25. August (Mittwoch)
Was es da alles gibt: Marburg, Wetzlar, Gießen, Limburg – alles an der Lahn! Und dazu noch weniger bekannte Kleinodien wie Weilburg, Nassau, Diez, Runkel, wo dem gerade zu Welterbestättenruhm gekommenen Bad Ems ganz zu schweigen. Die Tour könnte zwei Wochen dauern oder mehr. Aber dann würde das Radfahren zu kurz kommen.
Der erste Tag „zählt“ nicht, er dient nur der Anreise, aber gibt einen Vorgeschmack auf die Strecke. Dass ich heute überhaupt vom Fleck komme, ist einem Zufall zu verdanken: Der Streik der Lokomotivführer endete heute Nacht um 2 Uhr, mein Zug ging um 7 Uhr! Das nennt man Glück! Und die Bahn zeigt sich von ihrer besten Seite: Alle vier Züge sind pünktlich, und trotz der knappen Umsteigezeiten geht alles glatt.
Der Morgen hätte schöner kaum sein können. Der von der Mosel aufsteigende Dunst vor den Weinbergen und den Strahlen der tiefstehenden Sonne, die sich das Scheinen von den Wolken nicht verbieten lässt. Zum ersten Mal merke ich, dass es hier auch Weinfelder gibt, vor allem in der Nähe von Bullay. Die erleichtern den Winzern die Arbeit gehörig.
Zum Lesen kommt man gar nicht, aus dem Fenster zu sehen ist einfach schöner heute. Nur nicht, wenn es durch die Tunnel geht. Darunter der vor Cochem, der längste Eisenbahntunnel Deutschlands. Jedenfalls war er das mal.
Von Koblenz aus geht es dann durch das enge Lahntal. Der Zug fährt meist gleich an der Lahn entlang. Von Radwegen ist nicht so viel zu sehen. Ich fahre jetzt die Orte in umgekehrter Reihenfolge ab, von Lahnsteig über Diez und Wetzlar bis nach Gießen und dann von dort bis nach Marburg: Sonnenblumenfelder, abgemähte Wiesen, Trauerweiden, Boote, bewaldete Hänge, eine Burg, noch eine, der Limburger Dom, Schrebergärten. Sieht alles idyllisch aus. Der Reiz des Lahntals besteht darin, dass es so eng ist.
Auf der Lahn gibt es keinen Frachtverkehr (mehr). Der letzte Frachter verkehrte 1981. Seitdem ist die Lahn ein Fluss für Ausflügler. Der Schiffsverkehr auf der Lahn war immer mühsam gewesen. Flussaufwärts wurden die Schiffe gezogen, aber es gab nicht überall Treidelpfade. Mühsam. Flussabwärts ging es leichter – sollte man meinen. Aber Niedrigstand, reißende Strömung an einigen Stellen, Eisbildung, Überschwemmung waren Hindernisse, genauso wie die vielen Zollschranken. Die zahlreichen Territorialherren konnten sich nicht einigen. Das änderte sich erst, als das ganze Lahntal grenzfrei in dem Herzogtum Nassau aufging. Die Ufernachbarn Preußen, Hessen und Nassau bauten 20 Schleusen und den einzigen Schifffahrtstunnel Deutschlands.
Die Gegend ändert sich, nachdem ich in Marburg in die Kurhessenbahn umsteige: Autohändler, Zementwerke, Schnellstraßen, Einkaufszentren. Von der Lahn nichts mehr zu sehen.
Eine aus dem Rahmen fallenden Station ist Villmar. Gleich am Bahnhof eine Lagerhalle mit dem Hinweis auf den „Lahnmarmor“. Der Unica-Bruch hier in Villmar ist der einzige noch erhaltene Steinbruch. Die anderen wurden der Natur überlassen. Hier wurde, vor allem in 19. Jahrhundert, polierfähiger Kalkstein, abgebaut, der Lahnmarmor, schillernder, geäderter, vielfarbiger Stein.
Jetzt komme ich doch noch zum Lesen. Und erfahre, dass Yoga und Joch miteinander verwandt sind und taufen und tauchen. Und das knesset das hebräische Wort für ‚Synagoge‘ ist. Das israelische Parlament tagt also in einer Art Gebetshaus. Dann lese ich noch, dass man die Bar-Mizwa bzw. Bab-Mizwa feiert, wenn man genau 13 Jahre und 1 Tag alt ist.
Die Nachricht des Tages ist der Tod von Charlie Watts. Die Rolling Stones erfüllen fast wörtlich die Prophezeiung, die man früher eher augenzwinkernd gemacht hat: „Die stehen auf der Bühne, bis sie tot umfallen.“ Charlie Watts behauptete, Mick Jagger so gut zu kennen wie kaum ein anderer. Schließlich habe er ihm 50 Jahre lang auf den Hintern schauen müssen. In der Rangliste des Rolling Stone wird Charlie Watts als der zwölfbeste Schlagzeuger aller Zeiten aufgeführt. So viele kenne ich gar nicht. Jedenfalls liegt er vor Ringo Starr. Das erinnert mich wiederum an ein Interview mit Paul McCartney. Er wurde gefragt: „Is Ringo Starr the best drummer of the world?” Worauf McCartney erwiderte: “He’s not even the best drummer of the Beatles.”
Als schon fast niemand mehr im Zug ist, kommt das Ziel, Bad Laasphe. Zu meiner Überraschung befinde ich mich hier in Nordrhein-Westfalen. Ich hätte auf Hessen oder Rheinland-Pfalz getippt. Das Autokennzeichen ist SI = Siegen.
Über die B 62, die Lahnstraße, geht es vom Bahnhof ins Zentrum. Es geht vorbei an der Lachsbachschule und an der Lachsbachapotheke. Kein Zufall. Laasphe hat was mit Lachs zu tun, der Name des Ortes ist von dem keltischen Wort für ‚Lachs‘ abgeleitet.
An der B 62 liegt auch das Radiomuseum. Später entdecke ich noch ein Pilzmuseum und einen Planetenlehrpfad.
Die Reise hat ein bisschen zu gut funktioniert. In der Pension ist noch niemand zu erreichen. Ich mache eine kleine Pause (wovon eigentlich?) an einem schönen baumbestandenen Rastplatz. Da stehen drei merkwürdige, kantige Holzfiguren hinter dem Ortseingangsschild Wallachei. Kreis Wittgenstein. Der Name Wittgenstein ist hier allgegenwärtig. Einer der Grafen von Wittgenstein machte die Siedlung Laasphe zu einer Stadt, und als später die Grafschaft Sayn-Wittgenstein geteilt wurde, wurde Laasphe zur Residenzstadt der südlichen Grafschaft.
Ich fahre in den Kurpark. Laasphe ist erst seit 1990 Bad Laasphe. Das ist kein Kurpark im konventionellen Sinne, eher ein Stück Natur als Park angelegt, hoch gelegen, und ganz einsam. Von ganz oben, von einem Kriegerdenkmal aus, sieht man in die Stadt hinunter.
Am Aufstieg zum Kurpark komme ich an einem Eisengitter vorbei, das einen Eingang in den Felsen verschließt, alles auf einem schattigen Waldweg, mit üppiger Vegetation. Ein Schild klärt auf, worum es sich handelt: einen Bierkeller! Und zwar einen im klassischen Sinne, einem Keller, in dem das Bier gelagert wurde. Hier war es so schön kühl, dass das Eis, das in dem Keller gelagert wurde, auch im Sommer nur ganz langsam schmolz und dabei langsam immer weiter in die Tiefe sank, so dass man stets eine konstante Temperatur von 8° halten konnte, die ideale Temperatur für die langsame Vergärung der Bierwürze. Ingeniös! Man ist den Menschen früherer Zeiten dankbar, dass sie sich mit so viel Liebe zum Detail der Entwicklung dieses wichtigen Kulturguts gewidmet haben.
Ganz in der Nähe des Bierkellers eine Gaststätte, die den Namen Bosch hat. Der taucht hier auch überall auf. Es ist der Name der lokalen Brauerei, in der elften Generation im Familienbesitz. Der charakteristische Schriftzug hat einen großen Wiedererkennungswert. Die Brauerei wurde ursprünglich von einem Bäcker gegründet und ist eine der ältesten Nordrhein-Westfalens.
Die B 62, vielbefahren und geräuschvoll, zerschneidet die Stadt, teilt sie in zwei Hälften und trennt den Kurort von der historischen Altstadt ab. Die Suche nach einem klassischen Café gestaltet sich schwierig, entweder geschlossen oder voll oder in einen Thai-Imbiss umgewandelt. Selbst in einem Café an der B 62, direkt beim Autolärm, gibt es keinen freien Tisch. Ich lande am Ende in einer Bäckerei in der wie ausgestorben wirkenden Altstadt.
In der Touristeninformation hat man mir ein Faltblatt mit einem Stadtplan mitgegeben, und hier kann man alles gut erkunden, weil viele der interessanten Orte bronzene Informationstafeln haben.
Das meiste konzentriert sich in der Königstraße, die sich hier etwas vollmundig Kö nennt, und den angrenzenden Straßen. Überall regiert das Fachwerk, nur am Anfang der Kö nicht. Das liegt an dem Stadtbrand von 1822, dem 12 Häuser zum Opfer fielen. Ist ja noch mal gut gegangen, könnte man fast sagen. Denn alles andere blieb erhalten. Charakteristischerweise wurde das Fachwerk, das als veraltet galt, irgendwann übertüncht und dann, in den neunziger Jahren, im Rahmen einer größeren Stadtsanierung, wieder freigelegt.
Unter den sehenswerten Häusern befindet sich eins mit zwei geschnitzten Weinkaraffen an einer Ecke, ein Zeichen dafür, dass es eine Schänke war. In einem anderen Wirtshaus, dem der Familie Bosch, wurde, wie es heißt, „rechtschaffenes Bier“ ausgeschenkt. Auch schön eine alte Schmiede und die alte Hofapotheke. Weniger auffällig ausgerechnet das alte Rathaus, schräg zu einem Platz hin gelegen. Praktischerweise befand sich in einem Anbau der städtische Weinkeller. Die Politiker wussten das Gute schon immer zu schätzen.
An der Kreuzung der Kö mit der Brunnenstraße stand einst der Brunnen, an dem sich die Bürger mit Wasser versorgten. Heute steht an der Stelle ein moderner Brunnen, mit Darstellungen, die an die Bedeutung des Brunnens als Viehtränke und zur Wasserversorgung und an Bürgerversammlungen im Rathaus erinnern. Ganz oben drei Jungen beim Lachsfang, wieder eine Anspielung auf den Namen der Stadt. Bei den Stadtfesten, heißt es, fließt statt Wasser das gute Bier von Bosch aus dem Brunnen.
Zum Schluss sehe ich mir noch die Kirche an, die Keimzelle der Stadt, an einem ruhigen, gepflasterten Platz etwas abseits der Kö gelegen. Der Grundriss ist irgendwie schief, und der mächtige quadratische Turm scheint an der falschen Stelle zu stehen, am Ende des Seitenschiffs statt des Mittelschiffs. Außerdem fehlt das andere Seitenschiff, die Symmetrie ist also den Bach runter gegangen. Das alles erklärt sich aus der Baugeschichte der Kirche. Das Seitenschiff ist nämlich die ursprüngliche Kirche. Romanisch. Mit Turm. Mehr gab es nicht. An ihre Seite trat dann die neue Kirche, gar nicht viel später entstanden. Gotisch. Nur blieb eben die alte Kirche bestehen und wurde jetzt zum „Seitenschiff“ der neuen.
