Argentinien (2025)

13. Januar (Montag)

Von Hamburg bis zum Nordkap sind es 2.000 Kilometer, vom Süden Argentiniens bis zum Norden sind es 4.000 Kilometer, von Ushuaia im Süden bis Salvador Mazza im Norden ist die Fahrstrecke 4.300 Kilometer. Hier gibt es also lange Strecken zurückzulegen.

Argentinien ist von der Fläche her das achtgrößte Land der Erde. Deutschland passt ziemlich genau achtmal da rein. Argentinien hat aber nur gut die Hälfte der Einwohner Deutschlands. Hinter Brasilien und Kolumbien ist es das drittgrößte Land Südamerikas nach der Bevölkerung.

Dass Buenos Aires ebenfalls groß ist, merkt man, wenn man in die Stadt reinfährt. Man lässt große Siedlungen und Slums hinter sich, auch das, in dem Maradona aufgewachsen ist. Der zeigt sich auch in überdimensionaler Größe auf einer Häuserwand am Rande der Autobahn.

Da, wo die Mautstelle ist, kommt man von der Provinz Buenos Aires in die Stadt Buenos Aires. Die Fahrt geht erstaunlich zügig, ohne jeden Stau. Der Fahrer behauptet, einen Gruß auf Deutsch zu können. Aber den kann man nur mit viel Wohlwollen als Guten Tag! identifizieren. Er bietet mir Taxifahrten an alle möglichen Orte an, an die ich gar nicht will.

Über die Avenida 9 de Julio, wo ich vor zwei Jahren gleich bei der Ankunft das Restaurant Untertürkheim gesehen habe, kommen wir nach San Telmo. Wieder ist dort meine Unterkunft, diesmal in einem alten Patrizierhaus, mit Loge für den Portier (den es nicht mehr gibt) und mit den alten Aufzügen mit gusseisernen Schiebetüren.

Es empfängt mich Lili, die Reinmachefrau, äußerst freundlich. Sie führt mich durch die Wohnung und fährt dann auch noch mal mit mir runter, um das komplizierte Spiel der Schlüssel an den verschiedenen Türen zu durchlaufen.

Die Wohnung ist groß und schön eingerichtet und hat bis auf eine Waschmaschine alles, was man sich wünschen kann. Es ist die Wohnung der Vermieterin, nur wird die im Moment nicht von ihr bewohnt. Sie hat mir auch gleich zwei Reiseführer hiergelassen und schickt mir per Handy weitere Informationen.

Ich mache mich gleich auf die Suche nach einer Möglichkeit zum Geldwechseln. In den Banken wird nicht gewechselt, dort verweist man mich auf die Wechselstuben und, in erstaunlicher Offenheit, auf die arbolitos, die Geldwechsler, die in der Fußgängerzone stehen und ihre Dienste anbieten. Ob das legal oder illegal, aber geduldet ist, habe ich nie rausbekommen.

Der Weg dorthin führt über eine großstädtische, aber nicht unbedingt schöne, sehr breite Straße. In den Bürgersteig sind Sterne eingelassen mit den Namen von argentinischen Künstlern, und an einer Straßenecke stehen Tonnen mit dem Konterfei von Maradona und Messi.

In der Einkaufsstraße, auf der Florida (hat nichts mit dem Bundesstaat Florida zu tun, sondern mit der Schlacht von Florida im Unabhängigkeitskampf) gehe ich gleich auf den ersten besten Geldwechsler zu. Er bietet mir einen guten Wechselkurs an. Der ist besser als der offizielle Wechselkurs. Dann führt er mich zu einem Kiosk und sagt dem Mädchen darin, sie möge Geld rausrücken, für 100 $. Die Scheine, die ich bekomme, sind neu und ziemlich bunt, nicht ganz vertrauenerweckend. Also probiere ich sie sofort aus.

Ich bekomme einen Kaffee und zwei Hörnchen für knapp 5.000 Pesos. Der Kurs ist einfach umzurechnen, das sind ziemlich genau 5 $. Nicht billig, aber auch noch nicht der große Preisschock, den ich erwartet habe. Vor zwei Jahren hieß es, in Argentinien sei alles spottbillig – was nicht stimmte – jetzt heißt es, in Argentinien sei alles sündhaft teuer. Was hoffentlich auch nicht stimmt.

Ich kaufe auch noch zwei empanadas. Als ich sie zu Hause auspacke, weiß ich nicht mehr, was was ist, aber es stellt sich heraus, dass der Inhalt in den Teig eingeschrieben ist! Hab ich noch nie gesehen.

Zu Hause geht es an das Aufladen der Geräte. Das klappt, weil ich das unverschämte Glück gehabt habe, im letzten Moment einen Adapter gekauft zu haben, der sich als universal erweist. Man muss aber erst mal drauf kommen, wie das geht. Die beiden Stifte müssen erst ausgeklappt und dann mit den Fingern schräg gestellt werden, damit sie in die Steckdose passen!

14. Januar (Dienstag)

Bis ich meine „Hausaufgaben“ gemacht habe, ist es schon Mittag geworden. Dann mache ich mich gleich auf den Weg zum Mercado de San Telmo.  

Viele Hunde und auch entsprechend viele Tretminen auf den Bürgersteigen.

Der Weg führt an den Straßen Venezuela, Chile, Estados Unidos usw. vorbei.

Unterwegs sehe ich an einem Baum ein Schild, auf dem Fletes steht, plus Telefonnummer. Keine Ahnung, was das sein könnte.

Zwischen den potthässlichen Hochhäusern mit den Entlüftungskästen der Klimaanlagen an der Fassade gibt es immer wieder mal ältere Häuser, die sehr ansehnlich sind.

Auf Wandmalereien trifft man immer wieder. In einer etwas geschützten Ecke die Darstellung von Tango-Tänzern. Davor die Figur eines Tango-Interpreten, und an der Wand ein Zitat aus einem seiner Lieder: „Alguien dijo que me fui de mi barrio, pero, ¿cuándo?, cuando siempre estoy llegando.”

Dann kommt eine breite Querstraße. Schon von weitem sieht man dort eine Skulpturengruppe. Ich bahne mir den Weg dorthin. Es sind 14 knapp bekleidete Figuren mit athletischen Körpern, man sieht die Muskeln auf dem Rücken und an den Armen. Sie ziehen vereint einen  Felsbrocken hinter sich her. Die Skulptur ist ein Lob der Arbeit, der körperlichen Arbeit und heißt Canto al Trabajo. Die fünf Figuren vorne gehen voran, ziehen nicht mit an dem Strang. Sie repräsentieren die Familie. Der Vater sieht heiter und gelassen aus, die Mutter sieht in die Ferne, Richtung Zukunft, die Kinder stehen für die Hoffnung. Die Skulptur ist getragen von dem Optimismus der Zeit um die Jahrhundertwende, vor Ausbruch des 1. Weltkriegs.

Ich komme auf kleinere Straßen und an der Universidad de Cine vorbei. Buenos Aires hat hohen Stellenwert für Cineasten, wie ich von einem damaligen chilenischen Mitbewohner weiß, der zum Studium hierhergekommen war.

Vor einigen Wohnhäusern sind man üppige Bougainivillea, rot blühend.  

Die Nähe des Marktes lässt sich nach der nächsten Abbiegung schon spüren, Häuser und Geschäfte sind hier anders. Unter anderem komme ich an der Cervecería Baum vorbei.

Der Markt, den ich beim letzten Mal nur ganz kurz gesehen habe, macht jetzt einen ganz anderen Eindruck. Das liegt wohl daran, dass ich einen anderen Eingang gewählt habe. Hier gibt es Lederwaren und Andenken, und es geht sehr ruhig zu. Außerdem ist es Mittag und Werktag.

In dem Teil mit der Gastronomie ist mehr los. Die meisten Stände haben ein paar Tische, verkaufen aber auch durchs Fenster an Passanten. Ich frage nach einem choripán. Das gehört zu den Dingen, die man in Argentinien unbedingt probieren muss. Dann mache ich aber einen Rückzieher, als ich den Preis höre: 8.900. Dabei ist das choripán nicht viel mehr als ein besserer Hotdog.

Ich komme zu der schönen, grünen Plaza Dorrego. Hier wurde 1816 dem Volk die Unabhängigkeit Argentiniens verkündet. Ein vielsagendes Ereignis, die Unabhängigkeit war nicht Resultat eines Volksaufstands, sondern eine Sache der Elite. Dem Volk wurde die Entscheidung „verkündet“!

Die Plaza Dorrego befand sich ursprünglich so gerade außerhalb der Stadt. Hier gab es eine Versorgungsstation für Ochsen und Pferde, bevor man in die Stadt einfuhr.

Kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Überall auf dem Platz verteilt sind die Tische der Gastronomiebetriebe, die sich um den Platz herum angesiedelt haben. Hier sieht man fast ausschließlich ausländische Touristen.

Überall wird ausdrücklich auf Fernet hingewiesen. Der gilt als ein typisches Getränk von Buenos Aires. 

Auf einem freien Platz innerhalb des Platzes legt gerade ein Paar einen formvollendeten Tango hin. Man muss kein Freund des Tangos sein, um mit Begeisterung zuzusehen.  

Beim Weitergehen stolpere ich über eine Plakette im Boden. Darin ist von gefangenen Frauen die Rede. Erst dann sehe ich, dass kurz dahinter der Eingang zum Museo Penitenciario ist, dem ehemaligen Frauengefängnis. Die Tür steht offen, aber es gibt noch keine Besichtigungen. Etwa ab Mitte Februar gehe es wieder los, erfahre ich.

Kurz dahinter die die Iglesia San Telmo, eine der ältesten der Stadt, mit zwei schönen Türmen und einer flachen Kuppel dahinter. Scheint geschlossen zu sein. Hinten wird das Kirchengelände von einem Sportplatz begrenzt.

San Telmo gilt als Patron der Seefahrer und wird oft mit einem Schiff dargestellt. Seine Reliquien wurden aus Tuy hierher gebracht.

Eine Straße, die von hier nach unten führt, hat Bäume zu beiden Seiten, deren Äste sich oben berühren und ein Dach bilden. Einfach schön.

Man biegt um die Ecke und ist in einer anderen Welt, an einer vielspurigen Straße. Auf der anderen Straßenseite das Museo Moderno, in einem großen Backsteinbau untergebracht, einer ehemaligen Tabakfabrik oder deren Lagerräumen. Links davon eine hochmoderne Erweiterung hinter einer Glasfassade. Das Museum hat dienstags geschlossen.

Irgendwo bekomme ich in einem Café unter einer Markise einen Kaffee mit Gebäck. Das wird mit Messer und Gabel serviert. Die Rechnung beträgt 14.000 Pesos. Die Hoffnung, dass Argentinien vielleicht doch nicht so teuer sein könnte, hat sich endgültig als Illusion erwiesen.

Hier wie in anderen Lokalen wird Werbung dafür gemacht, mit Bargeld zu bezahlen. Es gibt manchmal sogar Rabatt.

Ich komme auf eine schmale Straße mit meist touristischen Angeboten: Lederwaren, Ausflüge, Antiquitäten. Ein Feinkostladen, La Vaca Lechera de San Telmo, ist gleich mehrfach vertreten, genauso wie La Casa del Dulce de Leche.

Ich frage mich, mit wechselndem Erfolg, zur Casa Mínima durch, einer im wahrsten Sinne kleinen Sehenswürdigkeit. Es ist das schmalste Haus von Buenos Aires, gerade mal 2,80 Meter breit. Zweistöckig, mit einem kleinen Balkon im oberen Stockwerk, das sogar noch etwas schmaler ist.

Man erfährt an einer Plakette an dem Haus, dass es hier sogar Führungen gibt.  

Dann komme ich am Zanjón vorbei. Hier hat man durch reinen Zufall bei Bauarbeiten unterirdische Reste des alten Buenos Aires gefunden, darunter Teile einer Brücke. Der Fluss, der hierher floss, war die gleichzeitig die Stadtgrenze.

Etwas schwer zu finden ist die Iglesia Dinamarquesa, eine schmale Kirche, die ganz und gar aus dem Rahmen fällt, ein Backsteinbau mit Treppengiebeln, erbaut von der evangelisch-lutherischen dänischen Gemeinde von Buenos Aires. Auch diese Kirche ist verschlossen. Drinnen befindet sich das Modell eines dänischen Schiffs, das einst bei der Rückreise nach Europa untergegangen ist.

Ganz in der Nähe befindet sich die Gruppe von Mafalda und ihren Freunden. Als ich vor zwei Jahren hier war, konnte ich mich in aller Ruhe in ihrer Gesellschaft photographieren lassen. Heute stehen die Leute Schlange.

Ich habe aber gelesen, dass Mafalda nur eine Figur ist hier auf dem Paseo de la Historieta. Es gibt weitere Comic-Figuren. Ich gehe einfach weiter und stoße auf Isidoro. Die Gestalt kommt mir bekannt vor, aber ich weiß nicht, um wen es sich handelt. Aus der Heimat kommt Hilfe: Isidoro ist ein leichtfüßiger Draufgänger, der Prototyp des Playboys von Buenos Aires. Er macht es sich zur Aufgabe, das Geld seines wohlhabenden Onkels, eines Militärs, durchzubringen. Hier steht er mit gekreuzten Armen und einem selbstsicheren Lächeln im Gesicht. Nur zwei Amerikaner sind hier, um sich photographieren zu lassen.

Bei der am Ende vergeblichen Suche nach einer Touristeninformation, in der man mich vor zwei Jahren gut beraten hat, komme ich an diesem Schild vor einem Lokal vorbei: „Ya no estamos en la edad de andar con gente que no toma vino.“

Ungewollt komme ich auf den Paseo Colón, einer der ganz großen Straßen der Stadt, und stehe dann plötzlich auf der Plaza de Mayo, mit der Casa Rosada und dem Cabildo, das wie eine Kirche aussieht, aber Museum ist, und der Kathedrale, die wie ein Museum aussieht, aber eine Kirche ist. Oben im Tympanon ein figurenreiches  Relief von der Ankunft der Israeliten beim ägyptischen Pharao. In der Kathedrale ist der argentinische Nationalheld San Martín begraben. Dessen Überreste mussten aber aus Europa hierhergebracht werden, denn er hatte in Argentinien am Ende nicht mehr genug Unterstützung. Diese Kathedrale war der Sitz des Erzbischofs Bergoglio, bevor er Papst wurde.

Auf einer Übersichtskarte, die man am Rande des Platzes angebracht hat, kann ich mich orientieren. Die Stelle, an der man sich befindet, ist mit Vos gekennzeichnet.

Es muss Fügung sein. Auf dem Weg nach Hause wird mir das auf dem Tablett serviert, was ich im Moment dringender brauche als alle Sehenswürdigkeiten: ein Schreibwarengeschäft. Eins von der alten Art, mit einer Theke und gerammelt voll mit Waren. Die ältere Dame ist sehr hilfsbereit, nimmt ohne Bedenken meinen USB-Stick entgegen, druckt ein Formular aus, lässt es mich ausfüllen und scannt dann das Formular für mich. Alles erledigt. Ganz herzlichen Dank!

Bevor ich nach Hause gehe, frage ich schnell noch mal hier an der U-Bahn-Station nach dem Ticket, dem Sube für die Subte. Die Vermieterin, Valeria, hat mir zu Hause eine Karte hinterlegt, die man aufladen kann, aber es stellt sich heraus, dass die im Minus ist! Die Frau am Schalter gibt geduldig Auskunft. Ich kaufe eine Karte und lade sie so weit auf, dass es für die nächsten Tage reicht, für die Subte und für die Busse.

Immer wieder fällt mir die landestypische Form der Antwort auf Gracias auf: No, por favor.

15. Januar (Mittwoch)

Heute geht es zum Museo Histórico Nacional. Als ich es vor zwei Jahren besuchen wollte, war es geschlossen. Sie hatten keinen Strom.

Das Museum hat den falschen Namen. Es müsste Museo de la Revolución heißen oder Museo de la Independencia. Es beginnt nicht in der Steinzeit, sondern 1808.

Der junge Mann hinter der Theke trinkt Mate. Später sehe ich andere, die im Bus Mate trinken und Straßenverkäufer, bei denen man das gesamte komplizierte Geschirr kaufen kann.

Auf meine Frage nach dem Eintritt gibt mir der Mann mit dem Mate eine überraschende Auskunft: Ist gratis!

Das erste Ausstellungsstück ist ein perfekt aus Originalen nachgestelltes Zimmer, das Schlafzimmer des Nationalhelden San Martín in Boulogne. Das Wort Schlafzimmer ist etwas irreführend. Es gibt zwar tatsächlich ein Bett, ein Himmelbett mit Baldachin und einem schweren Vorhang – der diente der Intimität, sollte aber vor allem vor der Kälte schützen – aber es gibt auch einen Schreibtisch und einen kleinen Beistelltisch zur Bedienung der Gäste. Man sieht, dass es sich bei den lateinamerikanischen Revolutionären des 19. Jahrhunderts nicht um verwegene Burschen handelte, die sich mit Macheten durch den Busch kämpften, sondern um Leute aus dem Großbürgertum: Die schweren Vorhänge, die Bilder, die Möbel, die Uhr, die Büste Napoleons, das ist alles äußerst wertvoll.

An der Wand hinten hängt eine Zeichnung von Bolívar, dem Pendant zu San Martín aus dem Norden Südamerikas, sein Mitstreiter und Konkurrent. Was ist der Grund dafür, dass der erfolgreiche San Martín sich am Ende nach Europa zurückzog und auch dort starb? Das bleibt offen, jedenfalls für mich.

Die Zeit der Revolution wird angesetzt auf 1808-1824. Der Startschuss kam aus Spanien. Napoleon hatte Fernando VII. abgesetzt und seinen Bruder José auf den Thron gehievt. Das löste in Spanien Unzufriedenheit aus, eine Gegenbewegung formierte sich. Das schwappte dann auch nach Lateinamerika über.

Die erste Bewegung war also eher pro Spanien, bedeutete Unterstützung des von der fremden Macht Beherrschten. Tatsächlich sieht man hier eine Medaille, die San Martín für seine militärischen Verdienste in Spanien verliehen bekam!

Ab 1810 begann dann hier die Unabhängigkeitsbewegung. Erst gab es einen Aufruf, sich an einer Versammlung zu beteiligen, den Petiterio Popular. Dieser Aufruf galt aber nur einer Elite, etwa 1% der Bevölkerung! Und nur etwa die Hälfte dieser Elite wollte sich überhaupt beteiligen.

Hier ist das silberne Schreibgerät ausgestellt, mit dem der Aufruf verfasst wurde. Lesen konnte zu dem Zeitpunkt nur eine kleine Minderheit, schreiben konnten noch weniger. Zum Schreiben brauchte man auch das entsprechende teure Material: Feder, Tinte, Papier.  

1813, das als das Jahr der Unabhängigkeit gilt, kam es dann zu einer Versammlung. Die brachte einiges zustande,  was später relevant werden sollte, aber durchsetzen konnte sie davon noch nichts. Das Wichtigste waren eine Unabhängigkeitserklärung und eine Verfassung.

Man kreierte auch ein eigenes Wappen (auf dem das Konterfei von Carlos III. übermalt wurde, wie man hier anhand einer technischen Darstellung sehen kann), man schrieb und komponierte die Marcha Patriótica (der Grundlage der späteren Nationalhymne) und man entwarf eine Nationalflagge. Woher kamen die Farben Blau und Weiß? Das waren die Farben der Bourbonen! So „volksnah“ war die Unabhängigkeitsbewegung!

Dann geht es um den militärischen Teil der Unabhängigkeitsbewegung, vor allem dem Marsch über die Anden, dem royalistischen Heer entgegen. El Ejército de los Andes, das ist jedem Argentinier ein Begriff. Es war in der Tat eine unglaubliche Kraftanstrengung. San Martín hatte gesagt, er fürchte die Anden mehr als das gegnerische Heer. Warum, das kann man hier sehen. Was da alles mitgeschleppt werden musste: Futter für die Pferde, Futter für die Maultiere, Verpflegung für die Soldaten (darunter Tabak), Waffen, Brennholz, Zelte, medizinisches Gerät. Dazu kamen die Temperaturen, die zwischen 30° plus und 10° minus schwankten. Es gab Deserteure und Verletzte. San Martín versuchte, die Sklaven am Ball zu halten, indem er ihnen die Freiheit versprach, wenn sie fünf Jahre lang treu dienten.

Die Pistolen waren schwer und mussten immer wieder neu geladen werden, und das konnte dauern. Man sieht hier einige davon. Schon beim Ansehen merkt man, dass sie schwer in der Hand liegen mussten. San Martín setzte deshalb eher auf das, was hier armas blancas genannt wird, Säbel und Degen. Er selbst benutzte einen 700 Jahre alten Krummsäbel aus dem Orient! Der ist hier in einer Glasvitrine zu sehen. Ein Prachtexemplar. San Martín fand, dass die krummen Säbel effektiver waren als die geraden, vor allem auf dem Pferd.

Die Pritsche, auf der San Martín schlief, ist hier auch ausgestellt. Sie ist an Einfachheit nicht zu überbieten. Die gemeinen Soldaten schliefen auf dem Boden.

In einer Vitrine sieht man einen Poncho. Was hat der hier zu suchen? Der war tatsächlich eine „Kriegswaffe“.  Die  Soldaten des Ejeército de los Andes hatten solche Ponchos. San Martín bestellte gleich 4.000 davon. Warum? Man konnte darunter die Waffe verbergen, der Poncho wärmte als Mantel und konnte als Decke und als Schlafunterlage verwendet werden!

Nach dem Sieg über die Royalisten vereinigten sich die Heere des Südens und des Nordens, San Martín und Bolívar trafen sich. Dann aber räumte San Martín das Feld. Er überließ den Sieg bei der entscheidenden Schlacht von Ayacucho seinem Konkurrenten. Und setzte sich nach Europa ab. Von wo aus er nie wieder in seine Heimat zurückkehrte. Lebendig jedenfalls nicht.

Zum Schluss sieht man eine Lithographie, die den Triumph der Revolution feiert. Eine Frau, mit phrygischer Mütze auf dem Kopf und in der Hand, lässt die Pferde vor sich frei, sechs an der Zahl. Sie stehen für Mexiko, Guatemala, Kolumbien, Peru, Chile und Buenos Aires. Von Argentinien ist nicht die Rede.

Und das ist vielsagend. Was später, aber erst sehr viel später Argentinien werden sollte, bestand aus  vier Teilen, den Provincias Unidas, der (davon abgeschnittenen) Liga de los Pueblos Libres, dem Territorium der Indios in der Pampa und in Patagonien und dem Territorium der Indios aus dem Chaco.

Und was passierte, als die Unabhängigkeit erlangt war? Brach eine Epoche des Friedens und des Wohlstands aus? Im Gegenteil. Es kam zu einem Bürgerkrieg, einem Bürgerkrieg, in dem sich Föderale und Unionisten gegenüberstanden und der von 1828 bis 1831 dauerte. Während dieses Bürgerkriegs kam es zur Hinrichtung von Dorrego, nach dem der Platz benannt ist, auf dem ich gestern den Tango gesehen habe.

Es gibt noch unzählige Gemälde und Alltagsgegenstände aus der Zeit nach der Revolution. Die Szenen der Revolution wurden erst dann dargestellt, als die längst vorbei war, meist glorifizierend. Hier sieht man auf einem riesigen Schinken, wie San Martín eine Truppenparade abnimmt, bei der er nie war. Und ein Wasserkrug ist so modelliert, dass er die Gesichtszüge eines der großen Offiziere des Unabhängigkeitskriegs wiedergibt. Die Bemalung gibt genau die Narbe an der Stirn wieder, die ihm eine Wunde in einer Schlacht eintrug. Die Revolution ist Teil des kollektiven Gedächtnisses geworden und hilft dabei, eine Idee der „Argentinität“ zu schaffen.  

Nach der Museumbesichtigung gehe ich noch in dem angrenzenden großen Parque Lezema spazieren. Die Vögel sind aktiv und machen einen ordentlichen Lärm.

Der Park war, wie auch das Museumsgebäude, eigentlich Privatbesitz, wurde dann aber für die Öffentlichkeit freigegeben. Er ist groß und fällt zu einer Seite zu einer der ganz großen Verkehrsadern der Stadt ab. Hier gibt es Tempel, Skulpturen und vor allem Bäume. Der Park hatte sogar ursprünglich einen künstlichen See und ein Amphitheater. Das ist heute noch in moderner Form erhalten, mit Sitzreihen aus Beton.

Von hier aus gleich über eine schmale Straße sieht man auf die russisch-orthodoxe Kirche mit ihren beinahe kitschigen blauen Kuppeln.

An einer Ecke des Parks ein großes Denkmal, der Inschrift zufolge dem Gründer von Buenos Aires gewidmet, Pedro de Mendoza. Diese Gründung, von 1536, hatte keinen Bestand. Die Siedlung wurde aufgegeben, und so kam es 1580 zum zweiten Mal zur Gründung von Buenos Aires.

Gleich außerhalb des Parks stoße ich an einer Straßenecke zufällig auf das Hipopótamo, eins der klassischen Restaurants von Buenos Aires, von dem ich gestern Abend gerade gelesen habe. Als ich wegen eines Photos auf die andere Straßenseite wechsle, sehe ich gleich gegenüber, nur ein paar Meter weiter entfernt, das Bar Británico. Damit verbinde ich eine der intensivsten Erinnerungen an meine erste Reise nach Buenos Aires. , Damals „rettete“ eine Passantin mein Handy und empfahl mir mehr Vorsicht. Das hat Nachwirkungen bis heute.

Ich komme auf die Defensa und will in ein Café. Aber die Tür ist verschlossen. Dann tut sich was. Die Eigentümerin schließt hinter jedem Kunden ab! Es ist eine freundliche Frau mit einer quakenden Stimme. Sie gibt mir ein paar Hinweise, die mir die Orientierung hier im Viertel erleichtern.

Wieder führt der Weg vorbei an der Plaza Dorrego, an der  Cervecería Baum und an Mafalda. Kurz danach finde ich die Librería Quorum, von meiner Vermieterin empfohlen. Hier finde ich tatsächlich das Buch mit den Zeichnungen von Buenos Aires, das bei ihr auf dem Tisch liegt. Es kostet sagenhafte 30.000 Pesos. Die Verkäuferin sagt, ja, das sei so, durch die Inflation sei vor allem das Papier teurer geworden.

Es geht auf die Plaza de Mayo zu, dem größten und repräsentativsten Platz der Stadt. In den Glasfassaden der modernen Bürogebäude, die hier die Straße säumen, spiegeln sich die gegenüberliegenden, oft älteren Gebäude. 

Auf dem Platz bereitet man sich gerade auf eine Demonstration vor. Man sieht Spruchbänder, auf denen Gerechtigkeit für die Lehrer von Juyjuy gefordert wird. Da würde man gerne wissen, worum es geht.

Von hier aus ist es gar nicht mehr weit bis zur Unterkunft. Ich bin wirklich sehr zentral untergekommen.

Auch am Abend geht es ins Fenicia, zum Essen mit Sergio, dem alten Freud meiner besten argentinischen Freundin aus der Heimat. Wir haben vor zwei Jahren an einem denkwürdigen Abend, an dem es wie aus Kübeln schüttete, zusammen das Viertelfinale gesehen und sind dann im Desnivel zum Abendessen gewesen. Da bin ich ausgerechnet heute zufällig wieder vorbeigekommen.

Ich mache mich zu Fuß auf den Weg, obwohl es eine ganze Strecke ist. Aber ganz langsam. Habe reichlich Zeit. Deshalb mache ich auch einen Schlenker zum Obelisken, als der auf einmal an der Seite auftaucht.

Der Obelisk, am Kreuzpunkt von Corrientes und 9 de Julio, den beiden größten Straßen, gelegen, markiert sozusagen den zentralen Punkt der Stadt. Zum Obelisken kann man als Fußgänger nicht kommen, er ist vom Verkehr umflossen, aber jetzt ist er ohnehin unten eingerüstet. Es gibt eine Treppe oder einen Aufzug drinnen, aber die werden wohl seit einiger Zeit nicht mehr benutzt.

Der Obelisk ist in erster Linie groß, weitgehend schmucklos, soweit man das sehen kann. Er hat aber ein paar Inschriften, wie man aus der Distanz so gerade erkennen kann. Unter anderem werden die Daten 1536 und 1580 genannt, die Daten der beiden Gründungen von Buenos Aires, und 1880, als Buenos Aires Hauptstadt von Argentinien wurde, das damals erst zu einem Land vereinigt wurde.

Die Erbauung des Obelisken hat nur 31 Tage gedauert. Er steht da, wo früher die Kirche San Nicolás de Bari stand. Hat man die tatsächlich abgerissen für den Obelisken? Der passt wahrscheinlich besser zu dem Autoverkehr als eine Kirche, aber dafür eine Kirche opfern? Ist vermutlich dem Zeitgeist der Gründerzeit zu verdanken.

Ich komme zu früh an und stelle fest, dass Buenos Aires, wie viele andere Städte, im Zentrum ein Manko hat, nämlich das Fehlen von Bänken für die Passanten. Am nächsten Tag sehe ich aber an einer langen Fußgängerstraße ein paar schöne kleine Bänke in kurzen Abständen.

Mit Sergio gibt es ein freudiges Wiedersehen. Kurz darauf stößt auch Carlos, ein Kollege und Freund von Sergio, dazu, ebenfalls Architekt.

Er kennt Asturien und ist einmal dorthin gefahren, um den Ort zu besuchen, dessen Name identisch ist mit seinem Nachnamen.

Er erzählt von einer Kirche, die er dort entdeckte. Nimmt eine Serviette und einen Stift zur Hand und zeichnet mit ein paar Strichen die Fassade der Kirche. Und jetzt kommt das Merkwürdige: In Buenos Aires hat er für einen verstorbenen Freund, auf Bitten von dessen Witwe, eine Kapelle entworfen, und die sah genauso aus wie diese Kirche in Asturien, die er vorher nie gesehen hat. Gibt es so etwas wie ein genetisches Kunstgedächtnis, fragt er.

Die beiden sind entsetzt, dass mir das Somisa noch nicht aufgefallen ist, das Gebäude des gleichnamigen Stahlkonzerns, das gleich in der Nähe meiner Unterkunft liegt. Es hat Stahlträger nach außen, das erste Gebäude dieses Typs, das in Argentinien gebaut wurde.

Sergio kennt die Elbphilharmonie und sogar das Denkmal im Teutoburger Wald. Er kennt auch Joseph Beuys  und weiß, dass die Elbphilharmonie von seinen Schülern erbaut worden ist. Die Aktion in Kassel mit der Anpflanzung von Tausenden von Bäumen bei der Documenta findet er großartig.

Sowohl Sergio als auch Carlos benutzen das Wort weltanschauung, als wir uns auf ein anderes, ein politischeres Terrain begeben. Sie wollen wissen, was man in Deutschland von Argentinien denkt und ob wir Milei kennen. Sie selbst sind froh, dass er die Inflation in den Griff bekommen hat. Alles andere ist offen. Vom Peronismus halten sie gar nichts. Das sei wie Chavez in Venezuela. Sie wundern sich, dass Meloni so eine schlechte Presse hat in Deutschland.

Sie erweisen sich beide als, vorsichtig gesagt, unkonventionell, wenn es um Weltanschauung geht: Entnazifizierung, Israel, Flüchtlinge, sie begnügen sich nicht damit, nachzuplappern, was andere sagen.

Was die Geschichte Argentiniens betrifft, bestätigen sie, was ich am Morgen im Museum gesehen habe. Argentinien im heutigen Sinne gibt es erst seit etwa 1880. Erst dann habe es eine Vereinigung gegeben, erst dann seien die freien Territorien der Indios hinzugekommen. Diese Indios, sagen sie, seien gar keine „Argentinier“ gewesen, sondern Chilenen, Mapuche, die über die Anden gekommen sind.

Was meine Reisepläne angeht, optieren sie, wie alle hier, für den Süden, für Patagonien. Weite Landschaft, spärlich bewohnt, Städte wie in den Alpen. Und Feuerland, das dürfe ich mir keinesfalls entgehen lassen. Wie man das organisiert, in welcher Reihenfolge, und ob man zwischendurch immer wieder nach Buenos Aires zurückkommen muss, das wissen sie auch nicht so genau. 

Die Frage nach einem Reiseführer für Argentinien überrascht sie genauso wie alle anderen. Ob es so was überhaupt gibt? Carlos macht sich die Mühe, seine Frau anzurufen. Die gibt einen Tipp für eine Buchhandlung, Poema 20. Die ist auf der Esmeraldas, das ist die Straße, über die ich hierhergekommen bin.

Das Essen ist ausgezeichnet, und der Wein auch. Danach gibt es einen Kaffee, der hier pozillo heißt, eine Art doppelter Espresso. Der einfache heißt jarrito.

Als ich zurückgehe, ist es ruhig geworden in der Stadt. Ein einzelner Radfahrer, ein Bettler, ein Mann, der seine Hunde ausführt, eine Maus, die sich an einem Mülleimer zu schaffen macht, zwei Frauen auf hohen Stühlen vor einer Kneipe, ein rauchender Wachmann vor einer Bank, ein Pizzafahrer, Obdachlose. Diese hier haben wenigstens eine Matratze, ich habe auch welche gesehen, die halb bekleidet auf ihrer Jacke lagen.

Ich komme an einem Lokal vorbei, das Dunkel heißt und an dem Kabuff auf der Florida, wo ich dieser Tage Geld getauscht habe.

In meinem Viertel ist keine Menschenseele mehr zu sehen, und ich bin froh, als ich Punkt Mitternacht zu Hause ankomme.

16. Januar (Donnerstag)
Mein erster Gang am Morgen ist zum Edificio Somisa, dem Stahlbau des Stahlkonzerns. Es liegt wirklich nur ein paar Schritte von der Wohnung entfernt, an einer belebten Kreuzung. Tatsächlich  ein auffälliges Gebäude, mit seiner spitz zulaufenden Ecke, aber dass es etwas architektonisch Besonderes ist, hätte ich nie und nimmer gemerkt.

In dem gleich gegenüber liegenden Supermarkt sind die Artikel mit Warnhinweisen ausgezeichnet: zu fettig, zu kalorienreich, zu viel Zucker, zu viel Natrium. Einige Pakete haben sogar alle vier Aufdrucke!

Der argentinische Papst hat seine Autobiographie veröffentlicht. Darin spricht er auch von seiner Jugendzeit und den beiden linken Füßen, die er hat, die aber seine Begeisterung für den Fußball nicht trüben konnten. Der Papst ist Anhänger und Mitglied einer der großen 5 von Buenos Aires, San Lorenzo. Bei uns vielleicht nicht so bekannt, hat aber immerhin mehr als 80.000 Mitglieder, ist zwölfmal argentinischer Meister geworden und hat einmal die Copa Libertadores gewonnen. Die Mannschaft ist sogar einmal Meister geworden, ohne ein einziges Spiel zu verlieren. San Lorenzo ist im Süden von Buenos Aires beheimatet, das Stadion heißt El Gasómetro, und der Spitzname der Mannschaft ist Los Cuervos. Gegründet wurde der Verein von einem Salesianerpater, der Papst ist hier also gut aufgehoben.

Übertroffen werden Los Cuervos noch von den beiden ganz großen Rivalen von Buenos Aires, Boca Juniors und River Plate. In der Zahl der gewonnenen Meisterschaften liegt River Plate ganz knapp vorne. Beide haben, genauso wie Independiente, schon den Weltpokal geholt. Damit steht Buenos Aires in der Welt des Vereinsfußballs ganz oben.

Boca Juniors und River Plate waren beide ursprünglich im Stadtteil Boca untergebracht, River Plate zog dann in einen vornehmeren Stadtteil um. Was ihnen den Spottnamen Die Millionäre eintrug. Bis heute ist das Image beider Vereine von der Antinomie geprägt: Die Kampftruppe gegen die Schönspieler, die Blutgrätsche gegen den filigranen Doppelpass.

Beide Vereine hatten ursprünglich die Vereinsfarben Rot und Weiß. Dann fand ein Entscheidungsspiel statt, um zu entscheiden, wer die behalten durfte. River Plate gewann. Boca Juniors spielt seitdem in Blau und Gelb. Der Legende zufolge sah man nach der Niederlage ein schwedisches Schiff in den Hafen einlaufen. Das gab den Ausschlag bei der Farbwahl.

