind Lugo, Orense, La Coruña (mit 245.000 Einwohnern die weitaus größte Stadt) und Pontevedra (nicht Vigo, obwohl mit fast 300.000 Einwohnern die größte Stadt). Im Giebelfeld wird die legendäre Schlacht von Clavijo dargestellt, in der Santiago auf Seiten der Christen eingegriffen haben soll.

Links davon das Rektorat der Universität mit schönem Innenhof, aber merkwürdig unpassenden Büroräumen in den alten Gemäuern. Rechts davon das prächtige Hostal de los Reyes Católicos, heute ein Luxushotel, einst eine von den Katholischen Königen gestiftete Herberge. Deren Büsten erscheinen in Medaillons auf zwei Seiten. Viele schöne Reliefs, in mittelalterlicher Üppigkeit, aber angeordnet in rechteckigen Formen, wie in der Renaissance. Das Portal erinnert an den Eingang zur Alten Universität in Salamanca.

An die Kathedrale selbst, fast zu ihr gehörig scheinend, ist der Palacia de Giménez, der fünfte Bau des Platzes. Was es genau mit dem auf sich hat, finde ich trotz Nachfrage nicht heraus. Wie dem auch sei, den beiden Engländern, die sich vor mir an der Rezeption erkundigen, ist auch schon bedeutet worden, dass alle Führungen ausgebucht seien.

Zufällig gerate ich in eine schöne, ein ganz klein bisschen abseits gelegene Straße, ohne Verkehr, nachdem ich von dem Hostal de los Reyes Católicos einfach dem Gefühl gefolgt war und eine stark abschüssige Straße genommen hatte. Hier liegt die Medizinische Fakultät. Dort kann man in der Cafeteria, die öffentlich zugänglich ist, für ganz wenig Geld zu Mittag essen. Dafür ist es aber noch zu früh.

An mehreren Fenstern von Privathäusern ist ein Schild angebracht, in dem man dazu aufgefordert wird, leise zu sprechen. Schließlich ist dies ein Wohngebiet. Eine Figur legt den Zeigefinger an die Lippen und sagt: Fala baixiño.

Durch das Straßengewirr komme ich wieder direkt in die Altstadt. Immer wieder ein neuer Platz, ein neues Portal, ein neuer Innenhof. Santiago ist ganz einfach eine schöne Stadt.

Ich komme an einem weiteren Hotel vorbei, das Santiago im Namen trägt, aber in anderer Form: San Jaime.

In einem Café sehe ich, wie schon mehrmals auf dem Weg, Münzen, die zwischen die Steine der Wand gesteckt worden sind. Was genau die Bewandtnis dieser Tradition ist, finde ich nicht heraus, aber es ist wahrscheinlich eine Versicherung, dass man noch einmal nach Santiago zurückkommt.

Ich gehe zur Laudes in die Kathedrale. Eine Nonne mit heller Stimme macht die Vorsängerin, die Pilger ziehen etwas unsicher nach.

Die meisten der anderen sind in die Pilgermesse gegangen. Der butafumeiro, das berühmte Weihrauchfass, das sie am Vortag im Stillstand enttäuscht hatte, erfüllt heute alle Erwartungen, als es in Bewegung gesetzt wird. Ich habe es damals in Aktion gesehen, unverhofft, rein zufällig beim Betreten der Kathedrale, ohne zu wissen, dass es den butafumeiro überhaupt gibt.

Auf den Gang durch den Chorumgang und die Umarmung der Büste des Heiligen verzichte ich. Heute würde ich sie nicht mehr als so befremdlich empfinden wie damals, als ein Teil meines Weltbildes angesichts der sehr antiquierten, an Aberglauben erinnernden Riten ins Wanken geriet. Aber ich habe kein Bedürfnis, mich zu beteiligen.

Das Pórtico de la Gloria, das Kunstwerk Santiagos, wird saniert und versteckt sich hinter einem Vorhang. Mein Versuch, trotzdem hinzukommen, im Rahmen einer Führung, ist gescheitert. Man kann sich nur im Internet anmelden, und da erscheint die Führung nicht. So hatte man es mir am Vortag in der Touristeninformation am Vortag gesagt. Dorthin hatten mich ein Rollstuhlfahrer und seine Begleiterin geführt. Die hatten sich viel Mühe gegeben, selbst erst nicht gewusst, wo die Touristeninformation war. Sie zeigten sich richtig angetan von meinem Interesse an Santiago.

Statt des Pórtico de la Gloria sehe ich mir das Seitenportal an. Durch dieses Portal gelangt man heute in die Kirche. Es wird streng kontrolliert, Abweisung und Zulassung erfolgen strikt nonverbal. Ausgerechnet die werden abgewiesen, die einen Rucksack mit sich tragen. Das ist irgendwie paradox, ist doch der Rucksack die Insignie überhaupt des Pilgers.