Drinnen ist alles ganz einfach, evangelisch-reformiert. Der Altar ist nicht viel mehr als ein Tisch, und eine Kanzel gibt es nicht. Auch keine bunten Fenster. Die Ausnahme ist die riesige Orgel über der Empore im Westen.
Die Kirche ist niedrig, wirkt irgendwie gedrungen, aber hell, und die gemalten farbigen Verzierungen, zu allen Seiten gleich, können sich sehen lassen. Vorne, am Nordende des Chors, gibt es eine Loge. Die war den Grafen vorbehalten. Eher eine Loge zum Sehen als zum Gesehenwerden. Von den Plätzen der Gemeinde aus muss man sich schon den Hals verrenken, um da rein gucken zu können.
Der Raumeindruck des Seitenschiffs ist in Mitleidenschaft gezogen durch die Emporen, die auch hier eingezogen sind. Man steht unter deren Unterseite. Den Raum als einstige Kirche kann man sich nicht mehr vorstellen.
Jetzt habe ich mich lange genug umgeguckt. Die Pension muss bald öffnen. Aber als ich ankomme, macht keiner auf. Ich rufe an, und der Hauswirt erklärt mir, er sei im Moment nicht im Hause, aber er werde das für mich regeln. Mein Zimmer sei oben, im 2. Stock. Der Schlüssel stecke in der Tür. Und mein Fahrrad könne ich in der Garage abstellen. Nur: Wie komme ich rein? Er bittet mich um einen Moment Geduld. Er wähle sich jetzt gleich ein. Ich warte kurz, und plötzlich geht die Tür auf. Wie von Geisterhand. Mangelnde Modernität kann man der Pension nicht nachsagen.
Der Himmel hat sich inzwischen zugezogen. Für morgen ist schlechtes Wetter angesagt.
26. August (Donnerstag)
Das kleine Zimmer in der modernen, ein ganz klein bisschen außerhalb des Zentrums gelegenen Pension, ist so funktional wie die Zimmer in billigen Hotelketten, aber viel geschmackvoller eingerichtet, vom aufgerauten Putz der Wände über die Holzbalken an der Dachschräge bis zur Spiegelumrandung.
Die Lahn, habe ich gelesen, fließt durch drei Bundesländer und mündet nach 245 Kilometern in den Rhein. Sie ist damit der sechslängste Nebenfluss des Rheins. Welche sind größer? Mir fallen nur Main und Mosel ein. Aber auch die Neckar ist größer. Fehlen immer noch zwei. Und da sieht man, dass ich zu „deutsch“ gedacht habe. Die beiden anderen sind Aare und Maas!
Die Lahn har keine Quelle im engeren Sinne. Sie entspringt eigentlich nicht. Sie bildet im Untergrund eines kleinen Naturschutzgebietes Rinnsale, die zu einem Tümpel werden. Hört sich nicht so an, als müsse man da unbedingt hin. Deshalb fahre ich gleich von Bad Laasphe aus los.
Da die Pension etwas erhöht liegt, geht es mit Volldampf auf die erste Etappe. Die ersten 500 Meter sind die schnellsten der gesamten Tagestour.
Die Lahn überquere ich zum ersten Mal an genau der Stelle, wo ich gestern bei den Holzfiguren der „Walachei“ gehalten habe.
Dann kommt die unsägliche B 62, aber nur bis zu einem Kreisverkehr. Dort geht es rechts ab in eine Straße, die durch ein Industrieviertel führt. Auch nicht besser, aber immerhin weniger Verkehr. Bald kommt aber schon die Abbiegung nach links auf einen Feldweg. Wunderbar, ich bin allein mit mir und der Natur.
An mehreren Stellen gibt es ein Hinweisschild, auf dem Sonne steht. Das kann ich jetzt nur als sarkastischen Kommentar auf die aktuelle Lage verstehen. Von der Sonne ist nichts zu sehen, und es fallen die ersten Regentropfen. Ich ignoriere sie aber einfach. Mit Erfolg. Bald hört es auf zu regnen. Erst am frühen Nachmittag fallen wieder vereinzelte dicke Tropfen, aber auch das ist nur ein Strohfeuer. Auch wenn das nicht gerade ein passendes Bild für Regentropfen ist.
Nach vier Kilometern habe ich die Lahn schon dreimal überquert. Und es folgen unendlich viele weitere Überquerungen, noch mehr als letztes Jahr bei der Nahe.
Kurz danach sieht man links eine Art Mühlrad in der Lahn, ganz niedrig über dem Flussbett. Die Erklärung wird gleich mitgeliefert. Ist allerdings eher was für Menschen mit technischem Sachverstand. Da ist von Kupolofenbetrieb die Rede und von unterschlächtig und von Schlackensand. Laienhaft ausgerückt geht es wohl darum, mit der Schlacke, die beim Schmelzprozess des Gusseisens entsteht, noch was anzufangen. Denn die enthält noch mal wieder wertvolles Eisen. Im Wasser wird das Eisen aus der Schlacke herausgewaschen, sozusagen. Eine Art Recyclingprozess. Das nennt sich Schlackenpochen. Statt Pochen kann man auch Klopfen oder Stampfen sagen. Wieder was dazugelernt.
Bei km 5 muss ich zum ersten Mal aus dem Sattel, und kurz danach muss ich absteigen und schieben. Was meine Vermutung bestätigt: Flache Radstrecken gibt es nicht. Wer ist für das Absteigen verantwortlich? Das alte Ross oder der alte Reiter? Der Antwort darauf möchte ich lieber nicht ins Auge sehen.
Die Beschilderung ist gut, aber man kann es sich keinen Moment erlauben, unaufmerksam zu sein. An einem Kreisverkehr biege ich fast falsch ab, weil ich den Vorwegweiser falsch gedeutet habe, und als es ein kurzes Stück die Straße entlang geht, verpasse ich fast die Abbiegung auf den Radweg auf der anderen Straßenseite. Aber alles geht gut. Brenzlig wird es später einmal, als der Radweg gesperrt und keine Umleitung ausgeschildert ist. Alle Richtungen scheinen falsch. Ich fahre auf gut Glück weiter und komme auf eine breite Straße, ohne Randstreifen für Fahrräder. Aber dann kommt nach zwei, drei Kilometern wieder der Hinweis auf den Radweg und das Ziel: Gießen.
Der erste Ort, durch den ich fahre, ist Niederlaasphe. Dort gibt es noch einmal eine schöne Abfahrt. Selbst mit Bremsen fährt man hier locker über 30 km/h.
Die bevorstehende Bundestagswahl wirft ihren Schatten in Form von Wahlplakaten voraus. Die Partei macht durch Originalität auf sich aufmerksam: Mitten in einem verlassenen Waldstück plakatiert sie „Freies Internet hier!“. Und dann fordert sie „Schluss mit dem Plakatewahnsinn!“ Auf einem Plakat.
Der schönste Moment überhaupt kommt, als die Sonne plötzlich durch die Wolken bricht und die ganze Gegend hell bescheint. Ich fahre auf einem geraden Feldweg schnurstracks auf sie zu. Um mich herum Stille und üppige Vegetation.
Dann kommt Biedenkopf. Die Stadt liegt etwas abseits des Radwegs, überragt von der Landgrafenburg mit dem mächtigen Bergfried ganz hoch oben auf dem Felsen. Der Bergfried stammt aus dem Hochmittelalter. Der Palast daneben ist jünger und fällt vor allem durch seinen mächtigen Dachstuhl auf. Ein schöner Anblick.
Auf einer Schautafel lese ich, dass es hier eine mitten in der Lahn stehende Skulptur gibt. Sie liegt aber nicht am Radweg. Ich muss länger suchen und zweimal fragen, aber das ist mir die Mühe wert. An einer kleinen Krümmung der Lahn hat man die üppige Uferbewachsung gestutzt und den Blick auf die Skulptur freigelegt. Sie zeigt ein Kind, in gebückter Haltung, das im Wasser spielt. Es scheint auf der Wasseroberfläche zu schweben. Die Skulptur versöhnt symbolisch Mensch und Natur. Der Name der Skulptur, El Niño, weist aber nicht nur auf das Kind hin, sondern was wohl auch auf das Wetterphänomen und die durch den Menschen zerstörerisch gewordene Natur.
Nach einer kleinen Pause geht es weiter. Wieder geht es die ganze Zeit über asphaltierte Feldwege. Schön und leicht zu fahren. Wenn es mal ein Stück eine Straße entlang geht, folgt meist schon kurz darauf die Abbiegung auf den Radweg auf der anderen Seite.
Immer wieder hört man das Rauschen der Autos, einmal sogar von beiden Seiten, aber in gehöriger Entfernung. Und die Straße kommt kaum einmal zum Vorschein. Sie bleibt durch die Bäume dem Auge verborgen.
Die Lahn ist schön. Mal plätschert sie vor sich her, mal rauscht sie, mal fließt sie gemächlich vor sich hin, mal steht sie wie ein See. Was besonders schön ist: Sie ist ein richtiger Fluss, unregelmäßig in der Form, ohne Begradigungen an den Seiten. Manchmal hört man sie nur, weil sie sich hinter der wild wuchernden Vegetation der Uferböschung versteckt, manchmal merkt man sie gar nicht, bis irgendwo eine Sichtlücke entsteht. Ach guck mal, da ist ja die Lahn! Auch wenn der Radweg sie immer wieder mal verlässt, kreuzt sie kurze Zeit später wieder auf.
Hinter Biedenkopf gibt es noch mal einen langgezogenen Anstieg in den Wald hinein. Die Strecke entschädigt aber dafür.
In einem Ort mit dem schönen Namen Friedensdorf (hat mit Frieden wahrscheinlich genauso wenig zu tun wie Friedhof) steht ein altes Mühlenwerk in einem Bau aus dunkelroten Backsteinen.
Nach zwei Stunden komme ich nach Caldern, einem alten Bauerndorf mit hohen Häusern, Fachwerk über einem steinernen Erdgeschoss. Jetzt wäre eine Bäckerei für eine kleine Pause sehr willkommen. Aber es ist weit und breit nichts zu sehen. Ich komme ans Ortsende, und siehe da: eine Bäckerei! Eine Mühlenbäckerei. Die Mühle wurde schon 1399 erstmals erwähnt und ging dann in den Besitz eines Zisterzienserklosters und dann in den Besitz der Universität Marburg über. Sie wurde betrieben von „Universitäts-Erbleihmüllern“ betrieben, wie eine Schautafel erklärt. Was das ist, kann man sich nur ungefähr vorstellen.
Ich setze mich mit Kaffee und Croissant nach draußen auf eine Holzbank. Ein weiterer Radfahrer kommt und grüßt mich freundlich. Er war in derselben Pension in Laasphe. Er nimmt die Route Richtung Fulda und Weser. Scheint sehr fit zu sein, er will all das in wenigen Tagen absolvieren. Mit dem Streik hat er nicht so viel Glück gehabt wie ich. Er hatte eine Zugfahrkarte nach Würzburg am Dienstag. Die Fahrt fiel ins Wasser. Daraufhin hat er kurzfristig umdisponiert und ist zu Hause losgefahren, in Duisburg. Das nennt man Flexibilität.