Den Pokal gibt es in Argentinien noch nicht sehr lange. Bei der Meisterschaft ändert sich der Modus alle Nase lang. Jedenfalls spielte man lange (und spielt vielleicht auch heute noch so) in zwei getrennten Ligen. Die beiden ersten bestritten dann ein echtes Endspiel!

Der Uber-Fahrer, der mich zum Stadium von Boca Juniors bringt, sagt mir netterweise, ich hätte lieber zu River Plate fahren sollen: bessere Gegend, größeres Stadion. Boca Juniors sei in ein Wohnviertel eingezwängt und könne sich nicht vergrößern.

Als er hört, dass ich aus Deutschland komme, wird er ganz hellhörig. Kenne er. Sein Bruder lebe dort, in der Nähe der Schweiz, in Lörrach. Er habe ihn einmal besucht, sei drei Monate dageblieben. Das war während der Krise in Argentinien. Man hatte ihm sein Auto gestohlen, sein Bruder habe ihn eingeladen und ihm den Flug bezahlt. Sein Bruder ist schon seit 30 Jahren dort, und ihm fühle sich wohl, und auch ihm selbst habe es sehr gefallen. Er habe seinen Neffen vom Kindergarten abgeholt, da könne man sich ja überall bewegen, und nichts würde einem passieren.

Als wir nach Boca reinkommen, kündigt sich die Nähe des Stadions schon durch die Farben an. Hier ist alles Blau und Gelb, sogar die Häuser. Vom dem Balkon eines Hauses grüßt der Papst als Pappmachefigur die Passanten. Auch Sportwagen, die am Straßenrand stehen und in denen man sich photographieren lassen kann,  sind in Blau und Gelb.

Hier ist viel los, und vor dem Stadion hat sich schon eine lange Schlange gebildet. Ist aber alles gut organisiert, sehr professionell. Kann man eigentlich auch erwarten bei dem Preis: 30.000 Pesos kostet der Eintritt. Museum und Stadion.

Im Museum sieht man den ersten Pokal, den der Verein überhaupt geholt hat, 1906, eine Jugendmannschaft.

Ausgestellt ist auch ein Wimpel von einem Freundschaftsspiel bei einer frühen Europatournee. Der Gegner: Spvgg. Leipzig. 

Aus früheren Zeiten stammen auch Spieler-Pässe, die wie Reisepässe aussehen, aber noch mit Schreibmaschine geschrieben, sowie die Ergebnisse von medizinischen Tests von Spielern.

Eine schwarz-weiß-Photographie zeigt Rattin, einen der beliebtesten Spieler aller Zeiten von Boca Juniors. Er spielte 15 Jahre lang für den Verein. Daneben ein Zitat von Pelé. Rattin sei der beste Gegenspieler, den er je hatte.

Aus neuerer Zeit eine blau-gelbe E-Gitarre, die von einem argentinischen Rockmusiker nur einmal benutzt wurde, bei einem Konzert hier im Stadion.

Dann sieht man einen Ball, firmiert von dem Mann, der als der größte Boca-Fan überhaupt gilt und kaum einmal ein Training verpasst.

Natürlich gibt es Figuren und Videos von den großen Stars der Vergangenheit. Bin überrascht: Außer Maradona sagen mir nur die Namen Riquelme und Tévez was.

Der Pokal für den ersten Gewinn der Copa Libertadores ist ausgestellt und die Flamme, die bei der 100-Jahr-Feier durch ganz Buenos Aires getragen wurde.

Dann wird zur Führung aufgerufen. Unsere Führerin, in Blau und Gelb, macht ihre Sache wirklich gut. Sie hat ein kräftiges Organ, hält die Truppe zusammen und erklärt gut und mit Witz.

Der erste – und der bleibende – Eindruck, den man vom Stadion hat, wenn man reinkommt: Es ist klein. Und wirkt vielleicht noch kleiner, als es ist. Man sieht den Spielfeldrand kaum, die Trainerbänke verschwinden unter der Haupttribüne. Man ist ganz nah dran und hat den Eindruck, dass man hier von allen Plätzen aus gut sieht.

Wir werden gefragt, woher wir kommen – Mexiko, Chile, Peru und vor allem Brasilien sind vertreten – und zu welchem Verein wir halten. Das wird dann von den anderen aus dem gleichen Land mit den entsprechenden Rufen quittiert. Ich bin der einzige, der nicht aus Südamerika stammt.   

Die Frau erzählt von dem legendären schwedischen Schiff, das über die heutigen Vereinsfarben entschied. Später sehen wir sogar ein Gemälde, das diese Szene darstellt, mit dem in den Hafen einlaufendem Schiff und den staunenden Fischern von Boca.

Der Verein wurde 1905 gegründet. Anfangs spielte man auf gemieteten Plätzen, dann entstand, schon hier, das erste eigene Stadion, mit Holztribüne. Dann wurde das jetzige Stadion gebaut und später mit einem zweiten Rang versehen.

Der Spitzname des Stadions ist La Bombonera, und das steht auch auf einem Schild über der Haupttribüne. Der Name stammt von dem Architekten. Der hatte das Modell des Stadions in seinem Büro, und daneben lag eine Pralinenschachtel. Und ihm fiel die Ähnlichkeit auf.

Mir fällt auf, dass es praktisch keine Überdachung gibt. Wenn, dann eher zufällig, wenn ein Rang sich etwas über den darunter liegenden schiebt.

Wir gehen von der Haupttribüne auf die Nordtribüne, schon von weitem zu erkennen durch die blaue 12 auf dem gelben Rang. Das ist die Fan-Tribüne. Hier gibt es nur Stehplätze.

Unter der Fantribüne befindet sich die Umkleidekabine der gegnerischen Mannschaft, und die ärgert man vor Spielbeginn schon immer durch ein ordentliches Getrampel.

Die Gästefans sind auf der gegenüberliegenden Seite auf dem höchsten Rang untergebracht, dort, wo man die schlechteste Sicht hat. Allerdings kommen zur Zeit überhaupt keine gegnerischen Fans, außer bei internationalen Spielen. In Argentinien hat man das nach gewalttätigen Auseinandersetzungen, die kein Ende nehmen wollten, untersagt. Das gebe es in anderen Ländern auch, sagt die Führerin etwas kleinlaut, aber es sei schade, dass das in Argentinien der Fall sei.

Dann üben wir den Torschrei. Natürlich dem nach einem Tor von Boca. Der ist hier charakteristischerweise kurz: ¡Gol!, nicht ¡Goooool! Das klappt erst im dritten Versuch. Dann hört man, warum der kurze Torschrei seinen Reiz hat: Das Echo kommt von der anderen Seite!

Auf dem Rückweg zum Museum sehen wir noch Umkleidekabinen, Presseraum, Pokale und Zitate berühmter Spieler zur Bombonera, aber das ist nicht mehr weiter erwähnenswert.

Ein Argentinier an meiner Seite fragt, woher ich komme, und fragt, halb verwundert, halb bewundernd: „¿Alemania?“

Ganz in der Nähe des Stadions befindet sich die Calle Museo Caminito. Das ist ein Sträßchen mit hübschen, folkloristisch aussehenden Häusern, das zu einer Art Museum geworden ist und Touristen anzieht. Die Besonderheit von Boca als altem Arbeiterviertel ist aber nicht mehr zu erkennen, außer in dem Namen República de la Boca, der hier überall auftaucht. Heute ist hier alles dem Kommerz untergeordnet.

In einem Souvenirgeschäft sehe ich ein Schild mit einem Ausspruch, der sich die Tücken der spanischen Orthographie ironisch zu eigen macht: La Bida es vella. Trotz seiner Fehler.

Von einer Ecke aus sieht man Hafenkräne am Wasser. An der Straße gibt es Bushaltestellen, und ich erwische gleich die richtige und den richtigen Bus.

Dieser Bus heißt Metrobus und hat seine eigenen Fahrspuren einschließlich Haltestellen in der Mitte der breiten Straßen. So geht es ohne Stocken zurück ins Zentrum. 

Radwege gibt es hier keine, aber in anderen Gegenden habe ich schon welche gesehen.

Auf dem Weg zur Wohnung begegne ich zum ersten Mal Kopftuchträgerinnen und dann einem jungen Mann mit einem Deutschland-Trikot.

Vor Mafalda ist heute keine Schlange, und so komme ich doch noch zu meinem Photo.

Wieder nehme ich zwei empanadas mit, von dem kleinen Stand in der Nähe der Wohnung. Während ich warte, spricht mich ein junger Mann neben mir auf mein Spanisch an. Ob ich hier in Argentinien lebe, will er wissen. Woanders in Südamerika auch nicht? Er ist ganz baff.

Später gehe ich noch mal raus und mache mich auf die Suche nach der Buchhandlung Poema 20, die mir am Vorabend empfohlen worden ist, auf der Esmeralda. Da, wo sie sein sollte, ist sie nicht, aber kurz darauf sehe ich eine Buchhandlung. Die Tür ist abgeschlossen, aber die Buchhändlerin kommt sofort und macht auf. In dem Moment sehe ich aber, dass es sich um ein Antiquariat handelt. Nein, Reiseführer habe sie nicht, sagt sie, wie zu erwarten war. Die Frau ist sehr freundlich, wir kommen richtig ins Gespräch. Nein, sagt sie, hier in der Nähe kenne sie keine Buchhandlung.

Ich gehe raus, und in dem Moment sehe ich die Buchhandlung Poema 20. Gleich nebenan. Nutzt mir aber auch nichts, sie ist geschlossen.

Also mache ich mich auf den Weg zum Ateneo, einer Buchhandlung, die an sich eine der Sehenswürdigkeiten von Buenos Aires ist. Ich gehe zu Fuß, trotz der wiederholten Warnungen, dass es ziemlich weit sei. Und bei der Hitze! Im Laufe des Nachmittags erreichen wir 34°.

Als ich einen großen Boulevard passiere, sehe ich ein merkwürdiges Denkmal. Auf den ersten Blick sieht es wie der Satan aus, auf den zweiten wie ein Schauspieler. Es ist Kolumbus!

Unterwegs versuche ich es in verschiedenen Buchhandlungen mit dem Reiseführer Argentinien. Allgemeine Verwunderung angesichts der Frage. Nein, Reiseführer hätten sie nicht. In einer Buchhandlung wird mir ein mickriger Reiseführer über Buenos Aires angeboten. Sonst nur Kopfschütteln.

Dann erreiche ich endlich das Ateneo. Diese legendäre Buchhandlung ist in einem ehemaligen Theater untergebracht. Hierher kommen Leseratten, aber auch Besucher, die sich die Buchhandlung einfach ansehen wollen.

Im Foyer gibt es Sonderangebote, im Parkett Belletristik, im ersten Rang Sachbücher, im zweiten Rang Mangas, und auf der Bühne ist ein Café. Alles erscheint im Licht der alten Theaterbeleuchtung. Man hat immer wieder neue Blicke, je nachdem, wo man steht. Am schönsten ist es von oben.

Ich frage nach Reiseführern, und die Frau an der Information sagt ohne Zögern ja, die habe man. Und weist mir den Weg.

Tatsächlich, da gibt es ein ganzes Regal voller Reiseführer, von den einschlägigen Verlagen. Ich finde alles, Guatemala, Paris, Thailand, nur eins finde ich nicht – Argentinien.

Zurück geht es mit der Subte. Die Bahnhöfe sind in Ordnung, aber nicht gerade auf Hochglanz poliert. Bei den Zügen ist alles vertreten, alt, sehr alt, modern.

Die Ausschilderung ist gut, aber unzureichend. Man muss erst auf den Bahnsteig, um zu sehen, ob diese Linie in die richtige Richtung fährt. Es kommt zu einem Durcheinander, und am Ende steige ich einfach irgendwo aus und lande am Obelisken. Auf der anderen Seite der 9 de Julio befindet sich das Teatro Colón. Seine Schauseite hat es zur Straße hin, obwohl ich später die Rückseite fast schöner finde.

Der Eingang für die Führungen ist an der Seite. Der Mann am Schalter ist freundlich und geduldig. Er gibt auch nicht auf, als es mit der Kreditkarte nicht klappt. Lässt sich die Karte geben, gibt alles von Hand ein und –siehe da! Es klappt! Für morgen habe ich eine Karte für eine Führung. 26.000 Pesos.

17. Januar (Freitag)

Am Vormittag muss ich erst meine Hausaufgaben erledigen. Dann geht es zum Teatro Colón. Mit der Subte. Ich muss einmal umsteigen, wobei der Weg von einer Linie zur anderen richtig weit ist. Dann stellt sich heraus,  dass ich gar nicht mehr in Bolívar, sondern in Catedral bin. Man kommt unterirdisch von einem Bahnhof zum anderen!

Eine Subte-Station ist schön ausgemalt, mit einfachen, sich wiederholenden Mustern in kräftigen Farben, etwa im Stil von Miró.

Im Teatro Colón findet jede Viertelstunde eine Führung statt, so stark ist die Nachfrage. Abwechselnd auf Spanisch und Englisch, und zwischendurch gibt es auch eine auf Portugiesisch.

In unserer Gruppe sind Mexiko, Peru, Chile, Kolumbien und Brasilien vertreten, aber auch Italien und Portugal.

Die Führung erfolgt in vier Etappen, mit der Besichtigung des Theatersaals als krönendem Abschluss.

Zuerst geht es in das beeindruckende Foyer. Dort erfährt man, dass der Vorgänger dieses Theaters sich an der Plaza de Mayo, in der Nähe der Casa Rosada, befand. Das Großbürgertum von Buenos Aires wollte dann etwas Repräsentativeres, nach europäischem Vorbild, wie die Scala oder die Opera Garnier. Das passierte charakteristischerweise im Jahre 1880. Man beauftragte einen Architekten, der die Oper in eklektischem Stil nach italianisierender Art baute. Er starb aber kurz nach Baubeginn, mit 42 Jahren. Sein Nachfolger wurde in einem Duell mit seinem Rivalen, seinem Butler, dem Geliebten seiner Frau, getötet. Er war auch 42. Ein Fluch schien über der Oper zu liegen. Dann kam ein belgischer Architekt an die Reihe. Der war bereits über 50, als er übernahm, und er war nichts verheiratet. Er vollendete den Bau. Der wurde 1892 fertiggestellt.

In dem zweistöckigen Foyer führt eine Marmortreppe nach oben. Auch weiterer Marmor wird verwendet, aber die großen Säulen sind aus Stuck, so geschickt übermalt, dass sie wie Marmor aussehen.

Am schönsten ist das Fensterglas an der Decke, im Art- Nouveau-Stil. Feingliedrig, bunt, in matten Farben. Kontrastiert etwas mit den massigen Säulen. Das Gemälde zeigt Apollo und seine Musen.

Der zweite Teil ist die Skulpturengalerie. Ganz oben die Büsten von acht Komponisten, den wichtigsten Opernkomponisten. Bedingung war, dass sie 1892 nicht mehr lebten und dass sie zumindest eine Oper geschrieben haben mussten. Dass Verdi dabei ist, überrascht nicht. Mit der Aida wurde diese Oper eingeweiht, mit der Traviata der Vorgängerbau. Aber wer sind die anderen? Die Führerin verrät es nicht, aber ich kann in einer Pause fragen: Bellini, Gounod, Wagner, Mozart, Bizet, und auch Beethoven ist mit seiner einzigen Oper vertreten. Wer der achte ist, habe ich vergessen.

Das echte Highlight dieser Galerie ist aber eine Skulptur, die Skulptur eines deutschen Bildhauers. Aus Marmor, aus einem Block gearbeitet. Auf den ersten Blick könnte man an ein Liebespaar denken, aber dafür ist der Mann etwas klein geraten. Es ist Cupido, und er liegt in den Armen seiner Mutter, Venus. Und er flüstert ihr etwas ins Ohr. Das Geheimnis der Liebe. Nur die beiden kennen es.

Die Skulptur ist wunderbar gearbeitet, auf dem Oberschenkel von Venus kann man sogar die Eindrücke sehen, die die Hand von Cupido hinterlassen!

Als nächstes geht es in den Goldenen Saal. Ein länglicher Gang, mit viel Gold und Glanz. Hier finden kleinere Konzerte statt, oft zu sehr günstigen Preisen, manchmal sogar umsonst.

Früher wurde hier geraucht. Der Qualm hat die Kunstwerke angegriffen und das Gold, und man musste eine größere Renovierung in Angriff nehmen. Daher stammen die kleinen runden Öffnungen in den Deckengemälden, die man gar nicht ohne weiteres sehen würde. Sie dienen der Belüftung und der Regelung der Temperatur.

Schließlich geht es in den Theatersaal. Wir setzen uns ins Parkett, und als erstes merkt man, wie bequem die Sitze hier sind.

Der Saal ist groß und schön und sehr geschmackvoll eingerichtet. Es dominieren dunklere Töne, in den Rängen einem dunklen Rot, in dem Samt der Sessel des Parketts fast Schwarz. Nur das Deckengemälde ist in helleren Farben gehalten. Es stellt die Geschichte des Theaters dar. Leider gibt es dazu keine weiteren Erklärungen.

Das Teatro Colón ist besonders für seine Akustik bekannt. Drei Faktoren spielen dabei eine Rolle: die Form (Hufeisen), die Materialien (Marmor und Samt unter anderem) und die Gitter am Boden im Parkett. Durch die werden die Töne nach unten geleitet und haben so einen weiteren Resonanzboden.

Das Theater hat sieben Ränge! Es fasst 3.000 Zuschauer! Davon sind einige Stehplätze, die ganz oben auf den billigen Rängen, dem gallinero.   

Die Preise, die hier genannt werden, sind nicht so hoch, wie man meinen könnte, selbst für die teuersten Plätze nicht. So viel bezahlt man in Deutschland in jedem Provinztheater.    

Neben der Bühne gibt es fünf Logen, für den Präsidenten und den Vizepräsidenten, für den Ministerpräsidenten und seinen Stellvertreter, und eine weitere für verschiedene Zwecke. Wenn die Politiker nicht kommen, werden diese Plätze an Mitarbeiter des Theaters vergeben, vom Intendanten bis zum Platzanweiser.

Die größte Loge ist aber hinten gegenüber der Bühne. Die hat Platz für mehr als 30 Zuschauer und wird bei öffentlichen Anlässen benutzt. Wenn sie nicht belegt ist, kann jeder dort rein.

Es gibt noch eine Besonderheit, auf die unsere Führerin uns aufmerksam macht: Ganz unten verlaufen am Parkett entlang eiserne Gitter. Die waren in den Anfangszeiten des Theaters für die Witwen bestimmt. Denen war das Auftreten in der Öffentlichkeit untersagt. Um ihnen trotzdem den Besuch der Oper zu ermöglichen,  wies man ihnen die Plätze hinter den Gittern zu. Die wurden nur für die Aufführung geöffnet, vorher und nachher und in der Pause aber verschlossen. Heute werden die Räume dahinter als Stauraum für Requisiten und Apparaturen gebraucht.

Es gibt noch eine Besonderheit: Es gibt einen Raum ganz oben über dem mächtigen Leuchter. Den kann man über die höchsten Ränge erreichen. Dort halten sich während der Aufführungen Techniker für Ton und Licht auf. Bestimmte Stimmen, wie die Stimme Gottes, kommen nur von dort oben. Während der Aufführung wird der schwere Leuchter heruntergelassen, dann wieder hochgezogen.

Damit endet die Führung. Es gibt verdienten Beifall. Leider ist nur gar nichts zu dem Bau außen gesagt worden.

Ich bin zwischen den einzelnen Stationen mit drei Ecuadorianern ins Gespräch gekommen. Eine der Frauen und der Mann fragen mich unabhängig voneinander, ob ich auch auf den Galapagos-Inseln gewesen sei. Da müsse ich unbedingt hin. Eine Reise nach Ecuador ohne Besuch der Galapagos-Inseln sei keine Reise nach Ecuador. Wegen der Beschädigung der Natur brauche man sich keine Gedanken machen. Der allergrößte Teil der Inseln sie sowieso den Besuchern nicht zugänglich.

Wir gehen anschließend noch einen Kaffee trinken. Sie machen viel Werbung für Ecuador und erzählen stolz von ihren vielen Kindern. Zwei von denen sind auch hier, müssen aber heute arbeiten. Am Abend fliegen sie alle gemeinsam nach Iguazú. Sie sehen sich die Wasserfälle von der brasilianischen und von der argentinischen Seite aus an. Ich kann ein bisschen von meinen Erfahrungen berichten. Sie kommen am Sonntag schon zurück, und dann geht es sofort weiter nach Bariloche. Für eine der Frauen ist es das erste Mal, für den Mann das zweite Mal, für die andere Frau das dritte Mal Argentinien. Aber Bariloche und Iguazú sind für alle neu.

Sie fragen auch ausführlich nach meiner Reiseroute und meiner Reiseweise. Und ich soll unbedingt nach Quito kommen, wenn ich das nächste Mal in Ecuador bin. Das Ehepaar betreibt dort ein Restaurant, mit Spezialisierung auf Meeresfrüchte. Nirgendwo in Ecuador würden so viele Meeresfrüchte gegessen wie in Quito.

Auf dem Rückweg sind in einem Gang in der Subte Comics von Mafalda auf den Kacheln angebracht. In einem steht Mafalda vor einem Globus und sagt zu ihrem Teddybären: „Mira, esto es el mundo, ¿ves? – ¿Sabes por qué es lindo este mundo, ehh? – Porque es una maqueta. El original es un desastre.“

Am Abend komme ich am Café Saint Moritz vorbei, dort wo ich vor zwei Jahren die georgischen Schwestern kennengelernt habe, die zum Umfeld von Sergio gehören. Die sind auch heute dabei. Sergio hat zu sich eingeladen. Dabei ist auch der „Ire“, ein Ire der dritten Generation, ganz und gar Argentinier. Zusammen mit dem echten Porteño Sergio geben die vier ein schönes Bild des Einwandererlandes Argentinien ab.

Einwanderung ist auch eines der vielen Themen des Abends. Die Großzügigkeit des Einwandererlandes Argentinien. Das kam in einem Zeitungsartikel aus der Heimat zum Ausdruck. Da war die Rede von schwangeren Russinnen, die zur Niederkunft nach Argentinien kommen. Dadurch hat das hier geborene Kind automatisch die argentinische Staatsbürgerschaft. Ja, diese Frauen sehe man hier auch überall, bestätigen die anderen.

Wie gute Argentinier klagen sie über die Hitze. Aber sie stimmen mir auch zu, dass es nicht unbedingt eine gute Idee ist, wenn man in Lokalen und Supermärkten (und teils auch in der Subte) die Temperaturen auf arktisches Niveau senkt.

Ich habe es mit drei Architekten zu tun, und natürlich spielt das Thema Architektur eine Rolle. Ich erfahre, dass ein Gebäude wie das Somisa in den USA nicht gebaut werden dürfte. Stahl nach außen ist dort verboten. Er muss ummantelt werden. Warum? Ist Stahl nicht besonders resistent gegen Feuer? Nein, erfahre ich, ganz im Gegenteil. Als das Somisa erbaut wurde, gab es in Argentinien nicht genug Expertise für diese Art des Bauens, und es wurden Unternehmen aus den USA hinzugezogen.

Die georgischen Schwestern sprechen Spanisch untereinander, könnten aber auch Georgisch miteinander sprechen. Auf dem Handy bekomme ich die georgischen Buchstaben zu sehen. Sehen schön aus.

Die beiden verfolgen die Entwicklung in der alten Heimat mit Bangen. Selbst sind sie vor zehn Jahren zuletzt dort gewesen.

Irland kommt auch zur Sprache, das Trinity College und Galway und Joyce. Die beiden sind in Galway gewesen und haben dort gesehen, was mir entgangen ist, ein Ambiente, in dem das Irische vorherrschte. Es gebe Schulen, in denen alle Fächer auf Irisch unterrichtet würden.

Meine Reiseroute steht auch zur Debatte. Wieder ein klares Plädoyer für den Süden. Nur bleibt die Reiseroute weiterhin unklar. Kann man direkt vom äußersten Norden in den äußersten Süden fliegen?

Auch der Geldumtausch und die verschiedenen Zahlungsmethoden werden angesprochen. Ja, das stimme, mit Kreditkarte könne man hier nicht überall bezahlen, wohl aber mit der Debitkarte. Vermutlich aber nicht mit meiner.

Es gibt in diesem Zusammenhang auch eine brandaktuelle Nachricht. Die Regierung hat beschlossen, dass grundsätzlich alle Preise auch in Dollar ausgezeichnet werden können. Wenn man bezahlt, hat man die Gewissheit, dass man nicht durch schwankende Kurse in die Bredouille kommt.

Es gibt, erfahre ich, zwei hochwertige Zeitungen, Clarín und La Nación. Mir gefällt Clarín wegen des Titels, das war auch das Pseudonym von Leopoldo Alas. Den hier natürlich auch alle kennen. Aber La Nación, heißt es, sei die bessere Zeitung.

Auf dem Tisch wird ordentlich aufgefahren. Es gibt Bier und Wein und Saft und Wasser und allerlei Leckereien, kalte mundgerechte Fleischstücke, Gurken, Kirschen, Hummuspaste und Avocadopaste. Köstlich. Nur, was ich mitgebracht habe, bleibt fast unberührt stehen.

Schön, in einem fremden Land auf Menschen zu treffen, die einen wie einen alten Freund behandeln. Unsere gemeinsame Freundin ist natürlich allgegenwärtig in den Gesprächen.

Sergio tut mir den Gefallen, mich nach unten zu begleiten und mir den Weg zur Subte zu zeigen. Da ist sogar der Schalter noch besetzt. Ein sehr freundlicher Mann erklärt mir, wie ich nach Hause komme, ohne umzusteigen. Auch unterwegs alle wieder sehr freundlich, auskunftsbereit. Das war’s dann für heute.

18. Januar (Samstag)

Bei den empanadas gibt es eine Sorte, bei der ich nicht weiß, worum es sich handelt: humita. Das ist Mais. Bin auch auf choclo und elote gestoßen, in Spanien ist es in der Regel maíz.

Wenn man Pizza mit peperoni bestellt, bekommt man keine Peperoni, sondern Salami!

Und wieder Schwierigkeiten bei dem Wort für Briefmarken. Unter sellos versteht man hier wohl was anderes, so was wie Wertmarken. Die Briefmarken heißen hier estampillas. Gut zu wissen.

Nutzt mir aber auch nichts. Beide Postämter sind geschlossen. Öffnungszeiten nur von Montag bis Freitag.

Glücklicherweise liegen sie nicht allzu weit voneinander entfernt. Auf dem Weg vom einem zum anderen komme ich am Congreso vorbei, dem Parlamentsgebäude. Das ist eine Riesenangelegenheit, schon der Eingang am Ende der Freitreppe liegt hoch, und dann kommen zwei hohe Stockwerke, auf riesige Säulen gestützt. Und dann ganz oben, über dem Tympanon, noch eine Quadriga. Die ist so hoch, dass man sie von hier aus gar nicht voll sehen kann.

Vor dem Gitter am Eingang eine Bronzetafel mit den ersten Worten der Verfassung, mit dem antiquierten Pronomen Nos beginnend.

Auch das Parlamentsgebäude kann besichtigt werden, aber nicht am Wochenende. Ich bin mir nicht sicher, was genau mit Congreso gemeint ist. Vermutlich der Oberbegriff für beide Parlamentskammern.

Es ist bewölkt und längst nicht mehr so heiß wie in den letzten Tagen. Ich fahre zur Plaza de Mayo.

Um den Sockel eines Reiterdenkmals herum liegen hinter einem Gitter unzählige Steine mit Namen und Daten. Diese Steine erinnern an die während der Militärdiktatur Verschwundenen. Viele Jahre lang sind die Mütter der Verschwundenen, jeden Donnerstag, mit einem weißen Kopftuch angetan, hierhergekommen, um, wie ich vermute, stillschweigend Protest einzulegen, um die Wiederkehr der Verschwundenen zu erzwingen. Ob es die Demonstrationen heute noch gibt? Argentinien ist seit 1983 Demokratie, ohne eine Unterbrechung durch eine Diktatur, eine längere Zeitspanne als je zuvor.

Ich gehe runter zum Puerto Madero. Das ist weiter, als ich geglaubt habe. Hier ist alles groß, alles weit. Es gibt reichlich Platz für Gehwege und auch für Radwege. Aber Radler sieht man hier gar keine. Auch die großen Plätze sind fast menschenleer.

An einem dieser Plätze, in der Nähe des monumentalen Verteidigungsministeriums, gibt es ein modernes Mahnmal für die Malwinen, eine Erinnerung aus Anlass des 40. Jahrestages des Kriegsbeginns. Das Mahnmal besteht aus einer durchlöcherten Eisenplatte. Durch die Löcher guckt man in die Ferne. Ich verstehe erst auf den zweiten Blick. Die Eisenplatte, blaugrün bemalt, ist das Meer, die freigelassenen Flächen sind das Profil der Malwinen.

In der Nähe ein konventionelles Denkmal. Ein Eroberer, in der typischen Montur der frühen Neuzeit, auf sein Schwert gestützt, weist mit einer Hand energisch auf den Boden vor sich, wie besitzergreifend. Das ist Juan de Garay, der Inschrift zufolge der Gründer von Buenos Aires. Das Gegenstück zu Pedro de Mendoza, dem Gründer des ersten Buenos Aires.

Dann komme ich zum Puerto Madero, Sergio zufolge der neueste Stadtteil von Buenos Aires. Man sieht moderne Backsteinbauten, die wie alt aussehen, wie die Lagerhäuser der alten Häfen in der Heimat.

Dahinter kommt Wasser in Sicht. Sieht wie ein Kanal aus. Entlang des Kanals eine Promenade, auf der man unter alten Hebekränen hergeht und auf ein Museumschiff zusteuert. Das liegt hinter der Puente de la Mujer, dem eigentlichen Hingucker hier, einem Werk von Calatrava. Schon aus der Ferne sieht man den weißen „Dorn“ der von der ebenfalls weißen Brücke in die Luft geht. Das sieht alles sehr leicht aus. Den Namen der Brücke und was sie mit der Frau zu tun hat, verstehe ich allerdings nicht.

Auf der anderen Seite das für Buenos Aires untypische Panorama der eng beieinander stehenden Wolkenkratzer. Auf der Brücke posieren alle für ein Photo.

Ich gehe zurück über die Plaza de Mayo zur Florida und versuche dort mein Glück bei den Geldwechslern. Der vom letzten Mal hat heute frei. Eine Frau bietet mir einen Preis an, und wir machen uns schon auf den Weg zum „Büro“. Sie mich fragt, ob ich denn auch einen Hunderter hätte. Nein, fünf Zwanziger. Dann gebe es einen schlechteren Umtauschkurs. Was? Ich glaub, es hackt. 100 Dollar ist 100 Dollar. Sie bleibt aber bei ihrer Meinung, und ich winke dankend ab.

Nutzt mir aber nichts. Bei der nächsten Geldwechslerin dasselbe Spiel. Da muss ich klein beigeben.

An einem Kiosk frage ich nach Zeitungen. Er hat nur noch ein Exemplar von Clarín. Die andere Zeitung, La Nación, hat er gar nicht. Die verkaufe sich nicht, sei zu teuer, 9.000 Pesos. Clarín kostet 3.900. Ich nehme das letzte Exemplar.   

Auf dem Weg nach Hause immer wieder Lokale, in denen Personal gesucht wird: Se busca personal.

Auf einer Schiefertafel mit verschiedenen Angeboten fällt mir wieder das unbekannte Wort für einen Imbiss auf: Pancho.

In der Nähe der Unterkunft hat eine Obdachlosenfamilie unter einem Schutzdach Zuflucht genommen. Sie haben nur Pappe als Unterlage auf dem Boden. Ich sehe, wie der Vater der Familie mit seinen Kindern und seiner Frau auf dem Boden herumtollt und alle zum Lachen bringt.  

19. Januar (Sonntag)

Inzwischen habe ich herausgefunden, was pancho ist. Das ist eine Art Hotdog. Und auch, was fletes sind. Das sind Unternehmen, die beim Umzug und bei der Entsorgung von Hausrat assistieren.

Wie groß Argentinien ist, sieht man daran, dass die Fahrt nach Córdoba zehn Stunden dauert. Und man dann noch längst nicht im Norden angekommen ist.

Der Himmel ist bewölkt, und es fallen sogar ein paar Tropfen.

Der Uber-Fahrer zum Busbahnhof meint, Argentinien habe wegen der hohen Preise jetzt auch ordentlich an Touristen verloren. Die Uruguayer führen jetzt nach Brasilien, und die Argentinier selbst auch.

Der Busbahnhof von Buenos Aires ist, wie zu erwarten war, riesig, aber einigermaßen übersichtlich. Alle Busse fahren auf einer Ebene ab, auf einem Bahnsteig. Der hat wohl bis zu 50 Haltebuchten. Aber welche ist meine? Auf den Bildschirmen sind fast nur Ankunftszeiten vermerkt, kaum Abfahrtszeiten, und meiner ist nicht dabei. Ein Mann sagt mir, ich müsse wissen, mit welchem Unternehmen ich fahre. Das weiß ich natürlich nicht. Suche im Handy und finde es. Als ich auf den Bahnsteig komme, sieht mich der Mann von vorher und fragt, welches Unternehmen es sei und schickt mich zu dem richtigen Bahnsteig.  

Man muss noch ein bisschen warten, und dann erscheint die Anzeige. Auf den Bildschirmen hier steht Arribos und Partidas statt Llegadas und Salidas.

Beim Einchecken müssen einige ihren Ausweis vorzeigen. Vorsichtshalber krame ich meinen raus, werde aber nicht danach gefragt.

Auf der ganzen Fahrt gibt es nur einen Zwischenstopp, in einer größeren Stadt. Das muss Rosario sein. Da steigt die halbe Belegschaft aus, aber der Bus wird wieder voll, bis auf den letzten Platz.

Unter den Neuzugestiegenen ist eine Frau mit einem Trikot von Bayer Leverkusen, aber sie sitzt unten, und ich bekomme sie nicht zu sehen. Wie kommt sie auf Leverkusen? Vielleicht ist es wegen Palacios.

Zum Glück gibt es eine Toilette im Bus. Auf der Tür steht Trancar statt Cerrar an dem Hebel, mit dem man die Tür schließt.

Die Fahrt geht über eine gebührenpflichtige Autobahn, aber es fühlt sich ganz anders an als bei uns auf der Autobahn. Es gibt keinen Seitenstreifen und keine Rastplätze und keine Kurven und keine Bebauung an der Autobahn, und das Grün kommt auf beiden Seiten bis direkt an die Fahrbahn ran. Bis Rosario, etwa auf der Hälfte der Strecke, sehe ich nur zwei Tankstellen. Ausfahrten gibt es kaum, und auch Richtungshinweise sind rar, von Entfernungsangaben ganz zu schweigen. Brücken gibt es nur hinter den Ausfahrten, für diejenigen, die auf die andere Seite der Autobahn kommen wollen.

Die Landschaft ist so flach, dass man in beide Richtungen meilenweit sehen kann, ohne jemals Häuser zu erblicken, geschweige denn eine Stadt. Die Büsche und Bäume sind nicht so hoch und nicht so zahlreich, dass sie die Sicht behindern.

Entlang der Autobahn Felder, unendlich lange Felder. Man kann Sonnenblumen und Mais entdecken, aber hier wird wohl hauptsächlich Soja angebaut. In Argentinien wird auch viel Weizen angebaut, aber nach Getreide sieht das hier nicht aus.

Vereinzelt große Kuhherden, aber die fallen in der Weite der Landschaft kaum ins Gewicht. Erst gibt es braune, dann schwarze, dann schwarz-weiße Kühe. Man sieht auch ein paar Gauchos. Ob das hier schon die Pampa ist?

Die eintönige, wenn auch nicht unschöne Weite lässt andere Dinge hervortreten. Während der ganzen Fahrt fallen mir die Strommasten auf. Es beginnt mit ganz einfachen Strommasten, auf hölzernen Pfosten ruhend, mit nur einer Stromleitung. Die verlaufen über Kilometer und Kilometer schnurstracks entlang der Autobahn. Dann kommen moderne Strommasten aus Stahl, mit einer Vielzahl von Leitungen. Die verlaufen oft diagonal und kreuzen auch mal die Autobahn. Dann, nach Rosario, kommt nichts, man sieht keinen einzigen Strommasten mehr. Aber dann kommen doch wieder welche, auf Betonpfeilern ruhend, mit mehr Leitungen als die ersten und weniger als die zweiten.

