25. April (Donnerstag)
Für Hermanita ist es die erste Reise nach Irland, für mich schon die achte, aber unser Ziel, Galway, der Westen Irlands, ist auch für mich Neuland.
Zum Glück haben wir eine Straßenkarte und einen Adapter für die Steckdosen im Gepäck, beide sollen uns wichtige Dienste leisten.
Vor dem Abflug müssen wir durch die Passkontrolle. Irland gehört nicht zum Schengen-Bereich, obwohl es in der EU ist und den Euro hat. Die Pässe werden auf der Hinreise beim Abflug und bei der Ankunft kontrolliert, auf der Rückreise nur bei der Ankunft.
Mit einer Propellermaschine geht es in zwei Stunden nach Dublin. Eine Stunde „gewinnt“ man wieder durch die unterschiedliche Zeitzone. Über den Wolken scheint man von den Konflikten dieser Welt abgeschnitten zu sein.
Als wir in Dublin auf der Landebahn stehen, plätschern die ersten Regentropfen gegen das Fenster. Der Regen wird uns fast ununterbrochen bis zum Abend begleiten.
Am Schalter der Autovermietung muss noch etwas Papierkram erledigt werden, und dann muss noch eine Kreditkarte hinterlegt werden. Obwohl die Rechnung schon bezahlt ist, wird jetzt noch ein zusätzlicher Betrag genannt. Für die Versicherung? Die ist fast so teuer wie die Miete. Stellt sich aber als Missverständnis raus. Es fallen keine weiteren Kosten an.
Das Auto steht nicht vor der Tür, wir müssen erst mit einem Shuttle-Bus zum Parkplatz fahren. Im Dauerregen sehen wir, wie die Wagen der anderen Autoverleiher vorfahren und eine Truppe nach der anderen wegkarren. Dann sind auch wir an der Reihe.
Bei der Abholung des Autos zeigt man sich kurz angebunden. Informationen gibt es keine, und Fragen werden abgewimmelt. Man sucht sein Auto auf dem Parkplatz und muss dann irgendwie damit zurechtkommen. Glücklicherweise handelt es sich bei unserem Auto, einem nagelneuen Opel Corsa, um ein „normales“ Auto ohne allzu viel Elektronik. Allerdings erscheint auf dem Display der Gang, aber nicht der, den man drin hat, sondern der, der empfohlen wird. Danach fahre ich ständig zu hochtourig. Auf dem Rückweg erscheint auf dem Display eine dampfende Kaffeetasse. Wir werden aufgefordert, eine Pause einzulegen. Das geht noch, aber der ständige Warnton beim Einparken und Wenden, der bei jeder Annäherung an einen Strauch auf einen Meter aktiviert wird, geht mir in den nächsten Tagen gehörig auf die Nerven. Und das Spiel von Gaspedal und Kupplung ist gewöhnungsbedürftig.
Der Routenplaner des Handys verweigert zunächst seine Dienste, aber die Straßenkarte, die Hermanita vor sich hat, leistet gute Dienste. Wir müssen erst mal aus Dublin rauskommen.
Es geht über mehrspurige Ausfallstraßen Richtung M50. Nicht ganz leicht, aber zu zweit ist es erheblich einfacher, und die Ausschilderung ist ganz gut, stimmt aber nicht immer mit den Angaben auf der Straßenkarte überein.
Auf der M50 muss Maut entrichtet werden, aber hier gibt es, im Unterschied zu allen anderen Autobahnen, keine Zahlstellen, man muss elektronisch bezahlen. Am Ende wissen wir wegen des langen Zubringers gar nicht, ob wir tatsächlich auf der M50 gelandet oder vorher abgefahren sind.
Dann geht es auf die M4, die dann zur N4 wird, die dann zur M6 wird, die dann zur N6 wird. Der Unterschied ist teils nur durch die blauen gegenüber den grünen Schildern zu erkennen und die unterschiedliche Nummerierung der Ausfahrten. Etwas verwirrend, aber allmählich bekommen wir die Sache in den Griff. Nur noch an einer weiteren Stelle muss die Maut entrichtet werden. Hält sich mit 3,60 € in Grenzen.
Es gibt auffällig wenige Lastwagen und auffällig wenige Baustellen. Erst auf dem Rückweg, ausgerechnet am Feiertag, am 1. Mai, ist dann starker Lastwagenverkehr.
In Irland wird in Kilometern gerechnet, nicht in Meilen. Das gilt für die Geschwindigkeitsbegrenzungen und für die Entfernungsangaben. Und zum Glück haben die Mietwagen jetzt auch Kilometerzähler. Zwar gilt offiziell die Kilometerzählung, aber wir hören in den nächsten Tagen, wie eine junge Frau, die uns in Galway den Weg weist, von „200 Yards“ und der Waldhüter am Thoor Ballylee von „ein paar Meilen“ spricht.
Es wird zwar, anders als in England, in Kilometern gerechnet, aber links gefahren. Obwohl links gefahren wird, gilt die Regel rechts vor links. Und auf den Verkehrsschildern an Kreuzungen steht nicht Give Way, wie in England, sondern Yield.
Die Landschaft ist ziemlich nichtssagend, bis auf eine Strecke, wo am Straßenrand Sträucher in leuchtendem Gelb auftauchen. Wir werden sie im Laufe der nächsten Tage immer wieder sehen. Und von unserer Vermieterin erfahren, dass es sich um Stechginster handelt, gorse.
Hinter dem Stechginster eine braune Fläche. Ich tippe auf Torf. Der ist mir im Zusammenhang mit Irland immer wieder begegnet. Als wichtigstes Heizmaterial in der Vergangenheit, als Motiv in der Literatur. Und in Cork konnte man im Butter-Museum erfahren, dass die Butter früher zur Konservierung im Torf aufgehoben wurde.
In einem großen Bogen umfahren wir Athlone. Scheint eine größere Stadt zu sein. Dann geht es von der Autobahn runter, und die Landschaft wird irischer. Schafe und Kühe tauchen auf, die Straßen werden enger, auch ein paar der typischen Mäuerchen sind zu sehen, und es wird grüner.
In Lawrencetown entdecken wir einen kleinen Laden, wo wir uns zu horrenden Preisen mit dem Nötigsten für den Abend und das Frühstück eindecken. Das Mineralwasser heißt Ishka, eine Abwandlung des irischen Wortes uisce. Das bedeutet ‚Wasser‘ – und gleichzeitig ‚Whiskey‘.
Auf die Frage, ob er Joghurt habe, sagt der Verkäufer: „Yes, we do. We do at the weekend.“
Dann kommt Killimor, unser Zielort. Er wirkt etwas größer als erwartet. Aber wir wissen nicht, wohin. Auf unserer Adresse steht zur Verwirrung auch noch Kilmore, und das liegt wohl außerhalb von Killimore. Allerdings haben wir nicht den Namen der Straße. Wir sind verloren, halten im starken Regen am Wegesrand und schicken der Vermieterin eine Mail, mit der Bitte, uns anzurufen. Es kommt aber kein Anruf.
Zum Glück hat sich das Handy inzwischen zurückgemeldet und schickt uns Richtung Kilmore. Es geht auf einer schmalen Landstraße weiter, und wir sehen nur nach rechts und links, ob wir unser Haus entdecken können. Von dem wir glücklicherweise ein Photo haben.
Endlich sehen wir rechts ein Haus, das in Frage kommt. Wir klopfen an. Erst Hundegebell, dann eine überrascht blickende junge Frau, die bestätigt, dass sie nicht Rita sei. Sie kennt auch keine Rita, sie sei neu in der Gegend, sagt sie. Ob wir denn keine Adresse hätten. Nee, nur so eine Art Postal Code. Es stellt sich heraus, dass das die Adresse ist. Ich hole die Unterlagen aus dem Auto und nenne ihr den Code. Sie gibt ihn in ihr Handy ein, und schon ist die Ortsbestimmung da. Drei Minuten von hier.
Nach etlichen Kurven kommt dann unser Haus in Sicht. Hermanita geht durch den strömenden Regen und klopft und klingelt – ohne Resultat. Dann gehe ich durch den strömenden Regen zum Nachbarhaus. Auch hier reagiert niemand auf das Klingeln, aber dann erscheint ein freundlich grüßender Mann an der Seite des Hauses, Martin, Ritas Ehemann. Sie sei auf dem Golfplatz.
Er schließt uns auf und zeigt uns das Haus. Alles ebenerdig, drei Schlafzimmer, Küche, Wohnzimmer. Das Wohnzimmer ist ziemlich beengt, zu fünft möchte man hier nicht länger wohnen, und es ist vollgestopft mit allem möglichen Krimskrams. Der Ofen bullert. Wie der denn beheizt werde, wollen wir wissen. Martin deutet mit dem Finger durch das Fenster auf zwei Tonnen vor dem Haus: Holz und Torf.
Martin kann man gut verstehen, obwohl er mit einem markanten irischen Akzent spricht und tree statt three sagt und nord statt north. Er klärt uns auch über die Aussprache von Killimor und Kilmore auf. Ganz gegen jede Intuition: Killimor wird auf der 2. Silbe betont und reimt sich mit climber. Kilmore wird auf der 1. Silbe betont, und die reimt sich auf file.
Martin ist pensionierter Lehrer – oder war zumindest im Erziehungsbereich tätig – und beschäftig sich jetzt als Hobbygärtner. Rita und er sind erst vor kurzem aus Australien zurückgekommen. Dort wohnt ihr Sohn, in Melbourne.
Was mir in der Aufregung völlig entgangen ist, was aber Hermanita gemerkt hat: Es gibt auch Heizkörper. Wie die funktionieren, bekommen wir nie so richtig raus, einige scheinen ganz ausgeschaltet zu sein, aber der im Wohnzimmer hat eine Schaltuhr und läuft den ganzen Tag außer von 13 bis 18 Uhr. Das reicht im Grunde, obwohl wir in den nächsten Tagen auch noch mal zusätzlich den Ofen anwerfen.
Auf die Frage Hermanitas, ob es auch einen Bus nach Killimor gebe, zögert unser Mann etwas mit der Antwort: „Yes, I think there is one. There is one on Saturdays.“
Er gibt uns noch ein paar Tipps für Ausflüge und sagt, wir könnten jederzeit ans Fenster klopfen, wenn wir Fragen hätten. Dann verabschiedet er sich in den Regen.
26. April (Freitag)
Das Wetter präsentiert sich besser als gestern, die Vorhersage für die nächsten Tage ist gemischt. Wir haben entschieden, zuerst nach Galway zu fahren.
Gestern haben wir ca. 200 km zurückgelegt, heute werden es ca. 100 sein, insgesamt am Ende 1.100.
Was uns gestern schon aufgefallen ist: Die einzelnen Gehöfte sind fast alle einstöckig und liegen weit auseinander.
Der Weg nach Galway führt teilweise über die Autobahn, dann über Nationalstraßen. Es ist nicht mehr weit bis Limerick und bis zum Shannon Airport.
Gar nichts so leicht, nach Galway hineinzukommen. In den Außenbezirken hat man den Eindruck, in eine echte Großstadt zu kommen.
Wir haben uns als Ziel ein ganz zentrales Parkhaus ausgesucht, aber da kommen wir erst hin, nachdem wir ein paar Haken geschlagen haben.
Im Parkhaus sehen wir uns etwas verloren um. Wo ist denn hier der Ausgang? Ein Parkplatzwächter, der gerade mit einem Wedel die Lampen säubert, hebt den Wedel über die Schultern und sagt „Follow me!“
Draußen fragen wir den ersten besten Passanten nach dem Eyre Square. Er antwortet äußerst freundlich und wünscht uns gleich noch einen schönen Aufenthalt.
Zum Eyre Square gelangen wir durch die hübsche, lebendige Fußgängerzone. Der Platz selbst ist groß und unübersichtlich.
Eyre ist der Name eines ehemaligen Bürgermeisters, des Bürgermeisters, der dafür gesorgt hat, dass diese Parzelle in einen städtischen Platz umgewandelt wurde. Sein Nachname ist vermutlich verwandt mit Eire, dem irischen Namen von Irland. Nach der Unabhängigkeit hieß Irland zunächst Irish Free State, dann Eire, jetzt Republic of Ireland.
Wir gehen Kurz zu dem Kiosk, wo der Stadtrundgang beginnt, und haben dann noch Zeit für einen Kaffee am Rande des Platzes. Es ist der kleinste Macchiato, den wir je getrunken haben.
Bevor der Stadtrundgang beginnt, fragen wir uns, was es wohl mit den Bannern auf sich hat, die hier in einer langen Reihe an Fahnenmasten hängen, alle bunt, alle mit einem Namen, der uns nichts sagt. Wir werden es bald erfahren.
Außer uns nimmt nur noch ein Ehepaar aus South Carolina an der Führung teil. Unser Führer, Connor, macht seine Sache wirklich gut, er macht, war er macht, voller Enthusiasmus, es sprudelt nur so aus ihm heraus. Die Führung ist gleichzeitig unterhaltsam und informativ, und er spricht mit viel Ironie von sich und von Irland.
Der Eindruck aus einem unserer Reiseführer bestätigt sich: Galway ist eine sehenswerte Stadt ohne Sehenswürdigkeiten.
Zuerst sehen wir eine alte Photographie vom Eyre Square, als der noch unbebaut war und als Viehmarkt diente. Das Photo könnte, so Connor, aus dem 18. Jahrhundert sein. Tatsächlich ist es von 1950.
Jetzt erfahren wir, was es mit den Bannern auf sich hat: Sie repräsentieren die 14 Familien, die lange das Schicksal Galways bestimmten. Auf Englisch heißen sie tribes, also Stämme. Das ist ein Spottname, den die Familien von Cromwell verpasst bekamen und den sie sich zu eigen machten und damit ins Positive kehrten.
Etwas verloren auf dem Platz in der Nähe der Banner steht hinter einer Plastikwand Browne’s Doorway, ein Fragment des Familiensitzes einer der 14 Tribes.