Die Richtungsschilder für die Radwege lassen keinen Zweifel: Wir sind inzwischen in Hessen. Das Autokennzeichen ist MR = Marburg. Unter den vielen Hinweisschildern für Radfahrer befindet sich eins, auf dem Hochwasserumleitung steht.
Bei km 20 kommt mir zum ersten Mal ein Radfahrer entgegen, kurz nachdem ich gedacht habe: „Komisch, die ganze Zeit ist dir noch kein Radfahrer entgegengekommen.“
Auf der rechten Seite eine ganze Kolonie von Krähen, alle zu Gruppen geformt: Eine Gruppe sucht in dem frisch eingesäten Feld nach Samen, eine andere hat es sich auf der Stromleitung bequem gemacht, eine dritte fliegt aufgeregt flatternd durch die Luft, in eine bestimmte Richtung, als hätten sie was ganz Dringendes zu erledigen. Als Kontrastprogramm schwebt über mir ein Vogel mit großen Schwingen, die Flügel kaum bewegend.
Bei km 30 geht es auf eine Schotterpiste. Die Fahrt verlangsamt sich ein bisschen, aber der Untergrund ist fest und beeinträchtigt das Fahren ansonsten nicht. Ich muss an den Radfahrer aus Marburg denken, der gestern in der Bäckerei in Laasphe ankündigte, er wolle lieber über die Bundesstraße zurückfahren. Der Radweg sei ihm zu ruckelig und man müsse auch noch über einen Schotterweg fahren. Das ist Klagen auf hohem Niveau. Der Anteil an Schotterpisten ist so gering, dass er nicht weiter in die Waagschale fällt. Unebenheiten gibt es, einerseits durch kleine Risse im Pflaster, andererseits durch Flicken, die bei Ausbesserungsarbeiten entstanden sind, aber das trifft nur auf vereinzelte Stellen zu und beeinträchtigt das Fahren nicht sonderlich.
Ein Streckenabschnitt ist wie eine Autobahn für Radfahrer. Zwei Spuren, durch einen Grünstreifen getrennt. Allerdings fehlt die Überholspur.
Auf einem freien Feld muss ich an einem unbeschränkten Bahnübergang der Kurhessenbahn den Vortritt lassen. Die fährt nach Laasphe. Das ist der Zug, mit dem ich gestern angereist bin.
Danach wird die Natur etwas unansehnlicher. Es geht durch einige kleine Orte, die unter dem Namen Lahntal zu einer Gemeinde zusammengefasst worden sind.
Aber es gibt immer wieder Ausnahmen. Ein Streckenabschnitt führt an den Zugschienen entlang, mit bunten Feld- und Wiesenblumen am Rand. Nach einer Kurve kommt auf einer langgestreckten Wiese eine riesige Herde in Sicht, Schafe und Ziegen friedlich vereint. Die Schafe sind fast alle geschoren, aber nicht alle. Den Fröstepittern hat man ihren Pelz belassen. Es gibt braune und weiße Ziegen und schwarze und gescheckte und graue mit schwarzem Kopf. Alle, Schafe wie Ziegen, widmen sich einer einzigen Tätigkeit: dem Fressen. Die einzigen Ausnahmen sind ein paar Lämmer, die friedlich im Gras liegen und wiederkäuen. Hin und wieder antwortet auf den hellen Ruf eines umherirrenden Lamms der tiefe Ruf der Mutter. Von einem Schäfer ist weit und breit nichts zu sehen. Als ich weiterfahre, sehe ich ihn in gehöriger Entfernung auf einem Damm stehend, eine Zigarette in der Hand.
Bei km 45 kommt Cölw, eine größere Stadt mit Tankstelle, Sägewerk und Pizzaservice. Keine schöne Strecke, aber immer gibt es einen Radweg, gut von der Straße abgetrennt.
Dann kommen schon die Vororte von Marburg, hoch oben gelegen, während die Fahrt unten wieder an der Lahn entlang geht. Man sieht Ausflugsboote, und dann kommt das Panorama der Altstadt in Sicht, aufsteigend von links nach rechts die Elisabethkirche, das Rathaus (ein Haus mit Treppengiebel) und das Schloss. So erkläre ich es mir jedenfalls. Aber das scheint hinten und vorne nicht zu stimmen. Bei der Kirche scheint es sich eher um die Universitätskirche zu handeln, und das Rathaus hat, soweit ich das sehen kann, keinen Treppengiebel.
Marburg hat die älteste protestantische Universität überhaupt. Und ausgerechnet hier musste meine sehr katholische Schwägerin studieren. Und ihr Sohn erlebte hier den Höhepunkt seiner Laufkarriere, beim Marburger Nachtmarathon.
Bei Marburg denkt man an das Marburger Religionsgespräch, an die Universität, an Elisabeth von Thüringen, vielleicht noch an die Blista, die Blindenstudienanstalt, aber nicht unbedingt an Behring. Der aber wirkte in Marburg. Er bekam hier eine Professur für Hygiene. Er hatte sich bereits in der Infektionsmedizin profiliert. Nicht mit chemischen Mitteln, sondern mit körpereigenen Abwehrstoffen seien Bakterien zu bekämpfen. Das war der Beginn der Blutserumtherapie. Durch die ging die Kindersterblichkeit an Diphtherie zurück. Später forschte er über die Massenkrankheit Tuberkulose. Er bekam den ersten Nobelpreis in Medizin. Und gründete die Behrigwerke, die später zu einem Global Player in der pharmazeutischen Industrie wurden. Dabei waren seine Startchancen nicht gut: Er war das fünfte Kind eines mittellosen Dorfschullehrers und verlor neun Jahre Zeit als Militärarzt, um sein Studienstipendium zurückzuzahlen.
Ich will Marburg nicht links liegen lassen und schiebe mein Rad in die Stadt hinein – oder besser in die Stadt hinauf. Denn wenn es steil gibt, dann Marburg. Nicht umsonst gibt es hier einen Aufzug in die Oberstadt.
Dabei fällt mir das Ampelmännchen in den Blick, denn es ist keins. Hier reichen sich Mann und Frau die Hand und gehen gemeinsam über den Zebrastreifen.
Ein Optikergeschäft heißt Neusehland. Die Suche nach originellen Geschäftsbezeichnungen treibt tollt Blüten.
Rauf geht’s und immer weiter rauf. Irgendwie kämpfe ich mich bis zum Marktplatz hoch. Dort lasse ich das Fahrrad mit Gepäck stehen.
Am Marburger Rathaus ein Relief, das Elisabeth von Thüringen zeigt, eine mittelalterliche „Aussteigerin“. Ihr „Guru“ war Franziskus. Alles abgeben, sich um Arme und Kranke kümmern. Die Brüder ihres verstorbenen Mannes waren alles andere als begeistert. Hier, in dem Relief, trägt sie eine Krone. In einer Hand hält sie ein Modell der Elisabethkirche, der Kirche, die nach ihrem Tod für sie gebaut und nach ihr benannt wurde. Ihre Kleidung mit den vielen übereinandergeschlagenen Gewändern sieht nicht gerade praktisch aus. Ob sie eher auf Reichtum oder Armut hindeutet, ist nicht so leicht zu entscheiden.
Am Rande des Marktplatzes steht eine kleine Skulptur von Sophie von Brabant. Sie ist so etwas wie die Stammmutter des Hauses Hessen. Einer ihrer Nachfahren war Philipp der Großmütige, der schon früh die Bekanntschaft mit Luther machte und eine wichtige Rolle in der Reformation spielte. In seiner Ägide wurde das Rathaus vollendet. Er war verheiratet mit Christina von Sachsen. Mit der hatte er zehn Kinder. Das reichte ihm aber nicht. Er ging mit Margarete von der Saale eine Zweit-Ehe ein, eine morganatische Ehe. Aus dieser gingen weitere neun Kinder hervor. Philipp hatte, um auf Nummer Sicher zu gehen, Luther und Melanchthon um ihre Zustimmung zu der Ehe gebeten. Er begründete das damit, dass er drei Hoden habe.
Die Suche nach der Elisabethkirche gestaltet sich unerwartet schwierig. Sie liegt noch weiter oben. Da muss ich wieder hin, nachdem mich ein Postbote mit dem Aufzug nach unten geschickt hat. Die Kirche liegt fast außerhalb der eigentlichen Altstadt, am Fuße des Schlosses. Hallenkirche, dreischiffig, aus rotem Sandstein, mit zwei spitz zulaufenden Türmen. Reinste Gotik. Frühe Gotik. Sie gilt als die älteste gotische Kirche Deutschlands.
Ich begnüge mich mit einem kurzen Rundgang und setze mich dann in ein Café. Dort bekomme ich eine Waffel und einen Kaffee, der Tote wieder auferstehen lässt. Und schreibe schnell eine Postkarte, die es eilig hat.
Ich habe es auch eilig und mache mich wieder auf den Weg. Göttingen habe ich vorher links liegen lassen, und auch nach Wetter bin ich nicht abgebogen, aber dafür komme ich jetzt durch Weimar.
Um Weimar herum hohe Maisfelder. Die erinnern mich an die Tour an der Weser, wo sie meine ständigen Begleiter waren. Am Rande eines Maisfeldes steht ein Reh. Ich bleibe stehen, auf dem Radweg, in gehöriger Entfernung. Reglos. Es hebt den Kopf, spitzt die Ohren und nimmt Witterung auf. Und verschwindet in dem Maisfeld. Rätselhaft, wie es da überhaupt hineinpasst. Die Maisstängel stehen dicht an dicht und sehen hart wie Bambus aus.
Als ich mein Tagesminimum von 66 km erreicht habe, bin ich schon sechs Stunden unterwegs. Warum es so lange gedauert hat, kann ich mir nicht erklären. Die Strecke ist einfach zu fahren, und es lief ganz gut, hatte ich den Eindruck. Trotzdem machen sich erste Ermüdungserscheinungen bemerkbar.
An Eingang eines Ortes hat jemand am Feldrand seinen Heimtrainer deponiert. Es ist ihm wohl einfach zu viel geworden. Die Kraft hat einfach nicht mehr gereicht, nicht einmal zu einer konventionelleren Form der Entsorgung des Geräts. Passend dazu der Name des Ortes: Fronhausen.
Dann kommt Gießen. Über eine schöne, moderne Fußgängerbrücke geht es auf die andere Seite der Lahn. Auf dem Wasser zieht ein Einer seine Bahn, gefolgt von einem Zweier mit zwei jungen Ruderern, die versuchen, in die Spur zu kommen. Neben ihnen ein Motorboot. Von dem gibt der Trainer laute Anweisungen. Tatsächlich gelingt es den beiden, in die Spur zu kommen, und der Trainer macht sich auf den Weg, den Einer einzuholen, um ihm Anweisungen zu geben.
Gießen, eine betriebsame Stadt, kehrt der Lahn ihren Rücken zu. Im Zentrum ist von ihr nichts zu sehen. Ich fahre Richtung Zentrum und schiebe dann das Rad durch die Fußgängerzone. Nirgendwo ein Hinweis auf die Touristeninformation, und wen soll man fragen? Junge Leute geht gar nicht, die wissen nur, wo H&M ist. Ausländer auch nicht, für die ist durch die Gegend fahren und sich was ansehen keine Kategorie. Alte Frauen geht auch nicht, die sind desorientiert. Und so weiter. Man kann es den Leuten ansehen, ob sie Bescheid wissen. Und dann kommt die Richtige: Frau mittleren Alters, gut, aber leger gekleidet, Haar hinten zusammengesteckt, kleiner Rucksack auf dem Rücken. Die weiß es, denke ich mir. Und stimmt: Sie weiß es. Erklärt perfekt, und sieht mir dann noch nach, um sicherzustellen, dass ich in die richtige Straße abbiege. Ja, so ist das mit den Vorurteilen. Manchmal tut die Realität alles, um sie zu bestätigen.