Immer wieder am Wegesrand Plakatwände, alle in der Größe genormt. Hier wird für alles geworben, von Landwirtschaftsmaschinen über Schokobonbons bis zu Rockkonzerten. Auf einer Plakatwand wird für Super Walter geworben.

In der Zeitung lese ich, dass die Ernte in Argentinien im vergangenen Jahr wegen der langen Dürre schlechter ausfällt als zuvor. Nur der Weizen kommt gut weg.

In Brasilien haben dagegen Regen und Schwüle für Erdstürze gesorgt, und zwar in Florianopolis, genau da, wo ich vor zwei Jahren war.

Gefeiert und auf mehreren Seiten kommentiert wird der Handelsüberschuss 2024. Es ist das erste Mal seit 14 Jahren, dass es wieder einen Überschuss gibt, und es ist der größte Überschuss seit 16 Jahren.

Als wir auf Córdoba zukommen, ändert sich plötzlich die Landschaft, und man sieht auf eine geschlossene Gebirgskette am Horizont. Davor lieg die Stadt.

Kurz vor der Einfahrt in den Busbahnhof kommen wir an Eisenbahngleisen vorbei. Auf denen steht eine ganze lange Reihe von verrosteten, fensterlosen Waggons. Man fragt sich, warum die nicht entsorgt werden.

Córdoba ist die zweitgrößte Stadt Argentiniens, sie hat 1,5 Millionen Einwohner. Der Busbahnhof ist entsprechend groß. In der Touristeninformation bekomme ich sogar einen Stadtplan. Kommt man in Buenos Aires nicht so leicht ran. Allerdings hat der Stadtplan einen viel zu kleinen Maßstab.

Die Taxifahrerin erkundigt sich nach meinen Reiseplänen und zeigt stolz Videos von ihren beiden Töchtern. Eine lebt in Salta, die andere in San Luis.  

Ich frage nach den verrosteten Eisenbahnwaggons, und sie erklärt, die seien im Einsatz. Es gebe einen Zug, mit dem man in die Sierra fahren könne.

Beim Aussteigen bemerkt sie noch, wie schön mein Koffer sei und wie praktisch das Band, mit dem man den sichert. Wo man solche Bänder denn kaufen könne. Kann ich ihr leider nicht sagen. Die Fahrt kostet nur 4.000 Pesos.

Man holt den Schlüssel zur Unterkunft in einem Obstgeschäft ab, der Verdulería Jardincito. Dann geht die Suche los. Wo ist die Nummer 15? Nicht da, wo sie sein sollte. Dann finde ich sie mit Hilfe eines Nachbarn, neben einem Kiosk. Damit bin ich aber immer noch nicht drin. Erst will die Türe unten nicht aufgehen, dann die oben nicht. Als es dann doch soweit ist, atme ich einmal tief durch.

Später gehe ich nur noch kurz an den Kiosk und in das Obstgeschäft und besorge mir das Nötigste. Der Mann  am Kiosk spricht immer von Nueva Córdoba. So heißt das Stadtviertel hier.

20. Januar (Montag)

Der Mann im Supermarkt ist sehr freundlich. Es sucht mir die einzige Sonnencreme raus, die sie haben, sagt aber, bevor er kassiert, was sie kostet: 21.000 Pesos. Er versteht sofort, dass ich einen Rückzieher mache und empfiehlt mir die Farmacity auf der Hauptstraße. Da könne ich vielleicht was Günstigeres finden.

Dann beginnt das Drama mit der Waschmaschine. Nach dem Waschen geht die Tür nicht auf. Die Babysicherung ist aktiviert. Die Vermieterin schreibt, ich solle die und die Tastenkombination drücken, und dann diese und jene. Und drei Sekunden halten. Die Tür geht nicht auf. Ich soll ihr ein Photo schicken. Dann die genaue Artikelmarke nennen. Sie sucht im Internet und kommt wieder mit Tastenkombinationen. Alles vergeblich. Dann soll ich den Strom abstellen. Und wieder anstellen. Nutzt nichts. Dann noch mal. Wieder nichts. Sie hat im Internet nachgeguckt und sagt mir, irgendeine Tastenkombination sei es. Ich solle alles ausprobieren. Nutzt alles nichts. Dann soll ich den Stecker ziehen. Aber an den kommt man in der Enge des Balkons nicht ran, und die Waschmaschine nach vorne ziehen, kann man nicht, ohne die Wasserleitung zu beschädigen. Die Vermieterin sagt, das sei in den zwei Jahren, wo sie die Wohnung vermietet, noch nie passiert. Jetzt hört es sich so an, als hätte ich den Schwarzen Peter. Ihr selbst sei das aber auch mal passiert. Und sie hat es mit der Tastenkombination gelöst. Hört sich so an, als lege es an mir. Hab mich nicht genug angestrengt. Ich solle es noch mal versuchen. Irgendwann sagt sie dann endlich was von einem Techniker, den sie holen will. Inzwischen läuft die Waschmaschine wieder, durch irgendeine Tastenkombination dazu animiert. Und wäscht die saubere Wäsche. Die Vermieterin fragt, wann sie vorbeikommen könne. Jederzeit. Dann ist der zweite Waschgang zu Ende, und das rote Schloss auf dem Display blinkt nur noch auf. Ich versuche eine Tastenkombination und – oh Wunder! – die Tür geht auf.

Jetzt gilt es noch, die Fahrt nach Salta zu buchen. Die dauert noch länger und ist noch teurer. Dann erreicht man zwar immer noch nicht die Nordspitze des Landes, aber immerhin die nördlichste Provinz, Juyjuy.

Dann geht es endlich raus. In die Stadt kommt man ganz einfach, immer „meine“ Straße, die Independencia, runter.

Aber schon nach wenigen Häuserblocks biege ich ab, nachdem ich die Türme einer neugotischen Kirche gesehen habe.

An der Seite der Kirche ein moderner Platz, auf dem man Skulpturen hingestellt hat, die aus altem Eisen gemacht sind. Viele bilden das Profil eines Tieres ab: Eule, Schlange, Giraffe und ein Wal, der ins Wasser sinkt. Von ihm sieht man nur noch die Schwanzflosse. Die ganze Anlage, mit einem modernen Glashaus und einem traditionellen Bau Typ Kolonialstil mit einem schönen schattigen Umgang, heißt Paseo del Buen Pastor. Was das genau ist, ist schwer zu sagen, vermutlich ein Kulturzentrum.

Die Kirche, El Sagrado Corazón, ist ein echter Hingucker, schon von weitem, vor allem durch seinen fast unwirklichen schlanken Turm (bei dem anderen Turm ist es bei dem Stumpf geblieben) und die unzähligen Türmchen, die ziemlich zufällig über das ganze Dach verteilt sind.

Die spielerische Note bestätigt sich an der Hauptfassade, vor allem durch die farblich unterschiedlichen Steine und Säulen. Ist sehr schön anzusehen, beinahe am Rande des Kitsches anzusiedeln.

Einige gebückte Gestalten scheinen die Last der Steine zu tragen wie die Atlanten der Klassik, aber sie sehen eher aus wie mittelalterliche Baumeister, wie wir sie in den Nürnberger Kirchen gesehen haben.

Es geht zurück auf die Independencia und schnurstracks auf das Zentrum zu, auf den zentralen Platz, der –  natürlich – Plaza de San Martín heißt. Der kündigt sich schon aus der Entfernung durch die vielen dicht belaubten Bäume an.

In der Mitte das Denkmal für die Unabhängigkeit, bekrönt von der Reiterfigur des San Martín. Am Sockel, schon etwas zu hoch für den Betrachter, Szenen aus dem Unabhängigkeitskrieg und unzählige Figuren, oft dicht hintereinander gestellt. Man sieht Soldaten, die schießen, Soldaten auf Pferden, Soldaten, die gefangen genommen werden, Kanonen. Vorne die allegorische Darstellung des Sieges. Ein halb bekleideter Mann mit Messer und eine halb bekleidete Frau mit Siegerkranz räkeln sich am Boden, hinter ihnen posaunenblasende Putten. Es muss eine Heidenarbeit gewesen sein, so ein Denkmal zu konzipieren und erst recht, so ein Denkmal zu schaffen.

Der Platz ist insgesamt zu groß und zu uneinheitlich, um als Platz wahrgenommen zu werden. In den Gebäuden am Rande des Platzes sind Banken und Geschäfte, die mit dem Platz wenig zu tun haben.

Anders ist das bei Kathedrale und Cabildo, Seite an Seite an einer Stirnseite des Platzes. Das Cabildo, ganz in Weiß mit einem langen Säulengang, beherbergt das Stadtmuseum. Heute geschlossen.

Auch die Touristeninformation ist hier untergebracht. Das Mädchen hinter der Theke ist nicht sehr hilfreich. Sie kreist nur alle möglichen Punkte auf meiner Karte ein und rasselt die Namen der Museen und die Öffnungszeiten herunter.

Von der Zugfahrt in die Sierra rät sie mir ab. Das nehme zu viel Zeit in Anspruch. Man ist pro Weg mindestens vier Stunden unterwegs.  

Die Kathedrale, mit einer komplizierten Baugeschichte, ist das Gegenstück zur Sagrado Corazón. Ganz kompakt, gedrungen. Hier strebt nichts in die Höhe. Die Fassade ist komplett frei von Figurenschmuck, bis auf einen siegreichen Christus über dem Tympanon. Selbst die dafür vorgesehenen Nischen bleiben frei.

Die Farbgebung ist ganz einheitlich, Fassade, Türme, Kuppel, tragende Teile. Sieht je nach Jahreszeit mal dunkler, mal heller aus, mal eher wie Gelb, mal eher wie Altrosa. Sieht ein bisschen wie Sand aus, und die Kuppel sieht wirklich aus wie eine steinerne Sandburg. Nur die Relieffiguren an den Türmen weichen farblich ganz leicht ab, sie sind noch etwas dunkler. Sie stellen Indios dar.

Die Türme wurden ganz zum Schluss, im 18. Jahrhundert, erbaut. Der ursprüngliche Bau, von 1599, wurde durch einen Brand zerstört, bei dem der Pastor, der Küster und ein paar Gläubige ums Leben kamen. Für den Neubau plante man dann größer, ein dreischiffiger Bau wurde errichtet. Als die Schiffe fertig waren, aber der Chor noch nicht, baute man einfach eine Trennwand ein, um die Kirche wenigstens benutzen zu können. Seit dem Brand waren da schon 40 Jahre vergangen.

Innen ist der Bau ganz anders, als das Äußere vermuten lässt. Es ist ein üppiger Prachtbau, mit vielen vergoldeten und bemalten Flächen. Der Farbton ist ziemlich einheitlich, so zwischen Beige und Ocker und Gold oszillierend. Davon weichen die Deckengemälde in ihren hellen Farben ab.

Trotz ihrer Pracht ist die Kathedrale auch innen eher stämmig. Die Pfeiler sind so breit und so schwer, dass sie fast eine Wand bilden. Man hat fast den Eindruck, in einer einschiffigen Kirche zu sein.

Wieder draußen gehe ich noch ein paar Schritte in die „falsche“ Richtung, zum Museo Histórico Provincial. Das ist in einem eleganten Kolonialgebäude untergebracht, ganz in Weiß, mit schwarzen Gittern.  

Gegenüber ist ein Café. Ich bestelle einen Kaffee und ein Croissant und bekomme gleich zwei. Die sind heute im Sonderangebot. Das kostet 3.700 Pesos, ein klarer Hinweis, dass ich dieser Tage in San Telmo ordentlich über den Tisch gezogen worden bin.

Auf einem Schild heißt es, dass man nur in bar oder per Überweisung bezahlen darf. Überweisung, das scheint mit der Karte einer argentinischen Bank zu funktionieren. Ich habe schon häufiger Leute damit bezahlen gesehen.

In einer schmalen Fußgängerstraße befinden sich unter Bäumen jede Menge von Straßencafés, eins an das andere gereiht. Fast alle Tische sind besetzt. Von Krise oder Geldmangel ist nichts zu spüren.

Auf dem Rückweg sehe ich viele junge Leute, oft in ganzen Trauben zusammenhockend oder aus Eingängen kommend. Córdoba ist eine der Universitätsstädte Argentiniens, mit 150.000 Studenten!

Der Name eines Sportgeschäfts auf der Independencia lautet Sport Geist.

Der Himmel ist wolkenlos, und es ist richtig schön warm, warm, ohne schwül zu sein, angenehm warm. Dabei heißt es, dass es jetzt, im Sommer, hier überdurchschnittlich viel regne. Die Winter sind dagegen knatschtrocken.  

In ganz Argentinien kennt man den Akzent von Córdoba. Es ist bekannt für seinen Singsang. Ich achte drauf, und tatsächlich höre ich hier etwas ganz leicht Fremdes raus, aber ich könnte es nicht als eigenen Akzent identifizieren, und erst recht nicht als acento cordobés.

21. Januar (Dienstag)

Auf dem Weg in die Innenstadt sehe ich ein Geschäft, das Guanaco heißt. Erinnert an die Freunde aus El Salvador.

An einem Bekleidungsgeschäft werden reduzierte Preise für Remeras angezeigt. Hab ich dieser Tage zum ersten Mal gehört. Das sind T-Shirts. In Spanien würde hier Camisetas stehen.

Es ist sonnig und warm, und am Himmel zeigt sich keine Wolke. Das Cabildo kommt dabei mit seinem glänzenden Weiß bestens zur Geltung.

Das Cabildo ist eins der wenigen erhaltenen öffentlichen Gebäude aus der Kolonialzeit. Hier wurden Gesetze verabschiedet, Preise festgelegt, für Bildung und Sicherheit gesorgt. In den Laubengängen draußen gab es Verkaufsstände. Und drinnen ein Gefängnis.

In seiner ursprünglichen Form geht das Cabildo auf die Zeit der Gründung der Stadt, 1573, zurück, zusammen mit Platz und Kathedrale.

Auch hier braucht man keinen Eintritt zu zahlen, nur seinen Namen und sein Herkunftsland angeben.

Man kommt sofort in einen doppelstöckigen Innenhof. Sehr schön. Nur die Blumen im oberen Stock sehen etwas mickrig aus.

Genauso wie draußen sieht man, dass das obere Stockwerk, das Säulen hat, aus einer späteren Zeit stammt.

Von hier geht es in einen weiteren, kleineren, bescheideneren Innenhof. Das ist, wie man später erfährt, die Keimzelle des Cabildos. Hier gibt es oben keine offene Galerie.

In den Nischen sind unten ein paar Skulpturen ausgestellt. Am besten gefällt mir die des Sämanns: barfuß, mit aufgekrempelter Hose, kräftigen Armen und einem ernsten Gesichtsausdruck. Vor sich hält er in einer Hand das Säckchen mit den Samen, in der anderen, sich gerade öffnenden Hand, ein Häuflein Samen.

Dann beginnt die Führung. Mit der kommt man in Teile des Cabildos, in die man sonst nicht kommt. Außer mir sind alle anderen Argentinier.

Wir gehen gleich in den Keller runter, in das ehemalige Verließ. Das ursprüngliche Bodenniveau war höher, und da, wo wir heute bequem stehen können, konnten die Gefangenen nur gebückt stehen, und am Rande des Raums konnten sie nur kauern. In diesem Raum waren 30-40 Gefangene untergebracht, alles Männer. Das Verließ für die Frauen war woanders, aber es gab viel weniger weibliche Gefangene. Das scheint, bis heute, in der Geschichte der Menschheit immer zu gelten: Mehr Männer als Frauen begehen Delikte.

Man sieht am Rand des Raums die Reste der ehemaligen Treppe, die in den Innenhof führte, zum Ausgang. In das Verließ kommt nur von dort etwas Licht. Und für die Zirkulation der Luft gab es nur ein paar Löcher. Das Wasser, wie man an den Resten einer Leitung sehen kann, kam von dem Río Suquía. Den habe ich bisher noch gar nicht gesehen, obwohl er die Innenstadt umfließt.

Die Führerin weist auf die Bauweise der Wände hin: Steine und Mörtel, also eine Mischung aus Wasser, Kalk und Sand. Der diente dazu, die Kosten zu senken. Steine waren rar und mussten hierher transportiert werden, Mörtel konnte man auf der Stelle produzieren. Die Bauweise erinnert an die Bauweise der Römer, nur sind die Steine hier viel unregelmäßiger.

Als ich am Ende noch einmal nachfrage, erklärt die Führerin mir noch ein interessantes Detail: Die Jesuiten haben dem Mörtel noch Aloe Vera beigemischt. Das streckte die Masse, machte sie fester und undurchlässig gegen Wasser!

Wir kommen in den ersten Stock und in den Roten Saal. Der rote Teppich auf dem Weg dorthin ist zerschlissen, und im Saal selbst blättert die Farbe von der Decke ab.

Der Rote Saal hat seinen Namen von den schweren roten Vorhängen vor den Fenstern. Im Zentrum ein länglicher Tisch mit zehn Stühlen. Da saßen die Männer, die über das Schicksal von Córdoba bestimmten.

Der Balkon stellt die Verbindung mit dem Platz her. Durch das Glockengeläut wurden die Leute, meist nach der Messe, auf den Platz gerufen, und dann wurden von hier vom Balkon aus die Entscheidungen bekanntgegeben. Schriftliche Rollen gibt es erst seit etwa 1800. Bis dahin wurde alle mündlich gemacht.

Die Führerin verwechselt, wie so viele, verbal mit oral, verbal mit mündlich. Auch mündliche Kommunikation ist verbal.

An der Stirnseite des Saals stehen drei Flaggen, die Flagge des Landes, die der Provinz, die der Stadt. Alle drei haben eine Sonne, aber die des Landes ist die Sonne der Unabhängigkeit, die der Provinz und die der Stadt ist die Sonne der Jesuiten.

Wir kommen in verschiedene Säle, in denen so etwas wie ein Museum eingerichtet ist. Im ersten sieht man unter den Funden der vorkolonialen Zeit die Reste einer Pfeife. Die Indios waren dem Rauchen zugetan. Die Europäer hielten es eher mit dem Trinken, wie eine Bierflasche aus Ton aus Deutschland belegt.

In einem anderen Raum sehen wir einen Prachtsessel,, samtbezogen, wohl von dem Vorsitzenden des Cabildos benutzt. Unten sind Kopf und Pfoten eines Ungeheuers aus der Unterwelt ins Holz geschnitzt, oben sieht man Sonne und Mond, für die Welt da oben, und dazwischen, auf der Erde, sitzt der Vorsitzende des Cabildos.

Wir kommen in einen Saal, in dem anhand einiger Objekte die Welt der Immigranten dargestellt ist. Das waren in erster Linie Spanier und Italiener und Polen und Araber. Die Spanier und Italiener widmeten sich eher der Landwirtschaft oder der Herstellung von Keramik oder Stoffen, die Polen und Araber widmeten sich eher dem Gewerbe. Ausgestellt ist hier der komplette Friseursalon eines polnischen Friseurs. Der erlangte Bekanntheit – und wurde auch geehrt – weil er sein Leben lang den Insassen der Nervenheilanstalt gratis die Haare schnitt.

Am Rande ist ein früher Kühlschrank ausgestellt. Eine tolle Konstruktion. Sieht wie ein Schränkchen aus. Wenn man die untere Tür aufmacht, sieht man ein mit Eisen beschlagenes Fach. Dort werden die Waren, die gekühlt werden sollen, reingelegt. Oben öffnet sich ein Fach, in das in dicken Stangen Eis gelegt wird. So wird alles kühl gehalten.

In dem anderen Teil steht ein Klavier. Dazu erklingt Musik aus dem Lautsprecher. Das ist Tunga Tunga, die typische Musik von Córdoba, eine Mischung aus dem spanischen Pasodoble und der italienischen Tarantella.

Vom oberen Stockwerk hat man einen schönen Blick auf den Turm der Kathedrale. Und von hier sind die Relieffiguren der Indios an den Seiten des Turms etwas besser auszumachen. Diese Figuren unterscheiden sich von den europäischen Figuren dadurch, dass sie einen Federbusch und ein Röckchen tragen, und dadurch, dass sie bartlos sind! In der Hand halten sie ein Musikinstrument. Bei einem Europäer wäre es ein Buch oder ein Rosenkranz. Und das Emblem zwischen den Figuren, hier ein stilisierter Federbusch, wäre bei den Europäern eine Muschel.

Kurz nach dieser Führung beginnt schon die im benachbarten Museo de Arte Religioso. Hier bin ich der einzige. Geführt werde ich von einem gebildeten Mann mit etwas femininen Gebärden, der sich in seiner Begeisterung nicht bremsen lässt dadurch, dass er nur einen Gast hat. Er kann alle Fragen beantworten, lässt sich auch gerne auf einen Dialog ein und weiß, dass in Köln die Heiligen Drei Könige begraben sind.

Es beginnt mit der Gründung Córdobas durch einen gewissen Juan de Tejera. Der war zusammen mit 111 Männern in einer Expedition hierhergekommen und entschied sich, zu bleiben. Hier entstand eins von drei Gütern, die er am Ende besaß. Er verdiente sein Geld durch Handel oder Herstellung von Tuchen und von Wein.

Waren das lauter Männer, die 111, will ich wissen. Ja. Und woher kamen die Frauen? Die waren in Santiago. Dort hatte man schon eine spanische Kolonie. Die Frauen wurden später nachgeholt. Es gab aber auch Spanier, die sich mit einheimischen Frauen verbandelten.

Es wird erzählt, dass die zwölfjährige Tochter von Juan de Tejera plötzlich schwer erkrankte. Sie erlitt einen Herzstillstand. Tejera wendete sich an Teresa von Avila und versprach, ein Kloster zu gründen, wenn seine Tochter genesen sollte. Die wurde wieder gesund, und aus diesem Gut wurde ein Kloster, mit der Tochter als einer der ersten Nonnen.

Das Kloster existiert bis heute, nur haben die Barfüßigen Karmeliterinnen einen Schwund erlitten und 1968 diesen Teil des Klosters als Museum an die Stadt abgetreten. Das Kloster existiert noch, aber nur noch mit 7 statt der angestammten 21 Nonnen. Jetzt ist es geschlossen, die Nonnen befinden sich im Sommerurlaub.

Die Nonnen widmeten sich dem Sticken, der Herstellung von Keramik und der Herstellung von Süßwaren. Am Eingang sieht man eine Drehscheibe, einen torno, durch den man Waren nach außen abgeben und Geld kassieren konnte, ohne gesehen zu werden. Diese Drehscheibe ist original aus dem 18. Jahrhundert erhalten.

Mein Führer, Ariel, sucht sich drei Objekte heraus, die hier in den Vitrinen stehen und zum Bestand des Museums gehören. Sie kommen aus der Kathedrale, aus dem Kloster und aus Spenden.

Aus dem Kloster stammt eine Figur von Tobias, einen Fisch in der Hand, und dem Engel, der ihm erschien. Die Figuren sehen wie Porzellan aus, sind aber aus Holz gemacht und einfach geschickt übermalt. Die Flügel des Engels scheinen mit Perlen besetzt zu sein, aber die scheinbaren Perlen sind aus Muscheln hergestellt.

Aus den Spenden stammt eine Figur, die wie eine ganz normale Frau aussieht. Kein religiöser Zusammenhang zu erkennen. Die Spenderin hat sie dem Museum als Jungfrau Maria vermacht. Aber welche? Damit kann man sich in der spanischen Welt nicht zufriedengeben. Durch den Vergleich mit anderen Figuren stellte sich dann heraus, dass es gar keine Maria, sondern eine Cecilia war. Nur ist ihr das Musikinstrument abhandengekommen, das sie in den Händen hielt. Die Spenderin ist ganz gerührt, denn der Freund, von dem sie die Figur geerbt hat, war ein großer Musikliebhaber.

Die dritte Figur, aus der Kathedrale stammend, ist ein Reliquienkreuz. Oben sind Reliquien der Heiligen Drei Könige, auf der anderen Seite ein Kreuzessplitter. Unten hat man nur Zahlen, deren Bedeutung man nicht kennt. Aber ganz unten gibt es noch eine Besonderheit. Dort ist in das Kreuz ein winziges Stück Papier eingearbeitet, und das trägt eine Unterschrift von Ignatius von Loyola. Die Kreuzreliquie wurde den Jesuiten von Córdoba von den Jesuiten aus Flandern überlassen, das damals zu Spanien gehörte.  

Dann kommen wir in den Innenhof, einen von unzähligen auf dem Klostergelände, aber dem schönsten. Der Innenhof ist deshalb schön, weil er voller Bäume steht: Bitterorangen, Zitronen, Granatäpfel. Die wurden hier angepflanzt, weil die Nonnen die Früchte zur Herstellung ihrer Süßwaren gebrauchten. Der Granatapfel gilt überdies als Symbol der Christenheit.

Der Innenhof ist aber auch deshalb schön, weil er vom anderen Ende her einen ungewöhnlichen Blick gewährt: Man sieht hinter den Bäumen und über die Mauern hinweg Turm und Kuppel der Kathedrale. Der Blick ist völlig unverstellt, man sieht nur den blauen Himmel, kein einziges Haus.

Bei der Gelegenheit erfahre ich, dass die Kathedrale ursprünglich weiß war, dann aber aus irgendeinem Grund farblich neu gefasst wurde. Als man zu Weiß zurückkehren wollte, ergab sich Protest. Man wollte beim Gelb bleiben.

Wir kommen in verschiedene kleine Räume, die sich um den Patio herum gruppieren. Im ersten, dem locutorio, konnten die Nonnen einmal im Monat mit einer Person von außerhalb des Klosters sprechen. Von dieser Person waren sie durch ein doppeltes Gitter getrennt. Das Gitter ist noch erhalten. Es wurde aber zusätzlich durch einen Vorhang verdeckt. Damit die Nonnen nicht etwa auf den Gedanken kamen, Geheimnisse des Klosters auszuplaudern, war immer eine zweite Nonne als Anstandsdame dabei.

Im nächsten Raum sehen wir einen St. Michael, der den Drachen tötet. Ariel will in dem Michael indigene Züge erkennen. Die kann ich nicht entdecken. Aber der Drache ist tatsächlich anders als in der europäischen Tradition. Sieht eher putzig aus.

Daneben sehen wir ein stark nachgedunkeltes Gemälde vom Jüngsten Gericht. Hier sind, entgegen der europäischen Tradition, Sonne und Mond mit eingearbeitet. Die waren heidnische Götter. Hier stehen sie aber für Anfang und Ende. So wie die Sonne Anfang und Ende des Tages markiert, markiert der Mond Anfang und Ende der Nacht.

Dann kommen wir in einen Raum mit einem Beichtstuhl, der nicht als solcher zu erkennen ist. Er ist aus Beton und hat keinen Eingang. Jedenfalls keinen, den man von hier aus sieht. Der Eingang für den Priester war in der Klosterkirche. Auf diese Art und Weise wurde vermieden, dass Nonne und Priester sich sahen. Gebeichtet wurde täglich. Man fragt sich, was die Nonnen, die ja weitgehend Schweigegebot hatten und keinen Zugriff auf Laster irgendeiner Art, zu beichten hatten. Können nur Gedanken gewesen sein. Unkeusche Gedanken, feindselige Gedanken einer Mitschwester gegenüber, Glaubenszweifel?

Dann kommen wir in einen Raum mit einer großen Truhe. Hier wurde die Mitgift der Nonnen aufbewahrt. Die Truhe hat drei Schlösser, und die drei Schlüssel waren in verschiedenen Händen. Die Nonnen kamen in der Regel aus wohlhabenden Familien, denn sie mussten beim Eintritt ins Kloster etwas beisteuern. Aber sie entschieden sich für ein einfaches Leben hinter Klostermauern.

Dann sieht man in verschiedenen Vitrinen das 13-teilige Priestergewand, Kasel, Stola, Chormantel, Zingulum usw., aus Gold, Silber und Seide, das bei der Einweihung der neuen Kathedrale und seitdem erst dreimal getragen wurde.

Wir sehen eine Figur des Antonius von Padua. Der ist, wie ich aus meiner Kindheit weiß, zuständig für verlorene Gegenstände. Aber sein zweites Ressort ist die Suche nach dem Ehepartner. Hier hat sich in die Tradition ein heidnisches Element eingemischt: Die Frauen stellen den Antonius auf den Kopf, solange die Suche nach einem Ehemann ohne Ergebnis bleibt, danach wird er wieder auf die Füße gestellt.

Dann sehen wir die Figur eines sterbenden Josefs. Ein ungewöhnliches Motiv, denn in der Bibel ist von Josefs Tod nie die Rede. Er verschwindet einfach. Aber in den Apokryphen ist von seinem Tod die Rede. Demnach besichtigt ihn der Erzengel, der Maria die Geburt verkündigt hat, und verkündigt ihm seinen Tod. Er eilt nach Hause und stirbt in den Armen von Maria und Jesus. Er ist der einzige, dem das vergönnt ist. Deshalb gilt er als Santo de la Buena Muerte. Hier liegt er allerdings allein und verlassen in seinem Bett, das aber, ganz so, wie man sich das in Palästina vorstellt, mit Brokatdecken ausgestattet ist.

Zum Schluss sehen wir noch ein ehemaliges, inzwischen zugemauertes Fenster zur Kirche hin. Dieses Fenster ließ der bettlägerige Juan de Tejera hier anbringen, damit er bloß keine Messe versäumte. Später schuf ein indigener Künstler ein Diptychon, mit dem die Nische wieder verschlossen wurde. Das Diptychon zeigt auf beiden Seiten beider Tafeln eine Nonne, jeweils eine mit weißem, eine mit schwarzem Schleier. Die Farbe zeigte den sozialen Status an. Die schwarzen Schwestern waren höhergestellt, widmeten sich dem Gebet, die weißen hatten einen niedrigeren Stand und mussten sich an der Arbeit beteiligen. Beten mussten aber auch sie. Siebenmal am Tag!

Die Besonderheit dieses Diptychons besteht darin, das der indigene Künstler hier auf einem Holzbalken seinen Namen hinterlassen hat. Das war nicht üblich, erst recht nicht für indigene Künstler.

Damit endet diese abwechslungsreiche und informative Führung. Ich mache mich auf den Weg und gehe über die San Martín, auf der es jetzt rappelvoll ist, ein Stück stadtauswärts. Hier wimmelt es nur so von Läden mit Billigwaren. Am Straßenrand hat sich ein selbsternannter Sänger aufgestellt und krächzt etwas in das vor ihm stehende, nicht funktionierende Mikrophon.

Dann stoße ich auf eine Skulptur, eine in Bronze glänzende Figur eines Klavierspielers. Oder einer Klavierspielerin? Gar nicht so leicht auszumachen. Am Ende gibt eine Bodenplatte Auskunft: Leonor Marzano, eine Musikerin. Sie hat bei der Entwicklung von Tunga Tunga eine bedeutende Rolle gespielt.

Dann komme ich auf die Colón. Hier geht es ruhiger zu. Statt Geschäften gibt es hier Straßenhändler. Auf der Colón befindet sich das Hauptpostamt. Ein großes Gebäude mit vielen Abteilungen. Die Kunden ziehen einen Zettel und warten darauf, dass sie aufgerufen werden. In der ersten Abteilung bin ich offensichtlich falsch.

Im nächsten Raum befindet sich ein Informationsschalter. Das Mädchen ist mit der Frage nach Briefmarken völlig überfordert. Sie geht an einen der Schalter und konsultiert einen Kollegen. Der gibt grünes Licht. Ich setze mich in die Reihen und warte geduldig, bis ich aufgerufen werde.

Der Mann hinter dem Schalter macht ein verstörtes Gesicht, als ich nach Briefmarken frage. Ziemlich umständlich erkläre ich, was ich mit denen anfangen will. So langsam geht ihm ein Licht auf. Wie viele von diesen Marken ich denn haben wolle, will er wissen, so ungefähr. Ich sage es ihm ganz genau. Sein Kollege springt ihm bei und sagt, wo er nachschlagen könne. Der Kollege meint aber, das werde wohl 9.000 Pesos kosten. Pro Karte. Der Mann beginnt, umständlich in einer Liste nachzuschlagen. Dann findet er den Preis. Ist aber nicht 9.000 pro Karte, sondern 11.600. Er nennt mir den Preis, gibt aber zu bedenken, dass da ja auf jede Karte jede Menge von Briefmarken drauf müsste. Dafür sei doch gar nicht genug Platz da.

Ich gebe auf. Der Mann sagt, ja, das sei alles hier ganz ungewöhnlich, er habe gehört, dass das in Europa, in Deutschland zum Beispiel, ganz und gar an der Tagesordnung sei. Man fahre in Ferien und verschicke dann Postkarten. Kommt ihm merkwürdig vor.

In der Nähe der Post befindet sich die Krypta. Derentwegen hat es dieser Tage in der Touristeninformation ein Missverständnis gegeben. Es ist wirklich nur eine Krypta. Sie gehört zu nichts anderem. Die Geschichte der Krypta ist kompliziert, aber offensichtlich handelte es sich ursprünglich um einen Bau für die Novizen der Jesuiten. Als die ausgewiesen wurden, wurde der Bau von einem anderen Orden übernommen, den Bethlehemiten (dem einzigen in Amerika gegründeten Orden). Die widmeten sich der Krankenpflege und betrieben hier ein Krankenhaus. Als sie an einen anderen Ort zogen, verfiel das Gebäude, aber die Bethlehemiten benutzen die Krypta in Zeiten von Epidemien. Hier wurden die Toten zwischengelagert. Deren Körper wurden mit Kalk bestreut, bis sie wieder in das normale „Leben“ zurückkehren konnten.

Die Krypta ist groß, mit festen Mauern und Gewölben, und hat die Form eines griechischen Kreuzes. Erstaunlich, dass sie überlebt hat, nachdem jahrzehntelang niemand mehr was von ihr wusste.

Mein Weg führt mich zurück zur Plaza San Martín und den Geldwechslern. Ein junger Mann führt mich in einen hinter einer verhangenen Tür gelegenen Raum eines anonymen Ladens. Von diesem Raum aus führt eine Schiebetür in einen winzigen Schalterraum. Alles etwas geheimnisvoll. Als wir schon zum Wechseln bereit sind, sieht er meine Zwanzigerscheine und sagt, dafür gebe es nur 89.000 Pesos. Ich erkläre ihn für verrückt und verlasse die gastliche Stätte. Dann wende ich mich an eine Frau, die auch Geld wechselt. Sie führt mich in dasselbe Kabuff, und jetzt bekomme ich 110.000 Pesos.  

Als ich die Kathedrale passiere, formiert sich vor dem Eingang gerade eine ganze Schar von blau-grau gekleideten Nonnen. Ergibt einen schönen Schnappschuss aus der Ferne.

In einem Feinkostgeschäft bekomme ich Honig aus der Region und den Tipp, in einen Laden in einer Einkaufsstraße zu gehen. Dort bekomme ich Alfajores Cordobeses, eine regionale Spezialität, bei der es an Kalorien nicht mangelt.

Am Abend geht es ins Junior B, einem Lokal ganz in der Nähe der Unterkunft, vor dem ich dieser Tage eine Werbung für ein argentinisches Gericht gesehen habe. Ich gehe rein, aber auf der Speisekarte ist davon nichts zu sehen. Ich frage nach und erfahre, doch, das gebe es, es stehe nur nicht auf der Speisekarte. Es gibt Entrecote und zwei gedrungene Würste, chorizo und morcilla. Dazu einen argentinischen Malbec. Ein Gedicht!

22. Januar (Mittwoch)

Es ist noch ruhig auf den Straßen, als ich rausgehe. Diesmal in die andere Richtung. Dabei komme ich an der großen Plaza de España vorbei. In der Mitte des Platzes merkwürdige Säulen, wohl moderne Kunst, am Rande des Platzes in einem alten Palast hinter schmiedeeisernen Gittern und einem Park ein riesiges Museum.

Auf dem Weg zum Busbahnhof sehe ich die Cervecería Glück und die Cervecería Vieja Barba.

Dann geht es in eine Farmacity. Dort finde ich Sonnencreme, die „nur“ 18.500 kostet.

Bei einer netten Kellnerin bekomme ich in einem kleinen modernen Café Kaffee und Gebäck. Für 4.000 Pesos. Da kann man nicht meckern.