Diese Familien sind die Abkommen der normannischen Familien, die hier angesiedelt wurden, nachdem die Normannen, 100 Jahre nach der Eroberung Englands, auch Irland eroberten. Die Normannen in Irland, sagt Connor, nahmen im Laufe der Zeit irische Gebräuche, die irische Lebensweise und die irische Sprache an – sie wurden irischer als die Iren! Solche Entwicklungen muss man immer im Sinn haben, wenn man Irland verstehen will. Es gibt keinen einfachen Gegensatz Iren gegen Engländer. Es ist immer komplizierter.
Die Normannen legten hier eine befestigte Stadt an, das Dorf am anderen Ufer des Flusses, Claddagh, die Keimzelle Galways, entwickelte sich dadurch eigenständig.
Wir stehen vor einer Skulptur aus Roststahl, mit spitz zulaufenden, nach oben zeigenden dreieckigen Formen. Connor will wissen, was das ist. Der Mann aus South Carolina hat sofort die richtige Idee: Segelschiffe! Es sind die typischen, nach holländischem Vorbild gebauten Schiffe, mit denen man zu den Hochzeiten Galways Handel trieb. Sie heißen Hooker und werden heute fast ausschließlich für Regatten gebraucht.
Galway hat 85.000 Einwohner, weniger als wir dachten. Davon sind 25.000 Studenten. Auch deshalb ist es eine junge, dynamische Stadt, mit einer bemerkenswerten Musikszene. In der Fußgängerzone sehen wir während des Rundgangs immer wieder Musikgeschäfte. Und Straßenmusiker stehen an jeder Ecke. Connor zeigt uns ein Photo des jungen Ed Sheeran, das er selbst gemacht hat, als der noch durch die Straßen Galways tingelte. Er bedauert, ihn nicht um ein Autogramm gebeten zu haben.
Galway ist auch bekannt durch die vielen Festivals, die hier stattfinden. Das bekannteste ist das Race Festival im Sommer (das mit Rennen aber nichts zu tun hat). Connor erzählt auch von seiner eigenen Erfahrung mit dem Oyster Festival. Dort bezahlt man eine pauschale Summe und bekommt dafür Austern und Guinness bis zum Abwinken – ein perfektes Rezept für die Misere am nächsten Tag.
Galway sieht sich selbst als „größte Kleinstadt der Welt“ und als das gälische Pendant zu Dublin. Trotz intensiven Schulunterrichts über viele Jahre, wird Irisch nicht von vielen Iren gesprochen. Connor zufolge sind es 6%, von denen leben 50% hier im Westen, in der Gaeltacht. Ich frage während des Rundgangs nach dem irischen Wort für ‚Haus‘, das immer wieder auftaucht, teach. Es wird wie chick ausgesprochen.
Connor spricht, wie fast alle Iren, Dublin wie Doblin aus und macht aus einsilbigen Wörtern zweisilbige: film ist fillum und girls sind girruls.
Connor zeigt uns die Bronzestatue eines irischen Dichters, Patrick Joseph Conroy. Die jetzige Statue ersetzt eine Statue aus Stein, die eines Tages in einer nächtlichen Aktion „geköpft“ wurde. Jahre später fand man den Kopf in einem Studentenwohnheim.
Conroy war Mitglied der Gaelic League, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, irische Traditionen und die irische Sprache wieder aufleben zu lassen. Das Irische hatte vor allem durch die Hungersnot und die Emigration im 19. Jahrhundert Federn lassen müssen. Die betrafen beide die ärmeren Schichten, und bei denen war Irisch verbreiteter. Das Irische hatte sich aber auch schon vorher auf dem Rückzug befunden. Conroy hatte also im Prinzip kaum eine Leserschaft, damals sprachen noch weniger Iren Irisch als heute. Er ließ sich davon aber nicht abschrecken, sondern bediente sich eines einfachen, knappen Stils, der Muttersprachlern und Lernen gleichzeitig zugänglich war. Um die ganze Sache möglichst authentisch aussehen zu lassen, veröffentlichte er seine Werke unter dem Namen Pádraic Ó Conaire!
Einen Teil des Platzes hat man in Kennedy Park umbenannt, nach Kennedys Besuch in Irland 1963, wenige Monate vor seiner Ermordung. Er war nach Irland gekommen, um den Ort zu besuchen, wo seine Vorfahren herstammten, New Ross. Ich habe selbst dort vor ein paar Jahren das ausgesprochen bescheidene Haus seiner Großeltern besucht. Connor erzählt, wie Kennedy in Irland glorifiziert wurde. Nicht zuletzt deshalb, weil er Katholik war. Im Wohnzimmer seiner Oma hingen nebeneinander die Photos von Jesus, Kennedy und dem Papst, und er dachte immer, dass Kennedy entweder ein Popstar oder der Erfinder des Christentums war.
Nach dem Besuch Kennedys bildeten sich mehrere Legenden aus. Ein Pub in der Nähe, das Kennedy heißt, soll seinen Namen daher haben, dass Kennedy dort zum Klo gegangen sei, und das oberste Stockwerk des Hotel Meyrick am Rande des Eyre Square, das sich von den darunter liegenden unterscheidet, sei eigens für Kennedys Mannschaft errichtet worden. Kennedy war aber nur zwei Stunden in Galway und nie in einem Pub.
Wir verlassen den Eyre Square und gehen in die Einkaufsstraße, die naheliegenderweise Shop Street heißt. Dort sehen wir eine Uhr, unter deren Ziffernblatt Dublin Time steht. Damit hat es folgende Bewandtnis: Früher war Irland in unterschiedliche Zeitzonen eingeteilt, und Galway war 20 Minuten hinter der Dublin-Zeit. Die Züge fuhren aber in ganz Irland nach der Dublin-Zeit.
Der Verkehr ist ein größeres Problem in Galway, wie wir später bei der Rückfahrt selbst feststellen können. Die Straßen sind ständig verstopft. Das liegt daran, dass alle auf der einen Seite des Flusses leben und auf der anderen arbeiten und dabei immer durch die Stadt müssen.
Unterwegs fällt mir Flanagans auf, eine Apotheke. Oben in die Fassade eingemeißelt steht Chemist, darunter in modernen Leuchtbuchstaben Pharmacy. Perfektes Beispiel für Sprachwandel.
Ganz in der Nähe eine Doppelstatue, zwei Dichter in sitzender Position. Die Statue ist ein Geschenk Estlands, als Dank für die irische Unterstützung bei den Beitrittsverhandlungen für die EU. An einem Ende der Bank sitzt Oscar Wilde, der irische Dichter, am anderen Ende Eduard Wilde, der estnische Dichter.
Wir sehen die sitzende Bronzestatue eines traditionell gekleideten Mädchens, dem Galway Girl. Sie ist Gegenstand des bekanntesten Lieds von Galway, das in den Pubs bis zum Überdruss gespielt wird. Jeder kennt die Zeilen “She played the fiddle in an Irish band / But she fell in love with an Englishman.”
An beiden Seiten ein paar interessante Pubs, darunter The King’s Head. Der Name bezieht sich auf Charles I., den englischen König. Als der in der Englischen Revolution – hundert Jahre vor der Französischen – zum Tode verurteilt worden war, fand sich niemand bereit, die Hinrichtung zu vollziehen, bis ein Freiwilliger aus Galway seine Dienste anbot. Er erledigte seine Aufgabe unter größter Verschwiegenheit. Das Amt des Henkers war verpönt, man prahlte damit nicht. Das blieb auch so, als er nach Galway zurückkehrte. Bis er eines Abends nach dem Genuss mehrerer Pints sein Geheimnis verriet, in diesem Pub. Ob Legende oder Wahrheit oder eine Mischung aus beiden, schöne Geschichte. Ben trovato.
Von einem anderen Pub mit einer auffällig grauen Fassade heißt es, drinnen hänge ein Schild mit der Aufschrift „We understand English, but we speak Irish.“ Während der gesamten Woche hören wir aber nie auch nur ein Wort Irisch, und das in der Gaeltacht!
Ein anderes Pub mit einem Hasen, der durch ein Fernrohr sieht, und mit einem Bücherregal im Fenster gehörte einem Tierliebhaber. Der war nicht zimperlich, wenn es darum ging, Mitmenschen zu bestrafen, die Tiere quälten. Er soll auch einige getötet haben. Offensichtlich ohne den Widerspruch zu erkennen. Dieses Lokal hat einen irischen Namen, Seasan Ua Neachtain. Was das wohl bedeutet?
Unter den Pubs mit englischem Namen befinden sich The Bunch of Grapes (nicht auf Wein, sondern auf Whiskey spezialisiert) und Sonny Malloy’s, ebenfalls auf Whiskey spezialisiert.
Plötzlich ist die Frau aus South Carolina verschwunden. Ihr Ehemann ist aber ganz gelassen. Sie ist in ein Geschäft gegangen. An dessen Fassade steht ganz groß Engagement Rings. Dort gibt es die Claddagh Rings zu kaufen, Ringe mit einem traditionellen Design, mit Händen, die ein Herz formen und eine Krone tragen, Symbole, so heißt es, für Liebe, Freundschaft und Treue. Wird der Ring nach innen getragen, ist man schon vergeben, wird er nach außen getragen, ist man noch zu haben. Wenig später taucht die Frau wieder auf. Sie hat gleich zwei Ringe gekauft, in Silber. Als wir uns später die Ringe im Schaufenster ansehen, sind wir uns einig, dass wir sie nicht sonderlich schön finden.
Ganz in der Nähe befindet sich Lynch’s Castle, der alten Familiensitz einer der normannischen Kaufmannsfamilien, keine Burg im engeren Sinne, eher ein städtischer Wohnturm, aus dem Ende des Mittelalters stammend. Oben an der Fassade Wasserspeier, darunter, unregelmäßig über die ganze Fassade verteilt, verschiedene Reliefs, teils mit Familienwappen. Bei einem, heißt es, seien zwei Fabeltiere abgebildet, von denen eins für Irland, das andere für England stehe, ein Hinweis auf die Anpassung der Anglonormannen an ihre neue irische Heimat.
Mit diesem Haus verbindet sich die berühmteste Legende Galways, auf historischen Fakten beruhend, aber von späteren Generationen so ausgeschmückt, wie Connor sie uns jetzt erzählt. Der historische Kern der Legende: In einem Dokument ist nachgewiesen, dass der Sohn der Familie 1493 einen ausländischen Reisenden erschlagen hat. Sein Vater, James FitzStephen Lynch, der Bürgermeister war, verurteilte ihn daraufhin, den Gesetzen gemäß, zum Tode. Es fand sich aber, und damit kommt man in den Bereich der Legende, niemand, der das Todesurteil an dem beliebten jungen Mann vollziehen wollte. Daraufhin tat der Vater es selbst. Ob das wahr ist, wird immer wieder angezweifelt, aber die Geschichte illustriert bestens den Konflikt zwischen Gesetzestreue und Vaterliebe. Was ziemlich sicher Legende ist: Der Vater selbst hatte seinen Sohn, der ein Nichtsnutz war, zu einem Handelspartner nach Spanien geschickt, damit er sich die Hörner abstoße. Der kam geläutert in der Gesellschaft des Sohns dieses Handelspartners zurück. Der Vater war glücklich, er mochte den fremden Gast, und der Sohn hatte den Ernst des Lebens begriffen und hatte in Galway eine passende Braut gefunden. Dann kam es, wie es kommen musste: Das Mädchen machte dem feurigen Latino schöne Augen, der ließ sich nicht zweimal bitten, den Sohn packte die Wut, es kam zu einer Prügelei, bei der der Sohn den Konkurrenten mit einem Dolch erstach.
Gelegentlich wird dieser Herr Lynch als der Namensgeber des Wortes lynchen ins Feld geführt, aber die Ehre kommt wohl eher dem Captain William Lynch aus Pennsylvania zu, der viel später lebte. Immerhin war auch er irischstämmig.
Wir machen kurz Halt vor der Collegiate Church of St. Nicholas of Myra. Durch den Zaun sieht man auf eine Stele auf dem Kirchhof, in die auch ein Claddagh Ring eingemeißelt ist. In dieser Kirche soll Kolumbus bei einer seiner Überfahrten gebetet haben. Das Patrozinium, Nikolaus, wird hier auf seine Funktion als Patron der Seeleute zurückgeführt. Das passt zu Galways. Aber zu Galway würde auch seine Funktion als Patron der Kaufleute passen.
Auf dem Weg zum Corrib kommen wir an McDonagh’s vorbei. Hier gibt es keine Hamburger, sondern Meeresfrüchte.
Wir kommen zum Corrib River hinunter, einem so schnell fließenden Fluss, wie man ihn selten sieht. Die Photos, die wir hier machen, sehen so aus, als wären sie auf dem stürmischen Meer gemacht.
Hier steht The Spanish Arch, das einzige erhaltene Stadttor. Früher lag es direkt am Ufer. Hier wurden die Schiffe entladen zu einer Zeit, als Galway ein bedeutender Hafen und ein europäisches Handelszentrum war. Vor allem mit Spanien und Portugal blühte der Handel.
Hier endet die Stadtführung und hier beginnt der Long Walk, der eigentlich ein ganz kurzer ist, und den wir beiden jetzt noch machen, während die anderen in die Stadt zurückgehen. Auf dem Long Walk sieht man auf der anderen Flussseite Claddagh, das alte Fischerdorf, das längst keins mehr ist. Vor uns haben wir einen wunderbar gescheckten Himmel, der sich übergangslos mit dem Meer verbindet.
Vor einem Lokal steht ein Schild mit der Aufforderung, reinzukommen: It’s Friday and sunny, come get some food, it’s yummy. Sonnig hat hier wohl eher seine Berechtigung wegen des Reims.
Wir sehen uns noch die Collegiate Church an. Sie ist innen ganz anders als außen, man kann das Äußere mit dem Inneren kaum in Verbindung bringen. Von dem Turm ist hier nichts zu sehen. Dabei diente der in früheren Zeiten den Handelsschiffen als Orientierung.
