29. Oktober (Dienstag)
Copán Ruinas, meine erste Station in Honduras, ganz im Westen des Landes gelegen, hart an der Grenze zu Guatemala. Copán ist, neben Uxmal, Chichén Itzá, Palenque und Tikal, eine der ganz großen Maya-Stätten, meine zweite nach Palenque. Copán, heißt es, habe architektonisch nicht das, was die anderen Stätten haben, mache das aber durch besonders gelungene Steinmetzarbeiten wett.
Langsam kommt auch Licht in das große Geheimnis um das Verschwinden der Maya-Kulturen. Man hat in späteren Knochenfunden Zeichen von Unterernährung gefunden, und die Lebenserwartung scheint auch zurückgegangen zu sein. Das erklärt man durch das Bevölkerungswachstum. Es muss zu einer regelrechten Bevölkerungsexplosion gekommen sein. Folge: Die städtische Besiedlung griff immer mehr in die landwirtschaftlichen Gebiete aus, und die Landwirtschaft wurde nun in weniger fruchtbaren Gebieten betrieben. Dazu kamen Rodungen, die wiederum Erosion verursachten, die wiederum Überschwemmungen verursachte. Am Ende konnte die Bevölkerung nicht mehr ernährt werden. Die großen Stätten verfielen, obwohl sie noch mehrere Jahrhunderte bewohnt waren. Der letzte König kam 822 auf den Thron. Die Bauern blieben, aber um 1200 herum waren auch sie verschwunden. Am Ende griff der Urwald um sich und begrub die Stätten unter sich. Das blieb so bis zur deren Wiederentdeckung durch die Europäer, durch die berühmte Expedition von Stephens und Catherwood im 19. Jahrhundert. Allerdings, und das ist neu für mich, hatten sie Vorläufer. Schon im 16. Jahrhundert schrieb ein Spanier, Diego García de Palacios, an Felipe II. und berichtete über die Ruinen, die er entdeckt hatte. Nur noch fünf Familien lebten dort, und sie wussten nichts von den Ruinen. Die Sache wurde nicht weiter verfolgt, und es mussten weitere 300 Jahre vergehen, bis ein anderer Spanier, Juan Galindo, die Ruinen besichtigte und eine Karte von ihnen anfertigte. Erst das war der Startschuss zu der Expedition von Stephens und Catherwood.
Es gibt also einen guten Grund, Copán zu besuchen, und die Stadt selbst macht bei der Ankunft auch gleich einen schönen Eindruck. Ankunft nach sieben Stunden Fahrt in einem bequemen Kleinbus über gute Straßen, mit viel Verkehr und Staus in Guatemala schon zwischen 4 und 5 Uhr am Morgen. Danach geht es zügig voran, über eine zweispurige Schnellstraße, bis zu einer Abbiegung, und von da an über eine einsame grüne Gebirgslandschaft, einspurig, aber mit ganz wenig Verkehr.
Bei einer kurzen Kaffeepause fällt mir auf, dass an dem Eingang zu der Tankstelle Hale steht, nicht Jale.
Gegen 8 Wird ein Landgasthof angefahren. Dort findet ein Pferdewechsel statt. Unser Fahrer nimmt neue Fahrgäste in Empfang und fährt nach Guatemala zurück, wir fahren mit einem anderen Fahrer nach Copán.
Beim Kaffee komme ich mit den anderen ins Gespräch, einem Ehepaar aus Zaragoza, bei dem die Frau aus Honduras stammt. Sie sind auf dem Weg nach San Pedro Sula, wo die Familie lebt. Sie ist völlig europäisiert, liebt Schengen und den Euro und erklärt die Briten für verrückt, ist stolz, dass „bei uns“ diszipliniert gefahren und ein Helm auf dem Motorrad getragen wird.
Außer den beiden ist nur noch eine Frau an Bord. Sie trägt ein T-Shirt mit einer Aufschrift auf Arabisch. Ich frage sie, woher sie komme, und die Antwort ist so überraschend wie sie nur sein kann: Brasilien! Sie ist Anhängerin von Corinthians, und die sind politisch sehr engagiert, und ganz auf der Seite der Palästinenser. Sie hasse die Israelis, sagt sie, das seien Imperialisten und die hielten sich für was Besseres.
Sie ist viel unterwegs. Nach Copán reist sie zurück nach Brasilien und dann nach Peru. Da war sie schon dreimal. So viel Zeit fürs Reisen? Ja, sagt sie, sie sei 58. Pensionierte Biologin. Sie hat sich, wenn ich das richtig verstehe, mit Affen beschäftig. Und sorgt sich unterwegs um die streunenden Hunde, die uns vors Auto zu laufen scheinen.
Sie heißt Angelita und ist erfreut, dass ich Sao Paulo kenne und da sogar im Fußballmuseum war – sie wohnt in unmittelbarer Nähe – findet aber Florianopolis und seinen Strand, von dem ich so begeistert bin, schlechterdings hässlich. Man müsse weiter in den Norden fahren, um an gute Strände zu kommen.
Dagegen teilt sie meine Begeisterung für O meu pé de laranja lima, das brasilianische Kinderbuch.
Sie betreibt selbst eine Unterkunft Airbnb in Sao Paolo, was man sich für alle Fälle schon mal merken kann.
Weiter geht die Fahrt. Der Spanier telefoniert mit der Familie in San Pedro Sula. Er hat ein zusammenklappbares Handy. Das sieht echt praktisch aus.
Überall am Wegesrand gibt es Werbung für Caldo de Gallina. Wir haben Spaß daran, die gute alte Hühnerbrühe. Gibt es überall, und wird von allen Müttern der Welt für ihre Kinder gekocht, wenn die erkältet sind.
Es geht auf die Grenze zu, und wir sprechen über Geldwechsel. Die Spanier wollen nur ein paar Euro wechseln, sie zahlen alles mit der Kreditkarte. Ist das nicht teuer? Nein, sie haben ein Abkommen mit ihrer Bank geschlossen. Sie zahlen 3 Monate lang 3 Euro Gebühren, und dafür wird ihnen während dieser Zeit keine Kommission in Rechnung gestellt. Perfekte Lösung.
Der Fahrer fragt mich, ob ich auch Geld wechseln wolle. Ich sage ja und krame meinen Pass und 100 Dollar raus. Wo kann man denn hier wechseln? Aber der Fahrer bewegt einfach wortlos seine Hand nach hinten. Ich soll ihm wohl meine Dollars in die Hand geben. Dann bleibt er irgendwo stehen und verhandelt mit einem Mann, der mit einem dicken Stapel Geld am Straßenrand steht. Er wechselt die 50 Euro und fährt weiter. Halt! Was ist mit meinen Dollars? Er fährt an die Grenzkontrolle, holt sein eigenes Geld raus und drückt es mir in die Hand. Wortlos. 2250 Lempira.
Dann geht es in einen kleinen Raum. Hier sitzen wenige Meter entfernt die Grenzpolizei von Guatemala und die von Honduras. Bei Guatemala dauert es nur Sekunden, auch bei Honduras dauert es nicht lange, aber der Mann will mir partout meinen Pass nicht wiedergeben. Ich verstehe ihn sehr schlecht. Dann stellt sich heraus: Man muss Eintritt bezahlen! Gut bei Honnie abgeguckt. 80 Lempira. Ich gebe dem Mann meine 200. Aber irgendetwas funktioniert immer noch nicht. Dann verstehe ich: Er kann nicht wechseln. Und was jetzt? Ich solle raus gehen und irgendwo wechseln. Etwas unsicher geworden gehe ich wieder auf die Straße und sehe schon Angelita, die schon vor mir bei einem Geldwechsler angekommen ist. Sein Geschäft ist es eigentlich nicht, große Scheine gegen kleine zu tauschen, aber er hilft uns bereitwillig aus.
Dann wieder zurück an den Schalter. Stempel, Quittung. Alles erledigt. Keiner hat nach dem Formular gefragt, das ich mühsam ausgefüllt habe und keiner nach dem Nachweis der Weiterfahrt, die ich schon vor Monaten gebucht habe.
Weiter geht’s und kurz danach kommt Copán in Sicht, klein, hübsch. Wir werden an dem Hotel der Spanier herausgelassen. Von hier aus sind es nur ein paar Schritte zum Parque Central. Dort soll ich nach der Bar El Churro fragen. Der erste Passant kennt sie nicht, der zweite auch nicht. Dann kommen zwei Frauen. Die ältere fragt noch mal nach und schickt mich dann in die richtige Richtung. Alles kurze Distanzen, aber mit dem Koffer über die schmalen, oft brüchigen Bürgersteige, auf denen andere Fußgänger entgegenkommen – keine leichte Sache. Wenn man auf die Straße ausweicht, auch die ist schmal und hat Kopfsteinpflaster, drängen sich die vielen Tuk-Tuks und auch schon mal ein Lastwagen an einem vorbei.
Ich kann die Bar nicht finden und frage weiter. Komischerweise versteht mich auch keiner auf Anhieb: Bar El Churro. Sí, el Ch-u-rr-o. Allgemeines Kopfschütteln. Nie gehört. Drei Männer an der Ecke zum Parque Central wollen auf jeden Fall helfen. Einer ruft seine Tochter an. Sie weiß Bescheid. Er schickt mich die Straße runter, ich glaube, ich bin hier schon mal gewesen, finde aber nichts. Dann frage ich eine Frau, und die fragt mich, ob ich es da und da schon versucht hätte. Was weiß ich, wo ich schon gewesen bin! Schließlich erwische ich einen Mann, der die gute Idee hat, irgendwen anzurufen, und schon erscheint hinten an der Straßenecke eine Frau, die mir zuwinkt. Paola. Sie hat den Schlüssel.
Wir gehen rauf und sie drückt mir den Schlüssel in die Hand. Will sich schnell wieder aus dem Staub machen. Halt! Welcher Schlüssel ist wofür? Wie ist das Kennwort fürs Handy. Wo ist denn jetzt die Bar El Churro? Sie macht eine Handbewegung und sagt „Por ahí“, als ob ich was damit anfangen könnte. Ich sage noch mal, dass ich die Bar vergeblich gesucht hätte. Sie sagt, sie öffne erst um 1. Aber: Wo denn da der Name der Bar stehe, will ich wissen. Nirgendwo. Der steht nirgendwo.
Nach dem Auspacken gehe ich in die Bar San Rafael, gleich um die Ecke, zum Frühstücken. Ich bin hingelockt worden, weil aus dem Lautsprecher Norwegian Wood erklingt und an der Tafel am Eingang ein Hinweis auf die Heimat zu finden ist: Paulaner.
Das Café, am Ende eines Ganges mit mehreren kleinen Läden, die alle dazugehören, ist sehr gepflegt, mit Keramik und Gemälden an den Wänden und Wein und Kaffee und Kakao in den Regalen. Das hat seinen Preis. Es gibt Spiegeleier auf Toast und einen riesigen Obstsalat, mit Nüssen und Honig.
Danach gehe ich noch zur Touristeninformation, die aber eigentlich keine ist. Hier ist das Rathaus, und hier ist man auf Fragen solcher Art nicht vorbereitet. Man schiebt sich gegenseitig die Verantwortung zu. Am Ende findet eine junge Frau in einem Stapel eine Art Stadtplan und sagt mir, hier gebe es nur das Archäologische Museum zu sehen. Das steht im Reiseführer anders. Sie gibt sich aber Mühe, begleitet mich zu einem Tuk-Tuk-Fahrer und deutet die Straße runter. Da stehen Männer, die Geld wechseln. Ich werde die nächsten 100 Dollars los. Diesmal bekomme ich 2.300 Lempira.
Dann kommt die Suche nach der Reinigung. In dem Apartment ist von der angekündigten Waschmaschine nichts zu sehen. Alle wissen, wo die Reinigung ist, aber leicht zu finden ist sie deshalb nicht. Immer wieder passiere ich einen Soldaten mit Maschinengewehr, der vor einem kleinen, unscheinbaren Geschäft in einem Seitengässchen steht. Am Ende kapiere ich es. Die Treppe zu dem Wohnhaus auf der Ecke rauf. Dort, auf einem überdeckten Gang, gibt es mehrere Türen und Fenster. Nirgendwo ein Schild. Ich klopfe hier und da an. Keine Reaktion. Als ich schon aufgeben will, sehe ich ein einen Spalt breit geöffnetes Fenster. Ich rufe rein, und plötzlich erscheint eine junge Frau. Die Wäsche wird gewogen. Danach richtet sich der Preis. Ob die Wäsche an der frischen Luft oder im Trockner getrocknet werden soll. Den Trockner gibt es nur gegen Aufpreis. Ich entscheide mich für die frische Luft.
30. Oktober (Mittwoch)
Das Apartment ist wirklich sehr schön, mit alten Möbeln und Türen aus dunklem Holz und schönen, mehrfarbigen „Rädern“ aus Glas über den Fenstern. Und der Spiegel hat eine hölzerne Einfassung. Nach oben, auf einen Alkoven, führt eine eiserne Leiter. Dort ist noch ein Bett. Hier könnten insgesamt mindestens fünf Gäste übernachten.
Der praktische Nachteil: Es gibt keinen Kühlschrank und keinen Wasserkocher, um sich mal schnell einen Tee zu machen.
Als ich meine Sachen ordne, merke ich, dass einer der beiden USB-Sticks fehlt. Ich gehe alles noch mal durch, Kleidung, Rucksack, Koffer, Schreibtischschublade, Etui. Nichts.
In dem Moment kommt die Nachricht von der Reinigung, dass die Wäsche fertig ist. Und da geht mir ein Licht auf: die Hose! Ich habe den Stick „zur Sicherheit“ in einer der Taschen mit Reißverschluss getan. Immer dasselbe. Zuhause Münzen, Geldscheine, Tempotücher. Und jetzt der Stick.
Ich gehe zur Reinigung und frage die junge Frau, ob sie einen Stick gefunden habe. Ja, aber zu spät. Erst nach dem Waschen. Sie habe ihn zum Trocknen dann auch gleich in der Hose gelassen.
Ich schleppe meine Wäschebeutel nach Hause, fahre den Laptop hoch, stecke den Stick rein und, oh Wunder! Funktioniert, alle Daten vorhanden.
Das Archäologische Museum hat geschlossen. Also entscheide ich mich für den Vogelpark. Läuft hier unter seinem englischen Namen Macaw Mountain Bird Park.
Ein Tuk-Tuk-Fahrer bringt mich hin. 30 Lempira. Ich gebe ihm 50. Er kramt in den Taschen. Ohne Erfolg. Er kann nicht wechseln: „No ando“. Noch nie gehört in diesem Zusammenhang. Glücklicherweise finde ich Kleingeld.
Im Vogelpark sind die meisten Vögel in einer Voliere, nur wenige fliegen frei herum. Das hatte ich mir anders vorgestellt, aber es lohnt sich auch so, vor allem wegen der wunderbaren Anlage. Hohe Bäume, riesige Blätter, Wurzeln, die sich drehen und winden und um die Baumstämme schlingen, Baumstämme, die so dicht bewachsen sind, dass man sie hinter dem Laubwerk verschwinden, Schmetterlinge, die durch die Luft schwirren und ein rauschender Bach.
Die Stars des Parks sind die guacamayas, das sind die macaws aus der englischen Bezeichnung des Parks, Papageien mit rotem, gelbem und blauem Federkleid. Sie sind die zahlreichsten, die auffälligsten und die lautesten.
Es gibt aber auch Eulen und Habichte und einen Vogel mit dem wunderbaren Namen caracara und, dann, zu meiner großen Freude, auch den Rabengeier, zopilote, denen ich in Mexiko so oft begegnet bin. Dessen Federkleid ist innen schneeweiß, außen schwarz und weiß, um den Hals hat er eine graue Halskrause, und der Kopf ist rot und gelb, mit schwarzen Trennstrichen. Die Augen sehen wie Knöpfe aus.
Schön ist auch der Tukan, schwarz-gelb mit einem bunten, langen Schnabel. Der ist so auffällig, dass er bei der Paarung ein Pluspunkt ist und auch als Warnung für Feinde dient. Zum Kämpfen ist er allerdings nicht geeignet, denn er ist aus Knochen und innen hohl!