Am Busbahnhof angekommen, weiß ich erst gar nicht, wie ich in das Gebäude reinkommen soll. Dann suche ich die Schalter und als ich sie finde, sehe ich Fahrten nach Uruguay und Brasilien, aber nichts nach Alta Gracia. Nachdem ich alle abgeklappert habe und die Mädchen hinter dem Schalter bei ihren Handyunterhaltungen gestört habe, ohne was rauszufinden, sagt mir ein netter Mann, dass ich im falschen Busbahnhof bin, genauer gesagt, im falschen Terminal.

Dort angekommen geht die Suche weiter. Nirgends ist Alta Gracia zu finden. Aber irgendwie frage ich mich durch. Da ist der Schalter. Davor eine Schlange. Und die bewegt sich nicht. Es heißt warten und warten. Es ist inzwischen 9 Uhr, statt in Alta Gracia, wie geplant, stehe ich immer noch am Schalter in Córdoba.

Dann geht alles ganz schnell. Ich brauche auch meinen Pass nicht vorzuzeigen, wie die Leute vor mir.

Welche Haltebucht ist die richtige? Ich frage eine Frau vor mir in der Schlange. Die sagt ja, sagt dann aber, ich solle ihr den Platz freihalten, sie werde noch mal nachfragen. Ja, alles richtig, sagt sie. Als es dann ans Einsteigen geht, stellt sich heraus, dass sie falsch ist. Sie muss woanders hin. Für mich ist es aber der Einstieg.

Der Bus ist alt, hat aber sehr, sehr bequeme Sitze. Wieder kommen wir an der Plaza de España vorbei. Als ich sie mir am Abend dann mal ansehe, merke ich, dass alle Säulen Reliefs haben, moderne Reliefs, verfremdende, die was mit der Geschichte Spaniens zu tun haben. Versteht man aber nicht ohne weiteres. Die Säulen stehen um einen Platz mit einem Glasboden herum, auf dem ein originelles modernes Gebäude steht, auch aus Glas. Darin ein Museum. Das wäre alles besser, wenn man sich nicht erst durch den dichten Verkehrs des Kreisverkehrs hierher manövrieren müsste.

Nach knapp einer Stunde kommen wir in Alta Gracia an. Hier gibt es bald ein Dutzend Haltestellen. Der Busfahrer selbst weiß nicht Bescheid, wohl aber ein zugestiegener Fahrgast. Ich soll bis Tajamar fahren. Als wir dort ankommen, sind alle anderen schon ausgestiegen.

Die ganze Zeit habe ich mir überlegt, was wohl Tajamar sein könnte. Das ist der künstliche angelegte See, mit dessen Wasser die Jesuiten ihre Felder bewässerten.

Es geht an dem See entlang, und dann kommt auch schon die Jesuitenstation, die Estancia Jesuita, in Sicht.

Ganz am Rande der Anlage die perfekt erhaltene Kirche. Zu der führt eine schöne kleine Freitreppe rauf. Zusammen mit der Fassade ergibt sie ein schönes Photomotiv.

In die Estancia selbst führt ein eigener Eingang. Auch hier ist die Besichtigung  gratis.

Anhand eines Modells sieht man, wie groß die Estancia war und was sie alles beinhaltete: Ställe, Schmiede, Werkstatt, Wasserreservoir sowie eine Mühle am Tajamar und das, was hier residencia heißt, das Hauptgebäude. Hier gibt es in verschiedenen Räumen Gegenstände aus der Zeit, als die Estancia noch in Betrieb war.

Man sieht Reste einer Wasserleitung aus Ton, mit der man das Regenwasser auffing.

Dann das massive hölzerne Joch für die Ochsen. Die müssen einen Stiernacken gehabt haben, um das auszuhalten.

Interessant auch die jesuitischen Ziegelsteine. Sie sind quadratisch und flach.  

In der Schmiede ist das bemerkenswerteste Ausstellungsstück der überdimensionale Blasebalg. Eisen herzustellen bedeutete Geld und Prestige, denn das Eisen war in Amerika unbekannt, und Gegenstände aus Eisen wurden lange aus Spanien importiert. Die afroamerikanischen Sklaven, heißt es, erlangten im Schmieden eine ganz besondere Fertigkeit.

In einer Vitrine ist das schwere, in Leder gebundene Libro de Cuentas ausgestellt, mit Texten, Zeichnungen, Zahlen, vor allem aber Tabellen. In säuberlich angeordneten Zeilen wird alles festgehalten, was produziert und verkauft wurde, darunter Feigen, Weizen, Tabak, Zucker.

Sehr schön ein zusammenklappbares Harmonium, das im Gottesdienst verwendet wurde. Zum Transport wurde es in eine Kiste gepackt. Wenn man das Harmonium sieht, sollte man nicht meinen, dass es in die Kiste passte.

Ein schöner, leicht kitschiger Christuskopf, das Gesicht zum Himmel erhoben, steht stellvertretend für die „Wende“, die mit der Gegenreformation kam. Ignatius von Loyola selbst stellte Christus in den Vordergrund des Glaubens. Die Marienverehrung trat in den Hintergrund. Hört sich wie eine Konzession an den Protestantismus an.

Ganz unten in der Vitrine ist etwas verschämt eine Lutherbibel ausgestellt, mit einem Vorwort von Luther, dem Erzfeind. Auf Deutsch natürlich.

Während der Besichtigung ist mir ständig die Estancia Jesuita in Encarnación präsent, in Paraguay, die ich vor zwei Jahren gesehen habe. Hier in Alta Gracia ist mehr erhalten, aber die Ruinen von Encarnación stehen noch ganz lebendig vor meinen Augen. Was dort viel klarer wurde, war die relative Autonomie der Estancias innerhalb des spanischen Kolonialreichs und die relative Autonomie der Indios innerhalb der Estancias. Die Jesuiten hatten zwar letztlich das Heft in der Hand, überließen aber das Tagesgeschäft und die Entscheidungen weitgehend den Indios. Und waren in der Minderheit.  

Ich frage in einem Turm bei der Touristeninformation nach dem Museum von Che Guevara, aber mit der  Erklärung kann ich nicht viel anfangen. Wenigstens die grobe Richtung habe ich.

Zwei Frauen stehen auf dem Bürgersteig gegenüber und halten ein Schwätzchen. Einer Intuition folgend gehe ich rüber und frage die beiden nach dem Weg. Sollte sich lohnen.

Die ältere der beiden sagt, das sei nicht so leicht zu erklären, aber ob ich was dagegen hätte, dass sie mich dorthin bringt. Sie sei sowieso auf dem Sprung. Die beiden verabschieden sich, und ich werde ins Auto der freundlichen Frau verfrachtet. Sie heißt Mónica.

Statt mich zu dem Museum zu bringen, bietet sie mir eine Stadtrundfahrt. Ob ich denn wisse, dass es hier auch ein Falla-Museum und ein Dubois-Museum gebe. Von Dubois habe ich noch nie gehört – was Mónica mit Entsetzen zur Kenntnis nimmt – aber Falla, ja, da wollte ich sowieso hin. Wir kommen auch an dem Museum vorbei. Sei bleibt stehen, um mir zu zeigen, wo es ist, und ich will aussteigen. Wohin ich denn wolle. Nein, sie habe nur zur Orientierung angehalten.  

Wir fahren durch die in diesem Viertel fast menschenleere Stadt, und sie erklärt bei jedem zweiten Haus, wem das gehöre und was für ein Haus es sei. Wir fahren an schönen Häusern vorbei und auch durch das Neureichenviertel. Hier gibt es auch einen Golfplatz.

Großen Wert legt sie darauf, dass ich zwischen den Bäumen eine Kuppel erspähe. Das sei die Kuppel der Lourdes-Grotte.

Wir kommen auch an ihrem Haus vorbei, einem hübschen Bungalow, aber sie macht keine Anstalten, stehenzubleiben.

Die Architekturstudenten aus Córdoba kämen in Exkursionen hierher, weil es so unterschiedliche Baustile gebe, erklärt sie. Dazu hätten auch die Engländer beigetragen. Die seien wegen Kaiser hierhergekommen. Was bitte? Kaiser? Ja, Kaiser, das sei der Vorläufer von Renault und Peugeot, sagt sie.

Dann stehen wir plötzlich vor dem Che-Museum. Dort lädt sie mich aus. Sie betont, man solle freundlich zu Fremden sein, selbst wolle man das ja auch, wenn man in der Fremde sei. Sie entlässt mich, nicht ohne vorher noch das Jardincito und den Pepe Negro zu empfehlen.  

Im Che-Museum kann man eine Eintrittskarte für 3.000 Pesos erwerben, die auch für die anderen Museen gilt.

In diesem Haus lebte der Che im Alter von 4-16 Jahren. Seine Eltern waren auf dem Paraná unterwegs gewesen und mussten in Rosario eine Zwangspause einlegen. Während der wurde der Che geboren. Die Eltern zogen dann aber hierher, nach Alta Gracia, wegen des Asthmas des Jungen. Alta Gracia hatte wegen seiner Höhe ein besseres Klima.

Im ersten Raum, dem Jungenzimmer von Che und seinem Bruder Roberto, sind persönliche Gegenstände ausgestellt, Roller, Bücher, Kleidung.

An der Wand Photos, erstaunlich viele, vom Che alleine oder mit Familie und Großfamilie. Das Photographieren muss damals noch eine teure Angelegenheit gewesen sein.

Neben den Photos Ansichtskarten, die der Che, vermutlich noch vor Eintritt in die Schule, seinen Verwandten geschickt hat, in krakeliger Schrift. Unterschrieben mit Ernestino.

Dann ein Schulzeugnis. Interessant. Auf einem einzigen Blatt sind alle Noten aller Schüler eingetragen. Da würden heute die Datenschützer auf den Plan treten. Entsprechend klein die Schrift. Es gibt unendlich viele Noten, alleine für Spanisch gibt es Noten für Rechtschreibung, Lesen, Aufsatz, Grammatik und Schönschrift. Die Noten des Che variieren. Die schlechteste hat er in Schönschrift. 

1943 ging es nach Córdoba, auf eine weiterführende Schule. Hier versuchte der Che, sich vor allem beim Fußball und beim Rugby hervorzutun, vielleicht gerade als Reaktion auf seine Krankheit, die ihn ein Leben lang verfolgen sollte. Er las aber auch mit Begeisterung Philosophie.

Dann ging es nach Buenos Aires, zum Medizinstudium. Hier sieht man seinen Studentenausweis ausgestellt, mit einem Photo, auf dem er sehr ernst guckt.

Aus der Studentenzeit stammt auch ein vielsagendes Schild. Auf dem steht: Entrada prohibida. Irgendwo in der freien Natur, an einem Felsen oder einem Fluss. Auf einem Photo sieht man, wie der Che zusammen mit einigen Mitstudenten dieses Schild ignoriert und trotzdem reingegangen ist. Erste Anzeichen von Rebellion?

Das Studium unterbrach er aber, um eine Reise durch Argentinien zu machen, mit vielen Stationen, alle im Norden.

Im nächsten Raum ist das Motorrad ausgestellt, mit dem er  dann die beiden großen Reisen durch Lateinamerika machte, die sein Leben veränderten. Diese Reisen führten ihn bis nach Mexiko.

Begleitet wurde er von seinem besten Freund. Dessen Asche ruht jetzt hier in einem Kästchen über dem Motorrad.

Dann kommen Photos von Schießübungen auf einem Schießgelände in Mexiko und Photos von der Gefängniszelle, die er dort mit einem weiteren Gefangenen Teilte: Fidel Castro. Der Che ist lässig gekleidet, Fidel beinahe elegant.

Es folgt die Aktion mit dem Übersetzen auf der schwankenden alten Granma von Mexiko nach Kuba. Der Rest ist Geschichte.

In einer Vitrine sind ein paar einschlägige Bücher ausgestellt, darunter eins vom Che über Lateinamerika, América Latina, und eins über den Che und seine Reisen durch Lateinamerika, De Ernesto al Che. Auch über Martí hat der Che ein Buch geschrieben.

Auf Photographien sieht man den Che mit seinen vier Kindern und den Che bei seiner Hochzeit, schon mit Uniform und Baskenmütze. Seine Frau trägt ein weißes Kleid.

Die Küche des Hauses ist auch erhalten. Dorthin zog sich der junge Che immer wieder zurück, wenn sein Asthma ihm nicht erlaubte, mit den anderen zu spielen. Hier gewann er das Vertrauen von Doña Rosaria, einer Hausangestellten, die so etwas wie seine Ersatz-Oma wurde.

In dem abschließenden Raum sieht man ein Photo von Evo Morales und Fidel Castro bei dem gemeinsamen Besuch des Museums.

Draußen hinterm Haus sitzt der Che in Bronze als Erwachsener mit Zigarre und Baskenmütze auf einer Bank, vor dem Haus sitzt der Che als Kind auf einem Geländer.

Ein tolles Museum, aber leider erfährt man nichts über den familiären Hintergrund, über das wohl nicht ganz einfache Verhältnis von Vater und Mutter und deren unterschiedlicher Herkunft.

Weiter geht es zum Museum von Manuel de Falla. Den habe ich überhaupt nicht mit Lateinamerika in Verbindung gebracht. Die kam so zustande: Er wurde 1939 vom Teatro Colón eingeladen, hier zu gastieren. Das Konzert, in dem er eigene Werke dirigierte, wurde zu einem riesigen Erfolg.

Ausgestellt sind hier der Frack und die Weste, die er bei dem Konzert trug, der Taktstock, den er benutze, und ein Instrumentenkoffer mit seinen Initialen.

Falla entschied sich, nicht in das Spanien Francos zurückzukehren. Der Bürgerkrieg war gerade zu Ende gegangen. Dann erkrankte er aber an Tuberkulose. Ein wohlhabender Freund brachte ihn hier unter, in einem seiner zahlreichen Häuser. Hier wohnt auch der Sohn des Freundes, ebenfalls an Tuberkulose erkrankt. Das Haus war ideal, denn es hat zwei getrennte Teile, jedes mit eigenem Zimmer und eigenem Bad. So lebten die Kranken getrennt von den Gesunden.  

Falla stirbt vier Jahre später, und Franco fordert ihn zurück. Argentinien wagt es nicht, ihm die Stirn zu bieten. Der Körper wird einbalsamiert und überführt und in der Kathedrale von Cádiz begraben, Fallas Heimatstadt.

Sobald man das Museum betritt, erklingt Musik von Falla, und in den Vitrinen sind Ausgaben seiner bekanntesten Stücke ausgestellt: El amor brujo, El sombrero de tres picos, Noches en los jardines de España usw. Ein Autograph zeigt, wie Falla an einer Komposition herumfeilte und Veränderungen vornahm.

Das Klavier, an dem er hier komponierte, ist auch ausgestellt.

Zu Falla wird Rubinstein zitiert, wie er seine Melancholie, seine Ernsthaftigkeit herausstellt. Er sei hager gewesen und immer in Schwarz gekleidet, und sogar sein Lächeln habe etwas Trauriges gehabt. Seine Musik sei aber ganz anders.

Die große Stütze Fallas war seine Schwester. Sie ertrug seine Launen, kümmerte sich um die regelmäßige Einnahme der Medizin, bekochte ihn und stellte sich auf seinen unorthodoxen Tagesrhythmus ein. Er schlief lange, machte dies und jenes, legte dann noch eine Siesta ein und fing am Abend an zu arbeiten.

Die Schreibmaschine der Schwester ist auch ausgestellt. Sie lernte eigens Schreibmaschine schreiben, um ihm als Sekretärin zu dienen.

Unter Fallas persönlichen Gegenständen ist eine merkwürdige Vorrichtung vertreten, bestehend aus einem langen Gegenstand aus Holz und einem anderen länglichen Gegenstand aus Metall. Damit konnte man Zigaretten drehen! Auch das übernahm die Schwester für ihn.

Eine Karikatur zeigt berühmte Musiker in verschiedener Aufmachung. Bach sitzt in der Orgel und guckt zwischen den Orgelpfeifen raus, Brahms, das Nordlicht, füllig, als gemütlicher Bayer mit Lederhose und Gamsbart, Falla, ausgezehrt, mit einem Kleid aus Notenblättern, das ihm wie einer Tänzerin um die Beine weht. 

Am Ausgang ist noch der 100-Peseten-Schein ausgestellt, auf dem in alten Zeiten Falla zu sehen war.

Auf dem Weg zu Pepe Negro fällt mir an einer Palme ein dickes Bündel von Samen auf, die an dem Stamm hängen. Was mag das nur sein?

Das Pepe Nero sieht unscheinbar aus, wie eine Dorfkneipe, entpuppt sich aber drinnen als vollwertiges Restaurant, in dem am offenen Feuer gekocht wird. Es ist rappelvoll. Das Essen ist nichts Besonderes, aber der Besuch bleibt in Erinnerung. Die flotte und sehr freundliche Kellnerin serviert mir auf die Bitte nach einem einheimischen Bier ein Stella Artois, und die Rechnung ist was für die Ewigkeit: Essen 3.500, Bier 6.000!

Als ich in Córdoba aus dem klimatisierten Bus steige, trifft mich der Schlag: Sauna. Alta Gracia hat zu Recht seinen guten Ruf für sein verträgliches Klima.

23. Januar (Donnerstag)

Heute Vormittag ist es viel angenehmer als gestern Abend, aber im Laufe des Tages wird es wieder lecker heiß.

Unterwegs sehe ich eine Pappmachefigur. Die stellt einen Mann dar, der seinen Koffer abgestellt, den Hut abgenommen hat und sich mit dem Taschentuch den Schweiß vom Gesicht wischt.

Ich mache mich auf dem Weg zum Fluss, dem ich komischerweise bisher noch gar nicht begegnet bin.

Auf dem Weg dahin suche ich ein Nagelstudio, das ich im Internet gefunden habe, aber das gibt es nicht mehr. Das Lokal steht leer. Dann treffe ich zufällig noch auf ein zweites, aber das ist zu.

Ich gehe schnurstracks geradeaus, immer weiter geradeaus. Der Weg ist doch weiter, als ich gedacht habe. Ich komme am Kiosko Los Gringos vorbei und gerate dann auf einen Teil der San Martín, wo gar nichts los ist. Die führt am Ende aber direkt auf den Fluss zu und auf eine Fußgängerbrücke der kompakten Art, auf der Río Suquía steht.

Der Fluss, halb kanalisiert, führt mehr Wasser, als man meinen könnte und hat eine starke Strömung.

Auf der anderen Seite kann man schön spazieren gehen. Hier hat man breite Radwege und daneben einen ebenso breiten Weg für die Fußgänger angelegt.

Am Wegesrand wachsen Johannisbrotbäume – die mich immer an Antwerpen und das Rechnen in Karat erinnern – und Bäume mit roten Blüten, die jetzt reihenweise runterfallen.

Von hier aus blickt man gleich auf die beiden nächsten Brücken. Die erste ist eine Brücke für den Autoverkehr, die so aussieht wie eine moderne Römerbrücke. Die nächste ist wieder eine Fußgängerbrücke, elegant, ganz in Weiß. Erinnert ein bisschen an die Puente de la Mujer in Buenos Aires.

Hier ergibt sich ein Blick auf ein unbekanntes Córdoba. Hinter den weißen Streben der Brücke sieht man auf eine Reihe von modernen Hochhäusern, teils sehr originell.  

Über die weiße Brücke komme ich wieder auf die andere Seite, zu einem kleinen Park. Hier sitzt ganz verloren ein einzelner Mann, der ein Buch liest. Am Rande des Parks steht eine Büste. Wer könnte das wohl sein? Mozart! So ziemlich der letzte, mit dem ich hier gerechnet habe.

Es geht wieder zurück in die Innenstadt und zu dem kleinen Café mit dem guten Kaffee. Wieder gibt es ein zweites Teilchen dazu, als Sonderangebot. Das ist mir aber zu viel. Ich nehme es mit und drücke es einem Rollstuhlfahrer in die Hand, der am Straßenrand sitzt. Nimmt er gerne an.

Inzwischen habe ich die Adresse eines weiteren Nagelstudios gefunden. Dort fragt man mich, für welchen Tag ich einen Termin machen wolle. Heute. Geht tatsächlich. Ich muss lange warten und ordentlich in die Tasche greifen, aber der Mann macht seine Sache gut.

Im Wartesaal klagt eine Frau darüber, wie  sehr die städtischen Abgaben gestiegen sind. Man lasse sich hier die Füße machen, und die Stadt schneide einem die Beine ab.

Eine andere Frau erzählt von ihrer bevorstehenden Reise in den Süden. Sie fährt mit einer Reisegruppe, 22 Tage, die erste Station ist Bariloche.

Als ich fertig bin, mache ich mich auf den Weg zu La Cañada. Das ist eine Promenade, die man entlang des gleichnamigen Baches angelegt hat. Es fließt zwar Verkehr zu beiden Seiten, aber der Weg ist trotzdem schön, wegen des Wassers und der Brücken, vor allem aber wegen der Bäume, der Tipas. Die finden in diesen Breiten oft Verwendung als schattenspendende Straßenbäume. Sie haben leuchtend gelbe Blüten, aber die blühen nur ganz kurz im Spätsommer. Ich bin zu früh dran.   

Man kann sich über die hohen Ufermauern für so einen kleinen Fluss wundern, aber in der Frühzeit von Córdoba ist die Stadt immer wieder von Überschwemmungen betroffen gewesen.

Irgendwo am Straßenrand sehe ich eine merkwürdige Skulptur. Da scheint ein spanischer Eroberer der frühen Neuzeit eine Zeitung zu lesen. Irgendwas stimmt hier nicht, das ist ein Anachronismus. Entweder ist der Mann nicht, der er scheint, oder es ist keine Zeitung. Auf dem großformatigen Titelblatt steht La Voz del Interior. Hört sich nach Zeitung an.

Wieder im Zentrum wechsle ich noch einmal Geld, wieder dasselbe Prozedere, und mache dann noch einen kleinen Einkauf.

Als ich am Abend noch mal rausgehe, merke ich, dass gleich im Nachbargebäude ein Nagelstudio ist.

Bei Junior B bin ich noch zu früh. Die haben erst ab 20 Uhr wieder eine vollständige Speisekarte. Also komme ich doch noch in den Park, den Parque Sarmiento, der eigentlich für heute auf dem Plan stand.

Wieder geht es zur Plaza de España. Dahinter verbirgt sich der Eingang oder einer der Eingänge zu dem Park.

Der ist so groß, dass er von mehreren breiten Straßen durchschnitten wird. Der große gedrechselte Turm, den man von weitem sieht und der als Orientierungspunkt dient, ist, wie ich später lese, ein moderner Leuchtturm.

Am Eingang zum Park hat man eine ganze Reihe großer, eiserner Ringe in den unterschiedlichsten Farben aufgestellt, in kleinen, immer neuen Gruppen. Durch jeden Ring kann man auf jede Menge anderer Ringe blicken. Sehr gelungen.

Der Park hat stillere und lautere Teile. Zu den stilleren zählt ein Rosengarten, zu den lauteren ein Platz mit Karussells. In einem sind die Karussellfahrer an den Rand einer großen Schüssel angebunden, und diese Schüssel, schräg gestellt, bewegt sich in unvorhersehbarer Weise mal in die eine, mal in die andere Richtung. Dazu bewegt die Schüssel sich noch auf und ab, hüpft auf der Stelle oder macht Bögen. Da wird einem schon beim Zuschauen ganz anders.

Ich denke gerade Wasser, und da kommt ein künstlicher See in Sicht. Hier kann man es gut aushalten. Aber die schöne hölzerne Brücke ist gesperrt und verhindert, dass ich auf die andere Seite komme.

Ich gehe eine der Straßen runter. Es sind fast nur junge Leute unterwegs, vermutlich Studenten. Viele in Sportkleidung, zum Joggen oder Gehen. Trotz der Temperaturen. Es sind immer noch 31°.

Dann fällt mein Blick auf die Bäume. Die haben gelbe Blüten. Sollte ich doch noch auf die Tipas gestoßen sein?     

Dann geht’s ins Junior B. Die junge Kellnerin fragt mich, woher ich komme. Und wie meine Reiseroute ist. Es stellt sich heraus, dass sie selbst noch nie in Buenos Aires war.

Das Essen ist in Ordnung, aber nichts im Vergleich zu dem Essen vom letzten Mal.

Als ich aufbreche, bin ich schon der letzte Gast. Erst als ich an der Tür stehe, sehe ich es: Es regnet! Und wie! Sturzflutartig. Es schüttet und schüttet. Das Wasser kann nicht ablaufen, steht auf Straßen und  Bürgersteigen. Die Frau vor mir, die sich am Eingang Unterschlupf gesucht hat, nimmt ihren einen Hund auf den einen Arm und den anderen auf den anderen und watet durchs Wasser.

Ich weiß gar nicht, in welche Richtung ich gehen soll, und bald verliere ich in der Dunkelheit die Orientierung. Die Leute lachen oder schütteln den Kopf, springen über die Pfützen, stehen hilflos davor oder waten einfach hindurch. Zu Hause angekommen, bin ich völlig durchnässt, von Kopf bis Fuß.

24. Januar (Freitag)

Am Busbahnhof gibt es keine Information darüber, wo die Busse abfahren. Nach mehreren Anläufen erfahre ich, dass es irgendwo auf den Haltebuchten 2-12 nach Salta geht. Aber da tut sich nichts. Die geplante Abfahrtszeit rückt näher, immer noch kein Bus in Sicht. Im Vorübergehen höre ich, wie eine Frau im Gespräch mit einer anderen das Wort Salta erwähnt. Volltreffer! Sie wartet auch auf den Bus nach Salta. Erleichterung stellt sich ein.

Tatsächlich kommt der Bus kurz danach in den Bahnhof eingefahren. Ein älteres Modell, ohne Steckdosen oder Internetzugang.

Solange der Strom reicht, kann ich in meinem neu erworbenen elektronischen Reiseführer lesen. Dort steht, dass es im Norden Argentiniens im Sommer viel regnet, im Winter aber kaum. Je mehr ich lese, umso mehr spricht mich der Norden Argentiniens an. Vielleicht sollte ich mir die langen Reisen in den Süden ersparen. Von zu Hause kommt Bestätigung, von kompetenter Seite.

Um 14.00, nach vier Stunden Fahrt, machen wir eine Pause an einem unscheinbar aussehenden Rastplatz mitten in der Wildnis. Es gibt schäbige Toiletten und eine schäbige Bar, aber daneben ist ein kleiner Laden, vor dem die Leute Schlange stehen. Nicht von ungefähr. Hier hat man, auf kleinstem Raum, eine erstaunlich vielfältige Auswahl an Speisen, vom kleinen Snack bis zum vollständigen Mittagessen. Als ich das merke und endlich an der Reihe bin, ist es fast zu spät, aber ich bekomme noch ein paar wunderbare empanadas.

Durch die Beschilderung direkt über den Speisen erfahre ich jetzt, was picadas sind. Kleine, quadratische Fleischstücke, garniert mit Oliven und Gurken. Genau die hat es dieser Tage bei Sergio gegeben.

Wir steigen wieder ein, und mit einem Mal ändert sich die Landschaft: Es wird hügelig, und es tauchen Stechpalmen, Dornbüsche und vor allem Kakteen auf. Es ist noch grün, aber zwischendurch sieht man Steine oder Erde.

Wir erreichen Ojo de Agua. Am Busbahnhof ein verrostetes Ortschild, und der Platz davor mit Lehmboden und Pfützen. Hier steigt tatsächlich einer aus.

Es ist einsam, weit und breit nichts zu sehen, nicht einmal Strommasten. Dann taucht am Wegesrand ein einzelnes Haus auf, mit dem Auto unter einem Sonnensegel. Wo gehen die Leute einkaufen, zur Schule, zur Arbeit, was machen sie, wenn sie krank sind?

Für Landwirtschaft ist der Boden vermutlich nicht fruchtbar genug, und für Kühe das Gelände zu uneben. Aber was ist mit Ziegen? Als ich das gerade überlege, taucht tatsächlich eine Ziegenherde auf.

Im Bus fängt es zwei Sitze vor mir an zu tröpfeln, vom Gepäckfach runter. Die beiden Passagiere nehmen Zuflucht nach hinten. Der gutmütige Busfahrer beruhigt. Das sei nur die Klimaanlage. Die muss allerdings tatsächlich Schwerstarbeit leisten. Die Temperatur wird auf 19° runtergefahren. Die anderen hüllen sich alle in Decken.

Die Straße ist eng, aber gut. Überholen ist hier ein Kinderspiel. Man kann meilenweit sehen.

Dann entdecke ich endlich eine Entfernungsangabe, nach 7 Stunden Fahrtzeit: Salta 469 km!

Wir kommen auf Santiago zu. Plötzlich Wasser auf der Straße. Regnet es? Nein. Das ist immer noch der Regen von gestern. In der tiefer liegenden Dorfstraße, die parallel zu unserer verläuft, hat sich das Wasser so gestaut, dass es praktisch einen See bildet. Hier schwimmen und tollen und springen die Kinder des Dorfes, als wenn es ein Schwimmbad wäre.

Santiago kommt in Sicht und mit ihm ein hochmodernes Fußballstadion, das wie eine Raumfähre aussieht. Auf das Stadion führt eine moderne rote Bogenbrücke zu.

Hier ist auch der Busbahnhof modern, aber es ist fast nichts los. Der Zubringer zum Busbahnhof weist jede Menge Bodenwellen auf, solche, die zum langsamen Fahren auffordern. Die heißen hier Lomadas. So steht es auf den Warnschildern.

Wir fahren weiter, und ich weiß jetzt, dass auch Argentinien ein Santiago hat, nicht nur Spanien und Chile und Kuba.

Dann wird es dunkel und der Regen setzt ein. Der bleibt uns bis Salta erhalten.

Immer wieder, wenn man mal ein Licht in der Ferne sieht, hofft man, dass es Salta sein möge, aber es ist immer nur eine Fata Morgana.

Dann kommen wir auf eine breite, hell erleuchtete Straße. Aber nichts von einer Stadt zu sehen. Bis wir um eine Kurve fahren, und da liegt sie, unter uns, die hell erleuchtete Stadt. Ein wunderbares Bild, das man aber nur wenige Sekunden genießen kann.

Und dann ist er da, der Busbahnhof. Ebenfalls hell erleuchtet. Ankunft um 1.00 Uhr, nach 15 Stunden Busfahrt.

Hier ist es nicht nur hell, es ist auch noch richtig Betrieb. Fährgäste, Busse, Nachtschwärmer, Verkäufer. Um ein Taxi zu bekommen, muss man sich sogar in die Schlange stellen.

Bei der Ankunft an der Unterkunft nur das obligatorische Herumfummeln an der Schlüsselbox. Aber die öffnet sich dann doch, und ich betrete ein großes, bestens ausgerüstetes Apartment.

25. Januar (Samstag)

Der zentrale Platz von Salta heißt Plaza 9 de Julio. Dort in der Nähe ist praktisch alles, was es hier zu sehen gibt.

Direkt am Platz die Kathedrale, das Erzbischöfliche Palais und das Cabildo. Die Kathedrale hat eine auffällige, rosafarbene Fassade. Das Cabildo, weiß, mit zwei Stockwerken und Arkaden, ähnelt dem von Córdoba, ist aber nicht so schön. Das erzbischöfliche Palais hat einen besonders schönen Holzbalkon.

Nur ein paar Schritte davon entfernt befindet sich die auffällige Iglesia de San Franciso. Sie sieht überhaupt nicht wie eine Franziskanerkirche aus, ist reich dekoriert und hat einen Campanile. Die Frontseite der Kirche ist mit Ornamenten überladen. Die betonte Vertikalität der Kirche nimmt ihr etwas von ihrer Schwere.

Ich wende mich praktischen Dingen zu und erkundige mich bei einem Tourenveranstalter nach dem Tren a las Nubes, der Attraktion von Salta. Leider ist der inzwischen zu einem Opfer der Technik und der Tourismusindustrie geworden. Luxuriöse Ausstattung statt der alten Holzsitze, astronomische Preise und eine lange Anreise mit dem Bus, da der Großteil der Eisenbahnstrecke nicht mehr genutzt wird. So fährt man gerade mal 25 Kilometer über Schienen. Der Tagesausflug dauert 14 Stunden und kostet 179 $, mit Aufschlag bei Bezahlung mit Kreditkarte und zusätzlichen Kosten für das Mittagessen.

Selbst bei gutem Willen wäre es jetzt schwer, etwas zu buchen, denn der Zug fährt nicht jeden Tag und für den kommenden Dienstag, der nächsten Gelegenheit, ist ein Streik angesagt.  

Der Bau der Zugstrecke war einst ein Riesenprojekt. Es verfolgte das ambitionierte Ziel, die Anden auf dem Schienenweg zu überwinden, um den Stillen Ozean zu erreichen. Verwegene Männer machten sich 1921 mit einem Lastwagen und drei Fords auf den alten, von  Lamatreibern seit Jahrhunderten benutzten Weg und erreichten nach knapp einem Monat den Hafen von Antofagasta. Die Machbarkeit des Projekts war bewiesen. Der Bau der Eisenbahn dauerte dann aber noch 27 Jahre. Die Strecke wies 1328 Kurven, 42 Brücken und 21 Tunnel auf. Unter den Bauarbeitern befand sich ein Mann namens Josip Broz. Den lernte man später als Tito kennen.

Von den vielen Museen Saltas suche ich mir ein ganz spezielles heraus, eins, das eigens für sein wichtigstes Exponat gebaut worden ist. Es befindet sich auch an der Plaza 9 de Julio. Es beherbergt die Mumien von drei Inka-Kindern. Die Kinder waren Opfer von rituellen Tötungen, wie die Inka sie vornahmen.

Die Mumien, zwei Mädchen und ein Junge, wurden 1979 gefunden, in 6.700 Metern Höhe, in Llullaillaco. Der eine Wortteil bedeutet ‚Wasser‘, der andere ‚Lüge‘. Damit wurde auf das Wasser verwiesen, das nicht natürlich fließt, sondern sich zu Beginn des Sommers aus dem Eis löst.

Im Museum wird im Wechsel immer nur eine der Mumien ausgestellt, ganz am Ende der Besichtigung. Vorher gibt es Gegenstände, die mit den Riten in Zusammenhang stehen und Erklärungen zu dem Ablauf des Ritus.

Die Kinder werden, zusammen mit Priestern, auf eine lange Reise geschickt, von ihren Dörfern aus nach Machu Picchu. Dort werden sie, unter rhythmischen Gesängen, rituell verheiratet, die Tochter eines Dorfältesten mit dem Sohn eines Dorfältesten aus einer anderen Gegend. Das schweißt die Dörfer zusammen und stärkt den Zusammenhalt des riesigen Reichs.

Auf dem Rückweg dürfen sie nicht den Camino Real benutzen. Sie müssen immer geradeaus gehen und dabei alle natürlichen Hindernisse überwinden.

In ihrer Heimat angekommen, werden den Kindern festliche Kleider angelegt. Sie bekommen Chicha zu trinken, bis sie schlafen. Dann werden sie, mit reichen Grabbeigaben, bestattet. Wie genau sie zu Tode kommen, wird hier im Museum an keiner Stelle explizit gesagt. Werden sie etwa lebendig begraben?

Für die Inka sind die Kinder nicht tot, sondern in das Reich ihrer Vorfahren ausgewandert.

Ausgestellt ist hier unter anderem ein Umhang, aus einem Teil gewebt, ärmellos, der einem der Kinder um die Schulter gelegt worden war, als Opfergabe. Er trägt auf Dutzenden von Quadraten immer die gleiche Glyphe. Deren Bedeutung ist wohl nicht bekannt.

Ein besonders interessantes Ausstellungsstück ist ein kleines Röhrchen mit einem Säckchen. Durch dieses Röhrchen nahm man Coca zu sich. Bei zweien der Kinder wurden Spuren von Coca an den Lippen und im Mund gefunden.

Coca hatte rituelle und magische Funktionen, aber auch kurative. Und wurde als Währung benutzt.

Unter den anderen Grabbeigaben sind sehr schön gestaltete, feine Keramikgefäße und Textilien aus Alpakawolle. Außerdem zu sehen ist eine Art eisernes Diadem, das eins der Mädchen um die Stirn trug sowie  die symbolische Darstellung einer Karawane von Lamas. 

Zu den Grabbeigaben gehören auch Figuren, die die Kinder mit sich trugen und die sie selbst darstellten, schon für die rituelle Verheiratung ausgerüstet.