Die Frau in der Touristeninformation führt ein privates Telefongespräch. Während sie mich warten lässt, vertraut sie ihrer Freundin an, manche Leute hätten eben einfach keine Sozialkompetenz.
Als ich dann an der Reihe bin, ist sie sehr hilfsbereit. Sie empfiehlt das City Hotel, nur ein paar Schritte entfernt. Ist gebongt. Bitte reservieren. (Bei der Gelegenheit erinnere ich mich daran, dass gebongt ein Verb ist, von dem es keine Grundform und wohl auch keine gebeugten Formen gibt, nur das Partizip!)
Das City Hotel ist altmodisch und verwinkelt, das Gegenteil von der Pension in Laasphe. Dafür teurer. Das Fahrrad wird unten im Hausflur abgestellt, ein Provisorium. Im Treppenhaus hängen Photos von Berühmtheiten, die hier abgestiegen sind, meist Filmschauspieler, glaube ich. Viele Gesichter kenne ich, aber ich kann keine Namen zuordnen.
Oben an der Rezeption ein Mann mit astreinem Deutsch, aber einem markanten fremdländischen Akzent. Römer. Mit einer Spanierin verheiratet. Deren Eltern ein spanisch-italienisches Paar waren. Er kam mit 17 nach Deutschland, um seine Schwester zu besuchen. Und ist bis heute geblieben. So spielt das Leben seine lustigen Streiche mit uns. „Seien Sie froh, dass Sie noch Rad fahren können“, sagt er. Recht hat er. Er war früher ein begeisterter Radfahrer, aber jetzt geht es nicht mehr.
Er nimmt genau auf, was ich zum Frühstück wünsche und notiert alles auf einem abgerissenen Zettel. Eigentlich ist mir alles egal, ob ich am nächsten Morgen Roggenbrötchen bekomme oder nicht, ist mir egal. Aber ich gebe bereitwillig meine Bestellung auf.
Da es immer noch nicht regnet, drehe ich noch eine kleine Runde um den Block. Vor dem Gebäude der Stadtwerke eine lange Schlange. Was wollen die nur? Ich frage die Letzte in der Schlange: Fahrkarten! Der August geht zu Ende, und es wird Zeit, sich die Monatskarten für September zu sichern.
In einem modernen Friseursalon steht am Schaufenster das Wort Friseur in den verschiedensten Sprachen: barber, barbeiro, peluquero, coiffeur, parrucchiere, κουρέας und парикма́хер, also eigentlich ‚Perückenmacher‘, ein Wort, das die Russen von den Holländern übernommen haben. Und das eigentlich gar nicht so weit von parrucchiere entfernt ist. Dazu weitere Wörter, in lateinischen Buchstaben oder in anderen Schriften, darunter ein Wort in einer fremden Schrift, bei der man nicht weiß, wo unten und oben und wo rechts und links ist. Ob der Friseur das weiß?
Die Sonne kommt raus, und ich setze mich auf die Terrasse eines Lokals und bestelle eine große Flasche Wasser. Eisgekühlt. Wunderbar. Dafür nehmen sie den stolzen Preis von 6,90 €! Ein Lehrbuchbeispiel für Profitmaximierung. Die Gewinnspanne dürfte bei 600% oder so liegen.
Ich nehme mir den Stadtplan vor, den mir die Frau in der Touristeninformation gegeben hat. Gießen wurde im Krieg schwer zerstört, es galt als Hochburg des Nationalsozialismus. Wenige historische Bauten sind übriggeblieben. Aber wenn man mehr Zeit hat, würde sich die Stadt trotzdem lohnen, vor allem wegen der Museen. Ich erinnere mich an das Mathematikum, eine Erfindung Beutelsbachers. Dahin bin ich mal gefahren, nur um zu entdecken, dass ich bei ganz simplen Aufgaben, die die Schulkinder neben mir spielend lösen konnten, immer wieder gescheitert bin. Im Alten Schloss gibt es ein Museum für Kunst und Kunsthandwerk, und als Kuriosität gibt es ein Gießkannenmuseum.
Vor allem gibt es aber das Liebig-Museum. Liebig wurde in Gießen Professor. Mit 21! Ohne Abitur! An allen Regularien vorbei bekam er auf Empfehlung von Alexander von Humboldt einen Lehrstuhl in Chemie. Mit 16 hatte er sich das chemische Wissen seiner Zeit komplett angeeignet. Er blieb 28 Jahre und verhalf der Gießener Universität zu internationalem Ruhm. 44 Nobelpreisträger kamen aus seiner Schule! Er war erfindungsreich, aber nicht geschäftstüchtig. Den Reibach machten andere. Sein Backpulver nahm einer seiner Schüler mit in die USA und später wurde es in Deutschland von Dr. Oetker in handlichen Tütchen vermarktet. Er erfand künstliche Muttermilch, von Nestlé als Kindermehl vermarktet. Auch mineralischen Dünger und den Silberspiegel erfand er. Der Silberspiegel war deshalb wichtig, weil er den Amalgamspiegel ersetzte, bei dessen Herstellung mit giftigem Quecksilber viele Heimarbeiter qualvoll starben. Das Backpulver hatte er erfunden, um die Versorgungslage der Soldaten und der Bevölkerung zu verbessern. Heute bleibt unter seinem Namen nur noch der Liebig-Fleischextrakt.
Neben Liebig ist auch Röntgen mit Gießen assoziiert. Er war zehn Jahre lang Professor hier. Auf dem Gießener Friedhof ist er zusammen mit seiner Frau begraben.
Ich drehe eine kleine Runde durch die Innenstadt, kleinstmöglicher Radius. Als erstes komme ich an der Beith-Jaakov-Synagoge vorbei, mit einer Inschrift in Hebräisch über dem Eingangstor, ein Zitat aus einem Psalm Davids. Die alte Synagoge war in der Reichskristallnacht zerstört worden. Dieses Gebäude wurde 1998 vollendet. Die ersten Juden nach 1945 kamen als displaced persons nach Gießen. Einige blieben. Später kamen vor allem Juden aus der Sowjetunion hinzu.
In unmittelbarer Nähe ein Haus mit einer Plakette. Hier stand das Geburtshaus von Wilhelm Liebknecht, einem der Gründer der Sozialdemokratischen Partei. Er stammte aus einer seit Jahren in Gießen ansässigen Gelehrtenfamilie. Nach der Revolution von 1848 musste er ins Exil gehen. Er ging nach London, wo er auch mit Marx und Engels zusammenarbeitete. Dass ihr Verhältnis später immer problematischer und der ideologische Graben immer breiter wurde, verrät die Tafel nicht.
Ich komme an der Stadtkirche vorbei, von der nur noch der Turm steht, quadratisch und kompakt. Hier ist das Stadtmuseum untergebracht.
Dann frage ich mich zum Alten Schloss durch, schon etwas außerhalb des heutigen Zentrums gelegen. Gleich daneben das Neue Schoss. Beide sind aus rotem Sandstein, mit schönen Renaissance-Giebeln, aber beide sehen nicht so alt aus, wie sie sein sollen. Vielleicht ist das heutige Aussehen das Resultat einer Restaurierung des 19. Jahrhunderts.
Zwischen den beiden Gebäuden, unter Bäumen, ein Kriegerdenkmal, eine ungewöhnlich zurückhaltende und nachdenklich machende Variante eines Kriegerdenkmals.
Das Neue Schloss, eigentlich ein Ensemble mehrerer Gebäude, beherbergt schon seit längerer Zeit Institute der Gießener Universität. Vor der gepflegten Rasenfläche stehen zwei moderne Bronzebüsten. Eine stellt eine Frau dar, deren Namen ich noch nie gehört habe, die andere Horst-Eberhard Richter, Psychoanalytiker und Sozialphilosoph. Ich erinnere mich an die Zeit, wo er in aller Munde war. Damals behauptete jeder, Die Gruppe gelesen zu haben. Er war einer von denen, die zu jedem aktuellen Thema Stellung nahm und auch dazu befragt wurde. Er kam schon 1962 nach Gießen und lehrte hier bis zu seiner Emeritierung 1991.
Meine letzte Station ist das Alte Schloss, heute Museum. Vor dem Gebäude eine ganze Reihe von Bronzebüsten. Sie sollen Persönlichkeiten ehren, die irgendwas mit Gießen zu tun hatten und dem „Forstschritt“ dienten: Büchner, Börne, Liebknecht usw. Büchner war allerdings von Gießen gar nicht begeistert. Er attestierte ihm „hohle Mittelmäßigkeit“. Aber er kam um Gießen nicht herum. Er musste sein Medizinstudium in Hessen abschließen. Befehl des Vaters, Gesetz des Landesherrn. Er war von Straßburg hierhergekommen und trauerte seiner Braut nach, die er dort zurückgelassen hatte.
Ganz vage nur noch erinnere ich mich an einen Germanisten in Münster, der sich ganz dem Werk Büchners verschrieben hatte. Eine clevere Entscheidung. Büchners Werk ist modern, von großer Bedeutung für die Literatur und vor allem – überschaubar. Er wurde nur 23 und hinterließ gerade mal eine Handvoll Bücher.
Jetzt gibt es nur noch eins. Zurück zum Hotel. Ausruhen ist angesagt.
27. August (Freitag)
Wollte man alle Mängel des Hotels nennen, würde eine ganz schöne Liste zusammenkommen, aber eins muss man sagen: Trotz der zentralen Lage war es sehr ruhig.
Das erste Ziel heute ist Wetzlar. Ich erinnere mich an die Zeit, als es heftige Diskussionen und viel Aufregung gab, weil Gießen und Wetzlar zu einer Stadt zusammengelegt worden waren, eine Stadt mit dem Namen Lahn. Autokennzeichen L. Nach all den Protesten musste das wieder rückgängig gemacht werden. Im Nachhinein sagen einige, dass die Zusammenlegung gar keine schlechte Idee war, aber rationale Argumente zählen nicht, wenn Volkes Zorn sich Luft verschafft.
Der Radweg nach Wetzlar ist schon am Markt in Gießen ausgeschildert. Wunderbar! Beschwingt mache ich mich auf den Weg. Man überquert eine große Kreuzung, und schon ist man an der Lahn. Der Radweg führt über einen breiten Spazierweg mit ebenem Untergrund direkt an der Lahn entlang. Perfekt! Aber ach, nach ein paar hundert Metern ist die Pracht schon wieder vorbei: Radweg gesperrt. Es geht auf einer Umleitung die Straße entlang, erst ohne, später mit Radweg. Man fragt sich, wie lange das wohl anhalten wird, aber nach ca. vier Kilometern kommt Entwarnung: Es geht auf den Radweg zurück.
Das erste Stück ist idyllisch. Viel Natur, Einsamkeit, die Lahn. Neben einer Stromschnelle hat man eigens eine Bootsgasse eingerichtet, damit die Freizeitkapitäne hier nicht baden gehen. Ganz in der Nähe ein Hochsitz der einfachsten Art, ohne Dach und Wände, nur aus einer Leiter und einer Bank bestehend.