Die Kirche muss eine verwickelte Baugeschichte haben, heute schwer nachzuvollziehen. Ein Seitenarm ist viel länger als der andere, und das Mittelschiff ist irgendwie gedrungen. Die Seitenschiffe sind später hinzugefügt. Dabei gibt es eine Besonderheit: Alle drei Schiffe haben eine unterschiedliche Breite. Auf jeden Fall ist die Kirche sehr hell, was zumindest einem von uns sehr gut gefällt.
Vorher war die Rede davon, dass die Kirche von verschiedenen Konfessionen gebraucht wird, darunter einer orthodoxen Gemeinde Davon ist aber nichts zu sehen.
Es gibt ein paar interessante Ausstattungsstücke, darunter ein Weihwasserbecken, das frei steht und nicht in die Mauer eingelassen ist.
Das quadratische Taufbecken diente früher zur Ganzkörpertaufe. Es ist verziert mit Lilien, mit einem Hund und mit einem Ornament, das wir zuerst nicht identifizieren können, eine Art Triskele, ein Symbol, das das Christentum von den Kelten übernommen hat. Es kann für die Ewigkeit stehen. Hier, so heißt es, sieht man drei Beine, die in einen Kreis eingelassen sind.
In einer Seitenkapelle, die kaum als Kapelle zu erkennen ist, weil sie als Büro benutzt wird, zeigt uns ein freundlicher junger Mann alte Grabsteine, die hier als Bodenplatten dienen. Es sind die Grabsteine von ganz jung gestorbenen Kindern, eine Reminiszenz an die hohe Kindersterblichkeit früherer Zeiten. Es gibt hier wohl noch ein paar interessantere Grabsteine, zum Beispiel eins von einem Schuster, aber die bekommen wir nicht zu sehen.
Mir fällt noch das Banner der Connaught Rangers ins Auge, einem Regiment, das hier seine Gottesdienste abhielt. Es geht auf die Zeit der Französischen Revolution zurück und diente unter Wellington in Indien und auf der Iberischen Halbinsel, dann auf der Krim, in Burma, im Burenkrieg und im 1. Weltkrieg! Nach der Unabhängigkeit Irlands wurde es aufgelöst.
Nach der Kirche steuern wir zielsicher ein Pub an, und zwar Taaffes, das mit der grauen Fassade. Innen ist es rappelvoll. Wir erwischen so gerade noch einen freien Platz. An der Theke hat man uns – ungewöhnlich für ein Pub – gesagt, man bestelle auf dem Platz.
Es sind junge und ältere Gäste da. Die Wände hängen voll mit alten Photos von Galway, mit alten Werbeschildern, Zeitungsausschnitten, Trikots und Schals, wobei schwer zu sagen ist, um welchen Sport es sich handelt. Wenn in Irland von Fußball die Rede ist, ist oft nicht unser, also der englische Fußball gemeint, sondern Gaelic Football, eine Art Kreuzung von Fußball und Rugby. Die andere „irische“ Sportart ist Hurling, mit Schlägern und einem Ball gespielt. Es gilt als das schnellste Ballspiel überhaupt.
Darunter hängt eine Plakette mit der Bewertung, die das Pub von dem Guinness-Guru für sein Guinness bekommen hat: 9,1 von 10 Punkten.
Über der Theke hängen kleine goldene Wimpel mit dem irischen Kleeblatt, dem Shamrock, dem Kleeblatt, mit den St. Patrick, der Legende zufolge, den Iren die Dreifaltigkeit erklärt hat. Das Kleeblatt wird oft als das offizielle Emblem Irlands angesehen, ist es aber nicht. Das ist die Harfe. Die Harfe ist auch auf den irischen Euro-Münzen.
Das irische Kleeblatt hat auch seinen Weg nach Deutschland gefunden, in unsere Heimat. Eine Zeche in Herne hieß Shamrock, und sie gehörte der Firma Hibernia. Das ist der lateinische Name für ‚Irland‘. Das Kleeblatt ist das Firmenzeichen der Hibernia.
Auf der Speisekarte stehen Baps. Wir müssen erst einmal nachfragen, was das ist. Wie Hamburger, heißt es, nur länglich. Sind aber besser als Hamburger, das Brot ist knusprig und der Belag schmackhaft. Dazu gibt es ein paar Chips und ein paar Blätter Salat. Und Bier vom Fass. Wir sind uns später nicht einig, ob das Essen preisgünstig oder teuer war.
Die Suche nach dem Parkhaus erweist sich als leichter, als gedacht. Es ist gut, wenn man jemanden mit gutem Orientierungssinn an der Seite hat.
Wir fahren über den Corrib auf die andere Seite, nach Claddagh. Der Corrib speist sich, wie andere Flüsse dieser Gegend auch, aus einem See (oder durchquert den), dem Lough Corrib. Das Wort lough, dem man hier in Eigennamen auf Schritt und Tritt begegnet, ist das irische Pendant zu dem schottischen loch (wie in Loch Ness) und wird genauso ausgesprochen.
Claddagh hat mit der alten Fischersiedlung nichts mehr zu tun, es verfügt über moderne mehrstöckige Wohnhäuser – uns fällt im Laufe der Tage auf, dass man überhaupt keine Hochhäuser, geschweige denn Wolkenkratzer sieht – und eine breite Uferpromenade. Wir gehen hier entlang. Einige Kinder spielen am Strand, und ein paar Mutige sind tatsächlich im Wasser. Die Aufenthaltsdauer scheint aber eher kurz zu sein.
Das Meer ist grau, der Himmel auch, obwohl man immer wieder mal zwischen den Wolken einen dicken Sonnenstrahl entdeckt.
Als wir am Ende der Promenade angekommen sind, sehen wir den Springturm, von dem Connor gesprochen hat – erstaunlich, dass das Wasser hier tief genug ist. Wir finden aber nicht, was wir suchen, die Stelle, an der man, wie wir von Connor wissen, Kicking the Wall betreibt. Das rangiert unter den zehn wichtigsten Freizeitbeschäftigungen Galways. Wenn man das Ende der Promenade erreicht hat, tritt man, wie zur Bestätigung, gegen die Mauer. Wir wollen schon enttäuscht abdrehen, als ein findiges Auge doch noch was entdeckt, eine Plakette, die der Rotary Club hier angebracht hat. Wir treten weisungsgemäß gegen die Mauer und lassen auch noch einen kleinen Obolus für einen wohltätigen Zweck zurück.
Passenderweise gibt es auf der anderen Straßenseite einen Spar, wo wir uns mit dem Nötigsten für die nächsten Tage eindecken. Spar ist hier in Irland gut vertreten. Auch hier ist der Einkauf teuer.
Auf der Rückfahrt biegen wir irgendwo falsch ab und, schwups, befinden wir uns im dicksten Stau der Rush Hour. Kann man nichts machen. Wir kommen an der Kathedrale vorbei, einem mächtigen Neo-Renaissance-Bau. In einigen Reiseführern kommt sie ganz gut weg, in einem wird so sehr über den Bau hergezogen, dass man sich schieflacht.
Wir kommen auch an der Universitätsklinik vorbei, vermutlich im Universitätsviertel gelegen. Die Universität von Galway ist eine Nebenstelle des UCD, dem katholischen, „irischen“ Gegenstück zum protestantischen, „englischen“ TCD, beide in Dublin beheimatet. Das TCD, eine Gründung Elisabeths I., ist viel älter als das UCD. Lange durften Katholiken nicht am TCD studieren, und als sie es durften, wollten sie es nicht.
Ich erinnere mich an eine flüchtige Begegnung im TCD mit einem Physikprofessor aus Galway. Der beschwerte sich bitter über die Sprachregelung an seiner Universität: Jede Vorlesung, jedes Seminar, gleich in welchem Fachbereich, muss auch auf Irisch angeboten werden, und wenn nur ein einziger Student sich für Irisch entscheidet, muss die Veranstaltung auch auf Irisch stattfinden.
Als wir endlich zu Hause ankommen, nimmt Rita uns in Empfang, eine freundliche, redefreudige Frau. Sie bietet gleich frisch gelegte Eier von den Hühnern ihres Hofs an, aber leider haben wir uns bei Spar schon mit Eiern eingedeckt. Sie gibt Tipps für Ausflüge und bietet uns sogar ihre Fahrdienste an, falls wir abends mal ins Pub wollen. Sie meint Killimor, wenn sie the village sagt und Portumna, wenn sie the town sagt. The Burren, eine bizarre Landschaft in dieser Gegend, spricht sie aus wie The Burn.
Erstaunlicherweise ist sie gar nicht so glücklich, dass ihr Sohn schon aus Australien zurückkommen will. Er habe eine gute Arbeit dort und hätte gut noch zwei, drei Jahre bleiben können.
Am Abend lese ich in einem Reiseführer, dass Galway auch die Heimat von Nora Barnacle ist, der Ehefrau von James Joyce. Ihr Geburtshaus ist heute ein kleines Museum. Das hat Connor uns vorenthalten.
Joyce buhlte lange um Nora, und sie wies ihn fast genauso lange ab. Sie waren so unterschiedlich, wie sie nur sein konnten, er der große Intellektuelle, der Schriftsteller, der die Moderne prägte wie kaum jemand sonst, sie eine einfache Frau, Stubenmädchen, Kellnerin. Aber die Ehe hielt ein Leben lang. Für mich bleibt sie unsterblich durch die Frage an ihn, die kein Literaturkenner zu stellen wagen würde: „Why don’t you write books that people can read?“
27. April (Samstag)
Warum hat das Irische so wenig Erfolg in Irland, trotz des obligatorischen Unterrichts und trotz der staatlichen Propaganda, die es zu einem Ausweis irischer Identität macht? Vielleicht wegen des obligatorischen Unterrichts und der staatlichen Propaganda. Etwas wird von oben oktroyiert, und dem entzieht man sich.
Es gibt gute Gründe, das Irische links liegen zu lassen. Es ist nicht sehr nützlich. Man kann wenig damit anfangen, wenn man auswandern oder für eine internationale Firma arbeiten will. Da ist man mit Englisch besser dran. Viele Iren assoziieren Irisch mit einem militanten Nationalismus, mit dem sie als offene Europäer nichts zu tun haben wollen. Und Irland unterliegt natürlich wie alle anderen europäischen Länder dem Einfluss der US-amerikanischen Popkultur und der virtuellen Welt, und in beiden ist Englisch die beherrschende Sprache. Die Nähe zu England kommt dazu. Außerdem ist Irisch nicht gerade leicht zu lernen. Seine Strukturen unterscheiden sich sehr vom Englischen, und schon das Verhältnis von Schrift und Lautung gibt Rätsel auf, wie wir das in diesen Tagen auch erfahren haben. Das Wort für den Premierminister ist Taoiseach, und es wird wie teashuck ausgesprochen. Kurioserweise hat das Irische den stärksten Zulauf heute nicht in der Republik Irland, sondern bei den Nationalisten in Nordirland, denjenigen, die auf eine Vereinigung mit Irland setzen.
Rita hat uns auf den Tisch eine kleine Vase mit gelben und blauen Blumen gestellt, gelben Schlüsselblumen und blauen Blumen, die hier bluebells heißen und auf die man überall stößt, meist am Straßenrand. Mir ist das Wort auch geläufig, obwohl ich nicht wusste, wie sie aussehen. Das Wörterbuch schlägt als deutsche Entsprechung Hasenglöckchen vor. Das sagt mir gar nichts.
Es ist ein schöner Tag, und wir machen uns frühzeitig auf den Weg. Killimor ist noch wie ausgestorben, aber in dem kleinen Laden, der auch Postamt ist, bekommen wir Briefmarken. Es stellt sich raus, dass der Laden auch Tankstelle ist. An den beiden verloren am Rande des Bürgersteigs stehenden Zapfsäulen, eine für Diesel, eine für Benzin, kann man sich selbst bedienen und dann hier zahlen. Die Preise sind ungefähr wie bei uns.
Wir machen uns auf den Weg Richtung Ennis, von Hermanita im Reiseführer entdeckt.
Wenn man sich einem Ort nähert, steht auf dem Straßenpflaster slow. Etwas weiter steht dann slower.
Hermanita achtet außer auf die Strecke auch auf die Stromleitungen und die Formen der Strommasten. Die würde ich glatt übersehen.
In Ennis ist es im Unterschied zu Killimor rappelvoll, und wir müssen ein paar Runden drehen, bis wir einen Parkplatz finden. Am Rande des Parkplatzes steht der Schnellimbiss The Snack Shack.
Von dort geht es durch eine ganz schmale Gasse zur Hauptstraße. In der Gasse ein Plakat mit dem berühmtesten Slogan der Guinness-Vermarktung: Guinness is good for you. Der war mal Gegenstand einer Übersetzungsübung an der Uni. Die Studenten kamen nach ein paar Anstößen auf die beste Übersetzung: Guinness tut dir gut.
Auf der Hauptstraße ein kleines Geschäft für Damenoberbekleidung und Accessoires, Tricia’s Closet. Ein closet war zunächst ganz einfach ein Zimmer ohne Fenster. Oft wurde es zum Ankleiden benutzt. Erst später wurde es dann zum Klosett.