Das Inkareich war zentralistisch, es wurde zusammengehalten durch das Ketschua als gemeinsame Sprache, durch ein ausgefeiltes Zahlensystem und durch die rigorose Kontrolle der Dörfer durch den Zentralstaat. Das Wohlergehen der Bevölkerung beruhte auf erfolgreicher Viehzucht und auf der künstlichen Bewässerung von Feldern. Letztlich sicherten sich die Inka aber ihre führende Position auch durch die fast vollständige Ausmerzung aller Spuren der vorherigen Kulturen.

Am Schluss der Ausstellung sieht man die Mumie des Jungen, in Hockstellung, so dick eingekleidet, dass man vom Körper kaum etwas sieht.

Der Junge war 7 Jahre alt, die Mädchen 6 bzw. 15 Jahre alt. Zwei von ihnen hatten eine konische Kopfdeformation, was als Zeichen des elitären Standes galt.

Nicht alle wurden in gleicher Himmelsrichtung begraben, nur eine Mumie war in der Richtung der aufgehenden Sonne begraben.

Der Junge hatte kurzes Haar, auch ein Statussymbol, die Mädchen hatten langes Haar, zu Zöpfen geflochten.   

Eins der Mädchen war quasi geschminkt, hatte rotes Farbpigment auf einigen Stellen des Gesichts.

Zum Schluss erfährt man noch, dass eine der Mumien nachträglich vom Blitz getroffen wurde und teils verkohlt ist.

Die Tür des Museums führt einen aus dieser fremden, aber faszinierenden, rätselhaften Welt in die vertraute moderne Welt und die Hitze des argentinischen Sommers.     

26. Januar (Sonntag)

Der Cerro de San Bernardo ist mehr Berg als Hügel, und man muss sich fragen, wie man dorthin gelangt: Taxi, Seilbahn, zu Fuß?

Noch im Zentrum frage ich einen Mann nach dem Weg, der vor seiner Haustür das Auto wäscht. Er stellt sofort den Schlauch ab, wendet sich in die richtige Richtung und erklärt mir den Weg. Als er hört, woher ich komme, sagt er, Zverev sei gestern im Endspiel gewesen. Und: Gewonnen? Nein, verloren. Gegen Sinner.

Auf die Deutschen, meint er, könne man sich verlassen. Wenn sie sagen, sie kommen am Freitag, dann kommen sie auch am Freitag.

Mit dem Auto, das er gerade wäscht, ist er mit seiner Freundin durch ganz Patagonien gefahren. Von hier aus. Und durch Bolivien. Da sei es so heiß gewesen, dass sie die Fahrt vorzeitig hätten abbrechen müssen.

Mit dem Auto sei man flexibel. Wenn sie irgendwo ankommen, wo sie bleiben wollen, dann bleibe er im Auto sitzen und seine Freundin mache sich auf die Suche nach einem Hotel. Im März geht es nach Brasilien.

Der Altersunterschied zwischen ihm und seiner Freundin betrage 34 Jahre. Sehr  zu empfehlen. Bei seinen Eltern habe der Altersunterschied 25 Jahre betragen. Glückliche Ehe, fünf Kinder und 50 Jahre verheiratet.

Er fragt mich nach meinem Alter. Er ist älter, 78, was man ihm wirklich nicht ansieht. Jeden Morgen danke er Gott für seine Gesundheit. Vor allem für seine geistige Gesundheit. Er werde lieber im Rollstuhl sitzen als geistig verwirrt zu sein.

Als er von meinen weiteren Reiseplänen erfährt, erzählt er, er selbst stamme ursprünglich aus Jujuy. In Santiago, der Hauptstadt, habe sein Vater den Balkon des Rathauses entworfen. War der Architekt? Nein, Kunstlehrer. Ich verspreche ihm, auf den Balkon zu achten, wenn ich dorthin komme.

Er selbst ist Arzt. Das alles hier – mit einer auslandenden Bewegung weist er hinter sich – gehöre ihm. Ich könne jederzeit kommen, wenn ich etwas bräuchte oder etwas wissen wolle.

Ich mache mich auf den Weg und muss mich anstrengen, bei dem Abschied meine Rührung nicht zu zeigen.

Kurz darauf kommt mir eine alte Frau entgegen, einen ledernen Wassereimer schleppend. Sie bittet mich, ihr beim Tragen zu helfen. Der Eimer ist richtig schwer, ich verstehe gar nicht, wie sie den überhaupt hat tragen können. Ich muss immer wieder absetzen. Wozu sie denn das Wasser brauche, frage ich. Um sich den Kopf zu waschen.

Dahinten, an dem Baum, sagt sie, da müssen wir hin. Ich bleibe vor einem Hauseingang stehen, aber sie sagt, noch ein Stückchen weiter. Dann kommen wir zu einer Stelle, wo die Häuserwand ein bisschen zurückspringt, und jetzt geht mir ein Licht auf. Da steht ein Einkaufswagen voller alter Klamotten. Sie ist obdachlos. Am Ende bittet sie noch sehr höflich um eine kleine Spende.

Es geht die Straße immer weiter runter bis zur Plaza San Martín. Die habe ich bisher noch gar nicht gesehen. Sie ist riesig, so groß, dass man sie gar nicht als einheitlichen Platz wahrnimmt.

In der Mitte des Platzes ein großer Park. Hier herrscht Feiertagsstimmung, spielende Kinder, Imbissstände, Sonntagsspaziergänger.

Am Rande des Platzes die Seilbahn. Eine lange Schlange und hohe Preise. Ich nehme stattdessen ein Taxi.

Dass der Cerro San Bernardo ein Berg und kein Hügel ist, merkt man bei der Auffahrt. Einen großen Bogen drehend, scheinbar von der Route abkehrend, fahren wir in großen Schleifen rauf.

Kurz vor der Ankunft fragt mich der Taxifahrer, woher ich käme. Daraufhin sagt er: „Sprechen Sie Deutsch?“ Es stellt sich heraus, dass seine Frau Deutsche ist. Aus der Nähe von München. Er hat offensichtlich Freude daran, seine paar Brocken Deutsch an den Mann zu bringen und winkt mir noch mal zu, als er abfährt.

Der Cerro San Bernardo ist eigentlich nichts Besonderes, oben gibt es das typische touristische Angebot. Die Anlage ist ein bisschen zu hübsch für meinen Geschmack. Der künstliche Wasserfall, der in verschiedenen Stufen hier herunterfällt, ist aber sehenswert.

An der Seite eine moderne Skulptur. San Bernardo. Aber was für ein San Bernardo ist das? Auf dem Sockel steht San Bernardo de Claraval. Nie gehört. Es dauert etwas, bis der Groschen fällt. Das ist Bernhard von Clairvaux!

Natürlich steht der im Zusammenhang mit dem Namen der Berges. Aber das scheint eine nachträgliche Angleichung zu sein. Irgendwo habe ich gelesen, dass der Name Bernardo, so bedeutend für Salta, aus einem Missverständnis resultiert. Es ging um einen deutschstämmigen Architekten, der gar nichts von einem Heiligen hatte. Aber irgendwer soll irgendwann San Bernardo gehört haben statt Don Bernardo.

An der Aussichtsplattform steht ein großes hölzernes Kreuz und an anderer Stelle ein eiserne kreuztragende Christusfigur.

Der Blick nach unten macht einen baff: Salta ist riesig. Sieht zumindest so aus. Beinahe das ganze Tal vor der fast durchgängigen Bergkette ist bebaut. Man erkennt bestens die Schneisen zwischen den Häusern, die die geradlinig verlaufenden Straßen bilden.

Nach der Altstadt muss man geradezu suchen. Sie nimmt nur einen kleinen Raum ein. Man sieht Türme und Kuppeln, aber identifizieren kann ich nichts.

Den Rückweg will ich zu Fuß machen, aber nicht über die Straße, das wäre zu weit. Es gibt eine Treppe. Aber wo ist die? Gar nicht so leicht zu finden. Aber die Leute sind alle sehr hilfsbereit.

Es geht Stufen aus großen, unregelmäßigen Steinblöcken runter. Etwas beschwerlich, aber dann geht die Treppe in einen Lehmweg über, der sanft nach unten führt.

Hier ist es ziemlich einsam. An einer Abzweigung, die nicht ausgeschildert ist, nehme ich einfach den Weg, der nach unten führt.

Irgendwann komme ich an einen Wachturm. Eine Polizistin erscheint. Durchgang verboten. Ich müsse zurück und an dem Gatter rechts.

An dem Gatter geht es nicht rechts. Nur geradeaus und links. Aber man kann rechts an dem Gatter vorbei. Der Weg zieht sich hin, nur ganz gelegentlich kommen mir Spaziergänger entgegen.

Von einer Stelle aus hat man einen wunderbaren Blick  in die Tiefe. Das Gegenteil von dem Blick von vorher.  Hier ist kein einziges Haus zu sehen. Nur eine Straße, die sich den Berg hinauf windet. Sonst nur unberührte Natur.

Dann kommen mir zwei sportliche junge Erwachsene entgegen. Nein, sagen sie, hier sei ich völlig falsch. Der Weg führe nirgendwo hin, nur auf einen anderen Berg.

Ich gehe mit ihnen zurück, schnellen Schritts. Das tut mir gut. Sie glauben, dass ich in Argentinien lebe und wundern sich, dass ich nur so als Reisender hier unterwegs bin.

Dann sind wir wieder auf dem Cerro San Bernardo. Sie zeigen mir, wo ich lang muss. Erst ein kleines Stück die Straße entlang, dann die Treppe runter. Die ist wie die von vorher. Muskelkaterfördernd.

Je weiter man nach unten kommt, umso mehr Wanderer kommen einem entgegen. Sie haben die Zeit abgewartet, wo es kühler wird. Einige joggen sogar die Treppe rauf. Alle Achtung.

Ein kleines Mädchen läuft wie eine Gazelle die Treppe rauf, der Familie vorauseilend. Sie ruft ihnen zu, sie sollen kommen. Die Eltern folgen mühsam, und das Schwesterlein, einen Teddybären in der Hand, sagt: Ich kann nicht mehr!

Mit weichen Knien kommt man unten an. Wo die Beine den ebenen Weg über den Asphalt schätzen.

In einem Park steht, auf einem hohen Sockel, als Reiterdenkmal, die triumphale Statue des Helden von Salta, hier als Nationalheld apostrophiert: Martín Miguel de Güemes, einer der Helden der Revolution. Nach ihm sind Straßen und Städte benannt. Er ist jedem argentinischen Schulkind bekannt, als El Gaucho. Von einem Gaucho hatte er selbst nicht viel, er stammte aus einer wohlhabenden Familie, aber seine Eltern hatten eine Rinderfarm. Und im Befreiungskrieg führte er ein Heer von Gauchos an, die keine ausgebildeten Soldaten waren. Stoff für Legenden.

Eine Besonderheit des Denkmals sind die ledernen Lappen an beiden Flanken des Pferdes, vermutlich als Schutz gegen Stöße von Kuhhörnern.

Auf dem Weg in die Innenstadt gibt es zwei außergewöhnliche Bäume zu sehen. Einer heißt molle, hat kleine rote Früchte und Blätter, die ein Aroma entwickeln, wenn man sie zwischen den Fingern reibt. Aus den Früchten wird Paprika gewonnen.

Der andere hat einen bauchigen, flaschenartigen Stamm. Erinnert mich an einen Baum, den ich in Kuba als palmera preñada kennengelernt habe, ‚schwangere Palme‘. Dieser hier, volkstümlich als palo borracho bekannt, ‚betrunkener Stock‘, hat einen Stamm, der über und über mit Dornen besetzt ist. Zwischen den Dornen schimmert die grüne Farbe des Stammes durch.

Dann setzt, wie fast zu erwarten war, der Regen ein. Aber diesmal komme ich noch einigermaßen ungeschoren davon.

27. Januar (Montag)

Die Mango, die es beim Frühstück gibt, zählt zu dem Leckersten, was ich auf der ganzen Reise gegessen habe. Lässt sich nicht so leicht schälen und hat einen dicken Stein, aber der Rest entschädigt dafür.

Ich habe schlecht geplant. Heute sind alle Museen geschlossen. Und von denen gibt es einige in Salta.

Als Alternative geht es nach San Lorenzo. Der Bus kommt genau in dem Moment, wo ich die Haltestelle erreiche. Aber man braucht eine Karte, von der der Fahrpreis abgebucht wird. Hab ich nicht. Sofort bietet mir eine junge Frau an, mich auf ihrer Karte mitzunehmen. Anfangs will sie nicht einmal den Fahrpreis dafür annehmen.

Am Straßenrand ein Schild mit der Aufschrift Todo el mundo cree en algo, yo creo que tomaré otra taza de café.

Es geht zur Quebrada de San Lorenzo. Das ist die letzte Haltestelle, und ich bin inzwischen der einzige im Bus.

Was eine quebrada ist, ist gar nicht so leicht zu sagen. Bezeichnet einerseits eine Schlucht, andererseits den Bach, der durch die Schlucht fließt.

Kaum macht man sich auf den Weg, schon kommt man in eine völlig veränderte Landschaft. Außergewöhnlich schön: ein wilder, rauschender Bach, der sich seinen Weg zwischen den Felsen und über die Steine entlang sucht, moosbewachsene Bäume, Felsbrocken, frische Luft und Pfade, die kaum als solche auszumachen sind.

Irgendwo stößt man auf eine kleine hölzerne Brücke, aber auf der anderen Seite gibt es keinen Pfad. Man muss wohl oder übel an einer anderen Stelle durch den Bach, ohne Brücke. Das wird ganz unterschiedlich bewerkstelligt. Einige balancieren artistisch über Äste oder Steine, andere ziehen die Schuhe aus und waten durchs Wasser. Denen schließe ich mich an.

Auf der anderen Seite lande ich immer wieder in einer Sackgasse, probiere das eine oder andere aus, genieße aber die schöne Umgebung. Irgendwann geht es steil bergauf, und man muss aufpassen, dass man auf dem feuchten Laub nicht ausrutscht und den Hang hinunterfällt.

Dann kommt ein ganz schmaler Pfad an einem Zaun entlang, steil aufwärts, aber mir kommen zwei Mädchen entgegen, die abwinken: Da geht es nicht weiter. Es sind französischsprechende Schweizerinnen. Sie führen mich zu einer Stelle zurück, wo man auf die andere Seite kommt. Während sie wieder regelrechte Kunststücke absolvieren, gehe ich einfach mit den Schuhen durchs Wasser. Die einfachste Lösung.

Am Eingang zur Schlucht, wenn es sich denn um eine handelt, ist ein kleiner Kiosk. Davor schwirren Hunderte von Schmetterlingen in der Luft herum.

Ein Schild weist auf einen Baum hin: Da wachsen Tomaten dran, Wildtomaten vermutlich, die man gar nicht als Tomaten erkennen kann. Sehen eher wie Zitronen aus und fühlen sich auch so an. Der Baum hat einen kurzen Stamm, und an den Ästen wimmelt es nur so von Tomaten. Die sollen eine ovale Form haben und ca. 100 Gramm wiegen.

An dem Kiosk gibt es einen Tee, der so schmeckt wie der Tee, der uns in der Kindheit als Medizin verabreicht wurde.

Zum ersten Mal überhaupt sehe ich Sonnenkollektoren, aber nur ein paar vereinzelte. Windräder habe ich dieser Tage ein einziges Mal vom Bus aus gesehen.

Auf einem Schild stoße ich auf NOA, wie schon mehrmals zuvor. Das bezeichnet den Nordosten Argentiniens, Noroeste Argentino. Dazu gehören die Provinzen Salta, Tucumán, Catamarca, Santiago und Jujuy, mein nächstes Ziel.

Bei der Rückfahrt bin ich der einzige, der in den Bus einsteigt. Der Busfahrer sagt ganz gelassen, ich solle einfach einsteigen und später einen anderen Fahrgast bitten, mich mitzunehmen. So wird es dann auch gemacht.  

Der Bus hat rote Gardinchen mit Fransen an der Windschutzscheibe und am Spiegel.

Auf dem Weg fällt mir auf einmal die breite Straße mit den großen Straßenlaternen auf. Das muss die Straße sein, über die ich nachts aus Córdoba gekommen bin.

In Salta nehme ich ein Taxi zum Mercado Artesanal. Der befindet sich weiter draußen. Auf der einen Straßenseite gibt es Andenandenken aus China, alles Imitation.

Auf der anderen Seite befindet sich ein weißes Kolonialgebäude mit Arkaden und Innenhof. In dem Gebäude befand sich früher die erste Mühle von Salta, später eine Gerberei der Jesuiten. Hier ist alles echt. Es gibt Holzmasken und Figuren, Webarbeiten und Textilien aus Alpaka-, Lama- und Schafwolle. Hier wird man nicht angequatscht und zum Kauf aufgefordert und kann sich alles in Ruhe ansehen. Wenn im Koffer Platz wäre, würde ich gerne was mitnehmen.

Stattdessen lasse ich das Geld in der Cafeteria des Marktes. Hier gibt es ein Gericht, das salpicón heißt, hier in seiner bescheidensten Ausführung, ein Salat mit winzigen Fleischstückchen. Dazu gibt es eine Limonade, aber nicht Limonade in unserem Sinne. Es ist frisch gepresster Zitronensaft mit Wasser und einigen Zutaten. Sehr lecker, hat einen süß-sauren Geschmack.

Ich fahre zurück zum Apartment und gehe später, nach einer Pause, noch einmal raus und sehe mich im Zentrum um, zuerst an der Plaza San Martín. Dort ein weiteres Reiterdenkmal, aber nicht so aufwendig wie das für Güemes. Auf das Reiterdenkmal führen Meilensteine zu, die Meilensteine in der argentinischen Geschichte, und das ist immer der Unabhängigkeitskrieg, darstellen. Viele Schlachten, aber auch eine Begegnung von Belgrano mit San Martín.

Von hier aus geht es zum Mercado Municipal. Eine Zahnärztin führt mich dorthin. Sie ist auf dem Weg zur Arbeit. Die Praxis hat bis 21.30 geöffnet.

Sie ist sehr besorgt, sagt mir, ich solle den Rucksack vorne tragen und das Handy in die Tasche stecken. Mit Hinblick auf meine Reiseroute sagt sie, sie selbst kenne auch den Süden Argentiniens nicht.

Ob ich denn wisse, dass der Mercado Municipal abgebrannt sei. Nein, wann denn? Vor drei Monaten. Wie, und der steht schon wieder? Nein, nicht vollständig, man sei noch mit den Aufbauarbeiten beschäftigt. Der Grund für den Brand war eine defekte Elektroleitung.

Sie liefert mich am Eingang zu dem Markt ab. Auf den ersten Blick sieht man nichts von dem Brand. Später komme ich in Teile des Marktes, die gesperrt sind. Dort stehen die Läden leer, und man sieht verrußte Wände. Aber das Dach scheint vom Brand verschont geblieben zu sein.  

Sieht so aus, als wäre der Teil abgebrannt, in dem es die gängigen Lebensmittel gibt. Die sind in dem erhaltenen Teil kaum vertreten. Hier gibt es Spielzeug, Sonnenbrillen, Schirmmützen, aber auch Gewürzstände. Die sind der große Renner. Alles lose, in kleinen Säckchen präsentiert, mit den vielfältigen Farben der Gewürze ein schöner Anblick.

Vor einem Stand sehe ich drei große Säcke, bis an den Rand mit Blättern gefüllt. Sehen wie Lorbeerblätter aus. Was kann das sein? Ein Verkäufer gibt die Antwort: Coca. Auch bei der Konkurrenz gibt es die zu Hauf.

Die Verkäufer haben wenige Kunden. Anders sieht es bei den Imbissständen und Restaurants aus. Dort ist mächtig was los.

Vom Mercado Municipal aus führt die Florida Richtung Plaza 9 de Julio. Die Florida ist das Gegenstück zur San Martín von Córdoba. Auch hier viel Volks unterwegs, auch hier viele Billigläden und Straßenverkäufer. Wäre nicht weiter erwähnenswert, hat aber drei Dinge, die sie aufwerten: Laternen, Bänke, Bäume. Die Bänke werden auch fleißig benutzt, von Rentnern, die ein Päuschen einlegen, von Teenies, die ihre Handynachrichten austauschen und kichern.

Auf der Plaza 9 de Julio findet eine Demonstration statt, klein, aber laut. Es sind Indios, die gegen ihre Behandlung protestieren. In dem Zusammenhang fällt auch der Name Milei. Nicht unbedingt sehr schmeichelhaft, was über ihn gesagt wird. 

Die Gebäude um die Plaza 9 de Julio herum wirken heute schöner als vorgestern. Vielleicht liegt es am Licht. Die Fassade der Kathedrale mit ihrer ungewöhnlichen Farbe hat einen besonderen Reiz. Sie ist wohl Resultat einer nachträglichen Entscheidung, erst im 20. Jahrhundert aufgetragen worden. Der Bau stammt aus dem 19. Jahrhundert. Ob die ursprüngliche Farbe Weiß war?

Die Kathedrale ist heute geöffnet. Es ist gerade Gottesdienst. Die Bänke im langen Mittelschiff sind gut gefüllt. Im Evangelium geht es um die Begegnung von Jesus mit den Schriftgelehrten im Tempel. Der Predigt zufolge werfen die ihm vor, vom Teufel besessen zu sein.

Das breite Mittelschiff gibt den Blick frei auf den prunkvollen, einer Monstranz gleichenden, fast die gesamte Höhe des Chors einnehmenden Hochaltar. Ein Prachtexemplar, auch wenn man diese Art von Kunst nicht besonders mag.

Ich gehe noch ein ganzes Stück ostwärts, um mir den Convento de San Bernardo anzusehen, vor allem das Holzportal, das von indigenen Künstlern aus Mahagoniholz geschaffen worden ist. Es befindet sich mitten in einer langen weißen Mauer, die das Klostergelände umschließt.

Schöner als das Tor ist der Blick zurück auf die Silhouette der Stadt bei dem sanften Licht kurz vor Sonnenuntergang.

Auf dem Rückweg lasse ich mich von einem Mann in ein Lokal locken, das noch fast leer ist. Er bietet mir eine Parrillada an, für 15.000 Pesos. Es lohnt sich, die Fleischplatte ist noch üppiger als die in Córdoba, ich muss am Ende die Segel streichen. Als Appetithäppchen gibt es eine empanada salteña mit einer scharfen Soße und eingelegte Bohnen. Alles bestens. Da kann man Pommes und Salat links liegen lassen.

Auf dem Rückweg über die Pueyrredón – es sind neun cuadras bis zu meiner Unterkunft – merke ich, dass die Straße eine echte Gastronomiemeile ist.

Obwohl es dunkel ist, hat man keinerlei Bedenken, alleine durch die Straßen zu gehen. Es sind viele andere unterwegs, und die Polizei ist auch vertreten. Einige Polizisten stehen einfach in der Gegend herum, wie früher bei uns die Schupos. Andere führen Kontrollen durch. Sie haben aber nur betrunkene Autofahrer, keine betrunkenen Fußgänger im Blick.

28. Januar (Dienstag)

Die argentinischen Geldscheine sind bunt und deshalb leicht zu unterscheiden, obwohl alle gleich groß sind. Münzen sind nicht mehr in Gebrauch, weil ihr Wert einfach zu gering ist. Auch die kleinere Einheit existiert so gut wie gar nicht mehr. Der kleinste Schein ist der von 10 Pesos. Das ist gerade mal ein Cent bei uns. Der größte Schein, auf den ich getroffen bin, ist der zu 20.000 Pesos, 20 $.

Auf der Vorderseite sind – bei den niedrigen Werten – Persönlichkeiten aus der Geschichte abgebildet, darunter eine Frau, Eva Perón. Bei den höheren Werten sind es Tiere. Auf der Rückseite Szenen aus der Natur und das Profil Argentiniens. Als Kontrast dazu ein Wolkenkratzer und der Aufmarsch eines Heers.

In der Stadt entscheide ich, das Museum sausen zu lassen und mache einfach einen Spaziergang um die Plaza 9 de Julio herum. Das Wetter ist einfach zu schön. Ich mache Photos von den Palmen, dem Springbrunnen, den Laternen, den Türmen, dem Reiterstandbild, alles vor dem blauen, wolkenlosen Himmel. Dann gibt es Photos von Glasfassaden der modernen Bürohochhäuser, in denen sich die Türme der Kirchen spiegeln. In der Kathedrale mache ich Photos vom Fußboden und vom Hochaltar.

Dann komme ich mit einem Mann ins Gespräch, der mit einem riesigen Palmzweig den Platz fegt. Ein Besen, der eine große Fläche mit einem Mal reinigt. Er lässt gerne ein Photo von sich machen.

Es gibt noch einen Kaffee in einem Straßencafé. Ich genieße die ruhige morgendliche Atmosphäre des schönen Platzes. Auf dem Rückweg ist schon wieder ganz schön heiß, 31°.

Der Uber-Fahrer, der mich zum Busbahnhof bringt, heißt Walter. Das sei kein ungewöhnlicher Name hier, sagt er. Sein Bruder ist in Norwegen verheiratet. Da kann ich meine Schwester und meinen Neffen ins Spiel bringen.

Es geht nach Jujuy, der nördlichsten Provinz Argentiniens. Jujuy grenzt an Bolivien und Chile, vor allem aber an die Provinz Salta, die es von zwei Seiten aus umfasst.

Von Salta nach Jujuy gibt es eine abenteuerliche kurvenreiche Strecke, aber der Bus nimmt die einfachere, die gerade Strecke.

Hier sieht man in der Ferne schwarz-grüne Berge, bei denen nicht auszumachen ist, ob sie baumbestanden sind oder nicht. Entlang der Straße Tabak, Baumwolle, Zuckerrohr. Die Landschaft ist immer noch grün, hat aber mehr trockene Flecken, an denen der Sandboden zum Vorschein kommt.

An einer Haltestelle drückt mir ein Verkäufer ein Paket empanadillas in die Hand, und ich nehme eins, ohne Widerstand zu leisten. Sie sind gefüllt mit einer Frucht, die chayote heißt. Auf Deutsch Chayote. Nie gehört. Ist grünlich, sieht wie eine schrumpelige Paprika aus. Die empanadillas sind sehr süß und haben einen Zuckerguss.

Die Haltestellen werden nicht ausgerufen, also verlasse ich mich auf den Fahrplan, der die Ankunft in Palpalá für 14.28 vorsieht. Im letzten Moment sagt mir aber eine Frau, dies sei Perico. Warum wir Verspätung haben, weiß ich nicht. Wir sind pünktlich abgefahren und glatt durchgekommen, und der Ein- und Ausstieg an den Haltestellen ist auch zügig über die Bühne gegangen.

Bei der Weiterfahrt sehe ich an einer Häuserwand Muerte a los chorros. Wem hier der Tod gewünscht wird, weiß ich nicht. Auch das Internet hilft nicht so richtig weiter. Taschendiebe? Aber wünscht man denen den Tod?

Nach Palpalá hat Evangelina eingeladen, eine alte Bekannte aus Mendoza, Retterin meines Handys und Geschichtslehrerin mit Kenntnissen vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.

Sie hat sogar Abholdienst am Busbahnhof angekündigt, und tatsächlich – da steht sie. Während ich auf meinen Koffer warte, sagt sie mir mit einer Bewegung des Kopfes, ich solle auf den Busfahrer achten. Der hat die Backe voll. Voller Coca.

Sie ist mit dem eigenen Wagen gekommen. Sie fährt langsam und unsicher und würgt den Wagen zweimal ab. Die nicht ganz transparenten Vorfahrtsregeln legt sie immer zu ihren Gunsten aus. Glücklicherweise ist nicht viel Betrieb.

Sie hat mehrmals um Verständnis gebeten, dass alles bei ihr sehr bescheiden ist, aber das Haus ist ausgesprochen hübsch, ein zweistöckiges Haus mit viel Holz und einem kleinen Vorgarten.

Auch drinnen ist es sehr schön. Es gibt sogar einen Bogen, der zwei Teile des Wohnzimmers voneinander trennt. Das fühlt man sich fast wie in einer Villa.

Sie hat einen Hund, Homero, und der zögert keinen Moment, seine feindselige Einstellung mir gegenüber kundzutun.

Es ist drückend heiß, aber in den letzten Tagen, sagt Evangelina, habe es hier große Überschwemmungen gegeben. Von denen sieht man aber nichts.

Als ich ausgepackt habe, führt sie mich durch die Stadt. Palpalá ist keine gewachsene Stadt, sondern eine Industriestadt, die aus dem Boden gestampft worden ist, nachdem man Eisenvorkommen entdeckt hat. Die Stadt ist reich gewesen, hat die besten Ingenieure Argentiniens angelockt und Wanderarbeiter aus Bolivien und Paraguay, ist der Stolz Argentiniens gewesen. Davon ist nichts übriggeblieben. Die Eisenindustrie ist den Bach runtergegangen und durch nichts Adäquates ersetzt worden. Es hat viel Abwanderung gegeben.

Bei dem Spaziergang sieht man in erster Linie die Dekadenz, aber auch noch Zeichen der alten Pracht: Tennisplatz, Schwimmbad, Golfplatz, Kasino (Kasino wohl eher im Sinne von Festsaal als von Spielbank), ein gepflegter Park vor einem einstmals noblen Hotel.

Wir kommen an Einfamilienhäusern vorbei, in denen die Ingenieure und Verwalter wohnten. Deren Häuser hatten immer gleich einen Bereich mit eigenem Bad für das Dienstmädchen. Diese Häuser wurden den Angestellten von dem Unternehmen (das wohl staatlich war) zur Verfügung gestellt. Man wollte die besten Kräfte anwerben.

Zur zeitlichen Einordnung erklärt Evangelina, der Boom habe so um 1945 eingesetzt, der Niedergang habe in den achtziger Jahren begonnen. Und was hat den Niedergang bewirkt? Die neoliberale Wirtschaft, der Versuch, ausländische Investoren anzulocken und wohl auch der Rückgang der Eisenvorkommen.

Es hat angefangen, zu tröpfeln, und von einem auf den anderen Moment fängt es richtig an zu schütten, und ein Gewitter zieht auf. Wir schaffen es nicht mehr, trockenen Fußes nach Hause zu kommen.

Als sie aufschließt, sehe ich, dass an ihrem Schlüsselbund Rita steht. Ja, erklärt sie, sie habe zwei Namen, die eine Hälfte ihrer Bekannten, Kollegen und Verwandten benutzten den einen, die andere Hälfte den anderen Namen.

Am Abend regnet es noch stundenlang. Aus der gesicherten Warte des Wohnzimmers ist es geradezu ein Spektakel, dem Klatschregen durch die offene Tür zum Garten hin zuzusehen.

Später erzählt Evangelina von ihrer Arbeit. Sie ist an drei Schulen angestellt, fährt mit dem Bus von einer zur anderen und arbeitet an vier Tagen in der Woche bis 22.30. Das Wochenende, meint sie, gehe immer wie im Flug vorbei. Zur richtigen Erholung reiche es meistens nicht. Ganz nebenbei kümmert sie sich auch noch um ihre alte Mutter, die hier ganz in der Nähe wohnt.

Jetzt hat sie Sommerferien. Noch 2-3 Wochen. Dann geht es mit Sitzungen los, und bald darauf beginnt der Unterricht wieder.

Ihr Sohn wohnt auch hier. Der ist aber im Moment mit Kumpeln in Brasilien unterwegs, mit einem Transporter. Sie haben schon dreimal eine Panne gehabt.

Am Abend fährt Evangelina zu ihrer Mutter. Homero liegt jaulend vor meiner Schlafzimmertür.

29. Januar (Mittwoch)

Im Garten hat Evangelina auf einem Holzgerüst Wein gepflanzt. Von dem vielen Regen sind die Blätter bräunlich geworden.    

Zum Frühstück gibt es Obst. Darunter Nektarinen. Die heißen hier pelones und nicht nectarinas (Pfirsiche heißen hier duraznos und nicht melocotones). Die Mandarine kann ich kaum erkennen, weil die Schale grün ist.

Ein echtes Spektakel sind die Kartoffeln, die Evangelina mir zeigt, drei oder vier verschiedene Arten, von denen kaum eine so aussieht wie unsere Kartoffeln. Kein Wunder. Schließlich kommen die Kartoffeln aus den Anden.      

Evangelina hat eine Besichtigung des Teatro Mitre organisiert, in Jujuy. Der offizielle Name des Ortes ist San Salvador de Jujuy, aber die meisten sagen einfach Jujuy.

Wir fahren mit dem Bus. Hier kann man die gleiche Sube benutzen wie in Buenos Aires. Sehr praktisch. Das ging in Córdoba und Salta nicht.

Wir fahren über eine mehrspurige Straße durch mehr oder weniger nichtssagende Landschaft. Parallel zur Straße ein breiter Radweg.

Als es nach Jujuy reingeht, sehe ich an einer Häuserwand ein wunderbares Wortspiel, das in Spanien nicht (so richtig) funktionieren würde: Ven Seremos.

In Jujuy passieren wir einen Fluss mit dem wunderbaren Namen Xibi Xibi. Am Fluss hat man eine Promenade angelegt, die der Cañada von Córdoba gleicht. Beide Städte, heißt es, seien historisch verbunden durch die Radikalen, aber wer das ist, verstehe ich nicht richtig.

In Jujuy geht es ruhig zu auf der Plaza Belgrano. Sie ist nicht, wie in den anderen Städten, das Zentrum des Alltagslebens. An der Plaza die typischen repräsentativen Gebäude, Kathedrale und Cabildo.

Die Iglesia de San Francisco markiert den Beginn der langen Fußgängerstraße. Das Theater liegt weit entfernt von dem Platz.

Im Theater bekommen wir eine private Führung von einem netten Mann, der sich als Fernando vorstellt. Evangelina zufolge ist das Teatro Mitre eine kleinere Version des Teatro Colón, aber Fernando zufolge ist dieses Theater älter. Dann hat Buenos Aires was hier abgeguckt? Kannten die Architekten des Teatro Colón das Teatro Mitre? Das weiß er auch nicht.

Das Theater, nach einem Staatsmann namens Mitre benannt, der sich besonders für Jujuy eingesetzt hat, ist gerade 2023 wiedereröffnet worden, nach einer zweieinhalbjährigen Renovierung. Die Leute, sagt Fernando, seien schon ungeduldig geworden. Warum dauert das denn so lange? Es musste allerdings einiges gemacht werden, die gesamte Ton- und Lichttechnik, die Bestuhlung, der Anstrich, die Teppiche wurden erneuert. Ist alles bestens geworden, das Rot der Stühle, der Teppiche und der Vorhänge setzt sich schön von dem Weiß der Galerien ab.

Für die Verzögerung bei der Renovierung war aber wohl auch das nur tröpfelnd fließende Geld von Seiten des Staates zuständig. Das Theater ist in staatlicher Trägerschaft und bekommt staatliche Subventionen.

Das Theater hat Parkett, drei Ränge und mehrere Logen. Sieht wirklich wie eine kleine Version des Teatro Colón aus.  

Jujuy hat ein eigenes Ensemble, aber der Kartenverkauf läuft am besten, wenn es Gastspiele aus Buenos Aires gibt. Ich werfe später einen kurzen Blick auf die Titel, aber ich kenne keinen einzigen davon.

Wir gehen auf die Bühne, und hier reicht Fernando noch ein interessantes Detail zur Renovierung nach. Bei der sei auch der Boden der Bühne erneuert worden. Der sei jetzt leicht abschüssig, das sei besser für Schauspieler und Zuschauer und eigentlich die Norm.

Dass das nicht immer so gewesen ist, liegt daran, dass hier ursprünglich gar kein Theater war, sondern ein Festsaal. Da, wo jetzt das Parkett ist, wurde getanzt, auf der Bühne saß das Orchester. Das Haus war in privater Hand. Das erklärt wohl auch, dass es so weit weg von der  Plaza Belgrano liegt.

Wir sehen noch das Kleine Haus – es fasst 100 Zuschauer, das Große Haus fasst 550 – einen kleinen Musiksaal und einen Platz für Freilichtkonzerte. Und verabschieden uns mit herzlichem Dank für die Führung.