Das Portal, an dem die meisten achtlos vorbeigehen, auch diejenigen, die davor in der Schlange stehen, ist absolut sehenswert: gedrechselte Säulen, Reliefs im Bogenfeld und an den Seiten, Skulpturen an den Seiten und zwischen den beiden Portalen. Man sieht die Gefangennahme, die Versuchung durch den Teufel, die Vertreibung aus dem Paradies, und weitere Szenen. Links ein wunderbarer, harfespielender David mit ziseliertem Bart und strengem Gesichtsausdruck, darüber Adam, der Eva unschuldig eine Hand auf die Brust legt. In der Mitte ein Pantokrator mit dem Gesicht Dschingis Khans.

Dieses Portal liegt an der Plaza da Plateria, das Gegenstück zur Praza do Obradoiro, kleiner, intimer, unregelmäßiger, mit einem schönen Brunnen in der Mitte.

Direkt hier an diesem Platz liegt das Pilgermuseum, das gleichzeitig das Stadtmuseum von Santiago ist. Auf drei Etagen werden drei unterschiedliche Themen behandelt, das Pilgern allgemein, die Tradition der Jakobus-Verehrung und die Entwicklung der Stadt.

Pilgerreisen gab es schon in Ägypten, in Mesopotamien und in Griechenland. Und viele Religionen kennen den Pilgerweg als Metapher: Die physische Anstrengung steht für die spirituelle Mühe. Der Buddhismus kennt acht Etappen auf dem Weg zur Befreiung, der Taoismus versteht sich als Weg zur Perfektion, und auf Hebräisch bedeutet Jehovah, nach dem was hier steht, ‚Gott auf dem Weg‘. Hier sind Gemälde ausgestellt und Ikonen, die Wege wie den Weg nach Emmaus oder die Flucht nach Ägypten darstellen.

Die Santiago-Erzählung wird im Detail dargestellt und als Mischung aus Tradition und Legende dargestellt. Etwas verschwurbelt heißt es über die Überlieferungen, sie seien „no exentos de cierta intencionalidad“. Mit anderen Worten: Man hat sich die Geschichte so zurechtgelegt, dass sie passt. Das kenne ich schon aus der vorbereitenden Lektüre vor dem Camino. Es gab aber schon vor der wundersamen Entdeckung der Gebeine eine Tradition, die Galicien mit Santiago verband. Die dann ausgeprägte Legende besagt: Der Eremit Pelayo sieht Lichter im Wind, informiert Teodomiro, den Bischof, der findet die Gebeine und informiert Alfonso, der alles bestätigt und einen ersten Tempel bauen lässt. Hier sieht man ein Modell dieses (rekonstruierten) ersten Tempels. Es sieht wie ein römischer Tempel aus.

Ein Hingucker im Museum ist eine moderne Skulptur, die man von verschiedenen Ebenen einsehen kann: „Ultreia“. Es handelt sich um eine Skulptur, die aus zusammengefügten echten Pilgerstäben besteht. Der Name der Skulptur ist ein klassischer Ruf der Santiago-Pilger, mit dem sie identifiziert wurden.

Gleich daneben sind die Musikinstrumente, die im Pórtico de la Gloria abgebildet sind, nachgebaut: Harfe, Fidel, Laute und ein merkwürdiges Instrument namens Organistrum, bei dem die Saiten mit einer Kurbel betätigt werden. Man kann auch dem Klang der Instrumente lauschen.

Gemälde und Skulpturen von Santiago gibt es zuhauf, aus aller Herren Länder, zumindest aus Europa: Santiago mit Muschel am Hut, Santiago mit Muschel am Gewand, Santiago mit Muschel in der Hand, Santiago mal barfuß, mal mit Schuhen.

Wichtiger ist eine Abteilung, in der die verschiedenen Santiago-Traditionen aufgenommen werden, Santiago als Apostel, Santiago als Maurentöter, Santiago als Pilger. Komisch, wie man das alles unter einen Hut gebracht hat.

Dann gibt es noch Exponate, bei denen man sieht, wie sich die Muschel verselbständigt hat: die Muschel auf Trinkbechern, die Muschel auf Truhen, die Muschel auf Dolchen, die Muschel auf Vasen, die Muschel auf Mörsern, die Muschel auf Ampullen, die Muschel auf

Oben ist die Geschichte Santiagos wiedergegeben.  Auf einem Modell sieht die romanische Kathedrale ohne die barocken Hinzufügungen, wie der Dom von Speyer aus.

Die Keimzelle Santiagos war der Tempel von Alfonso. Da herum wurden Mönche angesiedelt, dann wurde eine Einfassung gebaut, und schließlich wurde Militär zur Bewachung der Anlage angesiedelt.

Der Aufschwung der Stadt begann im 10. Jahrhundert, und sie wurde dann bald zur größten und bedeutendsten Stadt unter den sieben Städten des Reino de Galicia.

Komischerweise begann der Niedergang der Pilgerreisen und der Stadt ausgerechnet, nachdem die Katholischen Könige die prächtige Pilgerherberge errichtet hatten.

Dann nehme ich meinen Stadtspaziergang erneut auf. Trotz aller Unkenrufe: Die Stadt ist nicht überlaufen und schon gar nicht eindimensional von Pilgern beherrscht. Die verlieren sich. Man befindet sich in einer schönen spanischen Provinzstadt und, nicht zu vergessen, in einer Universitätsstadt. Die Universität hat 30.000 Studenten, bei 100.000 Einwohnern.