Wir gehen zu einem leicht erhöhten Platz, der sinnigerweise The Height heißt. Hier haben sie Daniel O’Connell auf so einen hohen Sockel gestellt, dass man kaum etwas von ihm sieht. Er ist eine der Gestalten der irischen Geschichte, die im Gedächtnis der Nation einen festen Platz haben. O’Connell war Rechtsanwalt, einer der ersten katholischen Rechtsanwälte Irlands, gut situiert und ausgesprochen gesetzestreu. Das wurde ihm zum Verhängnis. Sein großes Ziel hieß Catholic Emancipation, gleiche Rechte für die Katholiken wie für die Anglikaner. Die Katholiken durften keine öffentlichen Ämter bekleiden, durften bestimmte Berufe nicht ausüben, durften nicht an Universitäten studieren, keine eigenen Schulen und keine Bischöfe haben, und es gab Einschränkungen bei Grunderwerb und Erbschaften. O’Connel ließ sich für die Parlamentswahl aufstellen und argumentierte, Katholiken dürften zwar kein Parlamentsmandat haben, sich wohl aber zur Wahl stellen (cannot sit in Parliament but can stand for election). Er wurde gewählt und trat das Mandat nicht an. Aufgrund der Aktivitäten O’Connells, vor allem aber aufgrund der sich ändernden öffentlichen Meinung, wurden dann die meisten Einschränkungen für Katholiken aufgehoben (sie mussten aber weiterhin ihren Zehntel an die Anglikanische Kirche abtreten). Das ist alles verdienstvoll, aber für die große Mehrheit der Katholiken, die auf dem Land arbeiteten und mehr schlecht als recht ihren Lebensunterhalt bestritten, war das alles mehr oder weniger irrelevant. Ihr Leben änderte sich kaum. Trotzdem bekam O’Connell auch aus den ärmeren Kreisen volle Unterstützung. Dann ging er sein nächstes Ziel an: Home Rule. Die Unabhängigkeit Irlands vom Vereinigten Königreich. Er organisierte Massenversammlungen, mit Hunderttausenden von Teilnehmern, teils an mythischen Orten der irischen Geschichte. Man fragt sich, wie das alles funktionierte, wie die Leute informiert wurden, wie sie zu den Versammlungen kamen, wie sie dort versorgt wurden. Aber der Widerhall war groß. Dann entschloss sich die britische Regierung, eine geplante Massenversammlung zu verbieten, und O’Connell, in seiner Gesetzestreue und dem unbedingten Willen zu ausschließlich friedlichen Protesten, sagte die Versammlung ab. Sein Stern begann zu sinken. Bis zur Home Rule sollten noch Jahrzehnte vergehen.
Trotz der Höhe der Statue gelingt Hermanita von einem Winkel des Platzes aus noch ein schönes Photo von O‘Connell vor strahlend blauem Himmel.
Wir gehen zu einer Ruine, die wir vorher gesehen haben. Unterwegs entdeckt Hermanita an einer Ecke ein Café, das in einem der Bücher von Joyce genannt wird. Dort steht The Queen’s Hotel has found it’s place in literature. Mit einem typischen Rechtschreibfehler, den nicht nur Ausländer machen.
Bei der Ruine handelt es sich um ein ehemaliges Franziskanerkloster, das sich später die Anglikaner unter die Nägel rissen, um es dann, nach dem Neubau einer eigenen, größeren Kirche, verfallen zu lassen.
Hier wird Eintritt genommen, wie fast überall. Es gibt zwar überall Seniorenrabatt, aber es läppert sich im Laufe der Tage einiges zusammen.
Wir werden von John, einem enthusiastischen Führer, in Empfang genommen. Durch unsere Kenntnis der biblischen Szenen fühlt er sich animiert und nimmt noch mehr Fahrt auf.
Das Kloster war im Mittelalter ein bedeutendes Bildungszentrum, mit 350 Mönchen und 600 Schülern!
Aus der Gründerzeit erhalten blieb der Chor mit fünfbahnigen Fenstern, durch die man auf den blauen Himmel dahinter oder auf blühende Bäume sieht.
John erklärt detailliert die teils angegriffenen Kalksteinskulpturen, darunter die von Franziskus, die wir gegen die Sonne erst gar nicht entdecken können.
Aus einem Grab ist eine Tumba mit reichem Figurenschmuck erhalten. Vor allem die Apostel und ihre Insignien haben es ihm angetan. Petrus mit dem Schlüssel, Paulus mit dem Schwert, Bartholomäus mit dem Messer, Andreas mit dem Kreuz, Matthäus als Steuereintreiber. Besonderen Wert legt er darauf, dass Johannes als einziger bartlos ist.
Dann erklärt er die Reliefs mit den biblischen Szenen, die wir der Reihe nach durchgehen: Geißelung, Kreuzigung, Grablegung, Auferstehung. Unter den vielen Marias am leeren Grab ist eine mit zeitgenössischem Kopfschmuck und Kleidern. Die römischen Soldaten bei der Kreuzigung sehen wie eine Mischung aus Kreuzrittern und Gnomen aus. Das Blut bei der Kreuzigung wird von fliegenden Engeln in Kelchen aufgefangen.
Plötzlich ist unser Führer verschwunden. Wir gehen noch in den dachlosen Kreuzgang – oder was davon noch übrig ist – und genießen die Stille und den Sonnenschein.
Dann geht es in das Café an der Ecke. Es ist gut besucht, Stühle und Tische sind ganz unregelmäßig über den Raum verteilt.
Die Kellnerin ist Spanierin, aus Madrid. Ich habe sie für eine Italienerin gehalten. Wir bestellen Kaffee und Kuchen, bei mir ist, es in Erinnerung an längst vergangene Zeiten, Bakewell Tart (hieß früher Bakewell Pudding), mit Marmelade gefüllt, aus Bakewell in Derbyshire.
Am Nebentisch sitzt eine Frau, die ganz tief über ein Heft gebeugt ist, in dem sie Zeichen nachzeichnet. Sie erklärt, was sie da macht. Es sind chinesische Charaktere. Sie kann leidlich Chinesisch sprechen, kann es aber nicht schreiben. Sie zeichnet also die Charaktere einen nach dem anderen nach. Über den Charakteren steht die Aussprache in lateinischen Buchstaben. Die Bedeutung steht nirgendwo, das Übungsheft richtet sich also nur an Lerner wie sie, die schon Chinesisch können. Ihre Eltern sind vor gut 20 Jahren nach Irland gekommen, und auch mit ihnen spricht sie oft Englisch. Sie fragt nach uns, woher wir kämen und ob wir hier im Urlaub wären. Als sie hört, dass wir aus Deutschland kommen, ist sie ganz überrascht: „I heard you speak another language before.“
Wir machen uns auf den Weg zu den Cliffs of Moher. Unterwegs taucht am Wegesrand immer wieder die ukrainische Flagge auf. Was machen die Ukrainer hier in dieser verlassenen Gegend? Später stellt sich heraus, dass es die Flagge von County Clare ist, der Nachbargrafschaft, in der wir inzwischen gelandet sind. Noch später stellt sich heraus, dass die Präsenz der Flaggen – in Galway sehen wir später das violett-weiße Pendant von Clare – der Tatsache geschuldet ist, dass jetzt gerade die Endrunde im Gaelic Football stattfindet.
Die Cliffs of Moher, hat Hermanita in einem Reiseführer herausgefunden, ist die am zweitmeisten besuchte Sehenswürdigkeit Irlands. Und was ist die Erste? Man mag es kaum glauben: Das Guinness Storehouse in Dublin!
Ein bisschen paradox: Man kommt, um Natur zu sehen, und wird erst einmal auf einen Parkplatz geleitet. Und muss bezahlen, und zwar nicht zu knapp.
Wir können froh sein, zu dieser Jahreszeit hier zu sein. Es ist voll, aber nicht überlaufen, und je weiter man sich vom Eingang entfernt, umso ruhiger wird es.
Der Weg windet sich nach oben, und von dort hat man einen schönen Blick zurück auf die Klippen und das Meer. Die Sonne schimmert im Wasser, das blau und blaugrün ist. Der Atlantik ist ruhig, und der Anblick der Klippen schön, aber undramatisch. Sie kommen wahrscheinlich bei einem wilden Sturm besser zur Geltung. Manchmal kann man dann sogar beobachten, wie Teile der Felsen abbrechen und ins Wasser stürzen. Das kann man heute nicht einmal erahnen.
Besonders schön ist der Blick in eine Bucht, in der man, wenn man länger hinsieht, Möwen entdeckt, erst einzelne, dann Dutzende, dann Hunderte. Die Klippen sind, so scheint es, von Moos bedeckt, aber es sind ganz feine Grasbüschel. Die bewegen sich im Wind.
Unter den Besuchern hört man alle möglichen Sprachen. Außer Europäern sind vor allem Inder vertreten. Alle haben praktische, sportliche Kleidung an, bis auf eine Frau in einem wehenden dünnen blauen Seidenkleid.
Auf dem Rückweg sehen wir ein kleines Wägelchen von der Art, wie sie auf Flughäfen oder Golfplätzen benutzt werden. Darin werden hier Besucher durch die Gegend gefahren. Sie heißen hier Lifts of Moher.
Jetzt kommt der schwierige Teil des Ausflugs. Wir wollen The Burren sehen, die Landschaft, die so ganz anders ist als der Rest von Irland, felsig, baumlos, karg, etwas unheimlich. Aber The Burren versteckt sich vor uns. Wir haben den Eindruck, ihn ständig zu umkreisen, ohne dorthin zu kommen. Es stellt sich heraus, dass der Name The Burren nicht nur für diesen relativ kleinen Ausschnitt gilt, sondern für die ganze Gegend, und die sieht nicht anders aus als andere Gegenden Irlands.
Schon die erste Strecke zieht sich länger hin als erwartet. Wir sind zwar auf dem richtigen Weg, haben aber Liscannor mit Lisdoonvarna verwechselt, und das liegt viel weiter weg. Es ist ein verschlungener Weg über schmale Straßen.
Wie auch sonst, ist die Straßendecke ganz gut, nur muss man immer mal mit vereinzelten Schlaglöchern rechnen. Und denen kann man nicht so gut ausweichen, wenn ein Auto entgegenkommt. Die Spuren sind schmaler als bei uns. Und außerdem gibt es links und rechts meist kein bisschen Raum, um ausweichen zu können. Zu allem Übel kommen gelegentlich auch noch Radfahrer oder Wanderer die Straße entlang. Gibt es hier keine Wanderwege? Keine Ausweichmöglichkeiten? Sieht nicht so aus. Wir finden auch bis zum Schluss keine Möglichkeit, anders als über die Landstraße von uns nach Killimor zu kommen.
Einmal taucht eins von den Warnhinweisen auf, die hier in Irland schwarz-gelb sind: No verge! Hahaha, als wenn das weiter bemerkenswert wäre. Einen Seitenstreifen gibt es nirgendwo!
Nach einigem Hin und Her fahren wir nach Kilfenora. Dort gibt es das Burren Centre. Aber auch hier ist vom Burren nichts zu sehen. Immerhin bekommen wir hier Auskunft und in dem Café der Touristeninformation eine Stärkung.
Wir sollen uns auf jeden Fall noch die Kathedrale ansehen, nur ein paar Schritte entfernt. Kathedrale? Hier, am Ende der Welt? Die heißt wirklich so, aber in Irland hat das Wort wohl eine etwas weitere Bedeutung, bezieht sich auch auf das, was man als ganz normale Kirche ansehen würde.
Wieder einmal haben wir es mit einer Ruine zu tun. Sehenswert sind hier vor allem die Hochkreuze, besonders eins, The Doorty Cross, das, im Gegensatz zu den anderen, in der Kirche und nicht auf dem Kirchhof steht. Dessen Schaft wurde im Laufe der Geschichte von dem Kreuz selbst getrennt und diente als Grabmal der Familie Doorty. Daher der Name. Später wurden die beiden Teile wieder zusammengefügt.
Die Reliefs sind nur mit Hilfe der Beschreibung zu erkennen. Es gibt ein paar biblische Szenen, vor allem aber eine Seite mit einem Bischof, der einen, wie es heißt, „kontinentalen“ Bischofsstab in der Hand hält, so einen, wie wir ihn kennen. Darunter sind zwei Kleriker, einer mit einem Bischofsstab mit einer offenen Krümmung und einer mit einem Bischofsstab in Form des Buchstabens Tau. Die gelten als „insuläre“ Bischofsstäbe. Diese beiden Bischofsstäbe ruhen auf den Köpfen von zwei geflügelten Wesen, die auf den Köpfen zweier menschlicher Torsos stehen. Das ist an sich schon ganz kurios, weil ungewöhnlich und etwas mysteriös, aber hat wohl eine historische Bedeutung, die etwas mit dem Konflikt zwischen der kontinentalen, römischen Kirche und der irischen Kirche zu tun hat. Aber dazu müsste man den Hintergrund besser kennen.
Auf der Weiterfahrt kommen wir an Leamaneh Castle vorbei, einem verfallenen Schloss, das einsam etwas erhöht auf einer Wiese steht. Hier kann man nur ein Photo machen, alles ist abgesperrt. Man kann sich die Szene gut als Drehort für die Verfilmung eines Schauerromans vorstellen.
Dann erreichen wir Poulnabrone. Hier steht, mitten in der Landschaft, ein Dolmen. Ein paar Autos auf dem Parkplatz, aber keine Mengen von Touristen.
Der Dolmen, eine Struktur aus zwei vertikalen Felsblöcken, bedeckt von einem horizontalen, der sozusagen als Dach dient, ist eins der denkwürdigsten Erlebnisse unserer Reise, auch wenn er viel niedriger ist als erwartet. Zwischen 5.000 und 5.500 Jahren alt, älter als die ägyptischen Pyramiden! Die Dolmen markierten eine Begräbnisstätte der Steinzeit. Man fragt sich unwillkürlich, wie die Menschen dieser Zeit solche Felsblöcke haben anschleppen und aufstellen können. Der horizontale Block wiegt anderthalb Tonnen. Es muss eine perfekte Organisation und Koordination gegeben haben.
Die Archäologen haben hier die Skelette von dreißig Menschen aus der Steinzeit gefunden und einige Grabbeigaben. Das ist leider alles im Museum in Dublin. Ob der Dolmen die ursprüngliche Begräbnisstätte war oder ob die Toten von anderen Orten hierhergebracht worden sind, weiß man nicht.
Und dann kommt noch ein besonderes Detail: Neben den Skeletten aus der Steinzeit hat man auch das Skelett eines Babys aus der Bronzezeit gefunden. Das ist tausend Jahre später hier begraben worden!
Einen zusätzlichen Reiz hat die Gegend durch die Beschaffenheit des Bodens. Massive, große Steinplatten, weißlich, mit fast regelmäßigen Abständen zwischen ihnen. Sie sehen aus wie gigantische Puzzlesteine, so als wären sie nicht gewachsen, sondern gemacht. In den Zwischenräumen wächst Gras. Aber auch kleine Blumen kommen zum Vorschein, die für viele Besucher Photomotiv sind. Wir sehen später noch mal ähnliche Landschaften, aber nirgends sind die Steinplatten so schön ebenmäßig geschliffen wie hier. Ob es sich bei dieser Sache um ein turlough handelt, einen Wintersee, wie er für den Westen Irlands charakteristisch ist, wissen wir nicht genau. Auf den Photos in den Reiseführern sehen die anders aus.