Von den guacamayas erfährt man, dass sie in der Freiheit bis zu 40 Kilometer am Tag zurücklegen, auf der Suche nach Futter. Dennoch hat man hier eine Gruppe junger guacamayas in einer Voliere zusammengefügt, die man auf die Freilassung vorbereitet. Es habe schon vier oder fünf ähnliche Aktionen in der Vergangenheit gegeben.
Ganz allgemein erfährt man über die Papageien noch, dass sie ihren Schnabel als dritten „Fuß“ benutzen, wenn sie an Bäumen herumklettern. Ihre Zehenanordnung ist zygodaktyl, d.h. der erste und der vierte Zeh zeigt nach hinten, die beiden anderen nach vorn, genauso wie bei der Eule und dem Kuckuck. Das gibt Halt! Bei den Singvögeln zeigt nur der erste Zeh nach hinten. Und dann gibt es noch eine Besonderheit: Viele Papageien sind monomorph, d.h. Männchen und Weibchen zeigen keine äußerlichen Unterschiede! Das Geschlecht muss durch DNA-Analyse festgestellt werden! Papageienbesitzer versuchen durch sekundäre Geschlechtsmerkmale herauszufinden, wer wer ist, Federkleid, Gewicht – denn die Papageien leben am liebsten als Paar zusammen – aber das ist nicht sehr zuverlässig.
So belehrt, leiste ich mir noch einen leckeren licuado und sehe den Vögeln zu, die vor mir durch die Luft schweben und dabei heftig mit den Flügeln flattern oder die sich in aller Ruhe auf einen Ast setzen und sich die Welt ansehen.
Auf dem Rückweg habe ich einen cleveren Tuk-Tuk-Fahrer, der ein Geschäft riecht aber auch gut informiert ist. Er heißt Jesús. Und er „kennt“ mich sogar. Ob ich nicht derjenige sei, der dieser Tage so lange mit seinem roten Koffer durch die Stadt gezogen ist. Für die Weiterfahrt, erklärt er mir, müsse ich erst nach Santa Rosa de Copán und dann nach Gracias. Die Fahrt geht vom Busbahnhof los. Nein, Fahrkarten braucht man vorher nicht zu kaufen, dort gebe es gar keinen Schalter. Die Fahrkarten kauft man im Bus. Er kennt auch die Abfahrtszeiten. Und will mich dann natürlich auch dorthin fahren. Wenn ich zum Archäologischen Park wolle, könne er mir einen guten Führer vermitteln.
Am Nachmittag hat das Archäologische Museum geöffnet. Klein, aber fein, mit viel zu hohen Eintrittspreisen. Ich bin der einzige Besucher.
Am Anfang sieht man auf einer Schautafel die Ausdehnung der Maya-Reiche, von denen es wohl um die 50 gegeben haben muss, verteilt auf das Gebiet vom Süden Mexikos bis El Salvador.
Zu dieser Unterscheidung kommen noch die zwischen Hochland und Tiefland und die verschiedenen Perioden, vorklassisch, klassisch und postklassisch, weitere Einteilungen innerhalb der Perioden. Als Vorläufer gelten die Olmeken, während die Zapoteken gegen Ende der Maya-Zeit eine wichtige Rolle spielten.
Ich lasse mich von all dem nicht beeindrucken und sehe mir einfach die Exponate an. Als erstes fällt mir die Figur eines Maya-Gouverneurs auf, mit seinem Schmuck: einer Halskette, zwei Armreifen, Ohrgehänge, einer Art Krone, von der rechts und links eine Hand ausgeht, ein Gürtel, an dem kleine Früchte baumeln, eine Art Lendenschurz, aufgespritzte Lippen und vor allem zwei Ringe um die Augen, die wie Brillengläser aussehen! Und was ist das Ganze? Eine Urne!
Dann gibt es einen ganz fein geschnitzten Stab, sieht wie Elfenbein aus, kann es aber kaum sein, auf dem man das Gesicht des Königs und der Königin erkennen kann.
Sehr schön eine Scheibe aus Jade, die auf den ersten Blick nur geometrische Formen erkennen lässt, zwischen denen man dann aber ein Gesicht entdeckt!
Dann kommt eine Figur, die wie eine Maske aussieht, aber eine Axt ist. Man sieht das Profil eines Mannes mit gefletschten Zähnen. Alles ist bräunlich, nur das weiße Auge sticht hervor und verleiht dem Gesicht einen furchteinflößenden Charakter.
Danach sehe ich mich noch ein bisschen auf dem Platz um. Rechteckig, nicht sehr groß, grüne und gelbe Hecken, Palmen, an einer Seite eine Kirche, wie sie weißer nicht sein kann. In der Mitte ein Brunnen, bei dem das Wasser aus den Mäulern von Maya-Ungeheuern läuft. Ich bitte eine Passantin, ein Photo von mir zu machen. Sie reagiert überrascht, fast etwas erschreckt. „¿Yo?“ Dann macht sie es aber, und es wird ganz gut.
Überall im Stadtzentrum stehen Nachbildungen von Stelen und Skulpturen der Maya herum, darunter auch Kröten. Die hatten wohl eine besondere Bedeutung.
Viele der kleinen Häuser sind in leuchtenden Farben bemalt, dunkelrot und hellblau vor allem, und Wände und Tore sind oft bunt bemalt. Über zwei der Sträßchen, die auf den Platz führen, flattern bunte Bänder, vom Anfang bis zum Ende der Straße.
Es gibt viele Souvenirläden und Händler, aber wird kaum einmal angesprochen, und wenn überhaupt, dann gar nicht aufdringlich.
Ein Restaurant heißt Vamos a Ver, und verschiedene kleine Lokale sind Pupuserías. Muss wohl eine Spezialität sein.
Entgegen der Ankündigung scheint die Sonne, und beim Umhergehen kommt man ordentlich ins Schwitzen. Am Abend, als ich schon zu Hause bin, fällt dann heftiger Regen. Und dann kommt das angekündigte Gewitter.
31. Oktober (Donnerstag)
Diesmal hält sich das Wetter an die Wettervorhersage. Es regnet. Zuerst geht es in ein Geschäft, um einen Schirm zu kaufen. Eine größere Aktion. Die Schirme sind an einem Pfosten festgebunden, so gut, dass die Verkäuferin sie nicht losbinden kann. Ein Kollege kommt zu Hilfe. Der steigt auf die Kasse und schafft es.
Mit dem Tuk-Tuk geht es zu den Ruinen. Unterwegs lesen wir ein Mädchen auf, das am Straßenrand wartet. Dann bleibt der Tuk-Tuk stehen. Es ist Wasser in den Motor gekommen. Der Fahrer muss sich als Techniker betätigen.
Das Mädchen erzählt mir, sie fahre nach La Esperanza, da oben, auf den Berg. Zur Arbeit. Sie betreut ein dreijähriges Mädchen. Die Eltern arbeiten. „Sind geschieden“, fügt sie noch hinzu.
Dann ist der Schaden beseitigt, und es geht weiter. Nach kurzer Fahrt werde ich am Eingang zu dem Archäologischen Park abgesetzt.
Hier wird man, wenn man alles mitnimmt, einschließlich Führer, 85 $ los. Ich beschränke mich auf den Archäologischen Park und komme viel günstiger dabei weg.
Die Eintrittspreise sind gestaffelt, Honduraner zahlen weniger als Mittelamerikaner und die zahlen weniger als alle anderen. Am besten kommen die Schüler Honduras weg, gefolgt von den Rentnern.
Es ist gut, dass ich den Tipp im Reiseführer gelesen habe, möglichst früh hier zu sein. Ich bin lange der einzige auf dem ganzen Gelände. Man wird von keinem Führer belästigt und kann sich alles in Ruhe ansehen.
Man ist sofort auf einem breiten Waldweg mit exotischen Bäumen. Die Luft ist feucht und warm, und man hat ein ganz klein bisschen ein Gefühl von Urwald.
Am Wegesrand fällt mein Blick auf einen Baum mit Dornen am Stamm, und dahinter einen mit einem auffällig roten Stamm.
Daneben zwei Bäume, die von der japanischen Prinzessin Sayako gepflanzt wurden, als „Zeichen der Verbrüderung der Völker von Honduras und Japan“! Der eine, 2015 gepflanzt, ist ein ganz dünnes, gerade mannshohes Bäumchen, der andere, von 2003, ein mächtiger, in den Himmel wachsender Baum.
Am Wegesrand Stelen, wie man sie auch im Museum gesehen hat, aber hier gehören sie hin, hier stehen sie an Ort und Stelle. Viele der Stelen repräsentieren den 13. Herrscher der Dynastie der Maya von Copán oder markieren besondere Daten im Kalender der Maya. Es gab zwei Kalender, einen rituellen und einen zivilen.
Für die Maya war der Wald ein geheiligter Ort, und Quelle für Brennholz, Medizin und Nahrung.
Hoch oben in den Bäumen sieht man guacamayas. Das sind die aus dem Vogelpark freigelassenen. Noch sitzen sie ruhig und bewegungslos auf den Ästen, später fliegen sie, kreischend und aufgeregt mit den Flügeln schlagend, durch die Lüfte.
Dann kommt der große Platz. Hier steht praktisch alles, was es in Copán zu sehen gibt. Ich teile mir den Platz mit einer Aufseherin.
Wieder gibt es Stelen zu sehen, meist mit der Abbildung eines Gottes, Priesters, Gouverneurs oder Kriegers vorne und mit Inschriften hinten. Bei einigen Stelen gibt es Inschriften an drei Seiten, bei einigen sehen sie so aus, als wären sie mit dem Rücken des Kriegers verwachsen. Alle Glyphen sind im Hochrelief und sehr gut erhalten. Eine Stele zeigt sowohl vorne als auch hinten eine Gestalt, nach Osten bzw. nach Westen ausgerichtet. Das hatte wohl auch astronomische Bedeutung.
Die meisten Stelen stammen aus dem 7. und 8. Jahrhundert. Vermutlich waren sie bemalt, bei einigen sind noch Farbreste zu erkennen. Viele Stelen enthielten ein Gewölbe.
Eine Stele stellt ein Kaninchen bei der Thronbesteigung dar, eine andere hat einen Altar in Form einer Schildkröte vor sich, wieder eine andere hat zwei Schlangen, eine gefederte und eine zweiköpfige, und eine zeigt einen Herrscher, der eine Maske trägt. Wie alle Herrscher trägt er den typischen komplizierten Kopfschmuck. Und dann gibt es noch eine mit der furchterregenden Darstellung von Chac, dem Regengott.
Hier in der Nähe ist die Grabstelle von Dr. John Owen, einem US-amerikanischen Archäologen, der hier bei der Arbeit auf dem Ausgrabungsgelände starb. Das ist wie ein Bauer, der auf dem Feld, ein Ingenieur, der auf der Brücke, ein Lehrer, der im Klassenzimmer, ein Dirigent, der im Konzertsaal oder ein Dramatiker, der, wie Molière, auf der Bühne stirbt.
Außer Stelen gibt es auch einige andere Formen, etwas, das wie eine große Schale aussieht und vor allem eine wunderbare Schildkröte, die gerade mal kurz unter ihrem Panzer hervorguckt.
Auf der anderen Seite des Platzes gibt es die eigentlichen Bauten, eine Stufenpyramide, der Ballspielplatz und die Treppe mit den Glyphen. Dazwischen stehen Konstruktionen, die offensichtlich Altäre waren, die man aber nicht als solche erkennt. In einem Altar hat man die Knochen von 15 Jaguars und Aras gefunden.
Von der Stufenpyramide sind nur die ersten zwei oder drei Stockwerke erhalten, aber das Bauprinzip ist gut zu erkennen.
Der Höhepunkt der ganzen Anlage ist die Hieroglyphische Treppe, einmalig in der Welt der Maya. Sie trägt die längste bekannte Inschrift aller Maya-Reiche. Sie stammt aus dem Jahr 731, ist 30 Meter lang und besteht aus 62 breiten Stufen. In der Mitte wird die Inschrift gelegentlich unterbrochen durch eine Figur, die aus der Treppe herausschaut. An beiden Seiten ein breiteres Laufband, ebenfalls mit Inschriften. Die Inschriften erzählen die Geschichte der Maya-Dynastie von Copán.
Heute spannt sich zum Schutz der Treppe ein großes Zeltdach darüber, bis 1970 durfte sie noch von Besuchern betreten werden. Zur Zeit der Maya hatte sie vermutlich rein symbolische Funktion. Ohnehin war der ganze Bereich, Akropolis genannt, nur der Elite vorbehalten. Hier wurden Zeremonien abgehalten und Könige begraben.
Ganz oben auf der Treppe arbeiten Archäologen an der Konservierung der Treppe. Ihr Geheimnis ist noch nicht ganz gelüftet, denn als die Copán entdeckt wurde, fehlte die ganze obere Hälfte, und man musste sie mühsam rekonstruieren mit den einzelnen Steinen, die hier über herumlagen.
Man sieht auch deutlich, dass, zumindest unten, die Steine auf der rechten Seite stark verwittert sind. Auf der linken glaubt man ständig etwas zu erkennen, eine Schnecke, ein Fischmaul, eine Weinflasche, eine Spielzeuglokomotive.
Im Groben erzählt die Treppe die Geschichte der Dynastie, die der 16 großen Herrscher Copáns. Sie endet mit ihrem Gründer, Yax Pasaj Chan Yopaat. Die Herrscher hatten klingende Namen, die in der Übersetzung noch eigentümlicher klingen als sie vermutlich im Original klingen: Rauchaffe, Wasserlilienjaguar, 18. Kaninchen, Mattenkopf, Erstes Morgenrot, Rauchmuschel.
Jetzt tauchen zum ersten Mal andere Besucher auf, ein junges Paar. Sie machen ein Photo von mir vor der Treppe, und wir kommen ins Gespräch. Sie sind aus El Salvador und freuen sich, dass das mein nächstes Reiseziel sein wird. Sie sind mit dem Auto hier, ihr erster Besuch in Honduras. Sie finden auch, dass der Besuch hier sich lohnt, schwärmen aber von Tikal. Dort könne man eine Treppe raufsteigen und die ganze Anlage von oben betrachten.
Nächstes Jahr reisen sie nach Europa, zuerst nach Dublin, wo ihre Schwester lebt, dann nach Madrid. Er selbst ist in Madrid auch schon mal gewesen und kennt auch Segovia, Toledo, Nizza, Siena und Rom. Sie geben mir noch ein paar Tipps für den Besuch in El Salvador, und wir verabschieden uns an dem Ballspielplatz.
Der ist ganz gut erhalten. Die Pelota war eine sportliche, aber auch eine rituelle Aktivität für die Maya. Das Spielfeld, 28 x 7 Meter, ist rechteckig und wird flankiert durch zwei aufsteigende steinerne Rampen. Das könnten Tribünen gewesen sein, aber ich glaube eher, dass sie Teil des Spielfelds waren. An den Rampen sind auch Köpfe von guacamayas angebracht, die wohl so etwas wie Tore waren.
Ich schlendere noch ein bisschen über das Gelände und lasse alles auf mich wirken. Als ich zum Ausgang komme, betreten ganze Horden von Besuchern den Park, vor allem Schulkinder zu Hunderten, in unterschiedlichen Schuluniformen. Als ich an der langen Schlange vorbeigehe, die sie bilden, grüßen sie mich mit „Hello“ und „Hi“ und „How are you?“
An der Straße eine Reihe von Imbissständen, einer mit einer stacheligen Frucht. Ich frage die Verkäuferin, was das ist. Litschis. Als ich bitte, ein Photo machen zu dürfen, bekomme ich ein entschiedenes Nein.
Während ich auf ein Tuk-Tuk warte, fällt mein Blick auf ein Schild mit einem ganz besonderen Rechtschreibfehler: no votar basura. Unfreiwillig könnte sich hier ein ganz neuer Sinn ergeben.