Auch die Preise sind durchaus moderat. Ich verliere mich in ein Café, mit einem dunklen, schmalen Eingang. Wenn es nicht Spanien wäre, hätte ich kaum gewagt, reinzugehen, aber hier habe ich das Gefühl, dass die Sprache mir einen Panzer verleiht. Es stellt sich als ein durchaus schönes, helles Café heraus, mit sehr freundlicher Bedienung. Für einen Kaffee, zu dem ich auf Kosten des Hauses noch ein gutes Stück Schokoladenkuchen serviert bekomme, sehr locker, leicht, bezahle ich 1.60 €. Von Nepp kann da wirklich nicht die Rede sein.

Das Café hat sich thematisch dem Fußball verschrieben. Die beiden Türen zu den Toiletten haben eine durchgehend wirkende Tapete, die ein volles Stadion darstellt. Auf der Männertür ein Fußballschuh, auf der Frauentür ein Fußballschuh mit Stöckelabsätzen.

In der Nähe des Cafés fällt mein Blick auf den Namen eines Geschäfts: Bordón.  Das erinnert mich an die Szene mit der spanischen Kellnerin, die selbst das Wort nicht kannte, sich aber die Mühe machte, das Wort im Internet zu suchen und Nardo Recht gab: Es existiert, und es bezeichnet den klassischen Pilgerstab.

Auffällig sind die vielen Läden in Privathänden, darunter ein Nähmaschinenladen und ein Hutladen. Sehr positiv ist der Verzicht auf Neonbeleuchtung und marktschreierische Reklame. Alles ist sehr dezent bezeichnet, meistens mit Schildern aus Gusseisen in Schwarz und Weiß.

Ich kaufe in einer kleinen Bäckerei auf einer Ecke, sehr gemütlich eingerichtet, bei der freundlichen Bäckerin zwei empanadas für die Heimat und ein paar bollos preñados, Teigkugeln, in denen sich eine Fleischkugel verbirgt. Die sind schon wegen ihres bildhaften Namens bemerkenswert: preñado heißt ‚schwanger‘.

Ich treffe mich mit Nardo, um auf den Markt zu gehen, seinen Lieblingsort. Es wird schon allmählich eingepackt, aber er hat noch Zeit, mir ganz verschrumpelt aussehende Apfelsinen zu zeigen, bei denen man Zweifel hat, ob es sich um Apfelsinen handelt. Und dann zeigt er mir Entenmuscheln, percebes, schwarz-weiß, mit fußähnlichen Verlängerungen. Die Verkäuferin bestätigt den Preis: 60 € per Kilo! Streng genommen sind die Entenmuscheln keine Muscheln, sondern Krustentiere. Das Männchen zeichnet sich dadurch aus, dass das Glied länger ist als der Körper. Das nutzt ihm aber nichts, denn es klebt ständig an einem Felsen und kann seine Sperma nur auf gut Glück ins Wasser spritzen. Früher glaubte man, aus den Entenmuscheln entstünden durch Metamorphose Enten – daher der Name.

Wir stehen unschlüssig vor einigen der Ständen, die Speisen servieren. Alles sieht sehr verlockend aus, aber ich bin der Spielverderber wegen meiner Allergien. Also gehen wir einfach weiter und finden dann eine kleine Kneipe, in der es eine Kleinigkeit zu essen gibt, wenn auch keine Delikatessen.

Die Toilettentüren sind mehrsprachig bezeichnet: mujeres – femmes – women – frauen – же́нщина, und dann: hombres – men – hommes – männer – лю́ди. Demnach könnten russische Frauen beide Toiletten benutzen.

Am Abend landen wir dann, ganz in der Nähe des Hotels und wieder in der Nähe des Lokals, das gestern geschlossen hatte, in noch einem anderen Lokal. Es lohnt sich. Drei junge, humorvolle Kellner führen uns nach oben, an einen langen Tisch – eigentlich ist es unten gemütlicher, aber hier ist mehr Platz – und bedienen uns ganz vorzüglich.

Unten ist noch kein Gast, aber hier oben sitzt an einem anderen länglichen Tisch eine andere Gruppe, junge Leute, meist Männer, sehr schweigsam. Schon deshalb können es keine Spanier sein. Außerdem trinken viele von ihnen Limonade zum Essen. Wir hören ein paar Sprachfetzen, und es wird spekuliert, welche Sprache sie sprechen. Von Italienisch ist die Rede oder von Finnisch, ich tippe eher auf Tschechisch. Bald darauf brechen sie auf. Wir fragen die Kellner nach der Gruppe. Es sind Ukrainer!

Es geht ein letztes Mal zum Hotel zurück. Die Frau an der Rezeption hilft mir auf die Sprünge, was den Namen des Hotels angeht: La Tafona. Natürlich! Die kleine Abweichung im Galicischen hat mich blind gemacht. Das ist La Tahona – Die Backstube.