Zu guter Letzt kommen wir dann nach einigem Navigieren doch noch zu The Burren. Zwei nebeneinander liegende steinerne Torten, bei denen sich die Felsen ringförmig nach oben winden. Aber zwischen uns und ihnen liegt ein See, wir kommen nicht hin. Man sieht auch keine Menschen dort, obwohl am Wegesrand viele Autos geparkt haben und vermutlich Wanderer unterwegs sind. Das Alles bleibt etwas unerklärlich.
Auf dem Rückweg zum Auto mache ich ein Photo von einem Rotkehlchen, das ganz ungerührt auf einem Zweig sitzt und sich in aller Ruhe photographieren lässt. Ich bin ganz platt, erfahre dann aber, dass Rotkehlchen so sind, gar nicht menschenscheu.
Uns steht noch eine etwas langwierige Rückfahrt bevor, aber wir kommen noch bei Tageslicht zu Hause an.
An einer Stelle erscheint am Straßenrand auf einmal ein Stück Wald mit abgestorbenen Bäumen, ein großer Kontrast zur Landschaft drum herum. Auch in Irland scheint es Waldsterben zu geben.
In einem größeren Ort, es könnte Loughrea gewesen sein, machen wir bei Aldi Halt. An der Kasse vor uns ein Mann, der am Ende doch noch eine Tüte haben will. Als er sie bekommt, wendet er sich an die Kassiererin und sagt „Cheers!“. Ein äußerst nützliches Wort, das jedem Englischlernenden zu empfehlen ist. Es bedeutet ‚Danke‘ und ‚Prost‘ und ‚Auf Wiedersehen‘!
Zu Hause soll es Rührei geben. Aber wir bekommen den Herd nicht an. Welchen Schalter man auch bedient, die Herdplatten werden nicht heiß. Dann hat Hermanita eine Erleuchtung: der Sicherheitsschalter! Bei praktisch allen Geräten gibt es einen zusätzlichen Schalter, den man erst aktivieren muss, um Strom zu haben. Jetzt läuft auch das Radio!
Dann klopft es an der Tür. Es ist Rita. Sie bringt selbstgebackene Scones. Einige davon erleben den nächsten Tag nicht mehr.
28. April Sonntag
Am nächsten Tag hat einer von uns einen Sonnenbrand. Kommt davon, wenn man sich nicht eincremt.
Für heute haben wir uns eine kürzere Strecke vorgenommen, wir wollen nach Portumna, da gibt es durchaus was zu sehen.
Es ist gut, wenn man zu zweit unterwegs ist. Man achtet einfach auf sehr unterschiedliche Dinge. Hermanita stellt im Laufe der Tage, angesichts der vereinzelt, weiter auseinanderliegenden Gehöfte, Fragen, die mir gar nicht in den Sinn kommen würden: Wie kommen die Kinder zur Schule? Wo ist der nächste Arzt? Wo gibt es eine Entbindungsstation? Ist man hier nicht auf Gedeih und Verderb auf ein Auto angewiesen? Wer melkt die Kühe? Woher bekommen sie Wasser? Nirgendwo sieht man eine Tränke. Bleiben sie das ganze Jahr über auf der Weide? Man sieht keine Ställe in der Nähe der Weiden.
Auf die meisten Fragen gibt Rita später Antworten: Ja, ein Auto zu haben, das sei schon sinnvoll. Aber ihre Mutter (oder Schwiegermutter) habe immer alles mit dem Fahrrad erledigt. Was aber wohl nicht für den Weg zur Entbindungsstation gilt. Zur Grundschule müssen die Kinder gebracht werden – oder gehen. Zu den weiterführenden Schulen fahren Busse. Wir sehen tatsächlich in den nächsten Tagen noch den einen oder anderen Schulbus. Ärzte gibt es in Portumna, zur Entbindung muss man nach Galway oder nach Loughrea. Die Kühe werden abends in den Stall geholt. Dort werden sie gemolken und mit Wasser versorgt. Wir sehen wirklich später häufig Ställe, sie sind zu einer Seite hin offen. Schrecklich kalt wird es hier wohl auch im Winter nicht.
Die kurze Strecke nach Portumna bringen wir schnell hinter uns. Irgendwo lesen wir im Laufe des Tages, was eigentlich offensichtlich ist: Port-umna. Da steckt der ‚Hafen‘ drin. Und umna heißt wohl ‚Baum‘.
Wir fahren zuerst zum Workhouse, von Martin empfohlen, aber da beginnt die Führung erst in gut einer Stunde. Wir fahren weiter in den Ort hinein und gehen über einen Friedhof. Alte und neue Gräber, aber wenige. Wird hier nicht gestorben? Hermanita kommt auf die Erklärung: Es ist der Kirchhof einer anglikanischen Kirche, und Anglikaner gibt es hier nur wenige.
Wir sehen während der ganzen Zeit überhaupt keine Urnengräber. Ob die Feuerbestattung hier noch die ganz große Ausnahme ist?
Gegenüber der Kirche auf der Straßenseite mit den Geschäften ein Zeitschriftenladen mit diesem Schild: Open 7 days early til late. Mit einem Rechtschreibfehler, der jedem Mittelstufenschüler angestrichen werden würde.
Von hier aus gehen wir zum Schloss. Zufällig laufen uns zwei Angestellte über den Weg. Wir sollten besser erst zum Workhouse gehen und später wiederkommen. Derweil könnten wir uns noch hier in der Klosterruine umsehen.
Das tun wir. In der morgendlichen sonntäglichen Ruhe hat die Ruine mit Säulengang und Maßwerkfenster mit dem satten Grün der Wiese und den Bäumen außen herum etwas. Der Himmel ist bewölkt, aber hell.
Hier stand ursprünglich eine Zisterzienserkapelle. Die wurde dann den Dominikanern überlassen, die sie als Nukleus ihres Klosters übernahmen. Was wir sehen, geht wohl noch auf die Zeit der Zisterzienser zurück. Dies sei das erste Kloster in Irland, in der die Reformbewegung aus dem Kontinent angekommen ist, heißt es, eine Reformbewegung, die die Rückkehr zur strikten Befolgung der monastischen Regeln durchsetzte.
Wir gehen zum Auto und fahren zum Workhouse zurück. Dort ist der Empfang etwas verhalten. Wir stehen etwas unvermittelt in einem Raum herum, der als Büro dient.
Dann geht aber die Führung los. Außer uns sind nur noch zwei Frauen dabei, eine ältere und eine jüngere. Sie sehen asiatisch aus, sind aber vielleicht Australierinnen.
Die Führerin hat eine etwas unglückliche Art, vorzutragen, alles sehr informativ und auch relevant, aber etwas langatmig und ohne erkennbare Begeisterung. Man sehnt sich nach Connor aus Galway zurück. Während der ganzen langen Einleitung bewegen wir uns nicht vom Fleck.
Die Initiative, Workhouses für die Armen einzurichten, kam ursprünglich aus England. Das Grundmotiv war philanthropisch, reiche Gönner stellten Geld zur Verfügung, damit die Armut der Massen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts immer dramatischer wurde, gemildert wurde. Allmählich waren die Gönner es aber leid, dass man ihnen immer an den Geldbeutel wollte. Daraufhin berief die Regierung eine Kommission ein. Die sollte Vorschläge machen, wie man der Armut in Irland zu Leibe rücken könne, und sie machte ihre Sache ausgesprochen gut: Der Erwerb von Grundbesitz für die Landarbeiter sollte erleichtert werden, es sollte mehr selbständige Bauern geben. Die Fischfangindustrie sollte ausgebaut und gefördert werden. Das Bildungssystem sollte verbessert werden. Neue Industrien sollten angesiedelt werden. All das war sinnvoll, aber kostete Geld. Und wurde verworfen. Stattdessen wurden die Workhouses gegründet.
Die Workhouses waren keine Gefängnisse. Man konnte raus. Es gab sogar Insassen, die tagsüber hierherkamen und abends wieder rausgingen, weil die Arbeit im Workhouse stigmatisiert war. Man wollte es den Bekannten gegenüber verheimlichen. Wenn man das Haus verließ, musste man die Uniform, die man beim Eintritt bekommen hatte, wieder abgeben. Wenn jemand einfach so ausbüchste, wurde nach ihnen gefahndet. Nicht, um sie wieder ins Workhouse zu bekommen, sondern um die Uniformen zurückzubekommen.
Familien wurden von vornherein getrennt, Frauen, Männer, Kinder. Nur Kleinkinder bis zu zwei Jahren blieben bei den Müttern. Die Sterblichkeit war wegen der ansteckenden Krankheiten groß, und es konnte passieren, dass eine Frau, die das Workhouse verließ, dann erst erfuhr, dass ihr Kind oder sogar ihre Kinder nicht mehr am Leben waren.
Die Nahrung war frugal. Es gab nur zwei Mahlzeiten am Tag für die Erwachsenen, drei für die Kinder. Haferflocken, Suppe, Milch, kein Gemüse, kein Obst, kein Fleisch. Man wollte mit allen Mitteln verhindern, dass die Leute ins Workhouse kamen, weil hier die Nahrung so gut war. Das wurde von einem Gefängnis in England berichtet. Dort begingen einige Arme eine Straftat, um ins Gefängnis zu kommen.
Wir stehen in dem Raum des Direktors. Zu einer Seite sind die Fenster lang und gewähren den Blick auf den Rasen vor dem Haus. Zur anderen Seite sind nur Fenster, so dass die Wände den Blick auf den Innenhof versperrten, wo die Insassen waren. Der Direktor betrat sein Büro von der Gartenseite aus und kam so nie mit den Insassen in Kontakt, nicht einmal in Blickkontakt.
Insgesamt gab es in Irland 163 Workhouses, in zwei Phasen von 1840 an errichtet. Nach der irischen Unabhängigkeit wurden sie geschlossen.
Bis zur großen Hungersnot gab es genug Platz, aber dann waren die Workhouses völlig überfüllt, jedenfalls die meisten. Hier in Portumna war das nicht der Fall. Das Gebäude war für 600 Insassen gebaut, hatte aber nie so viele.
Wir gehen auf den Innenhof hinaus. An einer Ecke des Hofes werden wir gefragt, welche Funktion etwas wohl gehabt hat, das da in die Mauer eingelassen ist. Eine der Australierinnen kommt sofort darauf: Das war der Abort. Privatsphäre gab es hier nicht. Das Geschäft wurde in Gesellschaft erledigt. Die Sickergrube zu entleeren war eine beliebte Strafarbeit.
Gleich daneben sieht man noch die Umrisse eines schmalen Raums. Das war die Gefängniszelle. Hier musste man stehend ohne Licht ausharren, wenn man etwas verbrochen hatte. Die Nähe zur Sickergrube sorgte dafür, dass die Strafe besonders unangenehm war.
Wir gehen in einen Schlafsaal hinauf. Es sind wohl Strohsäcke, die hier in Reihe und Glied auf dem Boden liegen, auf einem etwas erhöhten Absatz. Nachts wurden die Türen verschlossen, man durfte auch dann nicht raus, wenn man musste.
Die Belüftung, die uns auf den ersten Blick etwas mickrig vorkam, war im Gegenteil ganz ausgefeilt, mit Luftlöchern in der Wand und in dem Podest. Man wollte mit aller Macht das Aufkommen von Seuchen vermeiden, denn die würden dann von den Insassen, die das Workhouse verließen, in die Stadt getragen.
Dann sehen wir einen Film. Darin geht es um einen besonders scharfen und am Ende auch korrupten Direktor dieses Workhouses. Der wird von dem katholischen Pfarrer von Portumna, der gleichzeitig das Workhouse als Geistlicher betreut, herausgefordert und beschuldigt, durch Nahrungsentzug und eine harte Gangart den Tod von mehreren Insassen und das Leid von vielen zu verantworten zu haben. Der Direktor verweist den Pfarrer in seine Schranken. Er sei hier von der Krone angestellt und solle sich gefälligst fügen. Der Geistliche antwortet, er sei katholisch und nicht der britischen Krone, sondern dem Papst verpflichtet.
Als die Sache zu heiß wurde, machte sich der Direktor mit 5.000 £ aus dem Staub, zehn Jahresgehältern. Er ging nach Amerika, ließ seine Familie nachkommen, wurde Steuereintreiber und geriet dann selbst in Schwierigkeiten. Er landete am Ende in einem Schuldgefängnis, das besonders für seine grausamen Methoden bekannt war.
Oben sehen wir in einem anderen Raum noch Arbeitsmaterialien und Dokumentationen, unter anderem über eine Frau, die hier mithilfe eines Lakens Selbstmord beging, und über junge Frauen aus dem Workhouse, die nach Australien geschickt wurden. Das war eine willkommene Alternative, und man kam nur dorthin, wenn die Bewerbung erfolgreich war. Der Grund für diese Maßnahme: In Australien gab es Männerüberschuss. Die frühen Auswanderer waren Soldaten, Bauern und Strafgefangene, und die Frauen aus Portumna waren ihnen sehr willkommen.
Es wird höchste Zeit für eine Pause. Die bekommen wir in der Cafeteria des Schlosses. Hier gibt es Kaffee und Tee und wunderbare Scones, frisch, groß, innen weich, außen knusprig, mit Butter, Marmelade und Sahne serviert. Wunderbar. Nur die Marmelade aus den industriellen Marmeladendöschen will nicht richtig passen.
Der Mann an der Rezeption des Schlosses geht mit jedem einzelnen Besucher vor die Tür und erklärt freundlich und geduldig, wo es langgeht.
Wir steuern zuerst den Kitchen Garden an, wollen dann schon enttäuscht abdrehen, als wir ein paar belanglose Beete sehen. Aber dann entdeckt ein aufmerksames Auge ein Schild in der Mauer: Kitchen Garden.