Das Tuk-Tuk bringt mich zum Parque Central. Dort gehe ich in die Kirche, dem Schutzpatron der Arbeiter geweiht, San José Obrero. Die Kirche ist ganz einfach, einschiffig, mit schöner Holzbestuhlung. An beiden Seitenwänden große Ventilatoren. Die Gemälde an den Seitenwänden sind schrecklich, die Figuren etwas besser, aber man weiß nicht, wer dargestellt ist. Die meisten männlichen Figuren tragen eine braune Kutte. Zwei weibliche Figuren tragen echtes menschliches Haar, was ihnen ein etwas unheimliches Aussehen verleiht.
Von irgendwoher hört man Gebete, ohne jemanden zu sehen. Dann zeigt ein kurzer Blick in eine versteckt liegende Seitenkapelle, woher die Stimmen kommen.
Ich gehe in ein Café und bestelle Kaffee und Wasser und ein Stück Kuchen, das eher wie ein Karamellpudding schmeckt. Lecker.
Dann versorge ich mich im Supermarkt noch mit Getränken. Dabei fällt mir auf, dass Starren hier sozial akzeptiert ist. Die anderen Kunden sehen unbekümmert in meinen Einkaufswagen und beim Bezahlen in mein Portemonnaie.
1. November (Freitag)
Lempira, die nationale Währung, hat ihren Namen von dem Kaziken Lempira aus dem Stamm der Lenca hat, einem Heerführer, der eine Truppe von 30.000 Soldaten gegen die Spanier führte, 1539. Er wurde besiegt und ermordet. Das war das Ende der frühen Auflehnung gegen die spanische Herrschaft. Aber Lempira lebt in der kollektiven Erinnerung weiter als Nationalheld.
Münzen scheint es keine zu geben. Den kleinsten Wert, 1 Lempira, gibt es auch als Geldschein. Auf dem erscheint auf der Vorderseite Lempira selbst. Auf den anderen Geldscheinen erscheinen vorne die Porträts von Männern, wohl meist aus dem 19. Jahrhundert, mit Ausnahme des 200-Lempira-Scheins. Den zieren zwei guacamayas. Auf der Rückseite meist Gebäude, darunter eine Schule, aber auch ein Berg und das Ausgrabungsfeld von Copán Ruinas.
Es hat die ganze Nacht heftig geregnet, und das Wasser steht in Pfützen auf dem Kopfsteinpflaster. Auf den Bürgersteigen vor den Läden wird wieder kräftig geschrubbt. Das Wasser ist je heute schon da.
Bei der Suche nach einem Café, von dem sich herausstellt, dass es das nicht mehr gibt, komme ich mit zwei Frauen ins Gespräch, eine hochschwanger, mit einem kleinen Kind an der Hand. Nächsten Monat ist es soweit. Ob dann das Mädchen ein Schwesterchen bekomme? Nein, ein Cousinchen. Das Kind an der Hand gehört zu der anderen Frau.
Die beiden empfehlen The Garden, ein Hotel, etwas abseits gelegen, und besser hätte ich es nicht treffen können. Man sitzt auf einer breiten, überdachten, hölzernen Terrasse, mit bunten Hängematten und mit Blumenkörben, die vom Dach baumeln. Unten im Innenhof ein Brunnen, und dahinter der rauschende Fluss. Das Wasser ist nach den Regenfällen braun gefärbt, und das Wasser schwillt. Wenn es derselbe Fluss ist wie der im Vogelpark, ist er nicht wiederzuerkennen.
Die Tuk-Tuks hier in Copán sind alle knallrot. Viele haben Namen: Servicio Rural, Jaguarcito, Dios te bendiga. Zum ersten Mal sehe ich heute auch eine Tuk-Tuk-Fahrerin.
Mein erstes Ziel ist Rastrojón, laut Internet „die neue Attraktion der Maya-Welt“. Einige kennen es nicht, andere verlangen übertriebene Preise. Dann kommt einer, der Bescheid weiß: „Ease clossid.“
Also mache ich mich auf zu den Kröten: Los sapos. Die stehen da irgendwo im Wald herum. Wir fahren aus der Stadt raus, über den Fluss und dann, über einen Lehmweg, ein ganzes Stück am Fluss entlang. Der ist hier breiter und nicht so stürmisch. Wie heißt der Fluss eigentlich? El Copán. Hätte man sich denken können. Wir kommen ganz oben an, in San Agustín, an einem schönen Ausflugslokal. Man drückt mir eine Skizze in die Hand und schickt mich in den Wald. Kann man sich hier nicht verlaufen? Nee, immer dem Weg lang.
Auf einmal ist es ganz ruhig, man hört keinen Laut, dann erst, ein Stückchen weiter, eine Vogelstimme und das Rauschen einer Quelle.
Auf der Skizze sind alle Nase lang Kröten am Wegesrand eingezeichnet, und ich vermute, dass die den Standort der Kröten bezeichnen, merke dann aber, dass sie nur den Weg markieren. Bis dahin bin ich kräftig dabei, jeden verdächtig aussehenden Stein als Kröte zu identifizieren.
Der Weg hat es in sich, ein Wurzelweg, der rauf und runter führt. An einigen Stellen, vor allem beim Überqueren einer Brücke, hat man Geländer aus Bambusstangen angebracht. Die nimmt man dankbar zur Hilfe. Dass das Gelände glitschig ist, macht es auch nicht gerade leichter. Aber der Weg ist schön.
Als ich immer noch keine Kröte gesehen habe, kommt mir tatsächlich jemand entgegen, ein Waldhüter. Der sagt mir, ich sei genau richtig, da oben hoch. Leichter gesagt als getan, aber am Ende komme ich den Abhang zwischen den Felsblöcken hoch, und hier oben gibt es tatsächlich eine Platte, die von den Kröten und ihrer Bedeutung spricht. Aber keine Kröten.
Irgendwie komme ich wieder zu dem Lokal. Die Zahl der Kröten, die ich gesehen habe, beläuft sich auf genau Null. Das zeigen dann auch die Photos von den Kröten, die das Mädchen aus dem Lokal mir zeigt. Zur Entschädigung gibt es ein kaltes Bier.
Wieder in der Stadt mache ich einen weiteren Versuch, Tempo-Tücher zu bekommen. Vergeblich. Das hilfsbereite Mädchen in dem Laden, sagt, als ich mich bedanke „A la orden.“
Hier begegnet man vielen Männern mit Cowboyhut, Möchtegern-Texaner. Einen sehe ich sogar auf einem Pferd mit vier anderen Pferden im Schlepptau.
Am Nachmittag gehe ich zum Archäologischen Museum. Der Mann an der Kasse geht erst in Verteidigungsstellung, gibt dann aber nach, als ich meine Quittung hervorziehe, die belegt, dass ich schon mal hier war. Er erlaubt mir, kurz reinzugehen und ein Photo zu machen, schickt mir aber als Begleitschutz eine junge Frau mit. Ich finde die Stelle auf Anhieb und mache das Photo. Die junge Frau ahnt wohl kaum, dass es mir gar nicht um die Figur geht, sondern um das Schild darunter. Darauf steht: ¿Qué colores vez en las orejeras? Rechtschreibfehler, der viel über die lateinamerikanische Aussprache sagt.
Ich mache mich auf die Suche nach einer von einem Deutschen betriebenen Bar, kann sie aber nicht finden. Ich lande woanders, auch gut, hier gibt es ein leckeres Kotelett. Und mal keine Bohnen. Das Bier wird, wie immer, mit einer Serviette als Flaschenverschluss serviert.
Aus dem Lautsprecher kommt Bachata. Kenne ich aus der Dominikanischen Republik. Ist immer sofort zu erkennen, klingt gut, ist aber auf die Dauer etwas abwechslungsarm.
Am Nebentisch zwei Männer, die aufhorchen, als ich um die spanische Speisekarte bitte. Kein Amerikaner? Nein. Europäer? Ja. Woher? Ich lasse sie raten. Deutscher? Volltreffer!
Sofort wollen sie wisse, ob ich zu Bayern halte, was ich guten Gewissens verneinen kann. Sie sind gut informiert, kennen Kevin Keegan, Andreas Brehme, Yogi Löw. Und fragen nach Hertha BSC, Eintracht Frankfurt und dem BVB.
Es stellt sich heraus, dass sie früher Sportreporter waren. Jetzt arbeiten sie für mehrere nationale Fernsehsender, Nachrichten ganz allgemein. Sie sind hier, weil heute hier ein Erntedankfest der Maya stattfindet.
Die Zeremonie heißt Tsikin. Sie findet heute am Parque Central statt. Anschließend bekommen die Kinder, wenn sie durch die Straßen ziehen, eine Kleinigkeit, aber nur unter der Voraussetzung, dass sie richtig darum bitten: Angeles somos /del cielo venimos / tsikin pedimos / para nuestro camino.
Die Männer wollen auch noch wissen, wo ich Spanisch gelernt habe, wie ich hierhergekommen bin und ob wir Deutschen wirklich so viel Bier trinken. Und wie meine weitere Reiseroute ist. Der eine ist enttäuscht, dass ich nicht in Santa Rosa Halt mache. Da gebe es das beste Nachtleben in Honduras und die schönsten Frauen.
Ich folge den Männern auf den Parque Central. Da ist die Zeremonie bereits im Gange. Die beiden stehen mit ihren Kameras direkt neben dem Altar, einem improvisierten Altar aus Blättern und mit Kerzen und Früchten auf dem Altartisch. Auf den Stufen zum Altar liegen riesige Kürbisse und Melonen.
Vor dem Altar, mit dem Rücken zum Volk, stehen vier Priester, die gar nicht priesterlich aussehen, sondern eher wie Bauarbeiter, in weißen Overalls. Einer der Priester hat ein Mikrophon in der Hand und fleht die Heiligen an. Dabei erwähnt er die Gottesmutter und die Pachamama in einem Satz. Dann fängt er auf erbärmliche Art zu singen an. Für mich das Zeichen zum Aufbruch.
2. November (Samstag)
Mein nächstes Ziel in Honduras ist die Stadt mit dem wundervollen Namen Gracias. Die ist eigentlich nur eine Notlösung, liegt aber etwa auf dem Weg nach Tegucigalpa. Eigentlich vorgesehen war eine Fahrt an die Küste, an den Atlantik, aber da hat es Reisewarnungen gegeben wegen der Verwüstungen, die der Hurrikan dort hinterlassen hat.
Ein Tuk-Tuk bringt mich zum Bus. Obwohl wegen des Koffers eigentlich kein Platz mehr ist, nehmen wir noch eine gut gekleidete junge Frau mit. Die kommt neben den Fahrer. Teilt sich mit ihm den Fahrersitz.
Die entgegenkommenden Tuk-Tuks bespritzen uns, als sie durch den vom Dauerregen der Nacht aufgeweichten Lehm fahren.
Bald sind wir da. Es handelt sich nicht um einen Busbahnhof, sondern einfach um einen Platz am Rande der Straße, wo noch ein, zwei weitere Busse stehen. An der Straße befindet sich aber ein Unterstell, den man als Bushaltestelle verstehen könnte.
Sofort ist jemand zur Stelle, schnappt sich meinen Koffer und verstaut ihn. Um 8 gehe es los. Da drüben könnte ich noch einen Kaffee kriegen, sagt er. Das Café ist in einem ganz einfachen, dunklen Holzverschlag mit Wellblechdach untergebracht. Aber immerhin, hier bekommt man Kaffee und sitzt vom Regen geschützt.
Tatsächlich geht es Punkt 8 Uhr los. Es ist ein alter, klappriger Bus mit erstaunlich bequemen Sitzen. Er donnert in einem Affentempo über die Straße, wird dann aber bald ausgebremst, als die sich in einen Lehmweg verwandelt.
Die Landschaft ist eher unansehnlich, grün, aber unspektakulär, und am Wegesrand immer wieder hässliche Plätze und Anlagen.
Die Geschwindigkeitsbegrenzungen werden hier mit kph angegeben, kilómetros por hora, mit schwarzen Buchstaben auf gelbem Untergrund, mit dem für das Spanische ungewöhnlichen Buchstaben k.
Wir kommen langsam voran, da der Bus alle Naselang hält und Passagiere einsteigen und aussteigen. Und weil bei den kleinsten Steigungen die LKWs, die sich hier hochquälen, lange Schlangen hinter sich bilden.
Es wird immer voller, und als eine Frau mit großen Blumen, begleitet von einem Kind, ebenfalls mit großen Blumen, zusteigt, steht ein junger Mann auf und bietet ihnen seinen Platz an. Bald kann er sich aber wieder setzen, weil auf einmal viele aussteigen.
In Florida müssen wir die Fahrt verlangsamen, da zwischen den beiden Autospuren eine Herde Kühe durch den Ort getrieben wird, einige mit Kälbern. Es gibt weiße, braune und gescheckte Kühe. Sie sehen passabel genährt aus, obwohl man bei einigen hinten die Rippen sieht.
Dann kommen wir in Santa Rosa an. Hier ist viel mehr Betrieb als in Copán Ruinas. Kaum geht die Tür auf, als schon ein junger Mann davor steht und Reiseziele ausruft. Mit schnellen Bewegungen und großer Geschicklichkeit verstaut er Koffer, weist den Passagieren Plätze zu, öffnet und schließt Türen und klettert aufs Dach, um dort zusätzliches Gepäck unterzubringen. Während der Fahrt lehnt er sich zu meinem Entsetzen immer wieder weit aus dem Fenster und wirbt Fahrgäste an: „Gracia, pa Gracia“, „Gracia pa Gracia“.
Und zwischendurch kassiert er. Zum ersten Mal sehe ich, wie ein Mann sein Portemonnaie zückt. In der Regel trägt man das Geld als Bündel in der Hosentasche oder in der Brusttasche. Bei den Geldwechslern, den Schaffnern und den Tuk-Tuk-Fahrern sind das dicke Geldbündel, die sie mit der Hilfe von zwei Fingern durchsuchen, um Wechselgeld herauszugeben, so schnell und so geschickt, dass man es mit dem Auge gar nicht verfolgen kann.
Es wird immer voller, und die Fahrt in dem Kleinbus ist alles andere als bequem. Als kein Platz mehr frei ist, nehmen wir doch noch neue Passagiere auf. Irgendwo gibt es noch Sperrsitze.
Die Landschaft hier ist viel schöner, gebirgig, grün, mit den Gipfeln im Dunst. Und als wir auf Gracias zukommen, hört es auch auf, zu regnen.
Dann sehe ich zum ersten Mal überhaupt ein Wahlplakat: Xiomara sí cumple, Das ist Xiomara Castro, die neue Präsidentin Honduras‘, die sich im Gegensatz zu ihrem Vorgänger in Szene setzt.
Dann kommen wir an. Es hat viereinhalb Stunden gedauert, obwohl die ganze Distanz gerade mal 120 Kilometer beträgt. Bezahlt habe ich einmal 110 Lempira und einmal 70. Das dürften so um die 8 $ sein-
Wieder einmal habe ich die Erfahrung gemacht, dass man sich hier konsequent weigert, eine Adresse für die Unterkunft zu nennen. „Neben der Kirche La Merced“ was diesmal das Höchste, was ich rausfinden konnte, aber diesmal hat eine Angestellte des Vermieters, Judith, angeboten, mich vom Bus abzuholen. Und tatsächlich steht sie dann auch schon da, in Begleitung einer Freundin mit dem ungewöhnlichen Namen Osiri.
Wir fahren zum Apartment, und die beiden weisen mich kurz ein. Das meiste kriegt man aber nur auf Nachfrage raus, und der Mechanismus beim Verschließen der beiden Türen und beim Einsatz des Wasserkochers bleibt bis zum Schluss ein Rätsel.
Als die beiden weg sind, gehe ich kurz in die Stadt. Am Parque Central geht es sehr gemächlich zu. Laut ist es nur durch ein Potpourri von alten Beatles Songs, die aus einem Lausprecher kommen: No Reply, Eight Days a Week, Ticket to Ride. Aber der Wechsel geschieht so schnell, dass man kaum mitkommt.
In der Mitte des Platzes ein moderner Pavillon, in dem oben ein Café untergebracht ist.
Daneben ein buntes Schild, auf dem Gracias steht, flankiert von einer Statue von Lempira, dem Kaziken von der 1-Lempira-Note. Terrakotta. Lempira mit Köcher, Pfeil und Bogen und Kopfschmuck. Die Stadt heißt offiziell Gracias Lempira, aber das sagt kein Mensch. Der ursprüngliche Name war Gracias a Dios.