Dieser Streckenabschnitt endet aber schon bald, ich muss mich eine hohe Brücke hinaufquälen, auf der eine Schnellstraße über die Lahn führt, und gleich danach muss ich die Schnellstraße unterqueren. Sie wird mir heute im Laufe der Tour treu bleiben. Ich werde sie so oft überqueren wie gestern die Lahn.
Der Weg ist etwas zerstückelt, kaum geht es mal eine längere Strecke geradeaus. Mal kommt man durch ein Wohnviertel, mal geht es an einer Zementfabrik vorbei, mal geht es unter einer Autobahnbrücke mit einer unendlichen Reihe von Pfeilern her. Aber die Strecken direkt an der Lahn entschädigen dafür.
Den Pferden auf der Koppel hat man Decken übergelegt. Verständlich. Es ist herbstlich kühl, und dazu gesellt sich immer wieder für kurze Zeit heftiger Wind.
Vor Heuchelheim geht es für eine kurze Strecke auf eine Schotterpiste, dann geht es der Straße entlang, auf einem Radweg, der von der Straße durch einen Grünstreifen voller Kornblumen getrennt ist.
Immer wieder gibt es einen Anstieg. Nichts für die Bergwertung, aber genug, um mich aus der Puste zu bringen.
In Heuchelheim gucke ich ständig in die Luft. Vergeblich. Was ich suche, kann man hier gar nicht finden, denn ich habe Heuchelheim und Wetzlar verwechselt. In Wetzlar über den Hügeln befindet sich das, was ich hier gesucht habe, ein modernes Gebäude in Form eines Kamera-Objektivs und eines Fernglases, eine Anspielung auf die Leica, die lange hier produziert wurde, von Ernst Leitz auf der Leipziger Messe präsentiert und dann in Serie hergestellt. Die handliche Leica M revolutionierte die Pressephotographie und begründete den legendären Charakter der Leica-Kamera. Die größten Photographen des 20. Jahrhunderts benutzten sie. Die Leica war die Marke schlechthin, trotz des Preises. Dennoch musste die Firma in die Insolvenz. Sie wurde dann von einem Investor aufgekauft, der das moderne Gebäude schuf. Dort tüfteln nun 650 Mitarbeiter an der Weiterentwicklung.
Heuchelheim, daher die Verwechslung, hat auch was mit der Photographie zu tun. Hier befindet sich in einem ehemaligen Backhaus ein Kamera-Museum. Das hat seinen Grund. Hier wurde früher die Minox hergestellt, die erste Kleinstbildkamera der Welt, von Walter Zapp erfunden. Kleiner als eine Zigarre, leichter als ein Feuerzeug, robust, mechanisch einwandfrei. Die Kamera machte Furore, wurde weltweit bekannt durch die James-Bond-Filme. Sie wurde auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs zu einem begehrten Objekt für Spione. Laut Zapp war das das einzige Einsatzgebiet, an das er bei der Herstellung der Kamera nie gedacht hatte! Zapp wurde in Riga geboren und starb in Basel und wurde fast 100 Jahre alt.
Dann kommt Wetzlar. Wieder ist der Radweg gesperrt, wegen einer Großbaustelle an einer Brücke. Ich schiebe mein Rad etwas orientierungslos durch die Gegend, mit dem Versuch, in die Altstadt zu gelangen. Irgendwie komme ich um die Baustelle herum und dann in die Fußgängerzone, eine gesichtslose Straße mit Ramschläden und Baustellen, die sich unendlich lang hinzieht. An deren Ende geht es über eine Kreuzung. Von der Altstadt ist immer noch nichts zu sehen.
Dann kommt ein Hinweis auf den Radweg. Es geht an der Lahn entlang, dann über die Lahn, über eine Fußgängerbrücke. Rechts von mir sehe ich auf die alte Bogenbrücke über die Lahn, noch älter als die von Limburg, vielleicht die älteste überhaupt über die Lahn. Es muss überall lange Fährverkehr gegeben haben.
Ich stehe vor dem Dom. Aber auch unter ihm. Die gesamte Altstadt liegt weit oben, völlig abgetrennt von dem kommerziellen Zentrum. Ich schiebe das Rad die Kopfsteinpflasterstraße rauf. Es ist so steil, dass ich drauf und dran bin, aufzugeben.
Kurz vor dem Domplatz sehe ich links die Bebelstraße. Ja, es ist ein komischer Zufall. Liebknecht wurde in Gießen, Bebel in Wetzlar geboren.
Dann kommt der Domplatz. Ich setze mich in ein Café und bestelle einen Kaffee. Dunkle Wolken ziehen auf, und es wird noch etwas kühler.
Der Domplatz ist ein großer, unregelmäßiger Platz mit einigen schönen Häusern, darunter die schräg zum Platz stehende Hauptwache und, am anderen Ende, ein Ensemble barocker Häuser, alle unterschiedlich, aber miteinander verbunden und mit derselben Geschosshöhe.
In den Dom kommt man durch das Seitenportal im Süden. Es gibt eine Reihe von Skulpturen mit der Madonna in der Mitte. Unter ihren Füßen ein Teufel, der eine andere Person, mit einer Zipfelmütze wie die der Mainzelmännchen bekleidet, umschlingt hält. Es ist ein Jude! Das Mittelalter hatte seine gepflegten Vorurteile.
Der Dom ist eine Hallenkirche aus rötlichem Sandstein, ein stilistisches Sammelsurium aus Romanik, Gotik, Renaissance und Barock, leider heute wegen der dunklen Wolken nicht sehr hell.
Der Dom war Deutschlands erste Simultankirche. Das kam so: Das Reichskammergericht wurde nach der Eroberung des katholischen Speyers durch die Franzosen hierher verlegt, nach Wetzlar, das lange gar keine katholische Kirche hatte. Also teilte man sich die Kirche. Heute sieht man es noch im Eingangsbereich an zwei Informationstafeln: Evg. Kirchl. Nachrichten und Kath. Kirchl. Nachrichten. Es gibt auch zwei Altäre, einen einfachen am Anfang des Chors und einen aufwändiger gestalteten in der Mitte. Könnte auch damit zu tun haben.
Wieder draußen, sehe ich mir noch die Westfassade an. Sie ist zum Teil eingerüstet, und ganz kann man es nicht erkennen, aber es sieht so aus, als gebe es gleich zwei Fassaden, die eingerüstete und eine daneben, und die liegt merkwürdigerweise erhöht, also kommt man durch sie gar nicht ins Innere. Was das wohl zu bedeuten hat?
Ich mache mich wieder auf den Weg. Diesmal ist der Lahnradweg schnell zu finden, und die dunklen Wolken haben sich auch wieder verzogen. Der Weg ist wie gehabt, mal so, mal so, aber ich komme heute viel mehr in Berührung mit Autoverkehr und Schnellstraßen als gestern.
Dann kommt Solms. Hier gibt es am Rande des Radwegs eine Beachbar. Ist heute irgendwie nicht so gut besucht.
Es geht aus Solms hinaus, und als ich noch im Kopf habe, dass hier Gertrud, Elisabeths Tochter, ein ganzes Leben lang gewirkt und ihr Lebenswerk vollendet hat, holt mich die aktuelle Wirklichkeit wieder ein: Radweg gesperrt. Großbaustelle.
Ich folge dem Umleitungsschild. Es geht steil bergauf, und bald muss ich wieder schieben. Sehr mühsam. Dann kann ich wieder ein Stück fahren, dann muss ich wieder schieben. Dann gabelt sich die Straße. Das Umleitungsschild ist verschwunden. Rechts, bergab, geht es nirgendwo hin, nach links, steil bergauf, zeigt ein Schild einen Radweg an, aber ohne Richtungsangabe. Und ich weiß nicht, ob es der Lahnradweg ist, der hat hier oben doch nichts zu suchen. Ich lasse mich trotzdem darauf ein. In unendlichen Windungen führt die Straße bergan, aber es will einfach nichts in Sicht kommen, was nach einem Ort aussieht. Auch nach unten hin sieht man nichts. Ich gebe auf und fahre zurück, an der Gabelung diesmal rechts. Jetzt geht es wenigstens schnell voran. Als ich unten ankomme, stehe ich plötzlich vor der Baustelle und einer breiten Straßensperre. Links führt aber ein kleiner Weg weiter. Wieder geht es steil bergauf, wieder muss ich schieben. Ein ganzes Stück. Ich merke, wie die Kräfte nachlassen, vor allem aber, wie die Motivation nachlässt. Dann erreiche ich ein Plateau und kann wenigstens wieder fahren. Weit und breit kein Schild, kein Mensch, kein Haus. Ich habe das Gefühl, dass die Richtung stimmen müsste, aber ich weiß auch, dass ich mich auf meinen Orientierungssinn nicht verlassen kann. Wieder sehe ich am Ende des Weges, auf dem ich bin, eine Straßensperre. Bin ich in einer Sackgasse? Aber unten kommt wie aus dem Nichts ein Auto. Ich fahre in die Richtung und entdecke einen Weg, den ich von oben nicht gesehen habe. Durchfahrt verboten, aber ich tue, was das Auto getan hat und ignoriere das Schild. Dann kommt die Schnellstraße in Sicht. Ich fahre parallel zu ihr, in einiger Entfernung. Die Baustelle habe ich immer noch nicht hinter mir gelassen. Der Weg nähert sich immer mehr der Schnellstraße an, und da, wo er auf sie stößt, an einer Kreuzung, gibt es einen Radweg mit Hinweisschild: Limburg. Ich bin richtig!
Kaum bin ich auf dem Radweg, kommt wieder ein Anstieg auf eine Brücke, ich bin mal wieder an der Schnellstraße, deren Verkehr mir entgegenkommt. Dann geht es zur Abwechslung noch mal unter der Schnellstraße her. Aber dann löst sich der Radweg von ihr, und es geht ein paar Kilometer lang gut weiter. Sogar die Sonne kommt zwischendurch zum Vorschein. Sofort bin ich wieder in besserer Stimmung.
Aber ein größeres Hindernis kommt noch. Der Radweg mündet in eine viel befahrene Straße ein, die an dieser Stelle die Autobahn überquert. Das Schild nach Limburg zeigt nach links. Aber da ist kein Radweg zu sehen. Wo soll man entlangfahren? Muss wohl der ganz schmale abgetrennte Streifen auf der anderen Seite sein. Bei dem vielen Verkehr kommt man kaum auf die andere Straßenseite. Ich schiebe das Rad den Streifen entlang, aber der ist dann plötzlich zu Ende. Ich hebe das Rad über die Barriere und will so geschützt von dem Verkehr weiterkommen. Aber am Ende der Brücke ist Schluss. Ich muss wohl was falsch gesehen haben. Vielleicht zeigte der Pfeil ja nach rechts statt nach links. Ich schiebe das Rad wieder an der Barriere über die Brücke entlang zurück und komme wieder an meinen Ausgangspunkt auf der anderen Straßenseite. Sieht so aus, als müsste man einfach über diese vielbefahrene Straße nehmen, um über die Brücke zu kommen. Einen abgetrennten Radweg gibt es hier nicht. Etwas mulmig ist mir dabei angesichts der Autos schon, aber ich komme gut an das andere Ende und dann wieder auf einen richtigen Radweg.