Jetzt geht es zum Markt. In einem ganz engen Gang gibt es allerlei kleine Kabuffs, bis zur Decke mit Waren gefüllt. Auch hier eine unglaubliche Vielfalt von Kartoffeln. Die Verkäuferin erklärt den unterschiedlichen Gebrauch der verschiedenen Sorten. An demselben Stand gibt es auch Kurkuma, lose. Hab ich noch nie gesehen. Und in Tüten abgepackten roten Mais. Hätte ich nicht als solchen erkannt. Daneben Ají Verde, ganz kleine grüne Paprikaschoten, die Basis der klassischen Chili-Soße. An einem anderen Stand riesige, rötliche Kürbisstücke. Der Kürbis heißt hier auch anders, nicht calabaza, sondern zapallo.

Eier werden hier im Dutzend verkauft oder auf einer Palette mit 30 Eiern. Die heißt maple. Erst vor kurzem habe ich gelernt, dass solche Paletten auf Deutsch Moppen heißen.    

Außerhalb des Marktes sehen wir, fertig verpackt in kleinen Tütchen, allerlei Röllchen, Schleifen und Gegenstände aus Papier. Die werden in Brand gesteckt und der Pachamama geopfert, im August, und stehen symbolisch für unerfüllte Wünsche, materielle und immaterielle.

Dann machen wir uns auf die Suche nach einem Lokal. Ich will unbedingt Gnocchi essen. Einer alten Tradition zufolge isst man in Argentinien am Ende des Monats, speziell am 29. des Monats, Gnocchi. Nach einiger Suche finden wir ein Lokal, das Gnocchi hat.

Was ist die Erklärung für diese Sitte? Vermutlich ging gegen Ende des Monats das Geld aus und man musste sich mit einem Armengericht begnügen. Und Kartoffeln waren immer preisgünstig zu haben oder wurden im eigenen Garten angebaut.

Am Abend kommt es zu einer völlig unerwarteten Aktion. Ich soll Evangelinas Cousine kennenlernen. Das erfordert aber eine bald unendliche Anfahrt, erst mit dem Bus, dann mit dem Taxi. Unser Ziel ist das Haus des Manns der Cousine. Das Haus liegt schon im Außenbereich einer Gegend, die Yunga heißt. Das ist eine bewaldete Bergzone, eine Vorstufe zu den Anden. Davon kann man aber in der Dunkelheit kaum etwas erkennen. Aber es ist merklich kühler hier.

Wir werden von Jesús freundlich empfangen, und bald kommt auch seine Frau, Mariana. Die ist ein ganzes Stück jünger als Evangelina.

Jesús zeigt uns stolz sein Anwesen. Er hat früher mit seiner Familie hier gelebt, jetzt lebt er allein und hat Teile des Hauses zu Ferienwohnungen umgebaut. Und das Ganze noch durch zwei Anbauten erweitert. Er vermietet jetzt kurzzeitig, für Feriengäste. Das sei einträglicher. Anfangs hatte er feste Mieter hier.

Es stellt sich heraus, dass Jesús und Mariana beide Englischlehrer sind und angehende Englischlehrer unterrichten. Mariana hat ein Stipendium an einer US-amerikanischen Universität erhalten, und Jesús hat in Irland Englisch gelernt. Ursprünglich aber nur deshalb, um Chinesisch zu lernen. Das ging damals nur über den Umweg über das Englische. Wie kam es dazu? Ein Mönchsorden, ein deutscher Orden, wollte ihn zur Missionierung nach China schicken, in die Volksrepublik China. Dort sollte er im Untergrund wirken. Zuerst sollte er aber in Hongkong, das damals noch unabhängig war, Chinesisch lernen, Kantonesisch. Das hat er auch getan. Er gibt ein paar Proben ab. Hört sich gut an.

Aus der ganzen Sache wurde am Ende aber nichts. Tiananmen kam dazwischen. Daraufhin ging er nach Argentinien zurück.

Was für ein deutscher Orden war das denn? Die Misioneros del Verbo Divino. Nie gehört. Dann fällt ein Wort, ein Ortsname, und bei mir fällt der Groschen. Das sind die Steyler Missionare! Ich erzähle von den Kalendern aus meiner Kindheit, und prompt steht Jesús auf und holt den aktuellen Kalender, länglich, wie früher auch.

Es stellt sich heraus, dass beide gerne reisen und ganz besonders auf Bolivien stehen. Da bekomme ich einen Tipp für ein Reiseziel. Was Jujuy angeht, meinen sie, man könne alles in Tagestouren von Palpalá aus machen.

Es ist viel von Vorurteilen die Rede, in Deutschland gegenüber Dunkelhäutigen, in Argentinien gegenüber Bolivianern und Paraguayern. Auf der anderen Seite loben sie die Großzügigkeit Argentiniens bei der Zuwanderung. Man brauche nur den Fuß auf argentinischen Boden setzen, und sofort habe man alle Rechte, die auch ein Argentinier hat. Evangelina zitiert dazu auswendig eine Passage aus der Verfassung. 

Jesús erzählt von der negativen Einstellung seiner Studenten Argentinien gegenüber. Alle wollten auswandern, das Land sei una mierda, nur Korruption und Inflation und schlechte Zukunftsaussichten. Jesús versucht, diese Urteile in Frage zu stellen und führt den Studenten die schwierige Lage von Auswanderern vor Augen.

Aber gegen Milei und neoliberale Politik polemisieren sie beide. Er habe den Rentnern einfach den freien Zugang zur Gesundheitsversorgung  gestrichen. Er, Jesús, habe sich die Vermietung als zweites Standbein aufgebaut. Auf die Rente könne man sich nicht mehr verlassen.

Es gibt holländisches Bier und bolivianischen Schnaps, Singani, einen Tresterbrand. Daraus wird mit Ginger Ale ein Cocktail namens Chuflay. Den scheint man in Argentinien überall zu kennen.

Als wir in die zweite Etage gehen, kann man gegen den immer noch nicht ganz dunklen Himmel die Bergkette erkennen.

30. Januar (Donnerstag)

An Evangelinas Kühlschrank hängen verschiedene  Magneten, darunter einer von Salsipuedes. Die Stadt heißt wirklich so. Liegt in Córdoba.

Auf dem Wohnzimmertisch stehen getrocknete Blumen. Die hat sie aus Mais gemacht, erklärt Evangelina.

Obwohl der Wein draußen verfaulte Blätter hat, gibt es viele Trauben. Die sind klein und süß.  

Am Morgen kommt Nicolás, Evangelinas Sohn, von seiner Reise nach Brasilien wieder. Er lässt sich die Müdigkeit und vermutlich auch die Frustration nicht anmerken. Nachdem das Auto, mit dem sie unterwegs waren, zum dritten Mal eine Panne hatte, ist der Besitzer mit dem Auto am Urlaubsort zurückgeblieben, und die anderen sind mit Bussen zurückgekommen.

Auch er ist Englischlehrer. Er unterrichtet an der Grundschule. Der Unterricht verläuft eher spielerisch, mit Gesang und Rätseln und Bewegung. Englisch in der Grundschule, sagt er, das gebe es erst seit vier oder fünf Jahren.  

Evangelina erzählt ihm von einem Video, das im Internet die Runde macht. Zwei Figuren, eine verkörpert die Lehrerin, eine den Februar. Der Februar verfolgt die Lehrerin, wird immer schneller, um sie einzuholen, aber die Lehrerin wird auch immer schneller und fängt dann wie verrückt an, zu laufen, um nicht eingeholt zu werden.

Am Nachmittag setzen wir den Spaziergang durch Palpalá fort, der dieser Tage vom Regen unterbrochen wurde. Viel Schönes gibt es nicht zu sehen, aber durch die Erklärungen wird es ein interessanter Rundgang.

In der Ferne sieht man die schwarz-grünen Berge. Jetzt kann man erkennen, dass die schwarzen Teile baumbestanden sind.

Davor die Ruine eines Hochofens, die stellvertretend für den Niedergang der Industrie steht. Oben bröckelt es an der Kante schon ab.

Es geht einen Hügel rauf, und dort steht die überdimensionale Figur eines San Cayetano, des Ortspatrons. San Cayetano hält ein Kind auf den Armen. Das guckt nach vorne, auf die darunter liegende Stadt. Position und Gesichtsausdruck des Kindes sind wie bei den frühmittelalterlichen Marienfiguren.

Das Internet informiert: San Cayetano, Italiener aus Vicenza, ist der „Patron der Arbeit und des Brotes“. Sehr aktuell seine Einstellung: Er half vor allem den Armen und Kranken und den Prostituierten und gründete eine Bank, die zinslos Darlehen gab!

Am 7. August, dem Festtag San Cayetanos, einem der wichtigsten Patronatsfeste Argentiniens, wirft sich Papalá in Schale. Die Honoratioren der Stadt präsentieren sich, und es kommen Pilger aus allen Teilen Argentiniens. Die Kirche wird schon um Mitternacht geöffnet. Dann wird Brot geweiht, dass die Leute vorher zu Hause gebacken haben und dann unter die Pilger verteilen. Den Vorlauf des Patronatsfests bildet die novena, neun Tage, an dem verschiedene Gruppen mit verschiedenen Priestern rund um die Uhr beten.

Als wir vor dem Denkmal stehen, wird Evangelina von einer ehemaligen Nachbarin gegrüßt. Die spielt hier mit ihrem Enkel.

Evangelina hat hier früher gewohnt, und hier wohnt auch eine weitere Cousine, die ich im Laufe des Tages unverhoffterweise noch kennenlernen werde. Ihr Haus ist noch unverputzt, und das zweite Stockwerk noch nicht ganz fertig.

Der einzig schöne Teil des Spaziergangs ist der Paseo de las Flores, eine breite, baumbestandene Promenade. Aber auch hier sind die Bodenplatten brüchig, und ein ehemaliger Brunnen mit einer schönen Skulptur in der Mitte hat kein Wasser mehr. Die Skulptur stellt ein Liebespaar in inniger Umarmung dar, an den Beinen bröckelt der Gips ab. Hat vielleicht auch was Symbolisches.

Mit einem gewissen Stolz spricht Evangelina von der Vergangenheit, als Palpalá „der Stolz von ganz Argentinien“ war. Tatsächlich hat das Unternehmen einiges getan, um das Leben der Angestellten zu verbessern. Vor allem wurde die medizinische Versorgung sichergestellt. Ärzte wurden mit günstigen Arbeitsbedingungen aus anderen Landesteilen angelockt, und es wurde eine Polyklinik eingerichtet. An der kommen wir genauso vorbei wie an den hübschen Einfamilienhäusern der Ärzte.

Der Sozialwohnungsbau wurde gefördert, und es wurden Sportstätten eingerichtet, von denen Palpalá heute noch profitiert: ein Sporthalle, vor allem für Basketball, Tennisplätze, Rollhockeyplätze, ein Stadion und ein großer Park mit Fußballfeldern.

Dann kommen wir zu einem etwas heruntergekommen aussehenden Kiosk. Das war – das Bahnwärterhäuschen! Hier gab es wirklich eine Bahnlinie. Hinter dem Bahnwärterhäuschen sehen wir Gleise – die werden heute noch gelegentlich für Gütertransporte benutzt – und das leerstehende Bahnhofsgebäude.

Wir kommen zum ehemaligen Eingang der Fabrik, die genauso aussieht wie ein Eingang zu einer Fabrik, mit Gitter und Säulen und Pförtnerloge. Hier ist inzwischen eine universitäre Einrichtung untergebracht, irgendwas mit Design.

Auf einem großen Platz steht erhöht ein Denkmal, das den Platz dominiert, ein Denkmal für die Fabrik, für die Industrie, für die Arbeiter. Man sieht zwei Stahlkocher in Schutzkleidung, Werkzeuge in der Hand, neben einer absenkbaren Gussform, aus der das flüssige Eisen läuft. Natürlich sind die Figuren alle aus Eisen.  

Wir passieren eine Kirche, auch die ist San Cayetano geweiht. Es ist die älteste Kirche Palpalás. Hier haben Evangelinas Eltern geheiratet. Sie wurden von einem deutschen Priester verheiratet, einem der Steyler Missionare.

Wir wollen gerade irgendwo was trinken gehen, als ein Anruf von Nicolás kommt. Er will uns abholen. Irgendwas bekomme ich nicht mit, und auf einmal finde ich mich mitten in der Abschiedszeremonie der Großfamilie wieder.

Evangelinas Bruder macht sich mit Frau und Töchtern auf die Reise. Sie haben jetzt eine ganze Zeit bei der Mutter verbracht. Sommerferien.

Sie leben in Feuerland, haben jetzt also eine Fahrt durch ganz Argentinien vor sich, von der Nordspitze bis zur Südspitze. Zwischendurch machen sie immer mal Pause für ein oder zwei Tage. Die nächste Station ist in Córdoba, bei Evangelinas Schwester. Warum sie jetzt am Abend aufbrechen, verstehe ich nicht.

Evangelinas Bruder zeigt mir stolz Bilder von Feuerland, von Spaziergängen im krachenden Eis im Winter und von weiten unbewohnten Landschaften im Sommer.

Sie sind, wie ich später erfahre, nach Feuerland gezogen, weil man dort besser verdient.

Als sie abgefahren sind, bleiben wir noch vor dem Haus sitzen und genießen den lauen Sommerabend bei Fanta.

Evangelinas Mutter, eine ältere Dame, die einen Krückstock benutzt und Hilfe beim Aufstehen benötigt, ist als ganz junges Mädchen auf eigene Faust nach Buenos Aires gegangen und hat dort jahrelang gelebt. Ganz genau kann sie sich nicht erinnern. Wie alt war sie, als sie weggegangen ist, wie lange war sie da? Vierzehn Jahre, wie es scheint. Aber zu ihrer Verheiratung war sie wieder rechtzeitig in der alten Heimat.

Sie fragt interessiert nach meiner Reiseroute, nach den weiteren Stationen, fragt, ob mir das argentinische Essen schmecke, wundert sich, dass ich alleine unterwegs bin und fragt, ob ich schon in Rente sei.

Auch Evangelinas Cousine ist Lehrerin. Die Rede kommt auf Arbeitsbedingungen für Lehrer und auf Aussichten hinsichtlich der Rente. Ich wundere mich über die unzumutbaren Arbeitszeiten in Argentinien, sie wundern sich über das Rentenalter in Deutschland. 67? Gilt das auch für Lehrer? In Argentinien gehen die mit 57 in Rente.

Nicolás hat seine erste Stelle ganz im Norden des Landes angetreten, in einem abgeschiedenen Dorf in den Bergen. Keine Kumpels, keine Möglichkeit auszugehen, kein Internet, bis zu 20° minus im Winter! Geht man da freiwillig hin oder wird man vom Ministerium dahingeschickt? Er ist „freiwillig“ gegangen, weil er sonst keine Stelle bekommen hätte. Wenn man eine solche Stelle annimmt, erhöht man seine puntaje, und die scheint allentscheidend zu sein für die Laufbahn eines Lehrers.

Wegen des Insektensprays in meinem Schlafzimmer kommt die Rede auch auf die Pandemie und wie man die erlebt hat. Argentinien sei sehr abgeschlossen gewesen. Ansonsten waren die Bedingungen ganz ähnlich wie bei uns, und die Maßnahmen ebenfalls ziemlich umstritten.

Das Insektenspray dient der Vorbeugung gegen Dengue. Nicolás hat es vor einigen Jahren erwischt, und er hat eine fürchterliche Woche durchlebt. War so geschwächt, dass er nicht von selbst aufstehen konnte. Was man sich bei dem großen, athletischen Kerl kaum vorstellen kann. Glücklicherweise hat er die Version von Dengue erwischt, die schlimm, aber nicht tödlich ist. Hat aber Wochen gebraucht, um wieder richtig auf dem Damm zu sein. Jetzt macht er neben dem Unterricht noch eine Ausbildung zum Sportlehrer.

Ein unspektakulärer Tag geht zu Ende, der mir aber viele interessante Einblicke in die argentinische Lebenswelt verschafft hat.   

Evangelina zeigt mir eine Medaille, die sie als Schülerin bekommen hat. Da steht Bandolerodrauf. Auf der Rückseite hat sie ihre Initialen anbringen lassen.

Sie gibt mir zwei uralte Hefte über Eva Perón und will mir ein Lied über sie vorspielen: No llores por mí, Argentina. Sie ist ganz baff, dass ich das kenne, den Text sogar fast auswendig kenne, allerdings in der englischen Version: Don’t cry for me, Argentina.   

Zum Mittagessen fahren wir zu Evangelinas Mutter. Die hat auch einen Hund. Der ist mir freundlicher gesinnt, springt an mir hoch und leckt an meinen Zehen und Waden.

Evangelinas Mutter hat einen wunderbaren, verwunschenen Garten, alles dicht bewachsen, alles durcheinander, nur ganz schmale Wege. Sie zeigt mir, was hier alles wächst auf dem kleinen Raum. Ohne sie hätte ich das meiste übersehen: Pampelmusen, Mandarinen, Feigen, Avocado, Papaya, Zitronen, Pflaumen und anderes mehr. Manchmal habe ich Schwierigkeiten mit den typisch amerikanischen Wörtern: Palta? Was war das noch mal? Avocado!

Feigen gibt es wenige, sagt sie, die würden oft die Beute der Vögel. Auch der Hund macht sich an einigen Früchten zu schaffen.

Die meisten Früchte sind noch nicht reif, aber sie weiß in allen Fällen, wann es so weit ist.

Am interessantesten die Papaya. Die hat weibliche und männliche Früchte. Wir schlagen uns durch das Gebüsch, damit ich beide zu sehen bekomme. Die männliche Frucht wächst an Fäden vom Ast herunter, die weibliche, größere, direkt am Ast.

In einem Käfig sind drei Küken, schon groß gewachsen, in einem anderen drei Hühner und ein Hahn. Und dann, ganz hinten, drei winzige Küken, gerade ein paar Tage alt. Nicolás holt eins aus dem Käfig und zeigt es mir.

Zum Essen gibt es tamales. Die haben wir vorher von einem Laden mitgenommen. Die einen, flacheren, sind mit Mais gefüllt, die anderen mit Fleisch. Die mit Mais haben einen leicht süßlichen Geschmack. Die mit Mais, darauf besteht man, hießen nicht tamales, sondern humitas. Ist aber dasselbe Prinzip. Bei beiden besteht die Verpackung aus Maisblättern. Die sind kunstvoll ineinander gefaltet und an beiden Enden mit einer Schleife versehen.

In der Karwoche gibt es hausgemachte tamales. Da müssen alle mit ran. Vor allem das Maismahlen scheint eine Heidenarbeit zu sein, und für das Einpacken muss man wohl ein Händchen haben.

Nicolás fragt nach typisch deutschen Speisen und nach deutschen Essgewohnheiten. Und er will wissen, in wie vielen Ländern ich schon gewesen bin.

Sein Sportstudium, erzählt er, macht er neben der Arbeit. Er versuche allerdings, sich nicht allzu sehr unter Druck zu setzen. Er brauche den Abschluss nicht, mache das Studium in erster Linie, weil er gerne Sport treibt. Auch hier in Argentinien, sagt er, werde das Sportstudium oft unterschätzt. Es nutzt nicht viel, wenn man gut Basketball spielen kann. Turnen und Schwimmen, das sind echte Herausforderungen. Und auch die Theorie hat es in sich: Sportmedizin, Sportpolitik, Didaktik, Geschichte des Sports, Sportpsychologie.  

Sein Lieblingssport ist Tennis. Auf welchem Boden spielt man hier? Auf Asche, wie bei uns.

Als wir wieder nach Hause fahren, ist der Hund ausgebüxt und springt wie wild am Auto hoch. Nicolás fängt ihn wieder ein.

Am Nachmittag fahren wir nach Jujuy, ins Museo de Arte Religioso. Vorher sehen wir in der Fußgängerzone ein auffälliges Denkmal. Jemand, der auf der Flucht zu sein scheint, wird von einem Reiter getötet. Der drückt gerade ab, der Flüchtige in einigem Abstand zu ihm hebt die Hände. Das Ganze spiegelt eine historische Szene wider. Der General Lavalle, Unitarier, wurde von den Föderalen von Buenos Aires aus verfolgt. Er flüchtete Richtung Norden und kam bis Jujuy. Hier endete seine Flucht.

Wir gehen kurz ins Cabildo. Dort ist in einem Innenhof eine moderne Skulpturengruppe aufgestellt, Dutzende von Figuren beinhaltend, in einem Pulk. Alle Figuren sind in demselben Grauton gehalten. Es ist offensichtlich ein Flüchtlingstreck. Alles ist vertreten, alte Männer auf Stöcken, Frauen in weiten Röcken, Kinder, die mitgeschleppt werden, Honoratioren in feinem Zwirn, sogar Musikanten sind dabei. Auch Tiere haben sie mitgenommen, Ziegen, Schafe, Esel. Alle schleppen irgendein Bündel mit sich oder einen Sack. Auch hier wird auf ein historisches Ereignis angespielt, auf den Exodus von 1812, als die Revolutionäre eine Politik der verbrannten Erde verfolgten und das Volk von Jujuy aufforderten, alles stehen und liegen zu lassen und sich auf den Weg nach Süden zu machen und der Royalistischen Armee keine Beute zu hinterlassen.

Wir gehen kurz in die Kathedrale. Die hat eine besondere Kanzel und am Altar Figuren, die hohl sind und keine Rückwand haben. Die wurden deshalb so gestaltet, weil sie auf schwierigen Wegen von Peru aus hierher kamen und möglichst wenig wiegen sollten, um den Transport zu erleichtern.

Die Kanzel, polychrom, mit Schalldeckel, ist aus einheimischem Holz geschnitzt und wohl von indigenen Künstlern oder unter deren Mitwirkung entstanden. Die Treppenwand versinnbildlicht Jakobs Traum. Die meisten Früchte sind noch nicht reif, aber sie weiß in allen Fällen, wann es so weit ist. 

Dann gehen wir in die Franziskanerkirche. Die ist, wie mein Adlerauge sofort entdeckt, eine Basilika Minor und als solche ausgezeichnet durch das Tintinnabulum und das Conopeum am Altar. Die Kirche ist innen genauso prunkvoll wie außen.

Anschließend sehen wir uns das Colegio Nacional an. Hier hat Evangelina ihre Lehrerausbildung gemacht. Es handelt sich um einen klassizistischen Bau aus dem 19. Jahrhundert. Damals war die Einrichtung der Schule ein wichtiger Schritt in der Bildungspolitik, wenn auch anfangs eher für eine Elite. Endlich hatte Jujuy auch seine Sekundarschule und brauchte seinen Nachwuchs nicht mehr nach Buenos Aires schicken.

Der Bau ist geschlossen, aber auch von außen kann man erahnen, wie groß er ist. Er beherbergt unter anderem ein Museum und einen Hof für Freilichtkonzerte.

Dann geht es ins Museo San Francisco de Arte Religioso. Am besten gefällt mir gleich der erste Raum. Da hat man in einer kleinen, niedrigen Krypta alte Kirchenmöbel und Bauteile und Gegenstände so angeordnet, dass es gar nicht museal aussieht.

Die besonderen Stühle der Gemeinde sind vertreten, auf denen man sowohl sitzen als auch knien konnte, genauso wie schwere Holzsessel mit Ledersitzen für die besseren Leute.

Sehr schön am Ende des Raum gedrechselte farbige Säulen aus Holz. Auch ein altes in Leder gebundenes Buch ist ausgestellt, ebenso wie ein Kruzifix. Das hat man eigens liegend ausgestellt, so dass man sehen kann, dass es innen hohl ist, wie die Altarfiguren in der Kathedrale.

In einem schmalen Gang sind weitere Gegenstände ausgestellt, die mit San Francisco verbunden sind. Den meisten Raum nehmen 13 Gemälde in hellen Farben ein, die die Kreuzwegstationen darstellen. 13? Ja, eins ist abhandengekommen, keiner weiß wie, und man weiß nicht, ob es Nummer 3 oder Nummer 7 ist. Ein Hinweis könnte der Himmel sein. Der verdunkelt sich nämlich mit jeder Station.

Das interessanteste Ausstellungsstück ist eine Geige, auffällig durch ihre Form. Sie sieht anders aus als die europäische, weniger kurvig, und hat wohl auch weniger Saiten. Sie wurde von einem Indio hergestellt, wohl auch mit Anklang an traditionelle Instrumente der Amerikaner. Die Gitarre steht stellvertretend für das Bemühen der Franziskaner, den Indios ein Gewerbe beizubringen und ihnen eine gewisse Eigenständigkeit zu gewähren. In demselben Kontext sind auch Instrumente aus der Druckerwerkstatt zu sehen.

Schließlich gibt es silberne Zeremoniengegenstände aus Potosí, wie eine Krone Mariens und die typische Mondsichel, auf der sie steht und die sie zur Immaculata macht.

In diesem Teil des Museums funktioniert das Licht nicht, und das ist schon eine Art Vorschau auf das Kloster, durch das uns einer der Mönche führt. Er kommt lässig gekleidet in sportlichem Outfit von Adidas und Nike.

Überall ist es etwas schmutzig, an jeder Ecke liegt Bauschutt herum, immer wieder funktioniert etwas nicht. Angesichts dessen bewundernswert der Optimismus des Paters. Sie hätten das Kloster jetzt für Kulturveranstaltungen geöffnet, und er liebäugle damit, hier auch Kaffee und Kuchen anzubieten. In einem schönen, abgelegenen Innenhof hat inzwischen eine Yoga-Gruppe ihren Treffpunkt gefunden.

Wir gehen in das alte Refektorium – ist heute zu groß für die sechs verbliebenen Patres – und auf die Orgelbühne und auf den Kirchturm.

Von einer Terrasse aus hat man einen Blick auf den Kirchturm und die Kuppel und die öden Wohnhäuser dahinter. Die Kuppel sei vor kurzem undicht geworden, erzählt er. Da es sich um ein nationales Monument handelt, können sie nicht einfach tätig werden, sondern müssen die Baukommission einschalten. Der wird der Schaden vorgelegt, das Kloster übernimmt die Materialkosten und das Bauamt sorgt dann für die Ausführung. Inzwischen ist die Kuppel wieder dicht.

Zu Hause habe ich mich inzwischen um die Weiterreise gekümmert, um das Programm für die nächsten Tage genauer gesagt. Die Erwähnung von Tarija, der Stadt in Bolivien, hat mich nicht losgelassen. Also buche ich kurz entschlossen einen Bus dorthin. Ohne zu ahnen, worauf ich mich eingelassen habe. Noch heute Nacht soll es losgehen.

Erst meine ich, irgendwas stimme nicht auf der Fahrkarte. Können die nicht rechnen? Das sind doch 7, nicht 8 Stunden. Aber da habe ich die Rechnung ohne Bolivien gemacht. Die hinken eine Stunde hinterher.

Um mich zu orientieren zeigt mir Evangelina auf einer Karte die beiden Routen, auf denen man von hier nach Bolivien kommt. Eine gegen direkt nach Norden, über die Quebrada de Humahuaca, und eine geht über Salta direkt nach Tarija.

Ich habe die Abfahrt von Jujuy aus gebucht. Evangelina fragt, warum denn nicht von Palpalá aus? Weiß ich auch nicht, hat sich so ergeben. Sie ruft bei dem Busunternehmen an und fragt, ob ich nicht auch in Palpalá einsteigen könne. Doch, das ginge, ich solle nur rechtzeitig da sein und das am Schalter dort noch mal bestätigen.

Und schon nimmt das Unheil seinen Lauf.

1. Februar (Samstag)

Nicolás bringt mich zum Busbahnhof von Palpalá. Dort sage ich am Schalter noch mal, dass ich von hier statt von Jujuy abfahren will. Die freundliche Frau macht ein kurzes Telefonat und sagt, alles sei in Ordnung. Sie hilft mir auch beim Ausfüllen eines Internet-Formulars, das man für die Einreise nach Bolivien benötigt.

Der Bus kommt pünktlich. Der Fahrer schaut auf seine Liste und fragt mich, für welchen Tag ich gebucht hätte. Für heute. Auf seiner Liste bin ich aber nicht. Er lässt sich meine Reservierung im Handy zeigen. Muss genauer hinsehen. Dann sagt er: Das ist ja ein anderes Busunternehmen. Sie müssen nach Jujuy.

Nicolás drückt auf die Tube. So schnell bin ich noch nie von Palpalá nach Jujuy gekommen. Aber es nutzt nichts. Der Bus ist weg. Und das Geld ist auch futsch.

Nicolás sieht, dass ein Bus abfahrbereit an der Haltebucht steht. In Windeseile kaufe ich eine Fahrkarte und komme so gerade noch in den Bus, bevor der abfährt.

Erst jetzt dämmert mir, dass der gar nicht nach Tarija fährt. Sondern nach La Quiaca. Wo ist das denn? Mein Nachbar erklärt: Das ist die letzte argentinische Stadt vor der Grenze zu Bolivien. Und dann? Wie komme ich weiter? Ich müsse zu Fuß über die Grenze gehen und dann nach einem Bus nach Tarija suchen. Wie lange der denn brauchen würde? Das weiß er auch nicht. Vielleicht drei, vier Stunden. Diese Prophezeiung wird sich als zu optimistisch erweisen.

Kurz nach vier kommen wir in La Quiaca an. Es war zwar schon im Bus merklich kühler geworden, aber als ich aussteige, trifft mich der Schlag: Die Temperatur ist um den Gefrierpunkt herum. Alle sind dick vermummt, ich habe Shorts und ein T-Shirt an.

Ich will mich auf den Weg über die Grenze machen, aber ach, die ist noch geschlossen. Erst um acht Uhr geht es los.

Hier brennen überall Lichter, in den unzähligen kleinen Pavillons, und ich hoffe, irgendwo einen warmen Wartesaal zu finden oder ein Café. Aber alles ist geschlossen.

Ein Mann weist mich auf ein Hotel weiter die Straße runter hin. Da ist Licht, aber kein Mensch zu sehen. Ich klopfe an die Scheibe, und tatsächlich tut sich was. Ich bekomme ein Zimmer für die Nacht.

Am frühen Morgen geht es los. Die Sonne scheint, wärmt aber noch nicht. Dennoch kein Vergleich zur Nacht.

Es geht auf die Grenze zu. Bevor man die überschreitet, sieht man rechts den Quiaca, den Fluss, dem der Ort seinen Namen verdankt. Man sieht, wie dort in aller Ruhe die Grenze illegal überschritten wird, indem man durch den Fluss watet oder mit kleinen Transporträdern durch den Fluss fährt, die Platz für die Schmuggelware haben. Das alles in Sichtweite der Grenzpolizei!

Der Grenzüberschritt ist ganz problemlos. Nach dem Formular, das ich mühsam ausgefüllt habe, fragt keiner.

Hinter der Grenzkontrolle liegt Villazón, die erste bolivianische Stadt, eine quirlige Stadt mit Hunderten von Läden und großer Betriebsamkeit. In der entgegengesetzten Richtung, nach Argentinien, eine fast unendliche Schlange von Menschen, die auf den Grenzübertritt warten.

Ich gehe an der Schlange entlang in die entgegengesetzte Richtung, aber kein Busbahnhof kommt in Sicht. Der ist viel zu weit weg, wie sich herausstellt. Ich muss ein Taxi nehmen. Zum Glück nimmt der Taxifahrer Pesos an.

An einem Schalter kaufe ich eine Karte nach Tajira. In anderthalb Stunden geht es los. Hier in der Schalterhalle machen die einzelnen Unternehmen laut Werbung für ihre Reiseziele: „¡La Paaaz, vamos a La Paaaz! ¡Suucre! ¡Potosíííí!“

An einem kleinen Stand außerhalb des Bahnhofs bekomme ich einen Kaffee. Wieder kann ich mit Pesos bezahlen und bekomme sogar Bolivianos als Wechselgeld.

Man ist hier, obwohl gerade mal ein Stück jenseits der Grenze, wie in einer anderen Welt. Frauen mit breitkrempigen Hüten, weiten Röcken und wollenen Umhängen, Männer mit zerfurchten Gesichtern, Kinder mit rundlichen Gesichtern, Pausbäckchen und schmalen Augen, alle klein, Erwachsene wie Kinder. Schüchterne Blicke. Die Straße voller Staub, langsame Bewegungen, ein Singsang in der Intonation des Spanischen, Unterhaltungen in einer amerikanischen Sprache, vielleicht Ketschua, vielleicht Guaraní.

Als die Wartezeit vorbei ist, steige ich in den Bus ein, ohne zu erahnen, was mich erwartet.

Der Bus ist älteren Semesters und hat nichts von einem modernen Reisebus. Vorne an der Front fehlt eine Leiste, der Boden im Gang ist aufgerissen, die Fenster sind notdürftig geflickt, die Lüftung funktioniert nicht und die Armlehnen, aus Hartgummi, sind angefressen. Ein WC gibt es nicht, und der vollmundig an der Einstiegstür angekündigte Zugang zum Internet ist Fiktion. Als besonderer Passagier defiliert ein Hund den Gang auf und ab.

Es geht durch eine völlig veränderte Landschaft, trocken, unfruchtbarer Boden, mit Erde, Dornenbüschen, Steinen und Kakteen – Hunderte, Tausende von Kakteen, große Kandelaberkakteen.

Die Strecke ist zuerst flach, man sieht nichts als die öde Landschaft, kein Feld, kein Dorf, keine Straße, kein Schild, keinen Fluss. Hin und wieder eine Häuserruine, ein alter Autoreifen, ein verrosteter Kanister. Ein Lastwagen ist in einer Felsspalte steckengeblieben.

Die Straße ist eng und nicht asphaltiert. Der Bus klappert die Straße entlang und wirft Staub auf. Plötzlich ist ein Lastwagen mit Anhänger vor uns. Wie das Überholmanöver gelingt, kann ich bei dem aufgewirbelten Staub nicht sehen.

Das war nur der Auftakt. Jetzt kommt der Anstieg. Furchterregend. Auf der einen Seite, direkt neben uns, die Felswand, auf der anderen Seite, ebenso nahe, der Abgrund. Ohne Mauer, Begrenzung, Planke. Immer weiter steigen wir hoch, bei jeder Kurve bekomme ich Angstschweiß, wenn ich an die Felswand oder in den Abgrund gucke, rutscht mir das Herz in die Hose.

Bewundernd sehe ich nach links. Da sitzen zwei Touristinnen und schlafen tief und fest. Mir gelingt es nicht einmal, die Augen zu schließen. Ich sitze senkrecht und halte mich an der Kopfstütze meines Vordermanns fest, so als ob das etwas nützte.

Zweimal kommt uns ein Auto entgegen. Das kann doch nicht passen. Aber es passt doch irgendwie.

Dann geht es bergab, langsam, über ebenso viele Kurven. Mit abnehmender Höhe wird es mir etwas wohler, obwohl man auch hier genauso verloren wäre, wenn der Busfahrer einen kleinen Fehler macht.

Dann die große Erleichterung, als wir unten sind. Eine völlig veränderte Landschaft, Felder, Bäume, eine Flussaue. Wir kommen an einem Stausee vorbei. Dem ist die Vegetation wohl zu verdanken.

Dann schraubt sich der Bus wieder rauf, aber jetzt scheint der Abhang nicht mehr ganz so steil zu sein.

Jetzt kommen auch Tiere in Sicht, Ziegen, Schafe, Lamas, große und kleine.

Mitten in der Wildnis kommt ein Schild mit der Aufschrift Restaurante in Sicht. 20 Minuten Pause. Gott sei Dank! Eine Toilette. Es gibt nur eine für alle, und man muss Schlange stehen. Die Spülung funktioniert nicht, und jeder muss sich mit einem kaputten Plastikeimer an einem Fass mit Wasser bedienen, um für die Spülung zu sorgen.

Ich komme mit einer der Touristinnen ins Gespräch. Sie ist Kanadierin, spricht gut Spanisch. Die andere ist Belgierin. Die Kanadierin war auch in Jujuy und ist ganz begeistert von dem, was sie dort erlebt hat, die Landschaft, die Musik, die Menschen. Jetzt geht es für sie weiter nach Paraguay. Sie ist richtig erfreut, als ich ihr sage, dass das ein schönes Reiseziel ist.

Der Rest der Fahrt ist weniger aufregend, und wir fahren jetzt über asphaltierte Straßen. Wir erreichen Tarija auch eher als erwartet, aber dann ist es noch ein ganzes Stück von der Haltestelle in der Innenstadt bis zum Busbahnhof. Und zu allem Übel müssen wir auch noch tanken.

Dann ist es endlich soweit. Nach sieben Stunden haben wir unser Ziel erreicht.

Zuerst geht es zur Toilette. Da braucht man eine Münze einen Boliviano, und die habe ich nicht. Ich bitte an einem Schalter um Wechselgeld.