Abseits des Parque Central ist viel mehr los. Hier findet ein Straßenmarkt statt. Vor allem Obst und Gemüse gibt es in rauen Mengen. Die Kartoffeln sind groß, unregelmäßig und mit Erde bedeckt. Am meisten angeboten werden die Litschis. Judith hat mir erklärt, dass man die trotz der Stacheln ganz einfach mit den Fingern öffnen könne. Oder mit dem Mund. Das Fruchtfleisch sei weiß.
Zufällig entdecke ich die Posada Don Juan. Sieht erst nicht so einladend aus, aber der Eindruck täuscht. Man wird in einen lichten Innenhof geführt, wo man unter Palmen und neben einem Schwimmbecken sitzt. Die Posada ist auch Hotel. Ein Einzelzimmer kostet hier um die 100 $.
Die Speisekarte sieht sehr verlockend aus. Am Ende bestelle ich Schweineschwarte, knusprig gebraten, chicharrones, mit Maniok und Kohl in einer Zwiebel- und Tomatensoße. Köstlich!
Dann mache ich mich erneut auf die Suche nach Papiertaschentüchern. Ich werde von einem Supermarkt zum nächsten und von einer Apotheke zur nächsten geschickt. Überall sieht man mich verständnislos an, auch als ich mein letztes Paket heraushole, um zu zeigen, was gemeint ist. Keine Chance. Als ich noch einen letzten Versuch in einer Apotheke mache und schon auf dem Weg nach draußen bin, fällt mein Blick auf ein Regal. Da sind doch welche! Ich zeige sie dem Apotheker. Der dreht sie ganz langsam in seinen Händen. Guckt verständnislos. Als ob er so was noch nie gesehen hätte. Dann meint er, das sei was für Frauen. Ich kaufe auf Verdacht eine Packung, es ist genau das, was ich gesucht habe. Daraufhin kaufe ich seinen gesamten Vorrat auf.
3. November (Sonntag)
Wie vielleicht kein anderes Land steht Honduras für das, was man Bananenrepublik nennt, ein Land, das autoritär regiert wird und von fremdem, meist US-amerikanischem Kapital abhängig ist. Im Falle von Honduras bezieht – oder bezog – sich das ganz wörtlich auf den Bananenanbau. 1892 lag der Anteil der Bananen am Export von Honduras bei 11%, 1903 waren es 42% und 1913 waren es 66%. Alles war fest in den Händen der US-amerikanischen Firmen, die dadurch einen enormen Einfluss auf die Politik und die Politiker in Honduras nehmen konnten.
Daran hat sich nichts geändert, auch wenn der Bananenexport nicht mehr denselben Stellenwert hat. Die dominante Rolle der USA ist aber weiterhin unangetastet. Das erwies sich auch bei dem spektakulären Prozess im Frühjahr dieses Jahres gegen Juan Orlando Hernández, den früheren Präsidenten von Honduras, dem nicht etwa in Honduras oder vor den Vereinten Nationen, sondern vor einem ordentlichen amerikanischen Gericht der Prozess gemacht wurde, nachdem Honduras ihn ausgeliefert hatte. Orlando Hernández wurde zu 45 Jahren Haft verurteilt. Er war von 2014 bis 2022 Präsident von Honduras gewesen und hatte in dieser Zeit den Schmuggel von Drogen aus Venezuela und Kolumbien in die USA im großen Stil ermöglicht. Dafür hatte er staatliche Strukturen ausgenutzt und sogar umgebaut, um daraus ein möglichst lukratives Geschäft zu machen. Er habe Honduras wie ein Drogenunternehmen geführt, heißt es. Er soll auch in den Wahlkämpfen Drogengelder benutzt haben, um das Ergebnis zu beeinflussen. Für den Wahlkampf hatte er aber auch finanzielle Unterstützung aus den USA bekommen, angeblich, um den Drogenhandel zu bekämpfen, vielleicht aber auch, um das Geschäft der Kartelle zu schützen.
Honduras war auch das von den USA gewählte Spielfeld für den Kampf gegen die Sandinisten in Nicaragua. Unter Reagan wurden riesige Summen und ein erhebliches soldatisches Kontingent nach Honduras geschmuggelt, und die Flüchtlingslager für Nicaraguaner wurden zur Basis eines geheimen Kriegs der USA gegen Nicaragua. Dabei wurden Gelder verwendet, die die USA durch Waffenexport in den Iran verdient hatten!
Die Beziehung zu den USA ist auch in anderer Weise noch relevant für Honduras. Mehr als eine Million Honduraner lebt in den USA. Fast jeder Honduraner hat irgendeinen Familienangehörigen, der dort lebt. Das Geld, was von dort in die Heimat überwiesen wird, macht 17% der Wirtschaft von Honduras aus.
Das andere Ereignis, das man mit Honduras in Verbindung bringt, liegt schon länger zurück. Das ist der etwas irreführend so genannte „Fußballkrieg“, ein Krieg zwischen Honduras und El Salvador. Letztendlich ausgelöst wurde er wirklich durch ein Fußballspiel, ein Qualifikationsspiel für die WM von 1970. Anhänger von El Salvador attackierten Anhänger von Honduras, besudelten die Fahne und machten sich über die Nationalhymne lustig. Jenseits der Grenze, in Honduras, begann man, Flüchtlinge aus El Salvador zu attackieren. Die waren zu Tausenden angesichts der immer größer werdenden Krise im Heimatland ausgewandert und hatten sich in der kaum besiedelten Region an der Grenze niedergelassen. El Salvador war viel kleiner, hatte aber mehr Einwohner al Honduras. Die Flüchtlinge wurden von den Honduranern zum Sündenbock für die ebenfalls stockende Wirtschaft von Honduras gemacht. Man begann, sie zu attackieren. Die Flüchtlinge aus El Salvador kehrten zu Tausenden in die Heimat zurück und berichteten von den Grausamkeiten, denen sie in Honduras ausgesetzt waren. Schon vor dem Fußballspiel war also die Lage alles andere als entspannt. Danach marschierte die Armee von El Salvador in Honduras ein, Honduras reagierte mit Luftangriffen. Nach nur sechs Tagen wurde ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet.
Militärische Konflikte gibt es zwischen den beiden Ländern nicht mehr, aber die alte Rivalität besteht weiter. Nur, wenn es gegen Costa Rica geht, hält man zueinander.
4. November (Montag)
Weiß ist die Farbe der Farben, wenn es um honduranische Kirchen geht. In leuchtend hellem Weiß erstrahlt die Kirche La Merced, hier gleich gegenüber, ebenso wie die Kirche San Marcos, am Parque Central. Bei der sind die nicht tragenden Teile in feinen gelben Strichen gekennzeichnet, La Merced hat dagegen Stuckwerk an der Fassade, natürlich auch in Weiß. Leider ist die Kirche verschlossen, ein Gitter versperrt den Zugang zum Innenhof. Und ausgerechnet da, im Innenhof, hat man eine Schautafel mit Informationen zur Kirche aufgestellt.
5. November (Dienstag)
Angesichts der Wahlen in den USA stellt sich die Frage, warum dort immer an einem Dienstag gewählt wird. Und warum in Großbritannien immer an einem Donnerstag gewählt wird.
Die wunderlich helle, ohrenbetäubende Glocke von nebenan ist mir Zeichen, es noch mal zu versuchen mit der Iglesia de la Merced. Jetzt ist das Tor auf. Drinnen findet eine Messe statt, mit Nonnen in den beiden ersten Reihen.
Die Fassade ist schön, mit gebänderten Säulen im Unter- und im Obergeschoss. Über dem Eingang, mit einem breiten niedrigen Rundbogen, inmitten des Stuckwerks das Malteserkreuz, eingerahmt von einer Kordel. Ob Merced etwas mit Malteser zu tun hat? Jedenfalls steht die Virgen de la Merced ganz oben in einer Nische, flankiert von zwei weiteren Figuren, eher weltlich aussehend. Vielleicht stammen sie aus der Zeit der spanischen Eroberung. In komischem Kontrast dazu die Figuren in den Nischen unten. Ganz naiv, lauter weiß gewandete Mönche, wie von einem Kind bemalt, mit schwarzem Bart, schwarzem Haar, schwarzen Augen.
Danach kündigt sich Judith an. Sie will mir einen Wasserkocher bringen und mir die merkwürdigen Mechanismen der Türschlösser erklären. Am Ende bekommt sie es hin, aber nicht ohne Mühe. Der Schlüssel will sich einfach nicht drehen im Schloss. Man kann weder einfach zuschließen noch einfach öffnen. Eine weitere Einschränkung an einer Unterkunft, die überhaupt nicht hält, was sie verspricht.
Ich frage mich durch zur Casa Galeano. Dabei hilft mir eine freundliche Frau, die stark lispelt. Das lässt sie wie eine Spanierin klingen. Aber sie geht darüber hinaus, spricht das zeta auch da, wo es im Spanischen ein s ist. Das lässt sie wie eine Malagueña klingen.
Auch das Rinconsito del Sabor fällt mir auf. Wäre in Spanien wohl Rinconcito del Sabor.
Dann bemerke ich ein Geschäftsschild, mit dem ich nichts anzufangen weiß: El Gallo más Gallo. Es ist ein Motorradhandel.
An der Casa Galeano, etwas außerhalb an einem stillen Platz gelegen, wird gerade die Tür zur Mittagspause geschlossen. Am Botanischen Garten ebenso.
Auf der anderen Seite das Restaurant La Estancia. Ich gehe rauf und erkundige mich nach der Speisekarte. Der Koch ist äußerst freundlich und geht genau auf meine Wünsche ein.
Von hier hat man einen schönen Blick auf die Dächer der Häuser der Umgebung, alle einheitlich mit beigen bis bräunlichen Fliesen belegt.
Ich bin der einzige Gast. Während ich auf mein Essen warte, kommt ein Motorradkurier und holt Bestellungen ab, genauso wie bei uns.
Dann kommt die Casa Galeano. Sie stammt aus dem 19. Jahrhundert, wirkt aber älter. Zu dieser Zeit muss Honduras schon selbständig gewesen sein, aber am Lebensstil der Kreolen hatte sich wohl nicht viel verändert.
Sehr gut gefallen mir der Innenhof, der Licht und Schatten zulässt, die bemalten Wände in den Vorzeigeräumen und einige Fresken, die man an den Wänden des Innenhofs freigelegt hat.
Alles, was aus Holz ist, einem rötlich-braunen Holz, sieht sehr edel aus, geschmackvoll, mit klaren, schnörkellosen Linien, darunter ein Schminktisch.
Das Haus soll die Form eines Ls haben, aber das merke ich beim Rundgang gar nicht.
Dann geht es in den Botanischen Garten. Auch hier bin ich alleine. Es gibt Mangobäume, Drachenfruchtbäume, Avocadobäume, Pampelmusenbäume und Pfefferbäume. Wächst Pfeffer auf Bäumen? Sieht ganz danach aus, denn hier heißt es, die Frucht habe lange im internationalen Warenverkehr als Ersatzwährung gedient. Früchte kann ich an all den Bäumen aber nicht erkennen.
Ebenso schön wie auffällig sind die Stämme vieler Bäume, in viele verschiedene Stränge ausdifferenziert und oben einen Bogen bildend. Als Gegenprogramm stehen ein paar Kastanienbäume dazwischen, mit geraden, glatten Stämmen, die bis zum Himmel reichen.
Unter den Namen der Bäume tauchen auch welche auf, die ich noch nie gehört habe wie Macuelizo oder Pacaya, und ein paar witzige Namen wie Pelo de viejo, ‚Haar eines Alten‘ oder der Caulote, der auch Tapaculo heißt, sowas wie ‚Hinternabdeckung‘.
6. November (Mittwoch)
Da es keine Münzen gibt – jedenfalls ist mir noch keine begegnet – ist das Auseinanderhalten der Geldscheine nicht so einfach, denn es gibt 9 gängige Werte, von 1 bis 500. Und alle sind gleich groß. Anders als bei uns ist auch, dass zwar einige Scheine nagelneu sind, andere aber sehr abgegriffen.
Die Bürgersteige sind hier so, wie ich sie von anderen Reisen in Erinnerung habe, hoch, mit vielen Bruchstellen und Tretminen. An Kreuzungen und Einfahrten muss man dann wieder auf das Straßenniveau hinabsteigen und dann wieder auf den Bürgersteig rauf. Meist ohne Stufen. Das ist für einen Normalo schon schwer, wie sollen das aber alte Leute oder Leute mit Gehbehinderungen schaffen?
Vor der Weiterfahrt gehe ich noch in das Café im Pavillon am Parque Central. Man sitzt oben und sieht auf das Grün hinab. Und kann die Äste der Bäume fast berühren.
In der Nähe der Unterkunft wird ein Gesundheitszentrum saniert. Das Verdienst dafür beanspruch Xiomara Castro für sich und ihre Regierung, nicht ohne Pathos: ¡Estamos entregando alma, vida y corazón por Honduras! Ob so was in Europa verfangen würde? Jemand, der behauptet, Seele, Leben und Herz für das Land einzusetzen?
Vor der Abfahrt komme ich dann noch mal gehörig ins Schwitzen, als ich mich wieder einmal lange vergeblich an dem Türschloss zu schaffen mache.
Heute geht es nach La Esperanza – auch kein schlechter Name für einen Ort. Die ganze Gegend ist geprägt von der Kultur der Lenca, einem indigenen Volk, angesiedelt zwischen Maya und Kuna, dessen Ursprung sehr umstritten ist. Wie dem auch sei, mit den Spaniern gab es ein gutes, friedliches Miteinander über lange Zeiten.
Ein Tuk-Tuk bringt mich zum Busbahnhof, einem anderen als bei der Ankunft, kleiner, aber an einer lebendigen Straßenecke gelegen. Wieder schnappt sich jemand sofort meinen Koffer und parkt mich irgendwo in der Abfahrtshalle. Die Zeit vergeht, ein wohl leicht alkoholisierter Mann versucht, mich in ein Gespräch zu verwickeln, indem er auf das Titelbild der Tageszeitung deutet. Dort sieht man den Wahlsieger aus den USA.
Beim Warten fällt mein Blick auf einen Laden gegenüber, der Abarrotería heißt. Nie gehört. Scheint ein amerikanisches Wort zu sein. So was wie ein Minimarkt oder vielleicht etwas größer, wie der alte Tante-Emma-Laden.
Es tut sich weiter nichts, ein Bus füllt sich und fährt ab. Da frage ich noch mal nach, und irgendwer sagt mir, der Bus fahre auf der anderen Straßenseite ab. Er schnappt sich meinen Koffer, wird dann aber von einem Kollegen gestoppt. Nach ein paar Minuten ist es dessen Aufgabe, sich meinen Koffer zu schnappen und mir auf die andere Straßenseite vorauszueilen. Er ist mit Koffer schneller als ich ohne.
Und prompt kommt der Bus. Eng, etwas unbequem, mit vielen Haltestellen. Die Kalkulation des Reiseführers erweist sich als zu optimistisch. Statt anderthalb Stunden brauchen wir zweieinhalb Stunden.
Mit Tempo geht es auf die asphaltierte, aber holprige, kurvenreiche Strecke. Es geht ständig bergauf und bergab, vor allem aber bergauf. La Esperanza ist die höchstgelegene Stadt von Honduras, 1770 Meter. Nicht gerade Bogotá oder Quito, aber immerhin: Der Kahle Asten hat 842 Meter, der Erbeskopf 843, der Brocken 1141 und der Feldberg 1493.
Vor mir ein zauberhaft schönes Mädchen, vielleicht zwei Jahre alt, unmissverständlich als Mädchen markiert, mit Kleidchen, Haarschleifen und Ohrringen, auf dem Schoß ihrer Mutter. Sie versucht, ihrer Mutter den Schnuller der Trinkflasche in den Mund zu schieben. Immer wieder. Ohne Kennzeichen von Ermüdung.
Hinter mir ein Mann, der lauter merkwürdige Geräusche von sich gibt, die die Blicke der anderen Passagiere immer wieder nach hinten richten. Als er aussteigt, ergibt sich ein Wortwechsel mit dem Beifahrer/Kassierer/Kofferträger, aber es klingt am Ende doch harmlos.