Dann kommt Selters, die „Quelle des guten Geschmacks“. Hier geht es hin und her und runter und rüber, aber danach ist der Radweg bis Weilburg wieder erträglicher.
Weilburg ist eine ehemalige Residenzstadt, die ihren Status als Residenzstadt rechtzeitig verlor, um keine größere Umgestaltung oder gar Zerstörung mehr zu erleiden. Und tatsächlich, sobald man den Radweg verlässt, präsentiert sich das wirklich schöne Panorama der Stadt, mit der Landseite des langgezogenen Schlosses und anderen Gebäuden. Das hat nur ein Manko: Die Altstadt liegt ganz weit oben auf dem Felsen, hoch über der Lahn auf der anderen Seite. Wieder ist Schieben angesagt, wieder so steil wie in Wetzlar. Ich muss mich richtig ins Zeug legen, um das Fahrrad den Weg in die Altstadt hinaufzubugsieren. Aber die schönen, geschmackvollen Häuser der Altstadt und das Fehlen von Kitsch und von aufdringlichem Touristenkommerz entschädigen dafür.
Ich kämpfe mich, am Schloss vorbei, bis zum Marktplatz rauf, einem großen, rechteckigen Platz mit schönen, repräsentativen Häusern zu allen Seiten. Aber viel mehr als einen Blick habe ich nicht für die übrig. Brechts „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Kultur“ kommt hier voll zum Tragen. Es gibt verschiedene Lokale zur Auswahl. Am Ende lande ich bei Poseidon und einer sehr schmackhaften, sehr schön präsentierten Moussaka.
Ich lasse das Schloss Schloss sein und mache mich wieder auf den Weg, gestärkt und in guter Stimmung wegen des wieder aufklärenden Wetters und wegen der Aussicht: Die Strecke zwischen Weilburg und Limburg gilt als das Filetstück der Strecke.
Zurecht. Kaum aus Weilburg heraus, kommt man auf einen schmalen Radweg direkt am Ufer der Lahn. Keine größere Straße quert den Weg. Schöner geht’s nicht. Auch die Paddler haben diese Strecke für sich entdeckt. An einigen Stellen wimmelt es nur so von Paddelbooten. Die meisten Paddler sind offensichtlich ungeübt und rufen den anderen im Boot und den anderen in den anderen Booten laute Warnungen zu, um Kollisionen zu vermeiden.
Der Radweg ist sehr schmal, und bei Gegenverkehr muss man schon etwas aufpassen, um Kollisionen zu vermeiden. Irgendwann kommt eine Biegung und man wird von der Lahn weggeleitet, auf einen Weg den Eisenbahnschienen entlang, in einiger Distanz zur Lahn. Später geht es wieder runter, ganz nah am Fluss entlang. Die Gegend ist einsam, hier ist kein größerer Ort in der Nähe, und es kommen mir auch kaum noch Radfahrer entgegen.
An einer Stromschwelle steht auf einem Stein ein schöner Graureiher. Ganz konzentriert sieht er ins Wasser auf der Suche nach Beute. Ich bleibe stehen, um ein Photo zu machen, genauso wie eine entgegenkommende Radfahrerin, mit der ich kurz ins Gespräch komme.
Mein Tagessoll von 66 km habe ich inzwischen überschritten, und es wird Zeit, nach einer Unterkunft zu suchen. Einen Moment lang hatte ich überlegt, in Weilburg zu bleiben. Das wäre vielleicht vernünftig gewesen. Denn die Kräfte lassen nach, und jetzt fängt es auch richtig an zu regnen.
Der nächste Ort ist Villmar, aber bis dahin ist es noch ein Stück. Dort will ich nach einer Unterkunft suchen. Unterwegs wirbt eine Pension aus Villmar auf auffälligen blauen Plakaten für sich, die Telefonnummern habe ich mir notiert, und als der Ort endlich in Sicht kommt, versuche ich es dort. Unter den ersten beiden Telefonnummern kann ich niemanden erreichen, aber unter der dritten wohl, nur um zu erfahren, dass die Pension ausgebucht ist. Die Frau gibt mir die Nummer einer anderen Pension, die könnten noch freie Plätze haben. Aber auch die ist ausgebucht. Die Frau am anderen Ende der Leitung empfiehlt mir, weiterzufahren, nach Runkel, nur noch vier Kilometer.
Runkel liegt an einer Lahnkrümmung, inmitten eines Felsentals, mit einer hohen Lahnbrücke. Spektakulär. Schon von weitem sieht man die Burg auf dieser Seite der Lahn, und dann die zum Schloss umgebaute Burg auf der anderen Seite der Lahn. Die Burgen sind das Resultat von militärischen Auseinandersetzungen und Familienfehden der Runkeler Grafen. Durch eine Gemeindereform erhielt Runkel weitere Stadtteile und mit ihnen ein weiteres Schloss, das der Grafen von Diez.
Die vier Kilometer von Villmar bis Runkel sind mir lang geworden, und am Ortseingang finde ich keine Hinweise auf eine Pension, nur auf Lokale. Allmählich wird mir etwas mulmig.
Ich fahre über die Brücke auf die andere Seite der Lahn und dann in den Ort hinein. Der ist, wie ja kaum anders zu erwarten war, hoch gelegen, und ich muss mal wieder schieben. In der Distanz taucht ein grünes Schild auf: Pension. Ich klingele, und der Wirt hat eine gute Nachricht: Er hat ein Zimmer frei. Und einen Abstellplatz für das Fahrrad. Er ist ein nicht unfreundlicher, aber etwas bärbeißiger Mann, der mein Aussehen und die Strecke, die ich hinter mich gebracht hat, mit trockenen Kommentaren versieht.
Die Pension ist komplett aus der Zeit gefallen. Ein großes Zimmer mit einer kitschigen Einrichtung. Schummrige Beleuchtung. Erst auf den zweiten Blick merke ich, dass es im Bad kein Waschbecken gibt. Das ist im Schlafzimmer, wie früher. Der Einstieg in die Dusche ist hoch, das Wasser wird nicht warm, die Handtücher sind kratzig. Internet gibt es natürlich nicht. Die Antwort auf meine Frage danach an den Wirt fällt so aus, als er wolle er sagen: „Diesen neumodischen Quatsch brauchen wir nicht.“ Egal. Immer noch besser, als unter einer Brücke der Lahn zu schlafen.
Am Abend fallen mir bei der Lektüre bald die Augen zu. Ich erinnere mich aber noch an ein paar Details: Der Buchstabe <t> war ursprünglich der letzte im Alphabet. Alle anderen sind spätere Hinzufügungen. Seine Grundform war ein einfaches Kreuz. Dieses „Kreuzzeichen“ ist eins der einfachsten, ältesten und elementarsten der Welt. Seine besondere Position hatte das <t> also nicht umsonst.
28. August (Samstag)
Als ich die Pension verlasse, merke ich erst, dass sie unmittelbar unter dem Felsen liegt, auf dem die Burg steht, ein grauer Felsen, der sich schroff nach oben zieht, hoch wie ein mehrstöckiges Haus.
In dem Moment, wo ich aufs Rad steige, fängt es an zu regnen. Von der Pension aus kann man gleich weiterfahren, woher man gekommen ist, die Dorfstraße hinauf. Der Radweg führt an der Pension vorbei. Ich mache aber noch einen kleinen Abstecher zu der alten Brücke über die Lahn und sehe mir das Panorama an.
Dann geht es weiter. Man ist sofort wieder auf dem Radweg direkt an der Lahn. Ich stelle mir vor, wie schön das erst einmal bei gutem Wetter wäre. Aber es ist trotzdem schön: der aufsteigende Dunst, die Regentropfen auf der Wasseroberfläche, die Sonne, die, schon ganz hoch stehend, fahl hinter den Wolken durchscheint.
Ein Mann mit Hund macht geht zur Seite und lässt mich vorbeifahren. Er ist nicht der erste. Auf der ganzen Fahrt begegne ich fast nur rücksichtsvollen Hundebesitzern. Als ich vorbei bin, ruft der Mann mir hinterher: „Was machst du denn mit der Maske?“ Lachend drehe ich mich um und winke ihm zu. Ich habe vergessen, die Maske abzunehmen.
Dann kommt schon Limburg. Aus der Distanz sieht man über den Wipfeln der Bäume nur den spitz zulaufenden Vierungsturm des Doms, nicht das ganze Ensemble der Türme. Das hat auch seinen Reiz. Etwas später kommt dann das gesamte Ensemble der Türme zum Vorschein, aber nicht die klassische Ansicht von Westen, sondern von Süden. Eine ganz andere Ansicht.
Nach Limburg will ich nicht reinfahren. Es regnet weiterhin, und ich will erst einmal ein paar Kilometer schaffen. Ich fahre aber kurz auf die alte Brücke. Hier kommt der Dom zum dritten Mal zum Vorschein, diesmal ist es die klassische Ansicht.
Auf der einen Seite der Brücke steht ein Brückentorturm, einer der ältesten Deutschlands, ein quadratischer Turm, der ursprünglich auf der Gegenseite ein Pendant hatte. Solche Brückentürme hatten verschiedene Funktionen: Bollwerk gegen Angreifer, Getreidelager für den Notfall, Dienstwohnung, Gefängnis. Der erhaltene Brückentorturm stand lange leer. Bis ein ehemaliger Stadtverordneter von Limburg sich nach langen Auseinandersetzungen mit der Stadt das Recht erstritt, dort zu wohnen. Der Turm ist jetzt also Altersruhesitz. Ich mache ein Photo von der Stadtseite aus, und beim Zurückfahren sehe ich, dass an der Seite des Turms tatsächlich ein Briefkasten angebracht ist: „Bitte keine Werbung!“ Es gibt auch einen Straßennamen: Inselweg. Nicht der erste, dem ich auf der Fahrt begegne. Ist sonst ja nicht so ein gängiger Straßenname. Was es wohl damit auf sich hat?
Hinter Limburg kommt eine Schotterpiste, aber die ist bald zu Ende. Kein Hinweisschild mehr. Geradeaus gibt es einen schmalen asphaltierten Weg, der zwar nicht viel Vertrauen einflößt, den ich aber der Einfachheit halber nehme. Ich lande im Parkhaus vom Kaufland. Im Untergeschoss. Bei der Ausfahrt auf der anderen Seite endet der Weg.
Ich fahre zurück, und bleibe etwas ratlos an einer Straßenkreuzung stehen. Ein Mann spricht mich an und fragt, ob er helfen könne. Ein Pole. Wortreich und freundlich erklärt er mir den Weg. Dziękuję!
Ich folge seinen Anweisungen. Die Richtung müsste stimmen, aber der Lahnradweg ist das nicht. Es ist eine breite Straße mit breitem Radweg. Irgendwann stoße ich auf zwei andere Radfahrer. Die sind auch vom Weg abgekommen. Wir fahren ein kleines Stück Richtung Limburg zurück und kommen dann wieder nach ein paar Windungen auf den Lahnradweg.
Die kurze Distanz bis Diez zieht sich hin. Wieder muss ich schieben, nicht nur einmal.
Der Weg entfernt sich etwas von der Lahn, führt an Feldern vorbei. An einer Stelle sind zu beiden Seiten Strohrollen aufgestellt, Dutzende davon, mal weiter voneinander entfernt, mal in kurzer Folge. Ein schönes Ensemble. Könnte als moderne Kunst durchgehen.