Und der erweist sich als ein Volltreffer, mit seiner Mischung aus Ordnung und Verwilderung. Wir sehen Pflanzen mit originellen Namen wie Honesty und Lamb’s Ear, Wormwood und Mangetout. Auch Forget-me-nots sind dabei. Es gibt violette und himmelblaue und knallgelbe Blüten und alle möglichen Küchenkräuter, die Hermanita am Geruch erkennt. Wir sind die ganze Zeit über ganz für uns alleine in dem Garten.
Dann kommt das Schloss, ein Bau aus der Übergangszeit von Mittelalter und Renaissance, keine Burg mehr, aber auch kein Prachtschloss.
Das Schloss ist irgendwann abgebrannt und man kann nur eine Etage besichtigen. Es gibt nicht viel zu sehen, außer ein paar alten Truhen, die damals die Funktion von Schränken hatten, und ein paar freigelegten Fresken.
Einer der Räume heißt Garderobe, aber das ist nicht das, was wir uns darunter vorstellen. Es war die Latrine. Hier gibt es zwei in die Wand eingelassene Plätze für den Stuhlgang, und draußen gibt es Schächte, durch die die Notdurft abgeleitet wird. Man vermutet, dass es fließendes Wasser gab. Eine lukrative, aber kaum für zarte Gemüter gedachte Arbeit war der Abtransport der Fäkalien. Die wurden nur bei Nacht in ein Gebiet außerhalb der Stadtmauern gebracht.
Für das Wort Garderobe gibt es eine ingeniöse Erklärung, die, wenn sie nicht wahr ist, wahr sein sollte: Man hing in diesem Raum, so heißt es, seine Kleider auf, weil man glaubte, das Ammoniak diente zu deren Desinfizierung und zur Abwehr von Bakterien und Insekten. Deshalb sei der Name von dem Ort auf die Kleidung übertragen worden – oder umgekehrt.
Mit dem Schloss ist noch eine besondere Geschichte verbunden. In einer Vitrine ist das komplette Skelett eines Hundes ausgestellt, und das spricht für den Wahrheitsgehalt der Geschichte. Ein kleines Mädchen war aus dem Fenster des Schlosses gestürzt und dabei auf den vorbeilaufenden Hund gefallen, der ihm dadurch unfreiwillig das Leben rettete. Neben dem Skelett des Hundes wurden Nägel gefunden, die zu einer hölzernen Kiste gehörten, in der der Hund begraben wurde.
Abschließend machen wir noch einen Versuch, den Shannon zu sehen. Er ist genauso schwer zu fassen zu bekommen wie The Burren. Der Shannon ist immerhin der längste Fluss Irlands. Wir können uns nicht erinnern, ihn jemals überquert zu haben. Jetzt bekommen wir ihn nach einigen Umwegen zu sehen, im Dauerregen. Wir gehen eine Promenade entlang und klagen einer Hundebesitzerin unser Leid. Die gibt gut gelaunt Auskunft. Einfach ein paar hundert Meter weiter gehen, und da ist er. Und was ist dieses Wasser hier? Das ist der Lough Derg. Als wir weiter gehen, sehen wir tatsächlich, wie der Shannon mit seiner breiten Mündung in den See fließt. Von dort aus geht es weiter Richtung Limerick und in den Atlantik.
Der See ist aufgewühlt, sieht aus wie das Meer. Es ist windig und kalt. Wir flüchten uns ins Auto. Vorher bekommen wir aber noch einen ungewöhnlichen Anblick geboten. In einem Nebenarm des Shannon liegt ein größeres Hausboot. Da die wilde Vegetation den Blick verdeckt, sieht man das Wasser nicht, und es sieht so aus, als liege das Boot auf dem Land.
Unterwegs merkt Hermanita, dass meine Schuhe hinten Leuchtstreifen haben. Wusste ich nicht. Ich sehe die ja nicht!
Auf dem Rückweg machen wir kurz in Killimor Halt und gehen einmal durch den Ort, ein typisches Straßendorf. Der Gang durch den Ort ist ein bisschen niederschmetternd. Er ist ziemlich heruntergekommen. Verlassene Häuser, schmutzige Hausfassaden, eine geschlossene Apotheke, der Laden mit der Tankstelle, ein Hundesalon, ein paar Pubs. Die sehen nicht gerade einladend aus, nur Treacy’s macht einen etwas besseren Eindruck.
Den ganzen Vormittag über haben wir Sonne gehabt, seitdem typisch irisches Wetter: heftige Regenschauer in schnellem Wechsel mit trockenen Phasen und Sonnenschein.
Zu Hause fahren wir mal „unsere“ Straße runter. Die scheint nirgendwohin zu führen, es gibt auch keinen Richtungshinweis. Am letzten Tag machen wir dann eine erstaunliche Entdeckung, als wir von einem anderen Ort aus sozusagen durch die Hintertür über diese Straße kommen und plötzlich vor unserem Haus stehen.
Am Straßenrand wachsen bluebells in Hülle und Fülle, und auf der anderen Seite eine weiß blühende Pflanze, ganz dicht wachsend. Das ist Bärlauch. Der hat im Englischen gleich eine ganze Reihe von Namen, darunter wild garlic und wood garlic und few-flowered leek, und die machen die Verwandtschaft von Bärlauch, Lauch und Knoblauch deutlich.
29. April (Montag)
Aus aktuellem Anlass zieht sich das Frühstück länger hin als sonst, aber wir haben auch keine großen Strecken zurückzulegen.
Wovon lebt Irland? Die Frage haben wir uns gestern gestellt. Die wichtigsten Einnahmequellen sind: Molkereiprodukte und Rindfleisch, Blei und Zink und Erdgas, zivile Luftfahrt, Pharmazie, Tourismus.
Heute kommen wir im Verlauf des Tages endlich einmal über einen „richtigen“ Bahnübergang und dann unter einer Eisenbahnbrücke her, aber einen Zug haben wir immer noch nicht gesehen. Und einen Bahnhof auch nicht. Dabei soll das Eisenbahnnetz gar nicht so schlecht sein, jedenfalls nicht, solange es um die Verbindung zwischen den größeren Städten geht.
Die Straßen, über die wir heute fahren, sind meist kleinere Straßen, und als uns auf dem Rückweg von Thoor Ballylee ein Auto entgegenkommt, muss ich zurücksetzen, da wir nicht aneinander vorbeikommen.
Thoor Ballylee ist der Turm, in den sich Yeats einige Jahre lang zum Schreiben zurückgezogen hat. Der Turm passte in jeder Hinsicht, er war abgelegen, inmitten der Natur, im irischen Westen und in der Nähe des Landhauses seiner geistigen Freundin und Förderin, Lady Gregory. Und das Schreiben im Turm statt in einer gängigen Wohnung hatte etwas Mysteriöses und spiegelte gut die Atmosphäre seiner Texte wider.
Der Turm liegt bald zwei Kilometer abseits der Landstraße mitten im Wald an einem Bach. Er ist ein ziemlicher Klotz, hat keinerlei Eleganz.
Wir sind ohne große Ambitionen hierhergekommen, wohl wissend, dass der Turm zu dieser Jahreszeit geschlossen ist. Als wir uns gerade die Schautafeln vor dem Turm ansehen, hören wir plötzlich in der Einsamkeit eine Stimme hinter uns, die uns fragt, ob wir von weither gekommen seien, um den Turm zu sehen. Es ist der Wächter, der Waldhüter, und er bietet uns an, den Turm eigens für uns zu öffnen.
Er ist ausgesprochen freundlich und erzählt gerne was zu dem Turm. Als Yeats ihn kaufte, war er nicht bewohnbar, er errichtete deshalb ein Cottage als vorläufige Behausung und baute dann den Turm aus. Jetzt ist noch eine Erweiterung hinzugekommen, für das Zentrum, für die Gäste. Hier gibt es eine Rezeption und ein paar Andenken zu kaufen. An normalen Öffnungstagen wird den Besuchern hier Tee serviert.
Wer betreibt eigentlich den Turm? Das ist wohl nicht so eindeutig, jedenfalls verstehen wir die Erklärung nicht ganz. Es gibt wohl ein Gerangel zwischen einer staatlichen Gesellschaft und einem privaten Verein, die beide hier ihren Anteil haben. Man hat ca. 5.000 Besucher pro Jahr. Eine alte Wassermühle an dem Waldweg vor dem Haus soll instandgesetzt werden und den Turm demnächst mit Strom versorgen.
Der Waldhüter lässt uns alleine den Turm besuchen. Er hat drei Stockwerke, im ersten war das Arbeitszimmer von Yeats, im zweiten waren die Wohnräume, das dritte war für Gäste. Über eine enge Wendeltreppe geht es nach oben.
Aus dem Arbeitszimmer hat man einen schönen Blick durch das geöffnete Fenster – die Fensterläden, die natürlich grün sind, sind geöffnet – auf die Landschaft davor. In der Nische vor dem Fenster steht der Schreibtisch von Yeats mit Federkiel und Kerze, daneben Hefte mit handgeschriebenen Texten.
Es werden dreibeinige Stühle gebraucht von der Art, die hier als Sligo Chair bekannt sind. Die sollen den unebenen Boden ausgleichen. Bei der Herstellung der Stühle werden keine Nägel verwendet.
Es gibt einige Schaubilder zum Werk von Yeats. Da wird unter anderem der Stellenwert von Bäumen in seiner Dichtung herausgestellt. Bäume werden nicht nur als Teil der Natur gesehen, sie gehen immer auch in seinen Symbolismus ein („broken boughs and blackened leaves“). In dem Gedicht „The two trees“ tauchen sie als Tree of Knowledge und Tree of Life auf.
Yeats testete seine Gedichte immer mit dem Ohr. Der Klang, der Rhythmus waren von besonderer Bedeutung. Ich habe einmal eine Rezitation von ihm gehört. Da trug er seine Gedichte in einer Art Singsang vor. Man vermutet, dass die Weigerung seines Vaters, ihn Musikunterricht nehmen zu lassen, gerade dieses Interesse an den Rhythmen von Gedichten geweckt hat.
Als wir wieder unten sind, macht sich der Waldhüter an einer Mauer zu schaffen, die auf beiden Seiten des Weges zum Turm führt. Baut er sie ab oder auf? Beides, sagt er. Die Mauer fällt in sich zusammen und wird von Grün überwuchert. Das kann man perfekt sehen, denn die Mauer auf der linken Seite ist noch nicht instandgesetzt, die auf der rechten Seite ist in Bearbeitung. Der Kontrast macht deutlich, wie viel Arbeit da drinsteckt. Er macht die Mauer jetzt etwas breiter, damit sie besser hält. Alles wird ohne Mörtel gemacht, nur die Statik der Steine trägt die Mauer.
Der Mann arbeitet ganz alleine hier, aber nur halbtags. Die andere Hälfte der Zeit verbringt er bei einer zweiten Arbeit. Er hat, wie wir beide finden, ein ausgesprochen freundliches, liebenswertes Wesen.
Zum Schluss erklärt er noch, wie wir zum Coole Park kommen. Als wir dort unser Auto geparkt haben, kommen vier junge Frauen an uns vorbei, lebhaft in ein Gespräch vertieft, in einer unbekannten Sprache. Ich frage, welche Sprache sie sprechen, und es stellt sich heraus, sie sind Brasilianerinnen, sie sprechen Portugiesisch!
Coole Park ist ein riesiges Areal und wirkt eher wie ein Wald denn wie ein Park. Das merken wir schon, als wir mit dem Auto reinfahren.
Als erstes steuern wir den Tea Room an. Auch hier gibt es Scones, lecker, aber nicht so gut wie die von gestern. Sie sind mit Blaubeeren gefüllt. Es gibt sogar welche mit Spinat!
Dann geht es zur Information. Eine sehr freundliche Frau gibt uns einen Plan und erklärt uns, was man hier und in der Umgebung alles sehen kann. Hier in Coole Park, sagt sie, war das Haus, vermutlich eher eine Villa, der Lady Gregory. Yeats lud sich hier ein und verbrachte den Sommer hier (wobei Sommer so etwa März bis November bedeutete). Als er dann heiratete, zog sie einen Schlussstrich, gleich zwei Personen durchzufüttern, das war ihr doch etwas zu viel. Erst daraufhin kaufte Yeats den Turm.
Das Haus von Lady Gregory steht nicht mehr, wohl aber der Autograph Tree. Dort hatten sich damals irische Dichter verewigt, darunter Shaw, Synge und O’Casey und natürlich Yeats. Auch der erste irische Premierminister und Lady Gregory und ihr Sohn hinterließen hier ihre Unterschrift.
Es dauert eine Zeit, bis wir ihn finden. Er befindet sich im Walled Garden. Es ist eine prächtige, hohe, mit dichtem Laub bewachsene Rotbuche, deren äußere Zweige fast bis zum Boden reichen. Der Baum selbst ist fast eine Sehenswürdigkeit. Man hat eine hölzerne Umzäunung um den Baum herum angebracht, um zu verhindern, dass sich auch Leute ohne literarische oder sonstige Meriten hier verewigen. Die Unterschriften der Prominenten selbst kann man so nicht erkennen. Außerdem liegt der Autograph Tree zur Hälfte noch in einer Baustelle.
Wir gehen noch etwas in dem Walled Garden herum. Hier gibt es Bäume mit wunderbar knorrigen, dicken Baustämmen, die sich auseinanderdividieren, und auch hier gibt es wieder Bärlauch in Hülle und Fülle. Aus der Ferne sehen wir einen Baum, der abzusterben scheint. Als wir näherkommen, sehen wir, dass das eine optische Täuschung ist. Die Äste des Baums ziehen sich konzentrisch um den Stamm herum, und der innere Ring ist bereist grün, vielleicht weil er von den anderen geschützt ist oder weil er näher an der Quelle ist, die äußeren Ringe sind gerade dabei, zu sprießen. Hermanita zückt ihr Handy, und das verrät uns, um was für einen Baum es sich handelt: noch eine Rotbuche.