Ich werfe meinen Boliviano in den Schlitz, aber die Sperre öffnet sich nicht. Voller Frustration schlage ich auf die Sperre, bis eine Frau erscheint und mich zur Ordnung ruft. Ich bitte um Entschuldigung.      

Ich habe den glücklichen Einfall, an den Schalter meines Busunternehmens zu gehen und nach der Rückfahrt zu fragen. Und tatsächlich: Ich stehe nicht auf der Liste der Fahrgäste. Es dauert was, die Frau guckt lange handgeschriebene Notizen durch, dann ein Dutzend Fragen, der Reisepass und die Buchung im Handy. Alles in Ordnung. Ich bekomme eine Fahrkarte für die Rückfahrt, schon mit zugewiesenem Sitzplatz.

Jetzt brauche ich nur noch zur Unterkunft. Vor dem Eingang steht ein Taxi. Der Fahrer will 25 Bolivianos haben. Ich habe nur noch 20. Es sei eine lange Strecke, sagt er, unter 25 tue er es nicht. Ob ich mit Pesos bezahlen könne. Nein. Ob ich mit Kreditkarte bezahlen könne. Nein.

Im Busbahnhof suche ich nach anderen Möglichkeiten. Gibt es hier einen Geldautomaten? Nein. Eine Wechselstube? Nein.

Sieht nicht gut aus. Ich gehe wieder raus und frage einen anderen Taxifahrer. Der will 30 Bolivianos haben. Ich habe aber nur 20. Ich schildere ihm meine Bredouille, und am Ende sagt er, gut, dann eben für 20. Glück gehabt.

Als wir die Gegend um den Flughafen verlassen, bekommt man einen ersten Eindruck von der Stadt, und der ist ausgesprochen positiv, perfekte, baumbestandene Straßen, Parks, Spielplätze, Statuen und eine schöne weiße Hängebrücke.

Der Taxifahrer sagt, er komme gerade aus San Jacinto. Das höre ich in den nächsten Tagen immer wieder. Das sei touristisch, sagt der Fahrer. Was gibt es da? Da kann man gut essen, sagt er. Und einkaufen. Und es gebe einen Wasserfall.

Er nennt noch weitere Orte, die für Touristen interessant sein könnten und zählt eine ganze Reihe von typisch bolivianischen Gerichten auf, aber das geht alles viel zu schnell, und die Namen sind mir alle unbekannt. Ich erinnere mich am Ende nur noch daran, dass ein Gericht Ranga Ranga heißt.

Dann sind wir an der Unterkunft angelangt, einem großen, modernen Hochhaus. Sieht eher wie ein Hotel aus. Tatsächlich ist unten ein Portier. Die Portiersloge ist 24 Stunden am Tag besetzt. Ich bekomme den Schlüssel für mein Apartment in der vierten Etage. Jetzt gibt es nur noch ein Hindernis zu überwinden. Wie kriegt man die Tür auf? Es gibt zwei Schlüssel für zwei Schlösser. Als ich schon drauf und dran bin, aufzugeben, öffnet sich die Tür.

Ich befinde mich in einem Apartment, das so groß ist, dass man hier genauso gut wohnen könnte wie ein paar Tage verbringen. Die Ausstattung ist geradezu luxuriös.

Das Apartment ist beworben worden mit dem Attribut con vista a la Copa. Ich habe kaum darauf geachtet, jetzt sehe ich, was es mit der Copa auf sich hat. Es ist ein Turm in der Form eines Weinpokals. Am Abend erleuchtet. Und was ist das? Ein Aussichtsturm. Praktisch vor der Haustüre.

2. Februar (Sonntag)

In Bolivien gibt es wieder andere Steckdosen. Mein „Universaladapter“ ist da nicht so gut drauf vorbereitet. Nach einigen Versuchen klappt es mit dem „europäischen“ Stecker.

Am Morgen geht es bei herrlichstem Wetter zu Fuß in die Stadt. Es ist noch sehr ruhig auf den Straßen.

Wieder ist der erste Eindruck sehr, sehr gut. Alles sehr gepflegt, gut ausgeschildert, viel Grün.

Ich muss zusehen, dass ich an Bolivianos komme. Gar nicht mal so leicht. Der erste Bankautomat gibt nichts raus, der zweite auch nicht, der dritte ist abgeschlossen. Dann klappt es: 500 Bolivianos. Das sind 70 Dollar. Ist nicht so leicht zu rechnen.

Vorher komme ich an einem schönen, gepflegten Platz vorbei, der Plaza Uriondo. Schattenspendende Bäume und davor große Gipsfiguren, die Musikinstrumente aus den Anden darstellen, eine Trommel und eine Flöte unter anderem.

Im Zentrum des Platzes die unvermeidliche Reiterstatue, Uriondo darstellend, einen der Helden der Unabhängigkeitskriege. Scheint ein exklusiv bolivianischer Held zu sein. In Argentinien bin ich ihm noch nie begegnet. Die Statue ist aus polierter Bronze, wie viele andere Statuen hier in der Stadt.

Dann geht es durch eine schöne Gasse. Die ist hier statt mit Schirmen oder Hüten mit Körben geschmückt. Die Korbwaren scheinen was Besonderes für diese Region zu sein. Später sehe ich eine Frau am Eingang zur Kathedrale auf dem Boden sitzen und ihre Körbchen anbieten.

An der Mauer der Gasse eine hübsche Aufforderung, keinen Müll wegzuwerfen, mit einem kleinen Wortspiel: ¿Llevas tu bolso? ¿Llevas tu mochila? ¿Llevas tu móvil? Y tu BASURA, ¿la llevas?

Dann komme ich zum Platz der Kathedrale. Dort bereitet eine Frau an ihrem kleinen Stand die Maisblätter für die tamales zu.

Daneben zwei Nonnen, die Gebäck verkaufen. Im Moment habe ich weder für das eine noch für das andere Geld.

Die Kathedrale, jedenfalls die Fassade, ist eine nüchterne Angelegenheit, gedrungen, neoromanisch, mit dorischen Halbsäulen, aber ganz und gar schmucklos. Sieht mit ihren zwei Türmen aber in ihrer Schlichtheit trotzdem ganz hübsch aus.

Innen ist es ganz anders, hier herrscht barocke Pracht. Am Altar auf der einen Seite die bolivianische Fahne, auf der anderen Seite die des Vatikans.

Die beiden Reihen sind fast bis auf den letzten Platz besetzt. Heute ist das Fest der Virgen de la Candelaria, eins der wichtigsten Feste im religiösen Kalender Boliviens.

Etwas abseits der Kathedrale gibt es einen weiteren schönen Platz, mit Springbrunnen. Das ist die Plaza Lizardi. Die hießt früher, verrät mir eine Verkäuferin, Plaza de las Hormigas, wegen der Figuren von Ameisen, die hier aufgestellt waren.

Der dritte Platz ist die Plaza Mayor, die hier Plaza de Fuentes y Vargas heißt. Die ist wunderschön, übertrifft die beiden anderen noch, mit riesigen Palmen bestanden, einem Springbrunnen und einem Pavillon in der Mitte und Bänken, auf denen die Leute den Sonntagmorgen und den Sonnenschein genießen.

Da ich inzwischen Geld habe, setze ich mich in ein Straßencafé und bestelle ein opulentes Frühstück, mit Omelette, Toast, Obstsalat, Orangensaft und Kaffee. Wunderbar! An den Nachbartischen wird etwas gegessen, das wie Gebäck mit Schokolade aussieht. Das ist aber kein Gebäck, das sind empanadas. Die isst man hier wohl auch zum (späten) Frühstück. An einigen Tischen fließt auch schon das Bier.

Am Straßenrand steht ein Käfer. Sieht aus, als sei er gut in Schuss. Die Räder und die Rücklampen sind erneuert, und als der Besitzer den Motor startet, hört es sich auch nicht nach dem alten Käfer-Motor an.

Dann hört man Blasmusik. Alle Blicke gehen in dieselbe Richtung, eine schmale Straße hinauf. Dort kommt eine Prozession. Gruppen von Frauen und Männern, in Rot und Weiß oder Schwarz und Weiß, begleiten mit tänzelnden Bewegungen, immer zur Seite, die Musik. Ganz vorne hoch auf einem Auto eine Madonnenfigur, Virgen de la Candelaria

Als die Prozession vorübergegangen ist, gehe ich zur Kathedrale zurück. Jetzt kann ich auch an den Ständen was kaufen. Ein tamal auf der Hand bei der netten Verkäuferin, die mir demonstriert, wie sie aus den Maisblättern, die sich auf ihren Wägelchen türmen, Verpackungen macht. Sie  macht das mit großer Geschicklichkeit. Und lässt gerne ein Photo von sich machen.

Die Nonnen sind Klarissen. Sie haben allerlei Gebäck, natürlich aus eigener Herstellung, im Angebot. Ich nehme zwei Päckchen mit. Mit einem Photo tun sie sich schwer. Das muss man respektieren. Aber trotzdem schade. Wäre eine schöne Aufnahme geworden, die beiden Nonnen mit ihrer schwarz-weißen Tracht unter dem Sonnenschirm und hinter ihrem Gebäck.

Danach frage ich mich nach der Casa Dorada durch. Die ist ein echter Hingucker. Eher Palast als Haus, sollte man meinen. Da sie sich in einer schmalen Straße befindet, kommt die prächtige Fassade nicht ganz so zur Wirkung, wie sie es verdient hätte. Alle tragenden Teile sind weiß, alle dekorativen Teile sind in Gold, in beiden Stockwerken. Atlanten tragen das Gebälk des Obergeschosses, und ganz oben auf dem Dachfirst lauter weibliche Figuren, ganz in Weiß, die mit einer Hand eine Fackel in den Himmel recken. Der ist natürlich wolkenlos blau.

Ich frage mich, wo das Hauptportal sein könnte. Alle Einzelteile der langen Fassade sehen gleich aus, keine ist hervorgehoben. Dann kapiere ich: Das Gebäude, sowieso schon unendlich lang, geht hinter der Straßenecke noch weiter. Der Haupteingang befindet sich an der Ecke, quer zur Straße. Die Konstruktion ist symmetrisch. Auf beiden Seiten vom Haupteingang befinden sich neun Eingänge. Der Bau ist tatsächlich – kann man  sich kaum vorstellen – für einen Privatmann gebaut worden, gegen Ende des 19. Jahrhunderts.  

Von hier aus geht es zu dem anderen emblematischen Gebäude Tarijas, dem Castillo Azul. Ein freundlicher Mann erklärt mir wortreich den Weg. Und macht mich auf eine leuchtende Bronzebüste an einem Laternenpfahl aufmerksam. Die Figur spielt ein unsichtbares Instrument, hält aber die Stöcke der Trommel in der Hand. Er ist ein chapaca, so was wie Gaucho von Bolivien.

Dann erreiche ich das Castillo Azul, ein Bau, der noch mehr ins Auge sticht als die Casa Dorada. Alles an der zweistöckigen Fassade ist in Blau und Weiß, die Farben zeichnen vertikale und horizontale Linien.

An dem Gitter verschiedene Plaketten von Schriftstellervereinigungen, nicht nur aus Bolivien. Als ich mir die gerade ansehe, schließt ein junger Mann das Tor auf. Er ist der Enkel des Erbauers. Vorne sei eine Bibliothek, erklärt er, die könne man auch besichtigen. Hinten wohnt er. In seine Wohnung gelangt er durch den Seiteneingang.

Ich will mich auf den Weg zum Markt machen. Davon hat der Taxifahrer gestern gesprochen. Nur: Welchen Markt hat er gemeint? Es gibt mindestens vier. Ein Passant erklärt ausführlich, wie die heißen und wo die sind. Für mich ist der beste der Mercado Campesino, meint er. Am besten mit dem Taxi. Die Busse fahren heute, am Sonntag, sehr unregelmäßig. Ich versuche eins der Taxis anzuhalten, die vorne auf dem Kühler Fähnchen haben. Das sind Sammeltaxis. Aber die sind vollbesetzt oder fahren in die falsche Richtung. Also nehme ich ein normales Taxi.

Der Fahrer will wissen, wo er mich rauslassen soll. Am Markt. Ja, aber wo da? Der Markt zieht sich über mehrere Straßen und Plätze hin. Er setzt mich an einem zentralen Platz ab.

Hier ist man auf einmal in einem anderen Tarija, in einer anderen Welt. Gewimmel, Autos, Motorräder, Verkäufer, Handkarren, alles durcheinander, schmuddelig, laut und unübersichtlich.

Am Rande der Straße gehe ich erst einmal in einen Laden, der etwa einer Drogerie entspricht. Die junge Verkäuferin bedient mich und fragt freundlich, woher ich käme und wo ich Spanisch gelernt habe. Einen Kamm bekomme ich bei ihr sofort, die Pomade hat sie nicht. Aber sie nimmt mich mit nach nebenan, stellt sich hinter die Theke und gibt mir die Pomade. Sie scheint Herrin über beide Läden zu sein.

Dann geht es in den eigentlichen Markt. Dahin, wo Obst und Gemüse verkauft werden. In den engen Gängen zwischen den Ständen herrscht großes Gedränge. Ein Verkaufsstand reiht sich an den anderen, alle sitzen unter einem Sonnenschirm und preisen ihre Waren an. Die Verkäufer – meist Frauen – antworten auch geduldig auf die Fragen des Fremden. Am Boden sitzen weitere Verkäufer und haben ihre bescheidenen Waren vor sich ausgebreitet.

Es gibt so ein vielfältiges Angebot, dass man kaum weiß, wo man hingucken soll. Am meisten werden Bananen angeboten, die meisten schon leicht bräunlich, einige wenige noch grün. Man sieht Möhren, Zwiebeln, Süßkartoffeln, Yucca, Kirschen, Zitronen und eine Frucht, die zapote heißt.

Ich kaufe Weintrauben, Äpfel, Tomaten und ganz kleine Birnen, die wie Minipaprika aussehen, und natürlich Bananen. Und am Ausgang des Marktes Schweinepfötchen und frittiertes Gemüse. Fürs Abendessen.

Dann geht es zurück. Wieder mit dem Taxi. Auf der Kopfstütze des Fahrersitzes steht Cierre Despacio. Auf der Kopfstütze des Beifahrers fehlen die ersten beiden Buchstaben. Da steht dann Erre Despacio. Wunderbares Wortspiel. Zufall? Wohl nicht.

Gegen Abend mache ich mich auf den Weg, um auf die Copa zu steigen. Die ist ganz nah bei der Unterkunft. Über die Puente de San Martín geht es über den Guadalquivir auf die andere Seite. Der hat ein breites Flussbett, nutzt aber nur einen Teil davon, und da rauscht er mit starker Strömung geräuschvoll über die Steine.

Von dieser Brücke aus sieht man auf zwei moderne Brücken, sehr schön, elegant, weiß, die eine mit einem Dreieck, die andere mit drei runden Bögen. Die erste ist die Puente Milenario, die zweite die Puente Bicentenario

Hinter der Brücke frage ich eine junge Frau in Begleitung eines Mädchens und einer alten Frau nach dem Weg. Sie geht auch zur Copa, ich könne gleich mitkommen. Sie erweist sich als sehr gesprächig, erzählt mir ihr halbes Leben beim Aufstieg über die Straße. Sie heißt Maribel, ist alleinerziehend, 25 Jahre alt, studiert Marketing und arbeitet im Marketing. Sie kommt aus Potosí, aber da war es ihr zu kalt. Dann ist sie nach San Lorenzo gezogen, da war es ihr zu gefährlich. Jetzt ist sie seit vier Jahren in Tarija, und hier geht es ihr gut.

Wir kommen zur Copa, gehen auf die Aussichtsplattform und steigen dann rauf. Oben hat man einen schönen Rundblick, mit den Wolken am Himmel, durch die immer wieder die Sonne blickt, mit den Brücken und Parks und dem Fluss unten und den kahlen Bergen im Hintergrund.

Im Gegensatz zu Maribel ist ihre Tochter, Lia, sehr schüchtern. Sie wendet sich verschämt ab, wenn ich etwas frage. Die alte Frau dagegen reagiert auf meine Fragen, manchmal, indem sie mir leicht auf den Arm oder die Brust schlägt. Ich verstehe kein Wort von dem, was sie sagt. Sie spricht Ketschua. Sie versteht zwar Spanisch, spricht es aber nicht. Maribel ist zweisprachig, Lia spricht bisher nur Spanisch.

Die alte Frau, klein, gebückt, voller Runzeln, müsste die Oma sein, sie sieht aus wie 90. Bewegt sich aber schneller als eine Neunzigjährige. Langsam dämmert es mir: Sie ist nicht die Oma, sondern die Mutter!

Maribel lacht viel, und hält sich immer den Mund zu, wenn sie lacht. Das tut sie auch, als ich ihre Frage nach meinem Alter antworte. Ich frage die alte Frau nach ihrem Alter. Sie holt ihren Personalausweis raus. Sie ist von 1955. 

Wir verabschieden uns herzlich, und ich gehe wieder runter. Unten an einem Stand bietet ein Mann etwas an, was ich nicht kenne. Er wird von seiner Tochter assistiert, die Erdbeeren und Bananen kleinschneidet. Was er da anbietet, ist Crema de Leche. Wird serviert wie Eiskrem, in kleinen Bechern, mit dem Obst vermischt. Oben drauf gibt es allerlei Kleinzeug, Waffeln und bunte Schokopralinen und Soßen.

Das Mädchen will wissen, was man in Deutschland spricht. Deutsch. Und wie man auf Deutsch Hallo und Willkommen sagt. Ist ja wie Englisch, sagt sie. Sie ist in der Grundschule und kann schon ein paar Brocken Englisch. Freudig lächelnd antwortet sie auf meine Fragen nach ihrem Namen und ihrem Alter.

Als ich mich gerade auf den Weg machen will, kommt Maribel mit Mutter und Kind auch an den Stand. Sie wollen auch Crema de Leche. Ich stecke dem Verkäufer schnell die 20 Bolvianos für ihre Portion zu.  

Wir verabschieden uns noch einmal, und als wir uns später auf der Brücke noch mal sehen, muss Maribel wieder lachen und sich den Mund zuhalten.

3. Februar (Montag)

Bolivien heißt offiziell Estado Plurinacional de Bolivia. So steht es auch auf den Münzen und Geldscheinen.

Die Geldscheine sind, wie überall hier, bunt und alle gleich groß. Auf der Vorderseite Helden der Geschichte, auf der Rückseite Szenen aus der Natur. Der höchste Wert, den ich bisher in die Hand bekommen habe, ist 100 Bolivianos. Das sind gerade mal 14 $.

Münzen gibt es zu 1, 2 und 5 Bolivianos, und es gibt sogar die kleinere Einheit, Centavos. Die Münzen sind auffällig leicht. Sehen wie Silber aus, sind aber vermutlich eine Legierung.

Die weiten Röcke der Bolivianerinnen heißen, wie ich aus zuverlässiger Quelle erfahre, polleras. Die haben mehrere Unterröcke, bis zu zehn, und die lassen die Frauen etwas rundlich aussehen.

Am Morgen erkundige ich mich im Zentrum nach einer Tour in die Weingüter, La Ruta del Vino. Das Angebot ist hier fast deckungsgleich mit dem der Konkurrenz, von der ich irgendwo ein Faltblatt bekommen habe.

Am besten gleich heute Nachmittag, entscheide ich nach ein paar Erklärungen der Frau hinter der Theke. Kann man hier mit der Kreditkarte bezahlen? Nein, nur bar. Habe aber kein Bargeld. Da holt sie dann doch den Apparat raus. Wir machen zwei Versuche. Kein Erfolg. Dann bastelt sie ein bisschen an dem Apparat rum, und plötzlich klappt es.

Ich gehe zum Castillo Azul, aber das ist, entgegen der Ankündigungen, verschlossen und verriegelt.

Heute ist es im Zentrum ganz anders als gestern, es herrscht viel mehr Betrieb. Mir war schon an mehreren Schreibwarengeschäften aufgefallen, dass Schulmaterialien angeboten wurden, und jetzt wird auch klar, warum: Heute ist der erste Schultag! Die großen Ferien sind vorbei! Überall sieht man Schulkinder in Uniformen, in Rot und Weiß und Rot und Schwarz.

Plötzlich kommt mir eine strahlend lächelnde junge Frau entgegen. Kennen wir uns? Es ist die Kanadierin aus dem Bus! Sie begrüßt mich mit Küsschen auf die Backe. Sie bleibt vier Tage hier in Tarija. Hat sich auch für die Ruta del Vino angemeldet, aber für morgen.   

Dann geht es zur Iglesia San Roque. Die war mir schon gestern aufgefallen, mit ihrer lila und weißen Fassade. Steht dekorativ am Ende einer Treppe, die wiederum am Ende einer steil ansteigenden Straße liegt.

Innen nichts Besonderes, bis auf die schöne Deckenbemalung, für jedes Joch ein neues Motiv, manchmal nur ein Emblem oder ein Symbol.

Vorne am Hochaltar thront wieder eine Madonna. San Roque ist in das Seitenschiff verbannt. So viel Schmuck um ihn herum, dass man nicht erkennen kann, ob auch sein Hund dabei ist.

In dem anderen Seitenschiff fällt mir eine Figur auf, die eine Säge in der Hand hält, und zwar eine normale, moderne Säge. Ich denke an Simon, sehe dann aber, dass die Figur eine Handwerkerschürze trägt. Es ist Josef, der Zimmermann. Neben ihm eine hockende Figur, die ich für einen Engel gehalten habe. Es ist Jesus als Kind. Er hat einen richtigen Hammer in der Hand und holt damit gerade aus. Er ist bei seinem Vater in der Lehre.

Auf dem Weg nach Hause sehe ich eine Frau, die auf dem Bürgersteig sitzt und grüne Pflanzen zu Sträußen bindet. Was ist das? Alfalfa, sagt sie mir. Keine Ahnung, was das ist. Sei gut bei Anämie und werde auch von den Tieren auf der Weide gefressen. Da denke ich an Klee. Der ist aber viel kürzer. Später, im Internet, finde ich die deutsche Entsprechung: Luzerne. Ist wohl mit dem Klee verwandt.

Nach einer Pause zu Hause wird es beinahe etwas knapp für den Treffpunkt für die Ruta del Vino. Ich lege einen Schritt zu, und als ich zwei Minuten vor zwei eintreffe, bin ich der erste. Die anderen trudeln im Laufe der nächsten Viertelstunde ein.

Wir fahren stadtauswärts. Kommen an einer langen Mauer vorbei. Die wurde gebaut, um die Stadt vor Überschwemmungen durch den Guadalquivir zu schützen. Der heißt so, weil der Stadtgründer aus Sevilla kam. Der wollte ein Band zu seiner Heimatstadt knüpfen.

An einer Gabelung fahren wir rechts. Links geht es in den Chaco und damit auch nach Paraguay. Erinnert mich an eine frühere Reise und die verpasste Gelegenheit, in den Chaco Paraguays zu fahren.

Ich kann unsere Führerin ganz schlecht verstehen. Sie spricht ziemlich undeutlich, und ich sitze auch etwas ungünstig, um gut zu hören. Fürs Grobe reicht es aber. Im Laufe des Nachmittags fallen mir die witzigen Diminutive auf, die sie gebraucht, wie ahicito.

Wir werden 5 Bodegas besuchen. Insgesamt hat Bolivien 300, die meisten davon wohl in Tarija, nicht in der Stadt, sondern in der Provinz. Die haben denselben Namen. Die Provinzen heißen hier zur Verwirrung departamentos, was auch ‚Wohnung‘ bedeutet, und nicht provincias wie in Argentinien.

Unsere Führerin teilt die Bodegas in zwei Kategorien ein, industriales und artesanales. Wir besichtigen jeweils zwei, dazu eine Schnapsbrennerei.

Den Unterschied zwischen industrial und artesanal kann man auf den ersten Blick erkennen. Die ersten sind wie riesige Landgüter mit großzügigen Anlagen und repräsentativen Bauten. Bei der ersten sieht der Eingang wie der zu einer modernen Kirche aus. Die anderen sind bescheidener, wie Landhäuser, die erst später umgewidmet und zu Weingütern wurden.  

Die Erklärungen zum Wein halten sich in Grenzen. Hin und wieder werden schnell die verschiedenen Trauben aufgezählt, die für den Wein angebaut werden, hin und wieder gibt es Zahlen, die in ein Ohr rein- und aus dem anderen rausgehen. In einem der großen Weingüter bekomme ich mit, dass man über 2.000 Hektar Anbaufläche verfügt und 4 Millionen Liter Wein pro Jahr produziert.

Eine Führerin betont, wie viel von der Qualität der Traube abhängt und wie stark, auch hier, das Wetter die Qualität des Jahrgangs bestimmt. Über Etikette, Vermarktung, Verkorkung, Vertrieb wird so gut wie gar nichts gesagt.

Nirgendwo gehen wir in die Weinberge (oder besser gesagt Weinfelder) rein. Wir sehen sie aber auf dem Weg in die Weinkellerei. Sie stehen in Reih und Glied und tragen die Trauben etwa in der Höhe der Hüfte. Macht die Ernte leichter als bei uns. Die ersten Trauben, die ich sehe, sind alle blau und klein.  

In einer Bodega hängt eine Seite aus der New York Times mit dem Titel Never heard of Bolivian wine? That may be about to change. Da ist von einer Blindverkostung die Rede, bei der ein bolivianischer Wein nach einem französischen den 2. Platz belegte.

Die Weine, die wir bekommen, schmecken ganz gut, aber ich würde keinen kaufen, auch wenn Platz im Koffer wäre. Der Rosé, ein junger Wein, ist etwas nichtssagend, der Rotwein ist mir zu süß. Vor allem der, den es gibt, als ein paar Häppchen serviert werden.

Am besten gefällt mir der Besuch der Schnapsbrennerei. Hier gibt es die besten Erklärungen. Das Grundprinzip bei der Herstellung des Singani ist der Einsatz von Wärme und Kälte zur Trennung von Wasser und Alkohol. Der Alkohol lagert sich oben ab und wird durch einen Schwanenhals in ein Fass transportiert. So entstehen die einfachsten Varianten. Die werden in klassischen Schnapsflaschen angeboten, mit blauen bzw. roten Etiketten. Für die besseren, und das heißt milderen Sorten, wird der derselbe Prozess wiederholt, und für die ganz guten Sorten noch einmal. Diese Sorten werden in Flaschen serviert, die an Whiskyflaschen erinnern.

Der Alkoholgehalt bleibt immer gleich, 40%. Aber der gute Singani schmeckt besser und macht den Kater am nächsten Tag erträglicher.

Hier wird der Singani als Cocktail serviert, als Chuflay, mit Eis, Zitronenscheibe und Ginger Ale. Schmeckt phantastisch.

Bei der letzten Station, der Casa Vieja, verzichte ich auf die kostenpflichtige Probe und setze mich einfach auf eine Bank und genieße den anbrechenden Abend und die Sonne und den Blick über die Weinfelder bis zu den kahlen Bergen am Horizont.

An den Weinstöcken vor mir hängen keine Trauben. Wie kommt das? Als ich mich das frage, kommt ein Wagen aus dem Weinfelder, bis oben mit Trauben beladen. Neben dem Wagen die Erntehelfer, die sich ihrer Arbeitskleidung entledigen. Einer der Arbeiter drückt mir eine große Traube Trauben in die Hand. Muskateller, weiß, groß. Schmecken wunderbar.

Was mir bei der Tour am besten gefällt sind die Dinge am Rande. Wir sind mit einem Transporter unterwegs. Der Fahrer muss immer weit rübergreifen, zum Sitz des Beifahrers hin, um die Schaltung zu erreichen. Wer hat sich das nur ausgedacht? Dann dämmert es mir irgendwann. Ich habe vorher japanische Schriftzeichen draußen am Auto gesehen. Das Auto ist ein Import aus Japan. Linksverkehr! Die Schaltung wurde ursprünglich mit links von dem Fahrer betätigt, der rechts saß, da, wo bei uns der Beifahrer sitzt. Das Lenkrad muss nachträglich nach links verlegt worden sein.

In einer Bodega sind die Toiletten mit Wörtern aus einer amerindischen Sprache gekennzeichnet: Cumita für Frauen, Cumpita für Männer.

Eine Bodega hat es darauf angelegt, ihren Weinen originelle Namen zu geben: Roba Besos, Ojo Alegre, Quitacalzones. Der zieht einem die Unterhose aus.  

Als ich von einer Besichtigung als erster zum Auto zurückkehre, macht unser Fahrer mich auf einen Baum aufmerksam und die Früchte, die daran wachsen, kleine, runde Früchte, an einem Baum rot, an einem anderen gelb. Je länger man hinguckt, umso mehr entdeckt man, auch ganz oben am Baum hängen unzählige Früchte. Das muss der molle sein, den wir auch in Jujuy gesehen haben, nur ohne Früchte. Ich pflücke ein paar. Das sind Pfefferkörner!

Im Hof einer der Bodegas wachsen an einem Baum große grüne Früchte, kürbisartig in der Form. Sie hängen mit einem Stil an dem Ast, wie überdimensionale Kirschen. Diese Früchte heißen porongo. Aus ihrer Schale werden Gefäße hergestellt, darunter der Becher für den klassischen Mate.    

So geht es, voller Eindrücke, nach Tijara zurück. Auf dem Weg zur Unterkunft komme ich an einem einfachen Lokal vorbei, das bolivianische Küche anbietet. Ich gehe kurzentschlossen rein und bestelle Saice, das typische Gericht von Tijara, das klassische Gericht des Chapacos.

Es ist ein Tellergericht, mit Reis, Hackfleisch, Tomaten, Kartoffeln, Yucca und chuños, den traditionellen Andenkartoffeln, die durch Wasserentzug haltbar gemacht werden. Eine frühe Form der Gefriertrocknung.

4. Februar (Dienstag)

Der Tag beginnt mit der Besichtigung der Casa Dorada. Die Führerin scheint anfangs etwas schroff, wärmt aber im Laufe der Führung auf. Außer mir sind nur zwei Argentinierinnen dabei, eine aus Buenos Aires, eine aus Mendoza.

Die Führerin zeigt sich ungehalten, als ich vom Castillo Azul und den verschlossenen Türen berichte. Sie schicke die Leute dahin, und dann würden die nicht öffnen.

Kaum glaublich, dieser Stadtpalast, die Casa Dorada, ist tatsächlich von einem Privatmann gebaut worden, für sich und seine Frau. Er hatte jüdische, sie spanische Wurzeln. Sie verdienten ihr Geld durch den Export von Gütern aus Europa, Luxusgütern in der Regel. In einem Raum sieht man Kataloge, groß, in schwarz-weiß, aber schon modern in der Anlage, mit Zeichnungen und Werbesprüchen. Es gibt Kleidung, vor allem lange, taillierte Frauenkleider, es gibt kupferne und silberne Gefäße zur Ausstattung des Salons, auch kunstvoll gestaltete Türbeschläge, Tapeten und schwere Leuchter und Teppiche, eben alles, was wohlhabende Menschen haben wollen.

Die Führerin erklärt, dass die Kundschaft keineswegs hier in Tarija zu finden war. Tarija war ein kleiner Ort, von Landwirtschaft geprägt, mit einer einfachen, armen Bevölkerung. Die Kundschaft für die Luxusgüter war in Potosí und Sucre zu finden.

Die Wohnräume befanden sich im Obergeschoss. Auch das hat Arkaden, die den Blick nach unten in den Innenhof gestatten.

Es gibt ein Prachtzimmer, das wohl nur der Repräsentation diente, ein Musikzimmer und sogar eine eigene Kapelle zu sehen! Überall falsche Decken. Was das genau ist, verstehe ich nicht, aber es scheint sich um bemalte Leinentücher zu handeln, die unter der eigentlichen Decke angebracht wurden. Das erspart die Deckenbemalung.

In der Sakristei sind Messgewänder ausgelegt, in den fünf liturgischen Farben, wie die Führerin erklärt. Welche sind das? Ich gucke mich schnell um: Weiß, Rot, Grün, Violett, Schwarz.

Im Musikzimmer stehen ein wertvolles Klavier deutscher Herkunft der Marke Blöhmer und ein kurioser Apparat, mit dem Klaviermusik gemacht wurde, ohne dass man Klavier spielen musste. Das funktionierte mit Lochkarten. Die wurden mit Pedalen betrieben, und wie durch ein Wunder spielte das Klavier Melodien ohne einen Klavierspieler.

In einem der Zimmer hängt ein Photo des Ehemanns und daneben eins der Ehefrau, fast vom Boden bis zur Decke reichend, beide in feinem Zwirn, für das Photo posierend. Man könnte meinen, dass es sich um Gemälde handelt. 

Das Unternehmerehepaar hatte keine Kinder, und als auch die Ehefrau, viele Jahre nach ihrem Ehemann verstarb, war nicht geklärt, was mit diesem Haus passieren würde. Keiner kümmerte sich darum, es verfiel, bis sich die Stadt seiner annahm und es zu einem Museum machte.

Alles sehr interessant, aber man hätte gerne noch etwas erfahren über den eklektischen Stil des Hauses und mögliche  Vorbilder in Europa. Auch was die Zahl der Portale angeht, neun auf jeder Seite, hätte man gerne eine Erklärung gehabt. Auf Nachfrage erfahre ich aber, dass das Gold an der Fassade kein Gold ist, sondern einfach ein goldener Farbton. Die vergoldeten Spiegel hier im Haus haben an einigen Stellen einen echten Goldüberzug.

Ich gehe durch den Mercado Central. Das ist der eigentliche Markt, in einer Markthalle, mit zwei Stockwerken. Sieht wie in Spanien aus. Der Markt hat sogar eine Rolltreppe. Ich kaufe zwei sündhaft teure Chirimoyas. Die sind so teuer, versichert mir die Verkäuferin, weil sie noch hart seien. Die reiferen, die zum sofortigen Verkehr, seien billiger.

An einem Stand sehe ich etwas, das wie ein Schwamm aussieht. Was ist das? Eine Bürste, zur Körperpflege. Aus Pflanzenfasern gemacht.

Auf dem Weg nach Hause sehe ich auf dem Bürgersteig eine Frau sitzen, die Feigen verkauft und eine Frucht, die tuna heißt, aus der Familie der Kakteengewächse. Gehört in Mexiko, wie es heißt, zur Standardküche. 

Jetzt komme ich ungewollt durch ein neues Viertel, weil ich einen anderen Heimweg ausprobiere. Wenn vorher an jeder Ecke eine Anwaltskanzlei war, ist jetzt an jeder Ecke ein Geschäft mit Küchenutensilien – vor allem Produkte aus Plastik – oder ein Geschäft mit Handyzubehör. Zum ersten Mal sehe ich eine Fahrschule. Dann kommen Geschäfte mit Brautkleidern, lang, perlenbestickt, und mehrere Schneidereien.  

Am Nachmittag geht es ins Museum, ins Munapar. Das ist das Museo Nacional Paleontológico Arqueológico de Tarija.

Ein Museum wie aus alten Zeiten. Keine Videos, kein Spielchen, kaum ein Photo. Exponate und Beschriftungen. Aber es lohnt sich.

Unten gibt es sehr gut erhaltene, fast komplette Skelette von prähistorischen Tieren, so etwas wie frühe Elefanten und Nashörner. Beeindrucken vor allem die riesigen Köpfe. Auch Pferde gab es!! Mit denen später dann die Spanier die Einheimischen beeindrucken konnten. Hier sind sie alle ausgestorben.

Interessant die Gegenüberstellung der Gebisse verschiedener Tiere, einige glatter, einige spitzer. Das hängt mit der Nahrungsaufnahme zusammen. Die Tiere mit dem glatten Gebiss fraßen vorzugsweise Gräser, die mit dem spitzen Gebiss Holz und Rinde.

Ursprünglich waren diese Tiere Einwanderer, aus Nordamerika. Im Pleistozän gab es eine große Wanderung über den Isthmus von Panama, in beide Richtungen. Sie hatten einen langen Atem: Die ersten von ihnen erschienen vor 2,5 Millionen Jahren, die letzten verschwanden vor 8.500 Jahren. Ist noch gar nicht so lange her.

Alle Funde, die hier ausgestellt sind, stammen von hier, aus der Provinz Tarija, und einige wurden vor gar nicht so langer Zeit gefunden. Auf einem Photo sieht man eine Familie vor einem Skelett posieren. Das war plötzlich bei Bauarbeiten in ihrem Innenhof aufgetaucht!