Diez ist ein schönes Städtchen, jetzt noch ganz verschlafen. Wenn man auf den Ort zufährt, kommt als erstes die mächtige Burg zum Vorschein, hoch über der Stadt. Aber da braucht man Gott sei Dank nicht rauf.
An einer Ecke, schon kurz vor dem Marktplatz, steht eine auffällige Skulptur: ein Afrikaner auf einem Fahrrad! Sie ist Ergebnis einer Initiative der Bürger von Diez. Die haben es durch Spenden afrikanischen Künstlern ermöglicht, Skulpturen für Diez zu schaffen. Die Künstler kommen aus Simbabwe. Sie arbeiten kaum mit Skizzen, sondern versuchen, aus vorgefundenem Material etwas zu machen. Das sieht man hier besonders gut an den Rädern. Die sind aus einem anderen Material als der Rest der Skulptur und nicht ganz vollständig, sehen aus wie ein abgebrochener Mühlstein. Jede Skulptur, das ist die kunsttheoretische Vorstellung, ist bereits im unbehauenen Stein vorhanden. Das ist allerdings keine besonders originelle Idee. Könnte auch von Michelangelo stammen. Aber die Skulptur gefällt mir richtig gut, sie kommt als „exotisches“ Element in diesem lieblichen Ort an einem verregneten Morgen besonders gut zur Geltung. Und dass sie ausgerechnet einen Radfahrer darstellt, hat natürlich seinen besonderen Reiz.
Kurz dahinter befindet sich der ebenso reizvolle, kleine Marktplatz, mit schönen Häusern zu allen Seiten. Besonders auffällig das Alte Rathaus, ein dreistöckiges Fachwerkhaus mit schönen Verzierungen, das über Eck verläuft.
Auf der Tafel zur Erklärung des Marktplatzes mache ich eine Entdeckung: Die alten Fachwerkhäuser wurden früher nicht unbedingt verputzt, weil sie nicht mehr gefielen. Der Grund war mal wieder das Geld: Die Brandversicherung für Fachwerkhäuser war besonders hoch!
In der Mitte des Platzes steht eine Brunnenfigur aus rotem Sandstein, einen Mann darstellend, der mühsam einen Sack durch die Gegend trägt, der Säcker. In alten Zeiten verdienten sich die Einwohner von Diez ihr Geld, indem sie beim Beladen und Entladen der Lastkähne halfen. Da fast alle waren in Säcken transportiert wurden, erhielten sie diesen Namen. Bis heute noch heißen die Einwohner von Diez Säcker.
Hinter der Figur steht ein Gasthaus, mit dem Namen Nassauer Hof. Das hat seinen Grund. Die ursprünglichen Grafen von Diez waren nämlich schon gegen Ende des Mittelalters ausgestorben. Ihre Burg fiel an die Nassauer. Einer aus der Linie, Johann Wilhelm Friso zu Nassau-Diez, beerbte Wilhelm III., den englischen König (aus dem Haus der Oranier) als Statthalter der Niederlande. Es kam zu einem Konflikt mit Friedrich I. von Preußen. Die Angelegenheit zog sich hin, Friso verstarb in der Zwischenzeit. Aber sein Sohn, Wilhelm IV., errang dann offiziell den Titel Fürst von Oranien. Die Geburtsstunde der niederländischen Monarchie. Nicht umsonst ist Diez in den Sommermonaten voll von Holländern. Es ist wie eine Pilgerstätte für sie.
Noch einen schönen optischen Anreiz bietet die Brücke über die Lahn, über die es wieder aus der Stadt hinausgeht, mit einer Trauerweide, deren Zweige sich fast bis auf das Kopfsteinpflaster hinabsenken. Dahinter kommt fahles Licht zum Vorschein. Daneben, in einer kleinen Einbuchtung der Brücke, noch ein afrikanischer Radfahrer. Er scheint vom Rad zu fallen.
Hinter Diez zeigt sich die Lahn noch mal von ihrer allerschönsten Seite. Es geht zwischen bewaldeten Hügeln her, es sprießt auf allen Seiten, Vogelstimmen in der Luft, Geruch nach Gras. Die Bäume und Sträucher auf beiden Uferseiten spiegeln sich wie kleine Kunstwerke im Wasser. Es ist einsam, nur ein vereinzelter Jogger kommt mir hin und wieder entgegen. Man fährt immer direkt an der Lahn entlang, und dann fährt man unter den Ästen der Bäume her, die sich zum Wasser neigen. Vielleicht der schönste optische Eindruck der gesamten Tour.
Inzwischen hat es aufgehört zu regnen. Als ich nach Balduinstein komme, ist es 11 Uhr. Ich habe die ersten 30 Kilometer hinter mit.
Balduinstein hat einen Bahnhof. Und um den geht es. Auf einer Karte des Lahnradwegs wird empfohlen, von Balduinstein nach Laurenburg den Zug zu nehmen, um sich die einzige ernsthafte Steigung des Radwegs zu ersparen. Entgegen der Radfahrerehre entscheide ich mich, das zu tun. Genug geschoben in den letzten Tagen.
Auf dem Bahnhof bin ich auf der richtigen Seite, Richtung Koblenz, aber hier gibt es keinen Fahrkartenautomaten. Der ist auf der anderen Seite, wie mir ein wartendes Ehepaar erklärt, die einzigen Passagiere. Ich fahre zurück, über die Bahngleise, und mache mich an dem Fahrkartenautomaten zu schaffen. Zwei Fahrkarten werden benötigt, Geldscheine werden nicht akzeptiert. Es dauert. Als ich fertig bin, geht die Schranke runter. Der Zug nach Laurenburg ist weg. Der nächste fährt täglich außer samstags. Just my luck.
Zum Glück öffnet gerade die River Bar, nicht viel mehr als ein Kiosk, aber mit ein paar Plätzen unter großen Sonnenschirmen ausgestattet, heute eigentlich als Regenschutz aufgestellt, dicht an dicht. Aber es hat aufgehört, zu regnen, und die Sonne kommt sogar raus, wie die freundliche Bedienung erstaunt feststellt. Ich bin der einzige Gast, und wir unterhalten uns angeregt über die Strecke und über das Wetter und über das Radfahren. Ich bestelle ein Mineralwasser und einen Kaffee und dann, weil immer noch Zeit ist, ein Radler, mit naturtrübem Bier, dem Allgäuer Büble. Schmeckt gut. Und man soll ja viel trinken.
Als ich dann das Rad auf den Bahnsteig schiebe, ist der schon rappelvoll. Lauter Radfahrer. Ich stehe ganz am Ende des Bahnsteigs und sehe meine Chancen schwimmen, überhaupt mitzukommen. Tatsächlich gibt es einige Aufregung, als der Zug kommt, aber wir verteilen uns am Ende auf die beiden Radabteils des kleinen Zugs. Die Bahn hat vorgesorgt. Der Zug fährt aber nicht ab, weil der Lokomotivführer auf einer Rettungsgasse besteht. Unter der Anleitung von zwei umsichtigen jungen Männern, die uns, ohne aufdringlich zu sein, umdisponieren, schaffen wir es am Ende, die Rettungsgasse zu bilden. Obwohl alleine in unserem Abteil dreizehn Fahrräder sind.
Die Fahrt dauert nur sechs Minuten. Die Fahrkarten werden nicht kontrolliert. Das hätte ich mir also ersparen können.
In Laurenburg geht es an einer Kreuzung nach Katzenelnbogen, aber ich fahre in die andere Richtung, ein Stück die Straße entlang, dann wieder auf den Radweg, nach Obernhof. Hier gibt es das Hotel am Goetheberg. Der ist wirklich nach Goethe benannt. Der befand sich hier auf Wanderschaft, von Wetzlar nach Ehrenbreitstein. Er berichtet in Dichtung und Wahrheit selbst davon. Er litt unter Liebeskummer, wegen Charlotte Buff. Und wollte sich in der Natur ablenken. Auch an seiner Zukunft als Dichter hatte er seine Zweifel. In einem Anfall, von ihm „Grille“ genannt, warf er sein schönes Taschenmesser in die Lahn, „gewaltsam nach dem Flusse hin“. Und schloss mit sich selbst eine Wette ab: Würde er das Messer in den Fluss sinken sehen, dann würde er eine Zukunft als Dichter haben. Wenn nicht, wenn das Messer durch die überhängenden Weidenbüsche verdeckt sein würde, dann nicht. Am Ende sah er nur eine Fontäne hochspritzen. Das deutete er als schlechtes Omen.
In Wetzlar hatte er Charlotte, „Lotte“, kennengelernt, als er dort Rechtspraktikant war. Es war Liebe auf den ersten Blick. Aber nur für ihn. Sie schätzte seine Gesellschaft, erwiderte aber seine Gefühle nicht. Und heiratete einen anderen, Kestner. Die beiden bekamen auch immerhin 12 Kinder. Charlotte war eins von 16 Kindern gewesen, von denen 12 überlebten. Mit der Erfahrung des Liebeskummers war eins der Motive des Werthers schon vorhanden. Das andere lieferte auch Charlotte Buff, unfreiwillig. Kestner war nämlich derjenige, von dem sich Jerusalem, Karl Wilhelm Jerusalem, die Pistole lieh, mit der er sich das Leben nahm, in Wetzlar, aus Verzweiflung über eine unerwiderte Liebe. Goethe erfuhr davon durch einen Brief Kestners und machte sich an die Abfassung des Werthers. An Jerusalem erinnert heute das Jerusalemhaus in Wetzlar.
Um Obernhof herum sehe ich zum ersten Mal Weinlokale. Aber: Wo wächst der Nahewein? Auf der ganzen Strecke habe ich keinen Weinberg gesehen, immer nur bewaldete Hänge. Und Burgen. Dabei liegt das Weinanbaugebiet Nahe unter den 13 deutschen Weinanbaugebieten genau in der Mitte, wenn man nach der Größe der bewirtschafteten Fläche geht, hinter Franken und vor dem Rheingau. Wo haben sie den Wein hier versteckt? Es bleibt ein Rätsel. Das größte Weinanbaugebiet in Deutschland ist Rheinhessen (nicht, wie ich dachte, Pfalz), das kleinste ist die Hessische Bergstraße. Rheinhessen hat genauso viel wie die neun kleinsten Anbaugebiete zusammen, einschl. Mosel und Nahe.
Vom Wein an der Nahe heißt es, er zeichne sich durch eine große Vielfalt unterschiedlicher Böden aus. Die längste Tradition hat der Rotwein von der Lahn, die am meisten angebaute Traube ist der Riesling. Unter den Winzern der Lahn befindet sich einer, der auf Alte Reben setzt, nicht aus Nostalgiegründen, sondern weil das Aroma der alten Weinstöcke vielschichtiger ist. Da der Ertrag abnehmend ist, sind die Preise höher. Aber dafür bekommt man den Wein hier direkt vom Erzeuger. Er bleibt also erschwinglich. Nur ist er nirgendwo zu bekommen.
Mit meiner Entscheidung, den Zug genommen zu haben, bin ich wieder etwas versöhnt, als ich lese, dass Goethe auch nicht die gesamte Strecke wanderte, sondern sich von Bad Ems aus bequem auf einem Kahn nach Ehrenbreitstein schiffen ließ. Aber ich ahne noch nicht, was noch auf mich zukommt.