Zwischendurch quälen sich Verkäufer durch die Reihen. Tatsächlich werden sie das eine oder andere los. Und schaffen es immer, rechtzeitig wieder auszusteigen.
Dann kommen Mädchen in Schuluniformen, dunkelblaue Plisseeröcke und hellblaue Blusen. Sieht nicht schlecht aus.
Nicht allen bekommt die Fahrt gut, und zwei der Passagiere werden von unserem Schaffner mit Tüten und Klopapier ausgestattet. Er ist auch sehr aufmerksam, wenn Leute aussteigen. Fast jeder hat ein Bündel (oder zwei oder drei) auf dem Schoß, und er nimmt es ihnen ab und bringt es raus, damit sie ungehindert aussteigen können.
Dann kommt La Esperanza, ganz anders als Copán Ruinas und Gracias, größer, lauter, nicht sonderlich schön.
An dem etwas trostlosen Busbahnhof sehe ich mich nach einem Tuk-Tuk um, finde aber keins. Dann erwische ich ein reguläres Taxi. Der Fahrer sagt mir, die Tuk-Tuks seien hier verboten. Es gebe hier schon mal angetrunkene Gäste, die die Tuk-Tuk-Fahrer irritieren, belästigen oder attackieren. Im Taxi sei man dann etwas besser geschützt.
Er setzt mich vor der Unterkunft in einer unwirtlich aussehenden Gegend ab. Ich habe einen Code bekommen, um unten aufzuschließen, komme aber nicht rein, auch nach mehrmaligen Versuchen nicht. Nebenan ist ein winziges, dunkles Geschäft für Meeresfrüchte. Eine junge Frau kommt heraus und hilft mir. Sie gibt die Zahlen ein und drückt dann noch einen weiteren Schalter, und die Tür öffnet sich.
Unten ist im Innenhof ein Hühnerstall, mit einigen Küken in weißem Federkleid. Auch hört man einen Hund, sieht ihn aber nicht.
Ich gehe die etwas schmutzige und unregelmäßige Treppe rauf. Die Tür zur Unterkunft steht auf, im Schloss zwei Schlüssel, von denen bisher nicht die Rede war. Ich weiß auch nicht, wie man die Türe unten verschließt, weder von innen noch von außen. Glücklicherweise erhalte ich bald eine Antwort vom Vermieter und erfahre, wie.
Hier auf der Straße, einer reinen Durchgangsstraße mit vielen Motorrädern, finde ich einen Minimarkt und rüste mich mit dem Nötigsten ein. Dann stehe ich oben vor der Tür zum Apartment und komme nicht rein. Ich habe zwei Schlüssel, es gibt zwei Schlösser. Nur ein Schlüssel scheint in ein Schloss zu passen, aber wie ich ihn auf drehe, die Tür bleibt zu. Versuche es noch mal. Dann versuche ich das andere Schloss und dann den anderen Schlüssel. Nichts. Ich schreibe eine Nachricht, bekomme aber keine Antwort.
Etwas ratlos stehe ich da, überlege, einfach rauszugehen und mir für die Nacht ein Hotel zu suchen. Versuche es dann aber doch noch mal, und wie durch ein Wunder, ich weiß nicht, wie, öffnet sich die Tür.
7. November (Donnerstag)
Die Hähne sind auch hier schon am 2 Uhr morgens aktiv. Ich dachte früher immer, sie würden den Tag ankündigen. Aber es ist noch stockdunkel.
Als der Tag dann anbricht, mache ich mich auf den Weg über die staubige Straße Richtung Zentrum. Bin froh, als ich dem näher komme. Ich frage eine junge Frau nach dem Weg. Sie ist völlig verdutzt, weiß mit Parque Central nichts anzufangen, hat vermutlich so eine Frage noch nie gehört. Sie steht stumm vor mir. Ich sage ihr, macht nichts, und will schon weiter gehen, da kommt auf einmal ein Redeschwall von ihr, von dem ich so gut wie nichts verstehe, immer nur Kirche (statt Bahnhof). Da zeigt sie auch mit dem Finger hin.
Ich folge ihrem Finger und komme in eine Marktstraße, mit einem Verkaufsstand nach dem anderen, dazwischen alte Frauen, die ihre Ware auf einem Hocker platziert haben. Hier herrscht buntes Treiben, und eine nette Atmosphäre. Vor allem Obst- und Gemüsestände gibt es zu Hauf.
Diese Straße führt mich tatsächlich zur Kirche, und die steht an einer Seite des Parque Central. Der unterscheidet sich vom Rest der Stadt, ist gepflegt, grün, ruhig, mit langen Steinbänken, auf denen die Leute in Ruhe den Tag auf sich zukommen lassen. Eine Verkäuferin läuft still über den Platz und bietet ihre Zeitungen an.
An einer Ecke des Platzes steht ein vergoldeter, dreischaliger Brunnen, an einer anderen eine Büste von Morazán, vermutlich Honduraner. Von ihm heißt es, er sei der erste Präsident der kurzlebigen Zentralamerikanischen Republik gewesen, über die ich unbedingt mehr erfahren will.
Ich setze mich auf eine der Steinbänke und genieße den schönen Tag. Heute ist es fast wolkenlos, und es wird richtig warm im Laufe des Tages. Hier sitzt man aber unter schattenspendenden, hohen Bäumen.
Vor der Kirche stehen ein paar Frauen in der traditionellen Lenca-Kleidung. Jede ist anders gekleidet, und doch haben alle was gemeinsam, am auffälligsten das große Kopftuch, mit quadratischen Mustern in verschiedenen Farben. Eins der Kleidungsstücke, meist entweder der Rock oder die Jacke, ist fliederfarben.
Die Kirche, dreischiffig, nicht sehr hoch, mit zwei Glockentürmen, ist natürlich weiß. Die nichttragenden Teile sind in einem dunklen Gelb abgesetzt.
Drinnen ist man zuallererst überrascht, wie lang sie ist. Der Altar, mit einem schwarzen gekreuzigten Jesus, ist von hier hinten kaum auszumachen.
Auch hier hängen Tücher, diesmal in Weiß, zwischen den Pfeilern, die die Schiffe voneinander trennen.
Vorne ist eine Monstranz ausgestellt, und über das Mittelschiff rutschen Frauen auf den Knien nach vorne. In den Seitenschiffen geht man, aber beim Verlassen der Kirche geht man rückwärts, man dreht dem Altar nicht den Rücken zu.
Vater und Mutter mit Kind betreten die Kirche, jeder mit einer Kerze ausgestattet. Vorne brennen schon Hunderte von Kerzen.
Ich bleibe noch einen Moment sitzen und mache mich dann auf den Weg. An der Ecke liegt die Posada Papa Chepe, im Reiseführer empfohlen. Sieht sehr einladend aus, aber hier gibt es kein Frühstück. Der junge Mann geht extra mit mir vor die Tür und weist auf einen Laternenpfahl. Da sei ein Lokal.
Recht hat er, und es ist auch ganz hübsch, mit dunklen Holztischen und flotten Sprüchen an den Wänden. Sogar Internet gibt es hier. Es ist wohl eher was für ein junges Publikum, aber im Moment ist hier noch nicht viel los.
Ich frage die Kellnerin nach etwas Leichtem, und sie empfiehlt mir einen Avocado-Toast. Und als Getränk empfiehlt sie tisana. Was ist das denn? Scheint so was wie Früchtetee zu bedeuten und der infusión in Spanien zu entsprechen. Sie zählt verschiedene Varianten auf, und ich nehme praktische wahllos eine davon, irgendwas mit Apfel.
Die tisana wird in einem großen, bauchigen Glas serviert, aber nicht etwa mit einem Beutel. Stattdessen ist die ganze Oberfläche bedeckt mit den verschiedensten Zutaten. Das sind, lasse ich mir erklären, Apfel, Zimt, Leinsamen, Rosinen, Zitronenschalen, Anis. Das Wasser verfärbt sich leicht rötlich. Man trinkt unter den Zutaten her, wie unter dem Schaum beim Bier. Man kann die Früchte auch essen, das mache jeder nach seiner Fasson, erklärt mir die junge Frau. Riecht gut, schmeckt gut, tut gut.
Während ich auf meinen Avocado-Toast warte, merke ich, dass am Fernseher, auf drei großen Bildschirmen, Fußball läuft, MOT-OLA. Das, so stellt sich heraus, sind Motagua und Olancho, zwei Vereine der honduranischen Fußballliga. Beide im oberen Drittel angesiedelt. Das Spiel geht 2:2 aus. Ein Tor fällt durch einen wunderbaren Fallrückzieher.
Bei jeder Spielunterbrechung, Freistoß, Ecke usw. wird am unteren Bildschirmrand Werbung eingeblendet, manchmal sogar bei Mittelfeldszenen. Dazu die Bandenwerbung und die Trikotwerbung. Ja, habt ihr sie denn noch alle?
La Esperanza hat keine großen Sehenswürdigkeiten, aber doch eine Attraktion, eine oben in den Felsen gehauene Kapelle, die man schon von weitem sieht. Zu ihr führt eine Treppe aus Natursteinen, die in den dreißiger Jahren von Strafgefangenen aus dem Felsen geschlagen worden ist. Die Treppe verjüngt sich nach oben hin. Die Stufen sind hoch und uneben, und manchmal klettert man eher, als dass man geht.
Oben angekommen mache ich eine Verschnaufpause und komme mit einem jungen Honduraner ins Gespräch. Er will wissen, wie es sich in Deutschland lebt, wie viel ein Flug kostet und ob man ein Visum braucht.
Man kann noch weiter nach oben steigen, über einzelne Stufen, die auch nicht ganz leicht zu bewältigen sind. Ich mache mich trotzdem daran und kraxele nach oben. Von der Leichtigkeit, mit der der junge Mann vorher hier runtergekommen ist, ist dabei nichts zu sehen.
Oben entdecke ich einen schmalen Fußpfad und probiere ihn einfach mal aus. Er führt an einem Wald entlang und dann tatsächlich auf die Straße, über die ich in die Stadt zurückkomme. Der schwierige Abstieg bleibt mir erspart.
Im Zentrum komme ich über die Avenida de España. Nicht viele Städte in Lateinamerika huldigen so der alten Imperialmacht. Hier scheint man das gelassener zu sehen. Die ist allerdings keine Großstadtavenue, sondern eine einspurige Kleinstadtstraße.
Dann passiere ich noch ein Geschäft, in dem traditionelle Lenca-Kleidung hergestellt wird, mit dem Firmenschild: Aquí se hase la tela lenca. Wieder einer für die Sammlung.
Schließlich frage ich mich noch zur Casa de la Cultura durch, wo man, dem Reiseführer zufolge, etwas über die Lenca-Kultur erfahren kann. Aber die ist eine einzige Enttäuschung. In den Innenhof hat man wahllos ein paar Krüge und Skulpturen gestellt, und an einer Wandtafel hängen unzählige Photos, mit denen man ohne Beschriftung nicht viel anfangen kann. Schade.
8. November (Freitag)
Am Morgen mache ich mich mit Koffer auf den Weg über die staubige Straße zum Busbahnhof. Der Weg über die holprigen oder aufgerissenen Bürgersteige ist etwas beschwerlich. Ein Taxi erwische ich unterwegs nicht. Hatte sogar, angesichts all der Unwägbarkeiten, überlegt, den Taxifahrer zu fragen, wie viel eine Fahrt nach Tegucigalpa kosten würde.
Immerhin habe ich am Vorabend, wenn auch spät, eine richtige Adresse, mit Straßenname und Hausnummer, bekommen. Das dient der Beruhigung. Ich kenne aber die Abfahrtszeiten der Busse nicht und welche Busunternehmen wohin in Tegucigalpa fahren. Auf jeden Fall gilt es, Comayagüela zu vermeiden, der gilt als der gefährlichste Stadtteil der ohnehin nicht ganz ungefährlichen Stadt. Über die Dauer der Fahrt habe ich nur gerüchteweise gehört, etwa vier Stunden, aber heute ist Freitag, und da soll es besonders viel Verkehr geben. Es gilt die Fahrt, ohne Pinkelpause und ohne WC an Bord, zu überstehen.
Am Busbahnhof kommt man mir sofort entgegen, man scheint schon zu wissen, wohin die Reise geht. Die Fahrt kostet 165 Lempira, und schon steigt man in den dunklen Bus. Der ist schon fast voll. Immerhin ein richtiger Fernbus.
Punkt 7.30 geht es los. Aber im Schneckentempo. Die Fahrbahn hat genauso viele ebene Flächen wie Schlaglöcher. Die versucht der Busfahrer zu umfahren. Dann wird es noch schlimmer. Es kommt eine nicht asphaltierte Strecke. Wir kommen nur meterweise voran. Und dann bleiben wir stehen. Von hier hinten kann man nicht sehen, warum. Es stellt sich dann heraus, dass es eine Baustelle gibt und dass die eine Spur nur abwechselnd zu benutzen ist. Ab 9 Uhr wird es ein bisschen besser, und dann wird sogar vierspurig gefahren, immer bergauf und bergab.
Auch später, als die Strecke flacher wird: Gebirge auf allen Seiten. Warum ist es hier überall so gebirgig? Dafür gibt es eine verblüffend einfache Erklärung: Der ganze Kontinent hat hohe Berge im Westen – die Rocky Mountains in Nordamerika, die Anden in Südamerika – und große Ebenen im Osten – das Orinoko-Delta in Venezuela, den Chaco in Paraguay und natürlich das Amazonasbecken. Dieser Teil „fehlt“ in Mittelamerika. Das Wasser hat ihn weggetragen. In Mexiko hat er sich noch in Yucatán erhalten, das sich vom Relief deutlich vom Rest des Landes unterscheidet. Aber eben nur Yucatán. Der Rest ist verschwunden im dem, was heute der Golf von Mexiko ist. Wenn man sich Mittelamerika zusammen mit der Inselkette der Antillen im Osten ansieht, kann man noch gut erkennen, wie das früher einmal ausgesehen hat.
Inzwischen ist der Bus voll, es werden aber weiter neue Passagiere aufgenommen. Die ersten werden, halb stehend, halb sitzend, in den schmalen Raum hinter der letzten Sitzplatzreihe verfrachtet, und die nächsten müssen stehen. Trotzdem zwingen sich auch hier immer wieder Verkäufer oder Bettler durch, genauso wie der Schaffner, der überall kassieren muss. Und dabei noch Fahrscheine verteilt. Den Kuli hat er hinters Ohr geklemmt.
Ich kaufe einen Obstsalat bei einer Verkäuferin. Am besten schmeckt die Wassermelone. Und man kann etwas Flüssigkeit aufnehmen, ohne zu trinken.
Es wird wieder leerer, und jetzt haben alle wieder einen Sitzplatz.
Inzwischen habe ich erfahren, dass unsere Endstation tatsächlich Comayagüela ist. Muss man nehmen, wie es kommt.
Dann kommt eine Mautstelle! Wir fahren auf eine Autobahn! Jetzt geht es zügig voran. Zum ersten Mal sehe ich Richtungsschilder, aber Entfernungsangaben gibt es nicht.
Langsam wird es städtischer am Rande der Autobahn. Links hängt über einem Wellblechverschlag Wäsche zum Trocknen raus, rechts an einem Abhang ein Friedhof, auf dem auf jedem, aber wirklich jedem Grab frische bunte Blumen stehen.
Dann kommen wir in die Stadt rein. Der Bus muss sich durch enge Straßen quälen, mit Essständen an den Seiten, mit qualmenden Feuerstellen. Das Fleisch ist so nah, dass man meint, es mit den Händen ergreifen zu können.
Dann bleibt der Bus stehen und setzt rückwärts in eine Halle ein. Wir sind da! Viereinhalb Stunden. Da kann man nicht meckern.
Nach der Einfahrt des Busses wird die Halle erst einmal wieder verschlossen, so dass man sich in Ruhe sammeln und den Koffer in Empfang nehmen kann.