Ich erweitere auch meine Kenntnisse von Nistkästen. Ich wusste gar nicht, dass es auch welche mit Schlitz gibt, und zwar mit schmalerem und breiterem Schlitz. Woher wissen die Vögel, wohin sie müssen? Und warum braucht man überhaupt unterschiedliche Nistkästen?
Wir machen noch einen Spaziergang durch den Park. Es gibt lange Spazierwege, einer davon geht am See entlang. Nur an einer Stelle kann man durch das Gebüsch ans Ufer treten. Der See ist stürmisch und grau.
Wo sind wir eigentlich inzwischen gelandet? Auf gut Glück gehen wir los und kommen wieder zum Tea Room, und von dort führt Hermanita uns zum Parkplatz, und zwar zu dem richtigen.
Unser Auto kennen wir inzwischen auch, aber es wäre gar nicht nötig, es ist immer das, das am schlechtesten geparkt ist.
Ich komme mit dem Corsa einfach nicht zurecht. Ich nehme Bordsteinkanten mit, lege den falschen Gang ein, trete auf Gaspedal statt auf die Kupplung und verwechsle Scheibenwischer und Blinker. Und parke wie ein Blinder.
Links fahren ist an sich nicht schwer, man muss nur immer dran denken, auch dann, wenn man abbiegt oder in den Kreisverkehr fährt. Besonders schwer ist es, wenn man sich verfahren hat, dann wendet und zurücksetzt. Danach kann man leicht auf der falschen Straßenseite landen. Da ist es gut, wenn vier Augen aufpassen.
Schalten mit der linken Hand ist ungewohnt, aber es geht im Laufe der Tage immer besser. Hermanita will in den ersten Tagen morgens immer an der Fahrerseite einsteigen.
Merkwürdigerweise ist es gar nicht leicht, als Fußgänger die Straße zu überqueren. Das hat man so verinnerlicht, dass man oft schlechter aufpasst als im Auto.
Den richtigen Weg finden wir immer, wenn auch nicht immer sofort. Hermanita hat am liebsten Straßenkarte und Handy vor sich, und wenn dann die Frau auf dem Handy auch noch spricht, ist sie ganz glücklich. Geleitet werde ich dann so: „Nach 400 Metern rechts abbiegen … 300 Meter … 200 … 100 … rechts abbiegen, links fahren.“ Da kann nichts schiefgehen.
Wir fahren nach Portumna zurück und gehen in einen kleinen Laden auf der Suche nach Brot, finden aber nichts Vernünftiges. Die freundliche Kassiererin, eine Inderin, hilft uns. Weiter die Straße hinunter gebe es einen Supermarkt, die hätten eine größere Auswahl. Und eine Post gebe es kurz vorher in der Straße rechts.
Sie stammt aus Südindien und ist eigentlich Krankenschwester. Hier komme sie nur zur Aushilfe hin. Woher wir kämen, will sie wissen. Und ob wir Irland teuer fänden. Ja, sagen wir, teurer als Deutschland. Sie findet, vor allem in der letzten Zeit hätten sich die Preise enorm erhöht.
Wir folgen ihren Anweisungen und kommen zur Post. Hermanita kauft Briefmarken für Postkarten in die Heimat. Die kosten sage und schreibe 2,20 €! Bei uns zu Hause sind es 95 Cent!
Vor der Post finden wir dann auch endlich einen Briefkasten. Der ist natürlich grün.
Der Supermarkt ist riesig und mit allem bestückt, was man sich wünschen kann, auch mit frisch zubereiteten Fertigspeisen. Man fragt sich, wie die bis zum Abend noch alle weggehen sollen. Jetzt sind so gut wie keine Kunden hier. Wir finden ein ordentliches Brot und noch ein paar Kleinigkeiten und gehen zur Kasse. Die Kassiererin sagt zur Begrüßung etwas, das es wohl nur in Irland gibt: „Are you alright?“ Das hat mich schon immer aus dem Gleichgewicht gebracht, und ich weiß bis heute nicht, wie man darauf reagiert.
Schon gestern ist uns ein Lokal an der Hauptstraße aufgefallen, das Modena. Klingt italienisch, ist aber nicht italienisch, sondern indisch.
Der Eingang liegt hinter der Straßenfront zurück, und die Steinfassade des Hauses unterscheidet sich von allem rings herum. Das Lokal ist riesig, und außerdem gibt es noch Plätze draußen und in einem Pub, das an das Lokal angrenzt. Es ist, um es gelinde zu sagen, gemütlich warm hier drin. Wir sind vorläufig die einzigen Gäste.
Die Wirtin ist aus Malaysia, der Wirt, ihr Ehemann, aus Bangladesch. Er sei schon seit 30 Jahren in Irland, sie seit 25. Sie kannten sich vorher schon. Was für eine Vorstellung, in ein so unbekanntes, fernes Land zu kommen und sich hier zurechtfinden zu müssen! Zuerst haben sie in einer Fabrik gearbeitet, aber als die geschlossen wurde, haben sie sich entschieden, das Lokal zu eröffnen. Ein Schritt, der Mut und Entschlossenheit verlangt. Man kann nur den Hut ziehen vor Menschen, die sich auf so etwas einlassen.
Wir bringen unseren Neffen ins Spiel, der mit den akademischen Meriten aus Malaysia. Als wir von Cameron Highlands sprechen, sagt sie, dort sei es kalt, aber nicht „Irish cold“. Um sich dagegen zu schützen, haben sie wohl die Heizung volle Pulle laufen.
Wie verständigen sich denn ihr Mann und sie? Manchmal auf Malaiisch, manchmal auf Bengali, manchmal auf Englisch. So richtig vorstellen kann man sich das nicht. Vermutlich hat sie nie Bengali und er nie Malaiisch gelernt, und Englisch ist auch für beide eine Fremdsprache. Ich erinnere mich an ein Paar in der Heimat, sie Kolumbianerin, er US-Amerikaner. Sie konnte kein Englisch, er konnte kein Spanisch. Er sprach fließend Deutsch, ihr Deutsch war erbärmlich. Sie wurden ein Paar, heirateten und bekamen zwei Kinder. Das geht wohl alles ohne viel Sprache. Ist vielleicht sogar einfacher. Verhindert Missverständnisse.
Hermanita lässt sich nicht lumpen und lädt ein. Als Vorspeise bekommen wir beide Pilze, sie in einer Pastete mit viel Sahnesoße, ich frittiert und paniert, mit Knoblauch. Als Hauptspeise bekommt sie Korma mit Lamm, ich bekomme Tandori Chicken Tikka. Dazu bekommen wir beide ein holländisches Bier.
Während wir essen, wischt die Wirtin die hintere Ziffer der Preise an der Tafel aus. Dann lässt die Tafel trocknen, damit man es nicht merkt. Dann schreibt sie neue Zahlen: Aus 6 wird 7, aus 13 wird 16.
Nach dem Essen sehen wir uns noch die Kirche gegenüber an, St. Bridgid’s Church, kaum einzuordnen, mit pseudo-gotischen Elementen, Satteldach, wirkt innen noch größer als außen. Die Kirche ist einschiffig und hat im Osten ein modernes Rundfenster. Links vom Altar steht die irische Fahne! Rechts eine gelb-weiße Fahne, die ich für die Papstfahne halte, zumal Johannes Paul II. hier auch mal gewesen ist. Stimmt aber nicht, die Fahne hat mit dem Papst nichts zu tun. Wir machen zwei Kerzchen an und gehen wieder hinaus.
Hinten ein Hinweis auf einer Keramiktafel, der sich an die Hinterbänkler wendet oder besser die, die noch hinter den Hinterbänklern stehen: People are not permitted to remain at back of Church while Bench accommodation is available.
Als wir wieder zu Hause sind, klopft Rita an die Tür. Mit 4 frisch gelegten Eiern. Sie nimmt die Einladung zu einem Glas Wein an und plaudert locker drauf los.
Sie haben 7 Hühner, und die legen alle regelmäßig. Sie haben auch Kühe. 13 an der Zahl. Wer die denn melkt? Keiner. Es sind alles Rinder. „We keep them for the meat“, sagt sie, das Offensichtliche sagend. Wenn sie meat sagt, klingt es wie meach. Auch das ist irisch.
Sie komme gerade vom Golfplatz. Schon wieder? Ja, sie spiele gerne Golf. Sie spielen Turniere, aber nur innerhalb des Clubs. Der Golfplatz habe übrigens auch ein gutes Lokal. Ob ihr Mann auch Golf spiele? „He tries.“
Morgen, berichtet sie, führen sie zu einer Taufe in eine benachbarte Grafschaft. Das Kind einer indischen Freundin werde getauft. Die stamme aus Südindien und sei Krankenschwester. Das kommt uns bekannt vor. Und so haben sie sich kennengelernt: Die Inderin wohnte, hochschwanger, mit ihrem Mann hier in der Gegend und habe immer wieder nachgefragt, ob sie das Haus mieten könne. Das habe sie, Rita, abgelehnt, das wolle sie nicht, aus verschiedenen Gründen (Hermanita bemerkt später, dass die kurzfristige Vermietung ja schließlich auch lukrativer sei). Am Ende habe sie nachgegeben. Sie hätten sich angefreundet, und alles sei in Ordnung gewesen. Obwohl: nicht alles. Die Inder hätten nie gelüftet, die Luft habe gestanden und die Wände seien geschwärzt gewesen von der schlechten Luft. Wie dem auch sei, morgen führen sie also zur Taufe. Das Kind wird nicht nur getauft, sondern auch gleich gefirmt. Das mache man so bei den Christen im Süden Indiens.
Als sie von der benachbarten County spricht, in die sie fahren, bin ich überfragt. Nie gehört. Eigentlich kaum vorstellbar. Ich habe schon so oft irische Landkarten angesehen, dass ich den Namen schon mal gehört haben muss. Dann stellt sich heraus, dass es an der Aussprache liegt. Sie sagt so etwas wie Mare, und das ist die Aussprache von Mayo, von dem ich immer dachte, dass es wie Mayo in Mayonnaise ausgesprochen wird.
Rita erzählt von einem weiteren irischen Flughafen, einem, der sich eben dort, in Mayo, befindet. Werde von Köln aus angeflogen. Aber nur im Sommer. Der Flughafen wäre ideal, wenn man ganz in den Westen wolle. Er befindet sich in einer Stadt namens Knock, einem wichtigen Wallfahrtsort. Ein Geistlicher aus dem Wallfahrtsort, ein Monsignore, habe ich jahrelang für einen Flughafen für die Pilger eingesetzt. Das wurde von den meisten für völlig hoffnungslos gehalten. Aber am Ende habe er seinen Flughafen bekommen.
Ich erwähne die Führung im Workhouse, und sie sagt, wie schade, sie hätte uns eine Führung auf Deutsch organisieren kann. Diese Frau mischt überall mit.
Ich erwähne auch den Bärlauch. Ja, sagt sie, daraus mache sie eine Suppe, genauso wie aus Nesseln. Und der Bärlauch komme auch ins Pesto.
Sie kann auch noch eine weitere Frage beantworten, die wir uns gestellt haben. Wird hier nirgendwo Getreide angebaut? Nein, hier nicht, nur im Osten Irlands. Und was ist dann mit den Rundballen, die man hier überall auf den Feldern sieht? Grünfutter für die Tiere sei das, also vermutlich Heu. Dabei begegnet mir ein Wort wieder, das ich seit Studentenzeiten kaum noch mal gehört habe, aber aus einer englischen Seifenoper im Radio kenne: silage.
Ihr Mann habe den Hof von seinen Eltern übernommen, sagt sie, und jetzt würden sie ihn in verminderter Weise weiter betreiben. Sie lebe jetzt auch schon seit 30 Jahren hier, denke aber darüber nach, auf lange Sicht in die Stadt zu ziehen. Ob sie auch von hier stamme? Nein, antwortet sie ganz entsetzt, so als wenn sie aus der Mongolei stamme. Sie komme aus dem Westen Galways.
30. April (Dienstag)
Auf einer Karte von Irland entdecke ich, dass es auch hier ein Bangor gibt. Sogar im Doppelpack, eins in Nordirland, eins in der Republik. Das Bangor, das ich kenne, aus dem Lied von anno dazumal, liegt aber wohl in Wales.
Die häufige Präsenz von kil in irischen Ortsnamen (Killarney, Kilkenny) hat eine ganz einfache Erklärung: kil ist das irische Wort für ‚Kirche‘.
In einem witzigen und gleichzeitig informativen Buch über Irland, The Truth about the Irish, lese ich etwas über eine besondere Redewendung. Wenn man in Nordirland jemanden fragt, “Which foot do you dig with?”, möchte man wissen, ob man es mit einem Katholiken oder einem Protestanten zu tun hat. Danach graben Protestanten mit dem rechten, Katholiken mit dem linken Fuß. Der Ursprung dieser Redewendung: Traditionellerweise wurden in unterschiedlichen Provinzen zwei unterschiedliche Spaten benutzt, der eine im vorwiegend katholischen Munster, der andere im stärker protestantisch geprägten Ulster. Der eine hatte eine Einkerbung auf der rechten, der andere auf der linken Seite. Daher konnte man als Katholik oder Protestant identifiziert werden. Allerdings hat die Redewendung einen Haken: Bei ihr sind links und rechts verwechselt. Tatsächlich hat der katholische Spaten die Einkerbung auf der rechten, der protestantische auf der linken Seite.
Auf der Wiese hinter dem Haus fliegen zwei Vögel, heftig mit den Flügeln schlagend, ganz knapp über der Wiese. Wenn man es nicht besser wüsste, würde man auf Kolibris tippen.
Zum Abschluss geht es heute nach Clonmacnoise, von Hermanita im Reiseführer entdeckt. Ist gar nicht so weit, wie ich dachte.
Diesmal geht es in die andere Richtung, bisher sind wir immer Richtung Galway oder Richtung Portumna gefahren. Jetzt geht es Richtung Dublin, und unterwegs kommen wir wieder an dem Laden vom ersten Tag vorbei, in Lawrencetown.