In Obernhof wendet sich der Radweg von der Lahn ab. Quer zu ihr geht es eine Straße steil hinauf, und wieder einmal muss ich mühsam schieben. Ganz oben thront das Kloster Arnstein, jetzt von griechisch-orthodoxen Nonnen aus Griechenland bewohnt. Aber Gott sei Dank muss man nicht ganz da rauf. Nach ein paar hundert Meter. Aber die reichen mir schon. Dann geht es rechts ab.
Aber ich komme vom Regen in die Traufe. Hier geht es noch steiler rauf. Wieder ist schieben angesagt. Nach ein paar Windungen sehe ich ganz oben die beiden Jungs aus dem Zug. Auch sie schieben. Nur zwei Pedelec-Fahrer fahren an mir vorbei, mit sichtlicher Anstrengung. Der Berg zieht und zieht sich, und dann kommt man an den Klosterladen. Wir haben also doch die Höhe des Klosters Arnstein erreicht. Das Blöde ist, dass man auf die Art und Weise kaum „Strecke“ macht und dennoch viel Kraft verliert.
Jetzt geht es in den Wald hinein, diesmal bergab. Der Untergrund ist nass und uneben, und der Weg sehr abschüssig. Und dann kommt mir auch noch ein Auto entgegen! Ob das hier was verloren hat?
Bald ist es zu Ende mit der Abfahrt, und die restliche Strecke bis nach Nassau ist die reinste Qual, mit steilen Aufstiegen, bei denen ich mich, die Beine nach hinten durchgedrückt, über das Lenkrad gebeugt, Meter um Meter vorankämpfe. Immer wieder ist eine Pause zum Luftholen angesagt. Und jedes Mal, wenn man glaubt, das ist es jetzt mit den Anstiegen, kommt ein neuer. Ich habe das Gefühl, dass ich die falsche Strecke mit dem Zug genommen habe, dass dies der steile Anstieg aus dem Streckenprofil ist. Ich verfluche das Motto der Lahnradwegtouristik „Rollen lassen“.
Die Lahn sieht man hier nur durch die Bäume, gelegentlich, ganz weit unten. Dann nähert sich der Radweg wieder der Lahn. Endlich Nassau!
Bad Nassau wurde im Zweiten Weltkrieg stark zerstört. Es war Entladestation für Munition. Nach dem Krieg verlor es seinen Status als Bad, im Gegensatz zu Bad Ems.
Aus Nassau stammte auch der Freiherr vom Stein, in der Grabkapelle des Dorfes Frücht beigesetzt. Recht auf Eigentum, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Bauernbefreiung, religiöse Toleranz, städtische Selbstverwaltung. All das hatte er sich auf die Fahne geschrieben. Und warb in Denkschriften dafür. Er entwarf auch eine moderne Verfassung für das Herzogtum Nassau. Er war ein Querkopf, kein braver Staatsdiener, und legte sich mit dem preußischen König genauso an wie mit Napoleon.
Die Strecke von Nassau nach Bad Ems ist wieder besser. Dort geht es über die Brücke auf die andere Seite der Lahn. Es ist 14 Uhr, ich habe 44 Kilometer hinter mich gebracht.
Bad Ems war jetzt gerade in aller Munde. Es wurde als Weltkulturerbe in die Liste der großen Kurorte Europas aufgenommen, zusammen mit Bad Kissingen, Baden-Baden, Bath, Spa, Karlsbad, Vichy und anderen. Keine schlechte Gesellschaft.
Nach Bad Ems kamen die Reichen, Mächtigen und Schönen des 19. Jahrhunderts. Zu den Badegästen gehörten Meyerbeer, Weber, Offenbach, Gogol, Dostojewski, Victor Hugo, Delacroix. Von der Internationalität zeugt heute noch die russisch-orthodoxe Kreuzkuppelkirche, für die russischen Kurgäste gebaut. Es gab aber auch Kurgäste, an die man sich nicht so gern erinnert: Viele Nazigrößen erholten sich hier, und Hitler feierte 1939, ausgerechnet 1939, Weihnachten hier. Botho Strauß hat Bad Ems mit vielen sarkastischen Bemerkungen, ein Denkmal gesetzt in der Prosaschrift Herkunft. Strauß wurde hier geboren, im Gebäude des ehemaligen Hotels Wiesbaden.
Nach der Emser Depeche und dem Krieg gegen Frankreich war es mit der Herrlichkeit von Bad Ems vorbei. Es fiel in einen Dornröschenschlaf. Um wieder Publikum anzulocken, baute man die Malbergbahn, eine Wasserbalast-Standseilbahn, eine tolle Erfindung. Die Bahn wird dadurch in Gang gesetzt, dass der obere Wagen durch Wasser schwerer gemacht wird und dadurch die untere, mit dem er durch ein Zugseil verbunden ist, nach oben zieht. Genial! Die Bahn fuhr bis zu ihrer Stilllegung 1979 ohne Unfall. Erst im Rahmen der Berichterstattung über das Weltkulturerbe hatte ich zum ersten Mal von einer Wasserbalast-Standseilbahn gehört. Und jetzt ist sie auf einmal präsent, in einem Artikel über Braga, das die älteste Wasserbalast-Standseilbahn überhaupt hat, und in einem privaten Bericht von einem Besuch in Wiesbaden, wo so eine Bahn ebenfalls noch in Betrieb ist.
Der Hunger treibt mich in ein Eiscafé. Da, draußen auf der Terrasse, kann ich auch in meinem jetzigen Aufzug landen. Ich will einen Kuchen bestellen, aber die Speisekarte bietet Jägerschnitzel und Rumpsteak, von Kuchen keine Spur. Macht nichts. Ich bestelle Pasta. Als die Bedienung gerade mit der Bestellung entschwindet, sehe ich an einem Türpfosten die Aufschrift: Erdbeerkuchen und Apfelstreusel. Macht nichts, die Pasta ist erstaunlich gut.
Ich mache mich auf den Weg. Habe inzwischen beschlossen, die Tour noch heute abzuschließen, zumal für morgen ganz schlechtes Wetter angesagt ist. Aber auch jetzt setzt der Regen ein, erst leise, dann stark, und geht fast bis Lahnstein unvermindert weiter. Die Strecke ist eigentlich ganz schön, aber um sie zu genießen, bin ich zu erschöpft. Ganz leichte Anzeichen von Muskelkater machen sich bemerkbar, und die letzten Kilometer werden mir schwer.
Dann hört es doch noch auf zu regnen. Und es kommt Lahnstein, das Ziel. Lahnstein hat einen Bahnhof in Oberlahnstein und einen in Unterlahnstein. Das hat historische Gründe. Oberlahnstein und Niederlahnstein gehörten zu unterschiedlichen Territorien, die Lahn war die Landesgrenze. Oberlahnstein, auf der linken Seite der Lahn gelegen, gehörte zum Erzbistum Mainz, Niederlahnstein, auf der rechten Seite der Lahn gelegen, gehörte zum Erzbistum Trier. Das erklärt die Existenz der Burg Lahneck. Von der aus kontrollierte der Erzbischof von Mainz die Grenze. Der von Trier machte das von Koblenz aus, von Ehrenbreitstein aus. Es wurde Zoll erhoben, wenn Personen oder Waren die Grenze passierten.
Ich befinde mich auf dem Gebiet von Niederlahnstein. Hier, am Uferweg, ließ der Erzbischof von Trier eine Landfeste errichten, einen massiven Turm, der die Kontrolle des Flusses und des Uferwegs ermöglichte. Davor ließ er eine Anlegestelle erbauen. Später, als beide Orte zu Nassau kamen und der Festungsturm zu verfallen drohte, ließ ein Gerichtsschöffe auf den Stumpf des Festungsturms ein stattliches achteckiges Haus errichten, um Schiffer und Fuhrleute zu bewirten und ihnen Quartier zu geben. Goethe verkehrte hier, und später kam der Turm und mit ihm die Gaststätte, das Wirtshaus an der Lahn, durch ein Trinklied zu Ruhm. Es soll angeblich 900 Strophen haben!
Jetzt verstehe ich auch, was es mit dem Kalkofen auf sich hat, dem ich hier immer wieder begegne. Das war der Name des Gerichtsschöffen, der das Wirtshaus errichten ließ!
Die letzten Kilometer sind noch einmal zum Genießen. An einer Baumreihe in einem Park lasse ich ganz gemächlich ausrollen und genieße das Gefühl, es bald geschafft zu haben. Aber noch eine Skulptur nimmt meine Aufmerksamkeit in Anspruch: Ein Mann, der, Ellbogen auf den Schenkeln und Kopf in den Händen, auf einer hölzernen Karre sitzt. Was er da macht, ist nicht so ohne Weiteres ersichtlich. Und man würde auch nicht so ohne Weiteres darauf kommen: Er erledigt sein Geschäft! Das ist der „Baareschesser“, inzwischen zum Spitznamen für die Niederlahnsteiner geworden. Er erinnert an die Niederlahnsteiner, die in der Vergangenheit die Baare, also diese Art von primitiver Toilette, benutzten, um das Grundwasser nicht zu verunreinigen. Die Niederlahnsteiner hatten nämlich keine Quelle und waren auf sauberes Grundwasser angewiesen.
Ich radle weiter und wundere mich auf einmal, wie groß die Lahn geworden ist. Eine Joggerin, die gerade eine Pause macht, klärt mich auf: Dies ist nicht die Lahn, dies ist der Rhein! Ich bin an der Mündung vorbeigefahren! Erst habe ich es nicht zur Quelle geschafft, jetzt verpasse ich auch noch die Mündung! Die Joggerin ist Russin. Wir kommen ins Gespräch über Russland und russische Bücher und über Lahnstein. Das sei schön, zum Spazierengehen und so. Sonst nicht viel los.
Ich drehe und passe auf, dass ich die Mündung nicht noch einmal verpasse. Man steht auf einer Wiese am Rande des Parks und versucht, trotz eines „störenden“ Strauchs ein halbwegs vernünftiges Photo von der unspektakulär in den Rhein einmündenden Lahn zu bekommen. Als ich da stehe und ein Photo mache, winkt mir die Joggerin noch einmal zu und enteilt.
Ich fahre zurück und über die Blaue Brücke nach Oberlahnstein. Die Brücke ist benannt nach einem Bürgermeister, der sich für den Bau der Brücke und für die Zusammenarbeit von Niederlahnstein und Oberlahnstein eingesetzt hat.
Die Touristeninformation hat glücklicherweise noch geöffnet. Ein gut gelaunter, rundlicher Mann erklärt mir alles mit vielen ironischen Bemerkungen, bucht mir ein Zimmer in einem nahegelegenen Hotel und empfiehlt mir ein Weinlokal. Ich soll also doch noch zu meinem Lahnwein kommen!
Das war’s. Eine Tour mit Licht und Schatten, eine Tour, die ich mir, gelinde gesagt, weniger anstrengend vorgestellt hatte. Schön waren die vielen Streckenabschnitte an der Lahn entlang und die vielen kleinen Details, die man unterwegs entdecken konnte
Für die nächste Radtour gilt: Ich muss fitter werden oder mir ein neues Rad kaufen oder eine flachere Strecke aussuchen. Oder alles zusammen.
- Tag: Bad Laasphe – Gießen: 7.30 – 14.30 (7 Stunden), 90 km (0-90)
- Tag: Gießen – Runkel: 9.00 – 16.00 (7 Stunden), 82 km (90-172)
- Tag: Runkel – Lahnstein: 8.30 – 15.30 (7 Stunden), 68 km (172 – 240)