Am Ausgang steht eine ganze Phalanx von Männern, die einem ein Taxi anbieten. Ich hole mein Notizbuch raus und lese, Zeile für Zeile, meine ellenlange Adresse vor. Irgendwann nicken sie, und dann hebt ein wildes Geschreie unter ihnen an. Es geht wohl darum, mit wem ich fahren soll. Am Ende werde ich mit einem der Fahrer zu seinem Taxi geschickt, einem weißen Taxi mit Registriernummer. Ich nenne ihm noch mal den Namen der Straße und frage nach dem Preis. 260. Viel zu teuer. Er geht auf 200 runter, und dann auf 180.
Zu uns steigt dann noch eine Passagierin aus dem Bus. Sie wird zuerst weggebracht. Das Taxi, ein Toyota, hat schon bessere Zeiten gesehen. Der Fahrer drückt ordentlich auf die Tube und macht ein paar gewagte Abbiegemanöver. Und verpasst keine Gelegenheit, zu hupen.
Wir setzen die Frau irgendwo ab und fahren weiter. Schön ist keins der Viertel, durch die wir kommen.
Ich habe Gelegenheit, nach dem Benzinpreis zu fragen. Hier wird, anders als in Guatemala, in Litern gerechnet. Der kostet so um die 25 Lempira, etwas mehr als ein Dollar.
Wir kommen in ein Wohngebiet. Plötzlich bleibt der Fahrer stehen. Wir seien jetzt bei Kilometer 2. Ja, aber wo ist die Straße, wo ist das Haus? Das weiß er nicht. Straßennamen haben einfach nichts zu bedeuten. Er lässt sich die Telefonnummer der Vermieterin geben, und als die nach unzähligen Versuchen endlich abnimmt, fahren wir die Straße ganz langsam runter und gucken dabei gebannt auf das Photo, das ich von dem Haus habe. Als wir vor einem Haus stehen und debattieren, ob es das richtige ist, kommt aus dem Nebenhaus eine freundlich lächelnde, pummelige Frau mit einem Schlüsselbund. Das ist die Vermieterin, Angela.
Es ist eigentlich noch zu früh, und in der Wohnung sind noch zwei Arbeiter, die mit Reparaturarbeiten beschäftigt sind, aber sie lässt mich rein. Das Schlafzimmer ist fertig, am Bad muss noch was gemacht werden, und in der Küche sind sie noch zugange.
Ich bin in einem etwas abseits gelegenen Viertel gelandet, einen Laden gibt es hier in der Nähe nicht, und ein Restaurant auch nicht. Sie bietet mir sogar an, mich am Abend irgendwo hinzufahren. Weist mich aber noch darauf hin, dass es hier unten an der Straße eine Pulpería gebe. Klingt nach Tintenfisch. Bezeichnet in Mittelamerika aber einen Minimarkt. Dort rüste ich mich mit dem Nötigsten ein und verschiebe alles andere auf den nächsten Tag.
9. November (Samstag)
Der erste Monat meiner Reise ist um. Über Mangel an Eindrücken kann ich mich nicht beklagen.
Aus gut informierter Quelle erreicht mich die Erklärung für den Dienstag als Wahltag in den USA: Am Sonntag ging man in die Kirche, am Montag reiste man an, am Dienstag wurde gewählt!
Ich gehe zu Fuß in die Stadt. Einen Kleinbus, der, ziemlich vollbepackt, an mir vorbeifährt, verpasse ich. Erst dachte ich, dass wäre ein Sammeltaxi, aber das ist der Linienbus. Bei den Taxis verstehe ich es bis zum Schluss nicht so recht. Manchmal sammeln sie einen am Straßenrand auf, dann ist es ein Sammeltaxi, und der Fahrpreis festgelegt. Wenn man aber ein freies Taxi anhält, um irgendwohin zu kommen, dann wird der Preis verhandelt, und meistens setzen die Taxifahrer dann ganz hoch an. Wie einer, den ich heute erwische, kurz bevor ich im Zentrum bin, dessen Dienste ich dann aber nicht in Anspruch nehme.
Heute gibt es nach langer Zeit ein Wiedersehen mit Chary. Sie wohnt in Santa Lucía, in den Bergen, einem Ort, der auch im Reiseführer angepriesen wird. Sie will aber in die Stadt kommen, an die Kathedrale, um sich mit mir zu treffen.
Es ist noch Zeit, und ich kann mir die Kathedrale in Ruhe ansehen. Sie ist groß, mit zwei Türmen und mit gebänderten Säulen an der Fassade, viermal im Doppelpack. Dazwischen Nischen mit geflügelten Figuren.
Vor der Kathedrale zwölf leere Podeste. Darauf standen ursprünglich die Apostelfiguren. Alles vom Hurrikan Mitch hinweggefegt.
Die Kirche hat trotz ihrer Größe nur ein Eingangsportal. Sie hat auch nur ein Schiff kein Querschiff. Dafür eine große Kanzel und Vorhänge und Galerien. Das sieht alles ein bisschen nach Gegenreformation aus, aber die Kirche ist jünger, stammt aus dem 18. Jahrhundert.
Als ich aus der Kirche komme, ist Chary noch nicht da, also sehe ich mich etwas auf dem belebten Platz um und schaue mir die Reiterstatue in der Mitte an. Plötzlich höre ich, wie ein paar Männer mich aus einiger Distanz anrufen und mit den Fingern auf den Boden zeigen. Ich brauche etwas, um zu merken, dass ich gemeint bin, dann drehe ich mich um und gucke auf den Boden. Dort liegt mein Handy! Ist mir aus der Tasche gefallen! Ich brauche etwas, um zur Besinnung zu kommen, dann gehe ich zu den Männern rüber, keine distinguierten Herren, eher Clochards. Mir ist ganz mulmig zumute, ich finde keine richtigen Worte, um mich zu bedanken, sage nur, dass ich das eine sehr schöne Geste finde und dass das keine Selbstverständlichkeit ist, und da sagen sie: „Para que vuelvas a Honduras – Damit du noch mal wieder nach Honduras kommst.“
Ich muss erst mal mit meinen Emotionen kämpfen, dann gehe ich zu einem Stand und kaufe fünf Erfrischungsgetränke und fünf Tafeln Schokolade und bringe sie ihnen. Als ich frage, ob ich ihnen noch was kaufen könne, sagen sie, sie könnten gut 50 Lempira gebrauchen. Die bekommen sie.
An dem Verkaufsstand hat man die ganze Sache mitbekommen und ruft mir Gringo zu, als ich wieder dran vorbeikomme. Ich sage, nix Gringo, woraufhin sie wissen wollen, woher ich käme. Ich lasse sie raten, und sie sagen auf Anhieb: „¡Alemania!“. Und dann, mit offensichtlich positivem Unterton „¡Hitler!“
Dann kommt Chary, sie hat mich in der Kirche gesucht, in der Vermutung, dass ich dort beten würde, um ein besserer Mensch zu sein.
Wir gehen einen Kaffee trinken, und ich erzähle die Geschichte mit dem Handy. Dabei bekomme ich feuchte Augen.
Sie fragt nach meiner Reise durch Honduras und muss lachen über meine vergeblichen Versuche, Türen und Zuckertütchen und Wasserflaschen aufzubekommen und über meine Verwirrung angesichts des Wortes pulpería.
Sie führt mich in einen Supermarkt. Sie meint, ich solle unbedingt Sodawasser trinken und kauft mir eine Dose. Dann zeigt sie mir ein Getränk in einer Flasche. Das sei jetzt ganz neu und der große Renner hier. Ich brauche etwas, um zu merken, was das ist. Es ist Eierlikör!
Wir gehen in eine Bank, haben aber keinen Erfolg. Wenn man hier Geld tauschen will, muss man ein Konto bei der Bank haben.
Wir steigen in ein Taxi und fahren aus der Innenstadt raus. Dabei passieren wir das Stadion, das Nationalstadion. Ich hatte bei mir in der Nähe ein Stadion gesehen, aber davon weiß sie nichts.
Wir steigen bei einem Einkaufszentrum aus. Dort gehen wir in ein Geschäft, in dem sie irgendein Haarpflegemittel sucht, aber nicht findet. Diese Art von Geschäft sei jetzt neu in Honduras, in Deutschland gebe es reichlich davon. Es ist eine Drogerie.
In einem Supermarkt kaufen wir Wasser, und als ich bezahle, bekomme ich zum ersten Mal überhaupt eine Münze beim Wechselgeld, eine golden leuchtende Münze mit dem Quetzal.
In dem Einkaufszentrum gibt es ein Gallo más Gallo. Sie besteht darauf, ein Photo von mir von dem Geschäft zu machen. Meine Frage zu dem Namen der Kette hat ihr gefallen. Jetzt weiß ich, dass es sich nicht um zwei Hähne handelt, sondern um einen Hahn, der ich ganz besonderem Maße Hahn ist, wobei sich Hahn hier auf das stolze Gehabe bezieht. Der Gallo más Gallo verkauft so ziemlich alles, was man sich denken kann, der Ursprung, erklärt sie, liege bei weißer Ware. Aber ich habe doch irgendwo in einem Gallo más Gallo Motorräder gesehen. Ja, auch die verkaufen sie.
Wir gehen in eine Bank. Hier hat sie ein Konto. Es ist alles ganz modern, nicht von einer modernen Bank in Europa zu unterscheiden. Wir müssen lange warten, und als wir dran sind, geht es mit vielen Komplikationen: Ausweis, Formular, Adresse, Telefon, Unterschrift. Aber ihre Mühe lohnt sich für mich. Hier bekomme ich 25 statt 23 Lempira für einen Dollar.
Wir gehen zum Parkplatz des Einkaufszentrums, und da steht ihr Auto! Clever gemacht, um sich nicht im Zentrum zu verirren und dazu noch hohe Parkgebühren zu zahlen, ist sie bis hierher mit dem Auto gekommen. Das Auto hat einen goldenen Chromlack, aber als ich das Wort Gold in den Mund nehme, bekomme ich eins auf den Deckel. Das Auto sei champagnerfarben!
Wir fahren los und kommen an der Werkstatt vorbei, wo sie ihren Ölwechsel machen lässt. Von der ist sie ganz angetan. Die Jungs dort seien chavo, und die ganze Werkstatt en ola. So lerne ich im Vorübergehen zwei neue Wörter.
Wir kommen auf eine Stadtautobahn, und aus dem Augenwinkel sehe ich, während ich ihr zuhöre, ein Werbeplakat: El cemento de todos los catrachos. Die catrachos, das sind die Honduraner, so wie die Guatemalteken chapines sind.
Wir kommen an der UNAH vorbei, der Universität. Wieder habe ich das Gefühl, dass die bei mir in der Nähe ist, aber das kann höchstens eine Unterabteilung sein. Wir sind in einer ganz anderen Gegend. Die Universität zieht sich gefühlte Kilometer an der Straße entlang. UNAH steht für Universidad Autónoma de Honduras, einer staatlichen Universität, deren Gründung ein großer Fortschritt war, denn sie war eben autonom und nicht von privaten Geldgebern abhängig.
Chary beherrscht die Konversation, lacht aber manchmal selbst darüber, wie sehr sie mich in Beschlag nimmt und wie ich – angeblich – zwischendurch abschalte. Sie siezt mich durchgehend. Muss wohl Respekt vor dem Alter sein.
Wir fahren zu einer Tankstelle. Hier wird man bedient. Es gibt irgendeinen Ärger zwischen ihr und der offensichtlich schlecht gelaunten Frau, die sie bedient. Am Ende wird der Tank nicht ganz voll gemacht. Der Preis wird hier in Litern berechnet, und das Benzin kostet ungefähr 1$ pro Liter.
Chary erzählt von einer wohlhabenden Freundin, zu deren Hauseinweihung sie eingeladen war, eine Villa, in die ihr Haus fünfmal reinpassen würde. Diese Freundin sei Millionärin. Dollar-Millionärin oder Lempira-Millionärin? Die Frage scheint ihr irrelevant. Millionärin eben. Wir machen uns trotzdem einen Spaß daraus, die Rechnung aufzustellen. Um Lempira-Millionärin zu sein, bräuchte man 40.000 $.
Wir kommen zur Basilika de Suyapa, einem Bau aus dem 20. Jahrhundert, der die Capilla de Suyapa ergänzt, wo die Statue der Virgen de Suyapa steht. Die Kapelle ist aber viel zu klein, denn die Virgen de Suyapa ist nicht nur die Patronin von Honduras, sondern – per päpstliches Dekret – die von ganz Mittelamerika. Die Basilika ist groß und hell und hat rundherum große, helle Glasfenster. Hier wird aus vollen Kehlen gesungen, mit Gitarrenbegleitung und Lautsprecherverstärkung.
Die Fahrt geht weiter Richtung Valle de los Ángeles. Wir bleiben an einem einsamen Stand am Straßenrand stehen, wo es Kokosmilch gibt. Die Frau nimmt eine Machete zur Hand und macht sich an zwei Kokosnüssen zu schaffen. Dann wird auf irgendeine Weise noch ein Loch gebohrt für den Strohhalm. Schmeckt gut, eher nach Wasser als nach Milch, ist sehr erfrischend. Der Kokosgeschmack ist nur ganz leicht wahrzunehmen.
Hier gibt es auch Benzin zu kaufen: Se vende gasolina steht auf einem verblassenden, handgeschriebenen Schild. Das Benzin ist in Flaschen abgefüllt. Das wird dann durch einen Trichter in den Tank eingelassen.
Chary kennt La Esperanza sehr gut, sie hat da jahrelang gearbeitet und Lenca-Frauen unterrichtet. Die seien ganz speziell gewesen, sehr liebenswürdig. Einige hätten den Kurs hinter dem Rücken ihres Mannes besucht. In der Öffentlichkeit gingen sie immer einen Schritt hinter ihren Männern. Die Lenca-Frauen, immer in ihren traditionellen Kleidern, seien immer ungeschminkt gewesen, hätten sich die Haare nicht gefärbt, hätten kein Deodorant benutzt und sich nicht die Körperhaare entfernt.
Weiter geht’s. Am Straßenrand werden Weihnachtsbäume angeboten. Das sind hier keine richtigen Bäume, sondern Rutenbündel, weiß eingesprayt, an denen dann die Weihnachtsdekoration aufgehängt wird.
Chary erzählt von Fujiyama, einem Japaner, der lange in den USA gelebt und dann Honduras für sich entdeckt hat. Er ist eine sehr beliebte Persönlichkeit hier. Ohne es recht zu wollen, ist er zu einem Influencer geworden, nachdem er zunächst nur Videos veröffentlicht hatte, um seinen Freuden in den USA und in Japan von seinem Aufenthalt in Honduras zu erzählen. Inzwischen generiert der Kanal so viel Geld, dass er es für karitative Zwecke einsetzen kann. Er hat sich vorgenommen, 1000 Schulen in Honduras zu gründen, inzwischen ist er schon bei 100 angekommen. Reiche Freunde in der Heimat unterstützen ihn, und er selbst läuft Marathons und Ultramarathons quer durch Honduras, um Spendengelder zu sammeln. Die neueste Nachricht ist die von seiner bevorstehenden Heirat – mit einer Honduranerin selbstverständlich.
Wir kommen nach Valle de los Ángeles, einem Ort, der einen guten Ruf hat, aber nicht hält, was er verspricht. Erst ganz zum Schluss, als wir zum Parque Central kommen, zeigt sich der Ort von seiner schönen Seite. Die Umstände sind etwas unglücklich. Wir verlaufen uns und wir kommen in zwei ordentliche Regenschauer und werden nass, und Charys schöne Schuhe werden schmutzig auf den nicht befestigten Wegen.
Sie macht viel Werbung für ein Lokal, in dem es Rindersuppe gibt, aber das hat geschlossen. Wir landen woanders, und hier bekomme ich meine ersten pupusas. Die schmecken gut. Alle Honduraner wissen, dass die pupusas eigentlich aus El Salvador stammen, aber alle vergewissern im Brustton der Begeisterung, die in Honduras seien besser. Chary bestellt anafre, eine Art Fondue für eine Person, in einem irdenen Ton mit Stövchen serviert.