Wir fahren über eine einsame, schmale Landstraße mit Bäumen auf beiden Seiten, mit sattgrünem Laubwerk. Die Baumkronen begegnen sich oben und bilden einen Baldachin. Einfach schön. Im Zusammenhang mit Irland als grüner Insel bin ich mal auf Fifty Shades of Green gestoßen.
Auf einer anderen schmalen Straße wächst zu beiden Seiten ganz üppig der Stechginster mit seinen gelben Blüten, so sehr, dass ich Halt mache und feststellen kann, dass er seinen Namen Stechginster wirklich verdient.
Wir kommen durch Shannonbridge, und der Ort hält, was der Name verspricht. Er liegt an einer Brücke über den Shannon. Der ist hier ganz breit.
Unterwegs sieht Hermanita eine irische Fahne, bei der der orange Streifen fehlt. Nur weiß und grün sind übriggeblieben. Ist das absichtlich gemacht? Als politisches Statement, einem Statement gegen die Orangemen? Oder hat der Wind ein politisches Statement gemacht?
Auf den Weiden hier stehen schwarze Kühe, pechschwarze. Dieser Tage bei den Cliffs of Moher haben wir rostbraune gesehen. Daneben die braun-weißen und die schwarz-weißen und auch fast komplett weiße. Die Kühe scheinen sich immer einig zu sein. Entweder stehen sie und fressen gemeinsam oder sie liegen und verdauen gemeinsam. Wenn eine in eine Richtung läuft, laufen die anderen hinterher, in dieselbe Richtung. Wir sehen im Laufe der Tage mehr Kühe als Schafe, und tatsächlich hat Irland, entgegen unseren Erwartungen, mehr Kühe als Schafe.
Das Erste, was man von Clonmacnoise bei der Anfahrt aus der Ferne sieht, ist eine Mauer, die sich gefährlich schief zum Shannon hin neigt. Sie hat mit dem Kloster nichts zu tun, sie ist der Rest einer normannischen Befestigung.
Clonmacnoise ist eine der bedeutendsten Sehenswürdigkeiten Irlands. Es war nicht nur Kloster, sondern auch königliche Stadt und Bestattungsort der Könige von Tara und Connaught.
Es ist auch zu dieser Jahreszeit schon gut besucht, aber nicht überlaufen. Man verliert sich auf dem hügeligen, grünen Gelände inmitten all der Kirchenmauern, Hochkreuze, Rundtürme, Grabsteine. Von dem Hügel blickt man auf den Shannon hinunter.
Die Anlage des Klosters hier am Shannon war wohl bedacht. Sie hatte viele Vorteile. Der Fluss war Transportweg und Quelle für Nahrung und für Rohmaterialien: Lachs, Aal und Stör (der bis zu vier Meter lang werden konnten) landeten auf dem Teller ebenso wie Ente und Gans. Das Ried diente zur Bedachung, und Mergel zur Düngung sumpfiger Böden.
Als wir am Empfang unsere zwei Seniorentickets bestellen, sagt der Mann, der uns bedient: „Brilliant.“ Als wir ihn auf Nachfrage informieren, wir kämen aus Deutschland, sagt er wiederum „Brilliant.“ Es läuft nämlich gerade ein Einführungsfilm auf Deutsch.
Das Kloster wurde von einem gewissen Ciarán gegründet (Kieran gesprochen), schon im 6. Jahrhundert. Irland war schon ganz früh christlich.
Ciarán starb schon mit 33 Jahren, wenige Monate, nachdem er das Kloster gegründet hatte, und das hat zu der Ausbildung einer Legende beigetragen, die Parallelen zwischen ihm und Jesus sieht. Auch er war Sohn eines Zimmermanns und auch er soll Wasser in Wein verwandelt haben.
Das Kloster blühte und wurde zu einem wichtigen Bildungszentrum, fast so etwas wie ein Vorläufer einer europäischen Universität.
Am meisten bleibt aus dem Einführungsfilm in Erinnerung, wie häufig das Kloster, nachdem die ersten zweihundert Jahre friedlich verlaufen waren, Gegenstand von Attacken war, wie häufig es zerstört wurde, und zwar von Wikingern, Normannen, Iren und Engländern. Wenn es irgendwo was zu holen gab, unterschieden sie sich nicht großartig. Die Wikinger plünderten es achtmal, die Iren achtundzwanzigmal, die Normannen alle vier Jahre. Die englische Garnison von Athlone zerstörte dann in ihrem Säkularisierungswahn sämtliche Gebäude.
Früher konnte das Kloster, von Mooren umgeben, nur über den Shannon erreicht werden. Oder über einen sog. Esker. Was das ist, wird hier erklärt, aber ganz raffen wir es nicht. Es hat etwas mit Strukturen aus der Eiszeit zu tun, die dann durch Schotter oder Geröll aufgefüllt wurden.
Die Originale der Monumente stehen alle im Museum, allen voran die Hochkreuze. Dazu eine große Zahl von Steinplatten, einige mit einer Inschrift in Ogham, der merkwürdigen altirischen Schrift, die fast nur aus Strichen bestand. Hier trifft man häufig auf die Bitte or-do, ‚Bitte für uns‘.
Wichtiger als die Steinplatten sind aber die Hochkreuze, von denen die wichtigsten das South Cross (IX) und das Great Cross (XII) sind. Neben den christlichen Abbildungen, vor allem Szenen aus der Passion, sieht man Szenen von der Gründung des Klosters, einen Flötenspieler, einen Falkner und einen Streitwagen. Und man sieht völlig unerwarteterweise einen keltischen Gott (oder Druiden) mit Hirschgeweih. Was der hier zu suchen hat, ist nicht ganz klar. Historisch gesichert ist, dass die Wikinger, die das Heidentum nach Irland zurückbringen wollten, hier eine Frau zur Priesterin bestellten. Sie brachte heidnische Opfer auf dem Hochaltar dar und verkündete in Trance Orakelsprüche.
Bei den Hochkreuzen spielte die Wahl des Materials eine wichtige Rolle. Der Block durfte keine Risse haben und musste hart genug sein, um Wind und Wetter zu widerstehen und gleichzeitig weich genug für den Bildhauer. Man wählte einen quarzhaltigen Sandstein aus einem Steinbruch 35 Meilen von hier entfernt. Da war es gut, dass man den Shannon zum Transport hatte.
In einer Vitrine finden sich Knochenreste, einfach aufeinandergehäuft. Damit soll gezeigt werden, welch wichtiges Material Knochen waren, wie vielfältig sie eingesetzt werden konnten. Aus Knochen machte man Griffe für kleine Werkzeuge, Perlen, Nadeln, Kämme, Würfel und Schachfiguren.
Draußen trübt ein grauer Himmel das Panorama, aber man hat immer neue Sichten zwischen den Kreuzen und Grabsteinen (von denen gibt es 700!) hindurch auf den Fluss und hinauf auf den Hügel.
Wir können uns nicht so richtig orientieren, was war hier wohl was, es scheinen lauter unabhängige Kirchengebäude gewesen zu sein. Es gab tatsächlich neun Kirchen, darunter eine Kathedrale! Besonders groß ist keine der Ruinen, und wir fragen uns, wo die restlichen Klostergebäude waren.
Wir sehen uns noch an, wie aus den alten Gemäuern überall eine violette Blume durchbricht. Sie bahnt sich ihren Weg durch den Mörtel zwischen den Steinen.
Vor dem Rausgehen fallen mir die Piktogramme für die Toiletten auf, kleine gedrungene Gestalten, und das irische Wort für Toilette: Leithris. Hört sich wie Latrine an.
Es gibt kein Café, wohl aber einen Souvenirladen, wo wir einen Kühlschrankmagneten, einen Schal aus irischer Wolle und eine noch dringend benötigte Ansichtskarte bekommen. Hinter meinem Rücken wird dann auch noch eine Karte mit Bildern und Zitaten von irischen Schriftstellern gekauft, die später bei mir auf dem Schreibtisch landet: Joyce, Wilde, Shaw, Beckett, Swift, Yeats. Das Zitat von Yeats lautet: „The world is full of magic things, patiently waiting for our senses to grow sharper.”
Es hat inzwischen angefangen, zu regnen, und bei der Weiterfahrt wird der Regen immer heftiger. Die entgegenkommenden Autos spritzen durch die Pfützen, schießen ganze Fontänen hoch.
Wir schaffen es irgendwie, immer wieder um Clonfert, dem letzten Ziel unserer Reise, herumzufahren, ohne dorthin zu gelangen. Clonfert war auch ein Tipp von Martin.
Irgendwann kriegen wir dann doch den Dreh. Clonfert, ein entlegenes, einsames Dorf, war früher einmal – heute kaum vorstellbar – ein wichtiges kirchliches Zentrum und ist heute noch Sitz der Diözese. Und die Kirche, St. Brendan, ist eine Kathedrale!
Die Kirche ist benannt nach dem Abt der Klostergemeinschaft, St. Brendan, dem legendären Amerika-Fahrer. Legende? Ist es frühmittelalterliches keltisches Seemannsgarn oder gibt es einen realen Kern? Haben irische Mönche – lange vor Kolumbus und sogar vor den Wikingern – Amerika entdeckt.
Hört sich sehr unwahrscheinlich an, aber es gibt einen mittelalterlichen Bericht, die Navigatio sancti Brendani abbatis, von den Seefahrten Brendans. Der Bericht ist zwar erst vierhundert Jahre später erschienen, beruht aber auf langer mündlicher Überlieferung. Mit fünfzehn Gefährten macht sich Brendan auf den Weg, um nach dem verheißenen Land zu suchen. Die Fahrt dauerte sieben Jahre.
Es gibt verlässliche historische Zeugnisse für die Seefahrten irischer Mönche bis zum Polarkreis, ja bis nach Grönland. Darüber hinaus ist bekannt, dass die irischen Mönche umfangreiche geographische Kenntnisse besaßen, die geographischen Schriften des Ptolemäus kannten und auch schon wussten, dass die Erde keine Scheibe ist.
Die Beschreibungen der Navigatio scheinen Hand und Fuß zu haben und auf Fakten zu beruhen. Um die Skeptiker zu überzeugen, baute ein irischer Historiker und Abenteurer, Timothy Severin, in den siebziger Jahren ein traditionelles irisches Boot nach, die Curragh, mit genau den Materialien, die in der Navigatio angegeben sind. Allen Unkenrufen zum Trotz erwies sich das Schiff als hochseetüchtig. Severin erreichte mit seiner Mannschaft über die Färöer, Island und Grönland wohlbehalten die Küste von Neufundland! Unglaublich – mit gegerbten und in Wollfett eingeschmierten Ochsenhäuten!
Wir dagegen stehen weiter im Dauerregen auf dem verlassenen Kirchhof voller Kreuze. Dort erscheint dann auch ein Paar aus New Hampshire. Sie berichten, sie seien zum ersten Mal in Irland und hätten sich erst einmal „einen Überblick“ verschaffen wollen. Dabei haben sie sich wohl etwas übernommen. Sie sind in Dublin und in Belfast und in Cork und in Derry und wo sonst noch gewesen, immer mit dem Mietauto. Hierher, nach Clonfert, sind sie gekommen, weil ihr Sohn Brendan heißt.
Die Kirche ist verschlossen, aber man kann das romanische Portal bewundern. Kreise, Kugeln, Blätter, Scheiben mit einem Loch in der Mitte, die wie ein Donut aussehen, und putzige Tierköpfe sind in den Bögen der Archivolte angebracht. An der Seite ein musizierender Engel und die Figuren von zwei Äbten, und in einem Dreieck über der Archivolte, durch dreieckige Kantsteine getrennt, eine Vielzahl menschlicher Köpfe.
Auf dem Kirchhof ist auf einer Tafel von einer Steinplatte mit dem Abdruck von Katzenpfoten die Rede. Die soll den Bestattungsort von Brendan markieren, aber später stellt sich heraus, dass er zwar hier begraben ist, aber man nicht weiß, wo.
Die Amerikaner wollen in die Kirche rein. Irgendwo habe ich gelesen, dass man an dem Haus neben der Kirche einen Schlüssel bekommen kann. Sie versuchen es, kommen aber unverrichteter Dinge zurück. Sie konnten nicht einmal das Törchen öffnen. Daraufhin versuche ich es auch, mit demselben Ergebnis. Dann sehe ich, dass etwas weiter noch ein Haus steht. Ich klopfe, und schon steht mir eine freundlich lächelnde Frau mit dem Schlüssel in der Hand gegenüber.
Jetzt kommen wir in die Kirche rein, wissen aber nicht, wo das Licht angeht. Wir versuchen verschiedene Lichtschalter an verschiedenen Stellen – nichts. Die Frau mit dem Schlüssel hat mir etwas erklärt, aber ich habe es offensichtlich nicht verstanden. Dann finden wir in der Sakristei den Sicherungskasten. Und es ward Licht!
Die Kirche ist einschiffig (das war wohl nicht immer so) und klein, aber sehr schön. Nach dem Verfall des Klosters – von dem gar nichts mehr übrig ist – und der Vernachlässigung der Kirche hat man um das Jahr 1900 Ausstattung aus anderen Kirchen hierhergebracht, die gut passen: eine hölzerne Kanzel mit länglichen Evangelistenfiguren, das Chorgestühl, eine Kommunionschranke aus Messing, einen Opfertisch und eine Orgel mit sehr schönem Prospekt. Im Chor hat man sehr schöne farbige Fliesen verlegt.
Die Aufmerksamkeit auf sich ziehen ein Drache an einem der Pfeiler sowie eine Meerjungfrau. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, was sie in den Händen hält: einen Spiegel und einen Kamm. Was hat so eine weltliche Figur mit entblößtem Oberkörper in der Kirche zu suchen? Man vermutet, dass sie auch eine Anspielung auf die Seereisen Brendans ist. Auf einer seiner Reisen, heißt es, habe er den Meerestieren gepredigt.
In strömendem Regen fahren wir nach Hause und kommen auch dort in strömendem Regen an. Als wir uns ins Haus retten und an den Tisch setzen, hat der Regen schon wieder aufgehört, und die Sonne strahlt vom Himmel. Irland eben.