Wir warten lange und kommen auf das eine und das andere zu sprechen, auch über das, was mit uns passiert, wenn wir nicht mehr da sind. Ich erfahre, dass Einäscherung in Honduras weiterhin beinahe tabu ist. Man muss die Leiche erst nach San Pedro Sula transportieren, nur dort dürfen Einäscherungen stattfinden. Dazu kommen die weiteren Kosten für eine Beerdigung. Sie fürchtet, dass sie sich das nicht alles leisten kann.
Beim Verlassen des Ortes geht sie in den Verkaufsraum eines Baustoffhandels. Sie will sich über die Dämmung des Dachs ihres Hauses erkundigen. Ihr Haus hat ein Satteldach. Ich reagiere etwas verblüff: Dämmung? Wegen der Kälte? Ja, auch wegen der Kälte, aber hauptsächlich wegen der Feuchtigkeit.
Weiter geht es nach Santa Lucía. Die Entfernungen sind doch weiter, als ich gedacht habe, aber jetzt gibt es wenigstens keinen Stau mehr.
Chary wohnt in einem kleinen Haus in einer schmalen Gasse ganz am Rande der Stadt. Das Haus ist ausgesprochen schön, mit Blumen und Schmuck an der Hauswand. Innen ist es noch schöner, sehr geschmackvoll eingerichtet, mit viel Holz und dicken, roten Backsteinen an der Wand. Unten sind das Schlafzimmer und eine Wohnung mit Küche, und der Blick auf die Berge gegenüber ist unübertrefflich. Oben ist eine Empore mit einem weiteren Zimmer. Die Empore erreicht man über eine hölzerne Treppe.
Tür und das Dach sind aus Eisen. Sie hätte lieber Holz gehabt, aber das würde die Feuchtigkeit nicht aushalten. Es habe jetzt sechs Monate lang geregnet, länger als jemals zuvor.
Das Haus liegt an einem Hang. Obwohl wir ebenerdig eingetreten sind, geht es von hier aus abrupt nach unten. Dort ist ihr „Garten“, beinahe eher eine wilde Plantage mit riesigen Bäumen, darunter Bananenstauden, Kokosbäume und Orangenbäume. Sie hat letztes Jahr kübelweise Orangen geerntet.
An einem der Bäume wächst barba de viejo, ‚Bart eines Alten‘, eine Flechte, die einem überall sofort ins Auge fällt. Scheint ein Schädling zu sein. Die Assoziation zu Haar hat man unmittelbar.
Chary zieht aus irgendeinem Korb eine verstaubte Flasche hervor. Die sei aus Deutschland, sie weiß aber nicht, was drin ist. Die Flasche hat die Form eines Schwerts. Ich sehe mir das an, aber auf dem Etikett ist kein einziges Wort auf Deutsch. Es ist armenischer Kognak!
Wir gehen zu Fuß in den Ort. Es wird allmählich dunkel, und man muss aufpassen, wohin man tritt. Als wir ankommen, ist es schon stockdunkel. Wir kommen an einen Weiher vorbei und steigen dann auf eine Aussichtsplattform.
Unterwegs verpasst sie keine Gelegenheit, mir den Namen der Lokale und Hotels zu nennen, die wir passieren, und die besonderen Qualitäten eines jeden zu preisen.
Oben ist alles erleuchtet, mit kitschiger Weihnachtsdekoration. Es gibt sogar schon eine Krippe, nur fehlt noch das Jesuskind.
Oben auf der Plattform kauft sie mir té zacate de limón. Das ist Zitronengras, wobei zacate ein ganz allgemeines Wort für Gras oder Unkraut zu sein scheint.
Als Gegenstück zu der kitschigen Beleuchtung sind viele Plätze sehr schön mit bunten Lampions beleuchtet. Immer wieder stößt man auf welche, ob man runter oder rauf guckt.
Wir kommen in ein Viertel mit schönen, aber nichtssagenden Aussprüchen an den Fassaden. Chary selbst zitiert einen besseren Ausspruch, von einer honduranischen Dichterin, La loca Juana oder auch Juana la Loca, wie die Königin. Porque en Honduras sólo se puede vivir enamorado, loco o a verga – Denn in Honduras kann man nur verliebt, verrückt oder betrunken leben.
Durch die dunkle Stadt gehen wir zur Kirche rauf. Chary bittet mich, etwas zu der Architektur er Kirche zu erzählen und hört andächtig zu. Und fragt mich, wem ich denn sonst alle diese Sachen erzählen könne, die ich weiß.
Zurück nach Tegucigalpa bringt mich der Sohn einer Freundin, der sich als Uber-Fahrer betätigt. Zum Freundschaftspreis macht er es deshalb aber nicht, aber er bringt mich bis vor die Haustür.
Er hat in Tarragona studiert und dort einen Abschluss gemacht, aber als er dabei war, seine Doktorarbeit zu schreiben, kam die Pandemie und das Stipendium wurde aufgekündigt.
Wir sprechen über Gott und die Welt und dabei auch über Politik. Ich erfahre, dass Honduras früher enge Beziehungen zu Taiwan hatte. Und dass Taiwan viele Projekte in Honduras förderte, vor allem im Bereich der Wasserkraft, wo Honduras großes Potential hat. Ein früherer Präsident hat dann aber die Beziehungen zu Taiwan zugunsten deren zur Volksrepublik China vernachlässigt und damit Taiwan verärgert. Seitdem liegt die Sache brach.
Er hat auch Irland besucht und ist voll und ganz begeistert von dem Land. In Deutschland ist er nicht gewesen, aber er mag Weißbier und deutsche Wurst. Und dann erspart er mir am Ende doch nicht die leidige Frage, mit der ich schon so oft konfrontiert worden bin: Stimmt es, dass man in Deutschland rohes Fleisch isst?
10. November (Sonntag)
Obwohl Sonntag ist, kommt als erstes eine Dampfwalze den Berg runter. Danach ein Sammeltaxi. Das nimmt mich mit, obwohl es voll zu sein scheint. Ich steige zu zwei schwergewichtigen Frauen hinten ein. Rausgelassen werde ich am Straßenrand, der Fahrer zeigt mit dem Finger in eine Richtung, da sei der Parque Central.
Als erstes sehe ich nach, ob meine Freunde von gestern da sind. Sind sie aber leider nicht.
In der Innenstadt sind alle Geschäfte geöffnet, und es herrscht genauso viel Betrieb wie an den Werktagen. Auch die Straßenhändler sind unterwegs. Die Litschis werden hier, ganz wörtlich, schubkarrenweise angeboten.
Ich gehe in eine Bäckerei. Hier gibt es Seniorenrabatt! Ich muss meinen Ausweis vorzeigen, und die Kassiererin notiert sich die Nummer auf der Quittung.
Auch hier ist ein Wachmann. Er trägt einen Patronengürtel. Er antwortet sehr höflich auf meine Frage nach dem Museo para la Identidad Nacional und geht mit mir vor die Tür, um mir den Weg zu weisen.
Ich komme in eine Fußgängerzone. Hier sieht es etwas besser aus als in den Straßen rund um den Parque Central. Und dann komme ich aus dem Getümmel in eine fast menschenleere schmale Straße mit zwei repräsentativen Gebäuden an den Seiten. Das rechte ist zweistöckig, und offensichtlich später aufgestockt worden. Hier ist das Museo para la Identidad Nacional. Der Eintritt ist kostenlos, aber wieder muss man seine Passnummer hinterlegen. In der Rubrik Herkunft soll ich einfach Extranjero eintragen.
In dem großen Gebäude verläuft man sich leicht, die Beschilderung ist nicht sonderlich gut.
Zuerst glaube ich, im falschen Museum gelandet zu sein. Denn hier gibt es nur moderne Kunst. Ich habe Geschichte erwartet.
Im ersten Saal lauter schöne Gemälde, zeitgenössische Kunst, in leuchtenden Farben, kunsthistorisch vielleicht um 150 Jahre verspätet. Besonders gefällt mir ein Bild mit bunten Booten am Strand. Schön ist auch eine alte Tür, gräulich, mit Farbnasen, die man im oberen Teil so belassen hat, wie sie ist, während der Künstler ihr unten rankende Blumen aufgemalt hat.
Dann wird es experimenteller. In einem Raum stehen lauter Figuren aus Pappmache, die wohl Engel darstellen sollen. An den Engeln aufgehängt sind verschiedenfarbige Bänder mit Sprüchen drauf, wohl Segenswünsche oder Bitten.
Auf einem Bild sieht man ein spiralförmiges Gebäude, in dessen Stockwerken nur ganz fein angedeutet Besucher zu sehen sind, die nach oben gehen. Das Bild heißt Perspectivas. Nicht schlecht. Jeder Besucher wird die Welt da draußen vermutlich irgendwie anders sehen.
Aus einer grünen Schale bricht ein rotes Objekt hervor, das aussieht wie eine getrocknete Tomate. Das Bild heißt La llama de Prometeo. Das ist also das Feuer, das Prometheus den Menschen geschenkt hat. Wofür er von den Göttern bestraft wurde. Das Feuer bricht die alte Welt auf.
Dann gelange ich aber doch noch in die erwünschte Abteilung. Die ältesten Objekte, die ausgestellt sind, gefunden in einer Höhle, der Gruta el Gigante, sind 12.000 Jahre alt. Von dieser Zivilisation ist wenig bekannt, aber man ordnet ihre Sprache als Vorläufer der heutigen Lenca-Sprachen ein. Woher weiß man das? Hat man die Sprache etwa entschlüsselt? Tatsächlich kommen in einem der Tongefäße Hieroglyphen vor, aber auf so einer schmalen Basis kann man eine Sprache kaum erkennen.
Auffällig sind bei allen Gefäßen anthropomorphe oder zoomorphe Formen. Ein Tongefäß hat Füße, die als Tierfüße ausgestaltet sind, und Henkel, die als Tierköpfe ausgestaltet sind.
Vom Material erfährt man in den Beschriftungen nichts, aber es gibt reichlich Unterstützung auf Computerbildschirmen. Ein Gefäß, das wie Keramik aussieht, ist aus Bronze. Irgendwie passt das nicht zu der Datierung. Das wäre Bronze vor der Bronzezeit.
Plötzlich sehe ich eine Mitra. Und dann Bücher, dicke Folianten, ledergebunden, und dann liturgische Geräte. Es dauert ein bisschen, bis der Groschen fällt. Man hat auf der rechten Seite amerikanische Exponate ausgestellt, auf der linken spanische. Und irgendwann vereinigen sich die beiden Spuren.
Auf der spanischen Seite finde ich eine Grubenlampe interessant, die man gar nicht als solche erkennt, die könnte auch ein amerikanisches Gefäß darstellen, das für rituelle Zwecke verwendet wird. Auch interessant Flaschen aus Eisen, in denen Quecksilber transportiert wurde. Das brauchte man zur Verschmelzung mit dem Silber.
Das auffälligste Ausstellungsstück auf der amerikanischen Seite ist eine Art Grabplatte, wohl aus Keramik, die Mascarón heißt. Ein kompliziertes Geflecht von Figuren und Symbolen, die man nicht auf den ersten Blick erkennen kann. Das Mascarón bedeckte das Grab der Ehefrau des ersten Gouverneurs von Copán. Es hat zwei zentrale Figuren, einen Quetzal und einen Ara. Aus ihren Schnäbeln guckt die Figur von K’innich hervor, dem Sonnengott. Oben ist ein Fries, der die himmlische Sphäre darstellt, unten eins, das die weltliche Sphäre darstellt. Rechts ein Krokodil in Aufwärtsbewegung, links eine Schlange in Abwärtsbewegung. Unten ein Kästchen mit Zahlen. Die beziehen sich auf das Neunte Baktum, die Zeit des Todes der Ehefrau des Gouverneurs.
Als ich weiter gehe, achte ich auf einmal auf die Musik, die aus dem Lautsprecher kommt. Es ist ein Lied mit dem Refrain Honduras sos Vos, Honduras soy yo. Zum ersten Mal stoße ich hier auf das vermeintlich argentinische voseo, das aber viel weiter Verbreitung hat, als man meint. Am nächsten Tag sehe ich an einer Lottoannahmestelle ¡Jugá aquí!, also die Befehlsform. Das Lied ist eine Lobeshymne auf Honduras, spricht von Wäldern, von Hügeln, von Flüssen, von Meeren, von der indianischen Vergangenheit, von der Dichtung und von Lempira. Im Refrain werden amor, Caribe y caramba, café, maíz y tambor genannt. Ein schönes, patriotisches Lied, aber ganz ohne Pathos, mit einem eingängigen Rhythmus. Der Nachname des Sängers lautet Anderson.
Schließlich gibt es noch einen Auszug aus dem Popul Vuh, dem großen Buch der Geschichten der Maya. Hier wird der Schöpfungsmythos nacherzählt. Zwei Götter mit unaussprechlichen Namen hatten die Welt erschaffen, aber sie waren nicht richtig zufrieden, sie hatten niemanden, der sie anbetete, die Tiere taugten dazu nicht, also schufen sie den Menschen. Die ersten Menschen waren aus Lehm. Aber dieser Versuch war untauglich. Sie konnten sich kaum auf den Beinen halten, und wenn es regnete, lösten sie sich auf. Die Götter machten dann einen zweiten Versuch, diesmal aus Holz. Das war schon besser, die Menschen vermehrten sich und bevölkerten die Erde. Aber sie konnten nicht denken, wussten nichts von ihrem göttlichen Ursprung und beteten die Götter nicht an. Also beschlossen die Götter, sie zu eliminieren. Das taten sie, indem sie eine Sintflut auf die Erde schickten. Beim dritten Versuch verwendeten die Götter dann Mais bei der Erschaffung des Menschen, unter anderem gelben Mais für das Fleisch und roten Mais für das Blut. Dieser dritte Versuch war perfekt gelungen. Die Menschen waren intelligent, konnten sprechen und denken und kannten ihren göttlichen Ursprung. Das ging den Göttern aber ein bisschen zu weit. Sie fürchteten, die Menschen könnten sie übertreffen und ihnen gefährlich werden. Also sandten sie eine neblige Flüssigkeit, um den Verstand der Menschen zu vernebeln, gerade genug, damit sie in ihren Erkenntnissen nicht an die Götter herankamen. Da ist genug Stoff zum Nachdenken drin.
Ich mache mich auf den Weg zum Ausgang. An der Rezeption frage ich nach der Abteilung zu der Zeit der Unabhängigkeit, und ich werde gefragt, ob ich denn die Computeranimation nicht gesehen hätte. Nein, hab ich nicht. Sonst hätten sie nichts zu dem Thema. Da gebe es zwei andere Museen, aber die sind sonntags geschlossen.
Ich gehe etwas verloren durch die Straßen, bin etwas unschlüssig. Irgendwann erwische ich ein Taxi, und nach einigen Verhandlungen erklärt sich der Fahrer bereit, mich zum Cristo del Picacho zu fahren und dort auf mich zu warten. Er erweist sich als eine gute Wahl, wir kommen in ein lebendiges Gespräch.
Der Fahrer heißt René, ist auch schon ein älteres Semester. Er ist gebürtig aus Tegucigalpa (das hier alle nur Tegus nennen). Er habe viele Veränderungen im Laufe der vielen Jahre erlebt. Zum Besseren oder zum Schlechteren? Er zögert ein bisschen und sagt dann: Zum Schlechteren. Unkontrollierter Zuzug von den Dörfern, keine Stadtplanung. Früher sei alles irgendwie übersichtlicher gewesen.
Tegus, erklärt er mir, bestehe eigentlich aus zwei Städten, durch den Fluss, den Choluteca, getrennt, nämlich Comayagüela und Tegucigalpa selbst. Ja, über den Fluss muss ich auf jeden Fall gekommen sein, meint René, als ich vom Busbahnhof zu meiner Unterkunft gefahren bin. Nichts davon mitbekommen.
Wir sprechen auch über Sicherheit und die Gefahren, die auf einen Touristen lauern können. Er sagt, man solle nie so einfach in ein unbekanntes Taxi steigen. Ohne zu merken, dass ich das gerade getan habe. Und wenn überhaupt, fügt er hinzu, in das eines alten Taxifahrers.
Er fragt nach Deutschland und nach der Einwanderung dort und wie es der Wirtschaft gehe. Und dann erklärt er, was ihm immer auffalle bei den Fußballspielern: Frankreich, Holland, Deutschland – alles Schwarze.
Wir passieren eine Pulpería, und ich erzähle ihm von meiner Verwirrung angesichts dieses Wortes. Er lacht, er kann sich gar nicht vorstellen, dass es etwas anderes bedeuten könne als das, was es bedeutet. Und fragt mich, ob ich wisse, warum die pulpería so heiße. Nee. Das Geschäft sei eben wie ein Oktopus mit seinen vielen Armen. Es greife nach überall hin, habe die verschiedensten Artikel im Angebot – im Griff sozusagen.
Wir kommen an meiner Unterkunft vorbei, und er gibt mir noch einen Tipp, was ich den Taxifahrern sagen kann, damit sie verstehen, wohin ich will.
Es geht weiter und weiter bergauf, und das alte Taxi hat seine liebe Not und Mühe. Dann kommt ein Platz in Sicht. Wir müssen Eintritt bezahlen, damit wir auf den Parkplatz dürfen. Wie selbstverständlich übernimmt er seinen Anteil selbst. Später muss noch der Parkplatz bezahlt werden, und ich muss noch mal zahlen, um die Christus-Statue zu sehen.
Ich mache mich auf den Weg. Es ist noch ein ganzes Stück zu gehen, durch einen großen Naturpark mit Spielplätzen, Picknickplätzen, Imbissstuben. Überall Kinderstimmen, Eltern mit Luftballons und allem möglichen Zubehör für eine Feier. Dies ist der klassische Ort für den Sonntagsausflug mit der Familie.
Je näher ich der Statue komme, umso leerer wird es, und als ich die letzte Hürde genommen habe, stehe ich alleine mit einer dreiköpfigen Familie unmittelbar vor der mächtigen Statue. Was für ein Unterschied zu Rio! Ein Unterschied ist aber auch, dass die Plattform vor dem Christus viel kürzer ist und man die Figur nicht so gut sehen kann.
Der Cristo del Picacho ist noch relativ neu, stammt von 1998, ist aber längst Teil des honduranischen Erbes geworden. Die Figur, aus grauem Beton, ist 20 Meter hoch und steht auf einem 10 Meter hohen Sockel. Im Gegensatz zu dem Cristo Redentor von Rio breitet dieser Christus nicht die Arme aus, sondern öffnet sie zum Betrachter hin. Erst auf dem zweiten Blick entdeckt man die Füße, ganz steil gestellt, mit Wundmalen. Sie gucken unter dem langen Gewand hervor.
Direkt unter dem Christus breitet sich die Stadt aus, alle Gebäude dicht an dicht. Man hat den Eindruck, hier ist kein Platz mehr frei. Im Kontrast dazu die grünen Hügel, die die Stadt auf allen Seiten umsäumen.
Als ich wieder zu dem Parkplatz komme, sehe ich Rene schon weitem mit den Armen wedeln. Wir fahren Richtung Stadt. Ich habe ihn gebeten, mich in ein Restaurant zu fahren, im Zentrum. Im Zentrum gebe es sonntags nur Fast Food, meint er. Wir fahren durch mehrere Viertel und dann über eine riesige, sechsspurige Straße, wo er mir unter anderem die amerikanische Botschaft zeigt. Wir kommen an einer Reiterstatue vorbei, ich tippe auf Morazán, aber diesmal ist es Bolívar. Der hat hier nicht dieselbe Bedeutung wie in Südamerika. Dann kommen wir noch am Mercado San Pablo vorbei. Dort könne man gut essen, aber der hat nur an Werktagen geöffnet.
Schließlich setzt er mich an einer großen Straße am Restaurant El Patio ab. Großer Saal, Holztische, rappelvoll, ganze Gesellschaften tafeln hier. Drei Musiker versuchen vergeblich, sich Gehör zu verschaffen. Am Eingang Holzfiguren, die verschiedene Völker von Honduras repräsentieren. In deren Hände liegen die Speisekarten. Alles ist ein bisschen auf typisch gemacht, ich komme mir etwas vor wie in einem bayerischen Bierkeller auf honduranisch. Die Kellnerinnen tragen traditionelle Kleider, schwarz, mit bunten Streifen, und auffällige Kopftücher. Irgendwann fällt mir ein Schriftzug auf, unten am Saum ihrer Kleider, einmal ganz herum. Dort steht pepsi-cola pepsi-cola pepsi-cola pepsi-cola.
11. November (Montag)
Als ich draußen am Straßenrand stehe, quält sich ein Radfahrer den Berg hinauf. Ich kann ihm gerade noch ein paar Anfeuerungsrufe hinterherschicken, als schon ein Sammeltaxi anhält und mich aufliest.
Im Zentrum sehe ich mir zuerst die Reiterstatue von Morazán genauer an. Es steht erhöht auf einem Sockel. Das Material ist Bronze. Das Pferd, mit geöffnetem Maul und gespitzten Ohren, scheint in gespannter Erwartung zu sein und setzt zum Galopp an, mit der erhobenen Vorderhand. Die Mähne und der Schwanz sind genau ausgestaltet. Morazán trägt hohe Reiterstiefel und einen Zweispitz. Die Uniform ist ein Geschenk aus Frankreich. Das hat lange Zeit dem Verdacht Nahrung gegeben, es handele sich gar nicht um Morazán, sondern um einen französischen General.
Von hier aus mache ich mich passenderweise auf zu seinem Geburtshaus, der Casa de Morazán, mitten im historischen Zentrum von Tegucigalpa gelegen.
Das Haus ist um einen Innenhof herum gebaut, der Arkaden auf zwei Seiten hat. Alles sehr großzügig. Er scheint kein Kind armer Eltern gewesen zu sein.
Erst nach einiger Zeit merke ich, dass das Haus rechts einstöckig, aber links zweistöckig ist.
Da es sich um ein Geburtshaus handelt, darf man keine neutrale Bewertung des Helden erwarten. Das wird deutlich bei einer Schautafel, die Morazán und Napoleon vergleicht. Napoleon hat für Frankreich und zum eigenen Ruhm gewirkt, Morazán nur fürs Vaterland, Napoleon hat alte Strukturen genutzt, Morazán hat neue geschaffen, Napoleon war Autokrat, Morazán Demokrat usw.
Persönliche Gegenstände sind kaum erhalten, auch keine Möbel, aber oben hat man einen großen Saal mit Möbeln der Epoche ausgestattet.
Dafür gibt es Porträts, Büsten und erstaunlich viele Gedichte, auch zeitgenössische, die Morazán zum Thema haben. Porträts gibt es in Zivil und in Uniform, alte und neue, sogar ganz experimentelle. Auf einer älteren Zeichnung sieht er aus wie ein spanischer Dressurreitet, in einer Karikatur hat er drei Gesichter, eins nach vorne, eins nach links, eins nach rechts. Sicher eine Anspielung auf seine vielen und vielfältigen Facetten, könnte aber auch für die meisten von uns gelten.
Es gibt Briefmarken, die ihn darstellen, aus Honduras, El Salvador, Costa Rica und sogar Chile. Und einige von ihm unterzeichnete Dokumente, eins davon wenige Tage vor seiner Hinrichtung verfasst. Da war er Präsident von Costa Rica!
Seine ganze Karriere ist mir weiterhin ein Rätsel. Wie konnte er militärisch so erfolgreich sein? Er scheint keine Militärakademie besucht und in keiner Armee als Soldat gedient zu haben. Auch als Jurist hat er gearbeitet, ohne ein Studium und ohne eine solide Schulbildung. Das meiste hat er sich selbst beigebracht, in der Bibliothek eines Onkels. Da las er über die Ideen der Aufklärung und der Revolution und erfuhr von den Unabhängigkeitsbewegungen in Lateinamerika, von der Unabhängigkeit Venezuelas und Ecuadors und von der noch früheren Unabhängigkeit Haitis. Da war er gerade mal 12 Jahre alt.
Auf jeden Fall wurde er zum bedeutendsten Politiker in ganz Mittelamerika. Er war zweimal Präsident der Zentralamerikanischen Republik, zweimal Präsident von Honduras, zweimal Präsident von El Salvador und einmal Präsident von Costa Rica! Was genau ihm zum Verhängnis wurde, wird nicht klar. Waren seine Ideen einfach zu fortschrittlich? Aber reicht das als Erklärung? Irgendwo heißt es, er sei kein bisschen kompromissbereit gewesen.
Das Wichtigste kommt gleich zu Anfang bei der Besichtigung. Da sieht man die heutige Nationalflagge von Honduras und die der Zentralamerikanischen Republik. Und die sind sich zum Verwechseln ähnlich! Die Einheit gilt also weiterhin als Ideal, trotz des Auseinanderbrechens der Republik. Und das gilt auch für die anderen Länder: Guatemala, El Salvador, Nicaragua, Costa Rica, alle haben wie Honduras die Farben Blau-Weiß-Blau! (Costa Rica hat zusätzlich noch einen roten Streifen). In der Flagge Nicaraguas erscheinen fünf Vulkane, und die stehen für die fünf Länder, genauso wie die fünf Sterne in der Flagge von Honduras. Und es geht noch weiter: In allen diesen Ländern ist der 15. September der Nationalfeiertag, der Tag, an dem 1821 der Vertrag über den Zusammenschluss unterzeichnet wurde!
Mein letztes Ziel ist das Museo de la Memoria. Schon das Gebäude, der ehemalige Präsidentenpalast, sticht aus allem aus der Umgebung hervor, neoklassisch und neugotisch, von einem italienischen Architekten erbaut, mit dem Eingang schräg zum Platz, bekrönt von einer Kuppel, die nach Jugendstil aussieht.
Der junge Mann an der Rezeption kassiert 10 $, ein kleiner Willkommensgruß für Ausländer. Er fragt, woher ich komme und sagt dann: „Deutschland? Deutschland ist wunderbar!“ Er hat ein bisschen Deutsch gelernt und träumt davon, in Deutschland zu studieren. Er hat auch schon einen passenden Studiengang gefunden, in Stuttgart, dort werden nur Grundkenntnisse des Deutschen verlangt, aber alle Studieninhalte sind auf Englisch. Hier in Honduras hat er bereits einen Abschluss.
Er ruft einen Mann herbei, der mich durch das Museum begleitet. Ein sehr netter, ganz ruhiger Mann, der im Laufe der Führung langsam Vertrauen fasst und auch persönlich nachfragt.
Ausstellungsgegenstände im engeren Sinne gibt es hier kaum, es sind alles Photographien und Schautafeln, und die vielen Daten und Fakten überfordern mich, aber ein grobes Bild bekommt man doch. Es wird deutlich, dass die neuere Geschichte von Honduras eine Geschichte von Gewalt, Kriegen und Aufständen ist. Den letzten Staatsstreich gab es noch 2009, den dritten innerhalb weniger Jahrzehnte.
Das Hauptaugenmerk scheint auf dem letzten Bürgerkrieg zu liegen. Darauf bezieht sich auch wohl der Name des Museums, das Gedächtnis soll wachgehalten werden. Dieser Bürgerkrieg fand statt in der Zeit zwischen den Weltkriegen. Er wurde ausgelöst durch einen Präsidenten, der das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen nicht akzeptierte und sich verfassungswidrig im Amt halten wollte.
Man sieht Bilder von schlecht ausgerüsteten Soldaten in weißen Anzügen, die für ein Photo posieren. Das waren die Rebellen. Eine Gruppe gehörte den Nationalen, eine andere den Liberalen an. Aus diesen Bewegungen entwickelten sich Partido Nacional und Partido Liberal, die heute noch die Geschicke Honduras bestimmen. Jetzt ist an deren Seite eine neue Partei getreten, Partido Libre. Der gehört die jetzige Präsidentin, Xiomara Castro, an.
Honduras war das erste Land in Lateinamerika überhaupt, das bombardiert wurde. Ausgestellt sind einige der Bomben, die auf Tegucigalpa fielen. Ausgestellt ist auch eine Exekutionsmauer, an der Rebellen hingerichtet wurden. Da läuft einem ein Schauer über den Rücken.
Man sieht auch ein Photo von grimmig aussehenden Rote-Kreuz-Schwestern in Uniformen mit Röcken, die bis zu den Knöcheln reichen. Sie müssen wichtige Arbeit geleistet haben. Es gab zum ersten Mal in der Geschichte von Honduras so etwas wie Versorgung von Verletzten und Verwundeten.
Dann gibt es Photos von Aufständen, Demonstrationen und Streiks, die in den verschiedenen Jahrzehnten zum Ziel hatten, bessere Arbeitsbedingungen, vor allem für die Bananenarbeiter, eine bessere Gesundheitsfürsorge und das Wahlrecht für Frauen durchzusetzen. Das kam nach langen Kämpfen erst 1955. Man sieht Protestierende auf Mauern und auf Schiffen stehen. Die Bananenarbeiter hatten bis zu den Aufständen keine Arbeitsverträge, einen miserablen Lohn und einen zwölfstündigen Arbeitstag, sechs Tage in der Woche.
Wir kommen ins Oval Office, dem bescheidenen Pendant zum Oval Office in Washington. Hier sind Objekte der Garifuna ausgestellt, einem Volk, das erst nach der Unabhängigkeit nach Honduras kam, aus Afrika, als Arbeiter auf den Plantagen. Es ist eine Trommel ausgestellt, und zu der erzählt mein Führer, dass eine ganze bekannte Melodie der Garifuna ein Trauerlied ist, das zu einem Feierlied umfunktioniert wurde.
Daneben liegt ein schlauchartiges Gerät, aus Kokospalmenblättern gefertigt, mit einer Öffnung an einem Ende. Das wurde, gefüllt mit Mais, am Haus aufgehängt. Später wurde der Mais getrocknet. Das hatte einen ganz konkreten Sinn: Der Mais, den die Garifuna verwendeten, war nämlich giftig, und durch diesen Prozess wurde ihm das Gift entzogen! Genial!
Wir kommen durch einen sonnenbeschienen Innenhof, von dem aus man einen der Türme des Gebäudes mit seinen Zinnen sehen kann, und dann treten wir oben auf eine riesige Terrasse, und dort ist er, der Choluteca, der mir so oft durch die Lappen gegangen ist. Auf der anderen Seite liegt bereits Comayagüela, der andere Stadtteil. Der Fluss hat ein breites Flussbett, ist aber nur zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Dass er einst schiffbar war, kann man sich kaum noch vorstellen.
Am Flussufer gab es früher eine Art Tiergehege. Das wurde von Hurrikan Mitch 1998 weggefegt, einschließlich der Tiere.
Als wir über die Terrasse gehen, sagt mein Führer, er frage sich immer, was die Deutschen wohl von Hitler hielten. Das ist die Art der Fragen, auf die man nicht vorbereitet ist. Ich versuche mein Bestes.
Dann holt der Mann einen 20-Lempira-Schein heraus. Auf dessen Rückseite ist genau dieses Gebäude, der ehemalige Präsidentenpalast, abgebildet.
Von der Terrasse aus hat man einen weiten Blick in die Ferne, Und da ist dann auch der Picacho mit seinem Christus, den man allerdings nur in großer Distanz sieht. Auf der anderen Seite ein weiterer Hügel, der Berrinche. Er war einst für die Aufstellung des Christus vorgesehen, aber es stellte sich heraus, dass der Hügel eine geologische Verwerfung hat. Das hatte zur Folge, dass die komplette Siedlung beim Hurrikan Mitch zerstört wurde. Daran erinnert eine große Inschrift, die in den Felsen eingelassen ist. Aber, was machen denn da die Häuser auf der anderen Seite des Berrinche? Ja, sagt mein Führer resigniert, da werde wieder gebaut, illegal, trotz der Gefahr. So sehr drückt die Wohnungsnot!
Wir kommen zum Ende dieser wirklich abwechslungsreichen Führung durch den Präsidentenpalast. Zum Schluss zieht der Führer einen Ast eines Baumes zu sich heran und pflückt eine strahlend gelbe Blüte. Sie hat einen angenehmen Geruch. Es handelt sich um Ylang-Ylang, eine Pflanze, deren Öl für die Herstellung von Parfum verwendet wird. So endet meine Zeit in Honduras mit einer aromatischen Note.