Auf Zeichnungen sieht man, wie die Tiere aussahen, alle merkwürdig für unseren Geschmack, vor allem durch die Kopfform. Könnten aus Science-Fiction-Filmen stammen oder aus Horrorfilmen.

Oben gibt es Fossilien, und gleich am Anfang meinen alten Favoriten, den Archaeopteryx,  aus der Heimat bekannt. In der Beschreibung werden auch tatsächlich Solnhofen und Eichstätt genannt.

Der Archäopteryx war ein Saurier der kleineren Art, und der tat etwas, was die gesamte Nachwelt prägen sollte: Er entwickelte an zwei Läufen den Ansatz von Federn – kann man hier in dem Fossil gut sehen – und konnte zwar noch nicht fliegen, aber doch durch die Luft gleiten, vielleicht von Baum zu Baum. Das Witzige bei ihm als „Vogel“ ist, dass er noch Zähne im Gebiss hat.

Dann gibt es ein sehr schönes Fossil von einem Seestern, mit fünf Armen. Man glaubt, das Tier selbst zu sehen, aber in Wirklichkeit ist es nur der fossilisierte Abdruck, den ein Seestern im feuchten Meeresboden hinterlassen hat.

Auch Baumstämme, Blätter und Zapfen sind in Fossilien erhalten. Bei den Zapfen kann man gut den Unterschied zwischen den glatten und denen mit Schuppen erkennen.

Dann kommt was ganz Merkwürdiges, zwei Fossilien, die man gar nicht identifizieren kann. Ein schwarzes in der Form einer Säule, ein braunes in der Form eines Haufens. Auf dem Schild davor steht Coprolito. Das macht mich auch nicht schlauer. Aber darunter die Erklärung: Es sind Fäkalien, Hinterlassenschaften der vorgeschichtlichen Tiere! Und so groß wie die waren, so groß sind auch die Haufen, die sie hinterlassen haben. Für die Wissenschaftler eine wichtige Quelle zur Erforschung der Ernährungsgewohnheiten dieser Tiere.  

Bei den Mineralien gibt es vor allem einige sehr schöne Exemplare zu bewundern, mit unterschiedlichen Farbschichten. Ein Stein sieht aus wie Gorgonzola.

Auf einer Schautafel wird gezeigt, wie die 35.000 Jahre der Menschheitsgeschichte Amerikas wären, wenn man sie auf ein Jahr reduzierte. Dann käme im Januar die Einwanderung, der Beginn der Landwirtschaft fällt in den September, die ersten Dörfer erscheinen erst im Oktober.

In einer Gipsform sieht man den Hombre de San Luis, den ältesten erhaltenen Körper Boliviens, auch der aus Tarija. Er ist in der Position eines Fötus begraben worden, hat eine Hand hinter dem Rücken, die andere unter dem Kopf, als Stütze sozusagen. Man schätzt ihn  7.000 bis 9.000 Jahre alt.    

Als ich schon gehen will, fällt mein Blick auf einen Stein, der am Eingang zu dem Museumsraum steht. Darauf befindet sich eine Kritzelei, eine kindlich aussehende Zeichnung eines lachenden, eher grinsenden Gesichts. Sicher kein Kunstwerk. Was für eine Bewandtnis hat es damit? Keine Ahnung. Dann sehe ich mir die Form des Steins genauer an. Es ist ein Phallus. Der Stein ist ein Fruchtbarkeitssymbol!

5. Februar (Mittwoch)

Ein dritter Versuch beim Castillo Azul endet auch erfolglos. Diesmal stehen auch andere Interessenten vor dem verschlossenen Tor. Eine Frau ruft an. Es sieht so aus, als müsse man einen Termin machen. Der für heute Vormittag ist aber schon ausgebucht.

Ich gehe zur Iglesia de San Francisco und komme dabei in ein Viertel, in dem ich noch gar nicht gewesen bin. Die Kirche, ein langer, einfacher Backsteinbau, vor den man einen mächtigen Glockenturm gesetzt hat, ist auch zu.

Aber das Cabildo hat auf. Ich bekomme sogar stante pede eine Führung.

Der erste Eindruck ist enttäuschend. Hinter der kolossalen, tiefroten Fassade des Hauses mit den starken Pfeilern erscheint ein moderner Bau, der zwar die Formensprache der alten Baus aufnimmt, aber doch ganz anders ist.

Der Bau war lange vernachlässigt worden und musste dringend restauriert werden. Die Restaurierung wurde einem deutschen Architekten anvertraut, der hier in Tarija lebt. Er stabilisierte den vorderen Teil, erneuerte den hinteren Teil und bezog auch noch den Bereich des ehemaligen Strafgefängnisses mit einem großen Innenhof mit ein. Daraus ergab sich ein großer, funktionaler Bau für die Stadt.

An einer Wand ist ein großes Gemälde angebracht, dass die Fassade so darstellt, wie sie ursprünglich war. Sieht schon anders aus, steinsichtig, aber die Arkaden sind geblieben.

Im ersten Stock ist der Ratssaal. Es gibt nur neun Abgeordnete. Die sitzen auf sehr bequem aussehenden Ledersesseln im Hufeisen um den Präsidenten herum. Trotz der unmittelbaren Nähe haben alle ein Mikrophon vor sich und eine elektronische Tafel.

Wie der Rat sich zusammensetzt und welche Parteien beteiligt sind, wird nicht gesagt. Auf jeden Fall werden sie gewählt, aber wie der Ablauf der Wahl ist, das bekomme ich nicht mit.

Ohne große Hoffnung, was zu finden, gehe ich in einen Klamottenladen. Kein Erfolg. Gleich nebenan ein ähnlicher Laden in einem fensterlosen, schlauchartigen Raum. An den Wänden in doppelten Reihen Röcke und Kleider und Hemden. Die kurzen Hosen liegen ungeordnet in einem Haufen auf einem Wühltisch. Ich mache mich etwas lustlos an die Suche. Man muss alles nach Augenmaß machen, denn die argentinischen Maße sind anders als unsere. Aber wie durch ein Wunder fische ich die richtigen raus. Bekomme gleich drei für 100 Bolivianos. Das sind gerade mal 15 $.

Auf dem Hinweg ist mir ganz in der Nähe des Apartments ein gutes Lokal aufgefallen, mit den auffälligen Namen El Fogón del Gringo. Das hat zwar nur Parillada und keine traditionellen Gerichte, aber es sieht alles sehr gut aus und riecht gut. Das Fleisch wird offen auf einem Grill vor dem Lokal zubereitet.  

Es geht alles sehr professionell zu, die Bedienung berät einen gut. Es gibt auch ein Salatbuffet, aber da herrscht bald Ebbe.

Das Fleisch, Ojo de Bife, wohl eine Art Rippensteak, ist außen knusprig, innen zart und sehr saftig. Mehr kann man nicht verlangen.  Dazu gibt es ein bolivianisches Bier, das ich bisher noch nicht probiert habe, Potosina.

Als ich schon fertig für die Abreise bin, kommt Anita, die Vermieterin, noch zum Kennenlernen. Bei der Gelegenheit nimmt sie das zusätzliche Geld für die späte Abreise in Empfang. In bar natürlich.

Sie kennt Palpalá und mag Argentinien, klagt aber über die Preise. Das Essen und die Kleidung vor allem, für sie Bolivianer sei das alles sehr, sehr teuer.

Sie macht viel Werbung für Bolivien, das sei ein Land mit großer Vielfalt, Natur, Essen, Menschen. Vor allem La Paz müsse ich unbedingt kennenlernen. Vor allem wegen ihrer Lage sei das eine ganz besondere Stadt. Passende Abschiedsworte an meinem letzten Tag in Tarija.

6. Februar (Donnerstag)

Die erste Stunde des Tages verbringe ich an der Grenze. Wir stehen draußen, stehen Schlange an einem einfachen Grenzwärterpavillon. Neben uns im Sand ein paar Autowracks.

Es ist ganz still, die Leute schweigen, man hört nur die Grillen. Und sieht den wunderbaren Sternenhimmel. Wir sind mitten in der Wildnis, hier stören keine Lichter den Blick in den Himmel.

Man wird reingelassen und dreht dann eine Runde, um erst an den bolivianischen Beamtinnen vorbeizukommen, dann an den argentinischen. Keine besonderen Kontrollen, keine Formulare, nur muss ich eine genaue Adresse in Argentinien angeben. Die von dem Busfahrer angekündigten 21 Bolivianos für die Ausreise werden nicht einkassiert.

Bevor wir weiterfahren, muss das ganze Gepäck aus dem Bus geholt und durchleuchtet werden.

Dann geht es weiter. Jetzt kann ich noch etwas schlafen. Damit war es bisher nichts, die Geräuschkulisse war zu groß. Im Fernsehen läuft ein unsäglich schlechter Film mit wilden, phantastischen Verfolgungsjagden und ständiger Knallerei aus futuristischen Waffen. Hinter mir schreit ein Kind, eine Frau hustet sich durch die Reise, mein Nachbar hört Hiphop und auf der anderen Seite des Ganges lässt eine junge Frau in regelmäßigen Abständen ihre Kaugummiblase geräuschvoll platzen.

Trotz der Dunkelheit kann man sehen, dass hier auch die Vegetation ganz anders ist. Bäume über Bäume, auf beiden Seiten der Straße, bis dicht an die Fahrbahn ran.

Dann kommen wir in Jujuy an. Trotz der frühen Stunde ist schon viel Bewegung am Bahnhof. Die Taxis stehen abfahrbereit.

Evangelina und Nicolás nehmen mich in Empfang. Er hat frisch gepressten Pfirsichsaft gemacht. Außerdem hat er die Steckdosen ausgetauscht. Seine Wäsche macht er selbst, und kochen kann er auch.

Nach einer kurzen Schilderung der Reise werde ich ins Bett entlassen, um Schlaf nachzuholen.

Evangelinas Mutter will nicht zum Essen kommen, also kommt das Essen zur Mutter. Wir schleppen die Schüsseln ins Auto, und los geht’s.

Der Hund, der tatsächlich Morcilla heißt, ist erfreut, mich zu sehen und leckt meine Hände. Homero, der eher wie eine Wurst aussieht, tut sich dagegen schwer mit mir. Entweder weicht er im Rückwärtsgang zurück oder er bellt aus vollen Kräften.

Evangelina hat gekocht. Ein Fleischgericht namens Bondiola (vielleicht Schweineschulter?) mit Reis und Salat. Das Essen ist ein Gedicht. Das Fleisch so zart wie man es sich nur vorstellen kann und sehr schmackhaft. Dazu gibt es frischen Zitronensaft.

Die alte Dame fragt nach der Reise. Immer wieder sagt sie, dass ich wohl nicht damit gerechnet hätte, nach Bolivien zu reisen. Das habe ich wirklich nicht. Wenn die beiden anderen von ihren Reisen nach Bolivien erzählen, kommt sie manchmal etwas durcheinander, was Entfernungen und Klima betrifft. Geht mir genauso.

Sie fragt nach meiner argentinischen Freundin in der Heimat. Ob die denn nicht mal wieder nach Argentinien kommen wolle.

Sie erzählt von ihrer Arthrose und dass die das Resultat eines Sturzes ist, den sie als Kind erlitten habe.

Nicolás erzählt, der Schulbeginn sei wegen des Karnevals verschoben worden. Aber nur für die Schulkinder. Die Lehrer müssen trotzdem pünktlich antreten. Und was machen sie dann da? Nichts. Ein paar Listen ausfüllen, ein paar Konferenzen bestreiten.

Evangelina hat bei ihrem Zahnarzt wegen eines Termins nachgefragt für eine Zahnreinigung. Der hat wider Erwarten gleich einen Termin für heute angeboten. 19 Uhr. Da sind bei uns die Zahnpraxen geschlossen.

Der Zahnarzt erscheint in sportlicher Kleidung mit Kopftuch und einer weißen Ärztejacke. Er ist Peruaner und betreibt die Praxis zusammen mit seiner Frau. Nach Peru müsse ich unbedingt reisen, sagt er, jeder Mensch solle einmal Machu Picchu gesehen haben, bevor er stirbt.

Die Praxis ist modern eingerichtet, man kann sogar das  Panorama der Zahnreihen auf einem Bildschirm sehen. Der einzige Unterschied zu uns ist die Abwesenheit einer Zahnarzthelferin.

Während der Behandlung erzählt er von einem Nachbarn, dessen Tochter in Deutschland verheiratet ist. Sie sei nach Machu Picchu gereist und habe dort einen Deutschen kannengelernt. Kurz darauf habe sie sich in Deutschland wiedergefunden.

Dann erzählt er von einem Freund, mit dem er gerade telefoniert hat. Der habe geweint. Er hat gerade erfahren, dass sein Sohn, 24 Jahre alt, Student in Buenos Aires, an Leukämie erkrankt ist.

Obwohl er Evangelina gut kennt, gibt es keinen Freundschaftspreis: 50.000 Pesos.

Auf dem Rückweg machen wir Halt an Evangelinas Schule. Das Gebäude, tagsüber eine normale Schule, verwandelt sich abends in eine Abendschule für Erwachsene. Dort unterrichtet Evangelina jeden Tag bis 22.30, vier Stunden am Tag. Ihre Schüler haben teils nie eine Schule besucht, teils keinen Abschluss bekommen, teils ihre früheren Kenntnisse verloren. Sie nehmen unregelmäßig teil, kommen manchmal gar nicht, manchmal verspätet, weil sie die Schule mit ihrem Arbeits- und Familienleben vereinbaren müssen. Auf dem Stundenplan steht alles, was auch in der Grundschule auf dem Plan steht, aber das Budget für Erwachsene ist beschränkt, und deshalb werden einige Fächer wie Sport oder Kunst nicht unterrichtet. Religion wird an staatlichen Schulen grundsätzlich nicht unterrichtet.

Die Schule sieht von außen ganz vorzeigbar aus, ein weißer, einstöckiger Bau mit blauen Kacheln an der Fassade und üppigen Pflanzen davor, ziemlich wild wachsend. Innen merkt man aber schon die Unterschiede zu Deutschland. Es ist alles sehr einfach, sieht etwas veraltet aus, die Türen sind aus Eisen, überall gibt es Gitter. Sieht wie eine Mischung aus Sporthalle und Gefängnis aus.

7. Februar (Freitag)

Evangelina übernachtet bei ihrer Mutter, und Nicolás ist kurz vor Mitternacht noch mal aus dem Haus gegangen. Ich bleibe mit dem jaulenden Homero alleine im Haus.

Die ganze Nacht hat es geschüttet, und der geplante Ausflug zu den Salinas steht auf der Kippe. Evangelinas Mutter hat in den Nachrichten gehört, dass die Straße dorthin gesperrt ist.

Nicolás hat in der Nacht noch Sport gemacht, Paddle, und jetzt steht er am Bügeleisen und bügelt sein Hemd. Den Fernseher bei der Oma hat er auch selbst installiert. Das nennt man vielseitig.

Er fährt mich anschließend zu einer Bank in Palpalá. Vor dem Geldautomaten eine lange Schlange. Als ich mich anstellen will, sagt mir jemand, nee, nicht hier, da hinten. Die Schlange geht auf der Straße weiter. Ich stelle mich an, aber es tut sich nichts, und wir geben es auf. Nicolás kennt noch einen weiteren Geldautomaten. Da stehen nur zwei, drei Leute an. Aber als ich eintreffe, kommt eine Frau kopfschüttelnd raus: „No hay.“ Es ist kein Geld da. Nicolás sagt, das passiere öfter. Am schlimmsten sei es an verlängerten Wochenenden wie Karneval, da müsse man dann mehrere Tage warten, damit wieder aufgefüllt wird.

Wir fahren zur Tankstelle. YPF. Das ist eine staatliche Ölgesellschaft. Die meisten Tankstellen gehören ihr. Wie? Kassiert dann der Staat den Gewinn aus dem Verkauf und die Steuern? Theoretisch ja, sagt Nicolás.

An der Tankstelle wird man bedient. Ich lasse meinen ganzen Charme spielen und überzeuge die junge Frau, bei mir zu kassieren. Nach einigem Zögern tut sie das auch. Kontrolliert aber meinen Personalausweis, als ich ihr die Kreditkarte gebe.

50.000 Pesos für einen vollen Tank für einen Ford Fiesta. Auf die Literzahl habe ich nicht geachtet. Aber es ist wohl etwas günstiger als bei uns.

Als wir zurückkommen, muss Evangelina noch kurz was einkaufen, und dann haben wir lange genug rumgetrödelt: Die Straßensperre ist wieder aufgehoben.

Evangelinas Mutter fährt auch mit. Normalerweise, sagt Evangelina, tue ihr der Kopf weh oder das Knie, und dann klage sie, dass sie nie aus dem Haus komme. Heute ist sie aber mit von der Partie.

Auf dem Weg zu ihr lässt Nicolás noch an einer Werkstatt den Reifendruck prüfen. Das macht der Mann gegen ein Trinkgeld.

Wir holen die Oma ab, und los geht’s. Im Radio laufen Lieder von Los de Jujuy. Eine weitere lokale Gruppe heißt Los Changos. Bei der Gelegenheit lerne ich, dass chango ein umgangssprachliches Wort für ‚Junge‘ ist.

Musik wird den ganzen Tag laufen, und es erweist sich, dass Mutter und Sohn den gleichen Musikgeschmack haben. Obwohl Nicolás Englischlehrer ist, laufen keine englischen Titel.

Wir fahren auf die Autobahn oder wenigstens eine gebührenpflichtige vierspurige Straße. Das ist die Route, auf der ich letzte Woche in der Nacht meine verrückte Fahrt nach Bolivien angetreten habe.

Plötzlich zeigt Nicolás auf die Berge am Horizont: Guckt mal! Da liegt Schnee. Wir sind bei 28°.

Wir kommen durch einen Ort, der León heißt. Hier wird mit einem Monument und einer jährlichen Gedenkfeier einer Schlacht gedacht, natürlich einer gegen die Spanier, einer von diesen Schlachten, wo auf der Seite des späteren Siegers Bauern mit Schaufeln, Sensen und Knüppeln in den Krieg ziehen.

Dann kommen wir in einen Ort, der Volcán heißt. Weit und breit kein Vulkan zu sehen. Dafür aber Eisenbahnschienen. Verkehrt hier etwa eine Eisenbahn? Ja, der Tren Solar. Er fährt an der Quebrada de Humahuaca entlang, bis Tilcara. Auf dem Rückweg sehen wir dann einen Zug. Sieht wie ein Schienenbus aus, wie es den bei uns früher gab.

Jetzt kommen wir in die Berge, eine wunderschöne, weite Berglandschaft mit baumbestandenen, hohen Bergen. So langsam tauchen zwischen den Bäumen nackte Felsen auf, und statt der Bäume haben die Berge jetzt nur noch Matten. Er herrscht aber weiterhin Grün vor. Jetzt sind wir nur noch bei 23°, wie Nicolás vermeldet.

Dann verlassen wir die Route des Tren Solars und biegen links ab, Richtung Chile. Die Umgebung wird immer rauer, die Berge immer phantastischer. Jetzt tauchen Kakteen und Zypressen auf. Die Felsen haben nur noch Bodendecker. Eine wilde Landschaft, ohne Zeichen von Zivilisation. Man ist geradezu gerührt beim Anblick dieser majestätischen Bergwelt.

Dann kommen wir zum Cerro de los Siete Colores, dem beliebtesten Fahrziel dieser Gegend, in jeder Broschüre vertreten. Vor uns liegt eine Bergkette mit hintereinander- und übereinanderliegenden Bergen. Jeder Berg hat seine eigene Farbe, einige Berge haben Farben in mehreren Schichten. Man kann zwar die Farben nicht so ganz haarscharf voneinander unterscheiden, aber ein prächtiger Anblick ist es auf jeden Fall.

Die unterschiedlichen Farben erklären sich aus den unterschiedlichen erdgeschichtlichen Epochen, in denen die Berge entstanden sind. Die ältesten sind Grau, Dunkelgrün und Violett. Es sind maritime Felsen, unvorstellbare 600 Millionen Jahre alt. Die jüngsten Felsen Hellrot und Rosa. Sie sind schlappe 21 Millionen Jahre alt.

Hier an der Haltebucht gibt es ein paar Verkaufsstände und Schilder mit Erklärungen. Nicolás trifft einen Kollegen mit seiner Frau. Ein schöner Mann und eine schöne Frau. Ich belasse es bei einer kurzen Begrüßung und gehe ein bisschen weiter die Straße runter, um Photos zu machen. Aber vergeblich. Der Anblick lässt sich nicht einfangen.

Jetzt geht es richtig nach oben, die Cuesta de Bárcena hinauf. Am Wegesrand ein umgestürzter Lastwagen. Der hatte Lithium geladen. Auf dem Rückweg sollen wir später sehen wir, wie die Stelle abgesperrt ist und die Ware gesichert wird.

Argentinien hat neben Chile und Bolivien die größten Lithiumvorkommen der Erde. Eine hervorragende Einnahmequelle. Aber es ist das alte Elend. Nicolás rechnet vor: Wenn man 100.000 $ für ein Kilo Lithium annimmt, dann bleiben 3.000 $ bis 7.000 $ in der Provinz.

Auch wenn der Cerro de los Siete Colores die meiste Reputation hat, diese Strecke steht ihm in nichts nach. Hier sind die Berge sogar noch ausladender. Die Farben treten nicht zusammen, sondern nacheinander auf, erst Grün, dann Grau, dann Schwarz, dann Rosa.

Hier wachsen Kakteen die Kakteen zu Tausenden. Die Felsen sind ansonsten nackt.

Wir kommen zu der Stelle, die heute Morgen gesperrt war. Durch den Regen war so viel Schlamm auf die Fahrbahn gespült worden, dass kein Durchkommen war. Jetzt sind die Bauarbeiter in den letzten Zügen mit den Aufräumarbeiten.

Statt der glatten Felsen tauchen jetzt auf der anderen Seite auch Felsen auf, die wie Stalagmiten aussehen, Hunderte von dunkelgrauen Stalagmiten. Sehen wie Orgelpfeifen aus. Leider verpasse ich die Gelegenheit, Nicolás bei einer Haltebucht rechtzeitig Bescheid zu geben, um ein Photo zu machen.

Es kommt die Rede auf die alte Konkurrenz von Salta und Jujuy. Evangelina beschwert sich, dass die von Salta alles Mögliche für sich in Anspruch nähmen, was eigentlich zu Jujuy gehöre. Von Salta aus werden Touren zum Cerro de los Siete Colores und zur Quebrada de Humahuaca angeboten, so als wenn es Ausflüge in die Provinz Salta wären. Auch im Fußball ist man sich spinnefeind. Die beiden Erzrivalen haben zu allem Übel auch noch ähnliche Namen: Gimasia de Salta und Gimnasia de Jujuy.

An einer Stelle endet der glatte Straßenbelag für ein paar Hundert Meter und wir fahren über Rollsplitt. Unter uns eine Brücke. Die sie, erklärt Nicolás, vor einiger Zeit eingestürzt. Der Rollsplitt ist noch das letzte Überbleibsel der Erneuerungsarbeiten.   

Immer weiter windet sich die Strecke hinauf, in Kurven. Zwei uruguayische Radfahrer quälen sich die Strecke rauf, genauso wie Sattelschlepper, die mit Autos beladen sind.

Inzwischen sind wir bei 18°, vermeldet Nicolás. Er kennt diese Strecke sehr gut. Er hat eine Zeitlang in Sijes gearbeitet, noch ein ganzes Stück näher an der chilenischen Grenze. Sonntagabends ab 22 Uhr ab Jujuy, Ankunft in Sijes um 2 Uhr. Kurzer Schlaf, und die Arbeitswoche begann. Er ist die Strecke zwar immer nachts gefahren, aber das sei auch schön gewesen, man habe die Lichterkette der Autos von oben sehen können.

Wenn es Probleme mit den Bussen gab, haben einige seiner Kolleginnen getrampt. Die Fahrer der Sattelschlepper hätten sie dann in den Autos mitfahren lassen, die sie transportierten.

Aus dem Nichts taucht plötzlich eine Kuh auf. Weiter unten ein paar Schafe, und über uns ein elegant durch die Luft gleitender schwarzer Vogel.

Hier kann man, wenn man ganz viel Glück hat, den Kondor sehen. Aber das Glück haben wir nicht. Nicolás erwähnt, der sei das Emblem von Aerolíneas Argentinas. Ich erwähne, dass wir den Kranich haben. Aber er glaubt, das wäre ein chinesischer Vogel. Das Missverständnis können wir nicht klären, das englische Wort kennt er nicht.

Wir nähern uns dem höchsten Punkt der Strecke. 12°. Unten im Tal ein abgestürzter PKW. Der liegt da sicher schon Monate oder Jahre da.

Der höchste Punkt ist mit einem Meilenstein markiert: 4.170 Meter. Hier steigen wir aus und machen Photos.

Von jetzt ab geht es bergab, und die Landschaft ist nicht mehr so dramatisch. Dann erreichen wir die Salinen.

Sieht auf den ersten Blick etwas enttäuschend aus. Man steht vor einer braunen Fläche. Meine Hoffnung, auf den Salzsee gehen zu können, sinkt, zumal der im Sommer bei dem vielen Regen manchmal unbegehbar wird.

Man kommt zu einem Besucherzentrum mit ein paar Verkaufsständen und Toiletten. Hier ist alles aus Salz: das Besucherzentrum, die Tische und Bänke, sogar das Lama, das man hier aufgestellt hat.

An den Verkaufsständen werden u.a. Sonnenbrillen angeboten. Kluger Schachzug. Die braucht man hier. Genauso wie Hüte. Wir sind mit allem ausgestattet. Dank Evangelina. Die Leute, die hier beschäftigt sind, sind alle dick vermummt, mit Mundschutz und Kopftuch.

Irgendwie schafft es Nicolás, einen Führer anzuheuern. Der fährt mit dem Motorrad voraus, und bald befinden wir uns mitten auf dem Salzsee. Alles weiß, wohin man auch guckt. Eine schier unendliche Fläche. Man fühlt sich wie in der Antarktis.

Wir fahren und fahren immer weiter, man hat nur die Wolken und die Berge als Orientierungspunkt, sonst ist alles gleich.

Dann halten wir an einem der Gräben, in denen das Salz gefördert wird. Die verlaufen kerzengerade, parallel zueinander, und durchziehen die ganze Fläche. Sie sind vielleicht einen halben Meter tief und einen halben Meter breit und mit Wasser gefüllt.

Die erste Überraschung, wenn man aussteigt: Es knirscht unter den Füßen wie im Schnee.

Wir stehen an einem der Gräben und tauchen den Finger ein. Das Wasser schmeckt ganz, ganz intensiv nach Salz. Es ist pures Salz. Was bedeutet das? Kein Jod-Zusatz.

Die zweite Überraschung. Die Salzfläche ist nicht formlos, sondern strukturiert. Sieht genauso aus wie Bienenwaben. Das ist ein natürlicher Prozess!

Unser Führer illustriert die formgebende Kraft des Salzes. Wir nehmen einen formlosen Haufen Salz aus dem Becken, und sofort er an die Luft kommt, verwandelt er sich in Kristalle. Unglaublich! Sieht wie ein Kunstwerk aus.

Dann kommen Erklärungen, denen ich leider nicht folgen kann. Auf jeden Fall ist dieser Salzsee kein ehemaliges Meer, wie Nicolás vermutete, sondern die Folge des Aufeinandertreffens von Erdplatten und der Wirkung von Vulkanen. In der Ferne, unter den Bergen, befinden sich mehrere Vulkane. Aber wie die Salz produzieren können, wird mir nicht klar.

Das Salz wurde in vorgeschichtlichen Zeiten hier schon von den Indios für ihre Tiere gesichert. In heutiger Zeit hat es alle möglichen Funktionen. Unter anderem dient es zum Weißen von Papier!

Dann werden Photos geschossen. Unter Anleitung des Führers. Der gibt Instruktionen, wie wir uns positionieren sollen und macht unter allerlei Verrenkungen, auch am Boden liegend, unendliche Photos von uns in den verschiedensten Konstellationen.

Dann geht es zurück, an den Buchstaben Salinas Grandes vorbei und einem Treppchen aus Salz. Auch hier werden Photos geschossen.

Dann kommen wir wieder ans Besucherzentrum. Wir setzen wir uns auf eine der Salzbänke und essen die Stullen, die Evangelina mitgebracht hat. Ganz nebenbei gelingt es mir, ein Salzkristall als kleine Erinnerung an den Ausflug für die alte Dame zu kaufen.

Die hat mitbekommen, dass die Touristen am Nebentisch, ein junges Paar, Deutsche sind. Das vermeldet sie ganz stolz.

Den ganzen Tag über haben uns Wolken begleitet, und die sind ein Schauspiel für sich, auch jetzt auf dem Rückweg. Über uns ganz dünne Schleierwölkchen, die alle möglichen Bilder formen, an der Seite ein Wattebausch, der auf einem Berg zu liegen scheint, dunkle Wolken am Horizont, einige davon mit einem Lichterkranz von der Sonne, die sich hinter ihnen versteckt. Auf dem Salzsee ganz dicke Wolkenpackungen, die ganz hinten auf dem Salz zu liegen scheinen.

Am Wegesrand Verkehrsschilder mit Warnungen vor kreuzenden Lamas. Nicolás findet den richtigen Moment für einen Photostopp. Leider sehen wir aber kein Lama, obwohl es die hier genauso gibt wie Alpakas und Vikunjas.

Ich frage Nicolás, ob er nicht müde sei nach dem späten Abend gestern und der anstrengenden Fahrt über die kurvenreiche Straße. Nein, ist er nicht. Es stellt sich heraus, dass er nachts von 12-2 noch Paddle gespielt hat. Jetzt, wo es so warm ist, wolle niemand über Tag spielen, und der frühe Abend war ausgebucht. Ich erfahre, dass Paddle eine Variante von Tennis ist, nur, dass das Spielfeld kleiner ist und Wände hat. Es wird immer im Doppel gespielt, und die Zählweise ist dieselbe wie beim Tennis.

Als wir nach Purmamarca kommen, leitet uns Evangelina in den Ort. Sie war vor kurzem mit ihrer Mutter hier und will uns den Ort zeigen.

Der ist richtig ansehnlich, aber man würde nicht auf den Gedanken kommen,  dass er zum UNESCO-Welterbe gehört. Vielleicht aufgrund der Umgebung.

Es ist ein sehr touristischer Ort, mit vielen Verkaufsständen, vor allem für Wolle, aber mit wenigen Touristen heute. Evangelinas Mutter scheint das zu bedauern. Beim letzten Mal sei es hier richtig voll gewesen. Für sie ist das ein Gütesiegel.

Schön ist vor allem der zentrale Platz. Hier spielen die Dorfjungen Fußball, und die Alten sitzen auf Bänken und genießen die Abendsonne.

Wir sehen uns kurz die Kirche an. Von 1648. So steht es über dem Eingang. Evangelina, ganz Geschichtslehrerin, weiß sofort, welche Bedeutung diese Jahreszahl für uns hat.

Die Kirche, einschiffig, ist ganz einfach, hat aber einen schönen gusseisernen Leuchter und vor allem eine schöne Holzdecke. Die Decke ist, wie Evangelina mir Ungläubigem versichert, aus cardón. Das ist ein Kaktus! Ein ganz besonderer Kaktus, der gerade in den Himmel wächst und bis zu 20 Meter hoch werden kann. Er entwickelt dann Stützen, um nicht umzufallen. Dieser Kaktus ist genau der, den wir auf der Fahrt in Tausenden von Exemplaren gesehen haben. Er ist nicht nur der größte Kaktus der Erde, sondern auch der langlebigste. Er kann zwei bis drei Jahrhunderte alt werden!

Wir gehen in ein Café und teilen uns zu viert ein Stück Kuchen. Das ist ausreichend. Ich verliere wieder beim Wettbewerb ums Bezahlen.

Nicolás spricht von der Wichtigkeit von Fernet für Argentinien. Das sei wie ein Nationalgetränk. Er selbst trinkt keinen Wein, schon mal ein Bier mit seinen Freunden, aber häufiger Fernet. Mit Coca-Cola und Eis.

Im Ort sehen wir mehrere Exemplare eines Baums, der Stützen braucht, um nicht umzufallen. Das ist der Algarroba. Ein Baum, aus dem Holz für solide Möbel gemacht wird, dunkelbraun, mit leicht rötlichem Einschlag. Evangelinas Haus ist voll von Möbeln dieser Art. Ich habe das Wort aber auch in Zusammenhang mit der Gastronomie gehört. Und die Früchte, die wie Hülsenfrüchte aussehen, werden auch für medizinische Zwecke verwendet.

Im Ort fällt mir eine Bodega auf, an der draußen Bebidas steht und daneben Tragos. Hier wird genau unterschieden. 

Über dem Eingang zu einem Eisenwarengeschäft hängen Hände, die ein Werkzeug in der Hand halten, richtiges Werkzeug, einen Bohrer, eine Schleifmaschine, einen Zollstock.

Als wir in der Dunkelheit wieder nach Palpalá kommen, haben wir zehn Stunden eines erlebnisreichen Tages hinter uns, und 260 Kilometer. Kam mir viel weiter vor.

Der erlebnisreiche Tag ist aber noch nicht zu Ende. Wir fahren, auf Vorschlag von Nicolás, zu einem Imbissstand. Hier wird davon als carrito gesprochen. Seine Mutter gehe lieber in ein Lokal, aber da sei das Essen schlechter als beim carrito.

Wie immer das auch sein mag, der carrito selbst ist ein Spektakel. Dicke Rauschwaden, die man schon von weitem sieht, und eine lange Schlange vor dem Stand. Es gibt drei Gerichte zur Auswahl: Choripán, Milanesa und ein Gericht mit dem wunderbaren Namen Matambre. Was der Unterschied zwischen den letzten beiden ist, verstehe ich nicht, aber die beiden anderen betonen, dass die nichts miteinander zu tun hätten. Alles wird in große Baguettes verpackt.

Am liebsten würde ich Choripán probieren, aber der ist noch nicht fertig. Das Fleisch ist noch nicht gar. Der riesige Wurstkringel liegt auf dem Grill.

Drei Männer sind beteiligt. Alles ist perfekt koordiniert. Einer brät in einer Pfanne große Fleischstücke an, der nächste bereitet die Sandwiches zu, der dritte verpackt und kassiert. Vor allem dem Mann in der Mitte zuzusehen ist eine Freude. Mit unglaublicher Geschwindigkeit schneidet er das Brot, füllt es mit dem Fleisch, fügt Salat hinzu und dann eine Soße. Dabei fragt er schon die nächsten in der Schlange, was die haben wollen.

Wir nehmen unsere Portionen mit nach Hause und essen sie dort. Dazu gibt es Fernet – mit Coca-Cola und Eis.

8. Februar (Samstag)

Das Vokabular für Essen und Trinken hat es in sich, aber auch das für Kleidung ist von keinen schlechten Eltern. In den letzten Tagen bin ich auf campera, remera und chomba gestoßen, alles neu.  

Auch auffällig, dass hier grande für ‚alt‘ gebraucht wird – oder gebraucht werden kann.

Mein Rucksack ist des vielen Reisens müde. Er setzt sich zur Ruhe. In Jujuy finde ich auf Anhieb einen Nachfolger. Nur mit dem Bezahlen wird es eng. Mit der Kreditkarte geht es nicht, und der Geldautomat gibt kein Geld raus.

Auf dem Rückweg ist der Bus rappelvoll. Und alle, wirklich alle, schleppen irgendein Bündel mit sich. Die Frau neben mir sogar eine große Topfpflanze. Der große Renner sind irgendwelche Sprühdosen. Die haben einige gleich dutzendfach gekauft. Ob das mit Karneval zusammenhängt?

Später, als die Hitze nachgelassen hat, schnappen wir uns die Fahrräder und machen uns auf den Weg.

Die Luft ist wunderbar, die Luft eines lauen Sommerabends.  

Die Räder sind sportlich, mit breiten Reifen, aber ohne Licht und Klingel.

Es war von einem Radweg die Rede, aber erst geht es die Straße entlang, und zwar auf der linken Seite. Dann kommt aber wirklich ein Radweg, bestens befahrbar, zwar immer an der Straße entlang, aber von ihr durch einen Grünstreifen und durch Planken getrennt. Wir teilen uns den Radweg mit Fußgängern und Joggern und auch mit Motorradfahrern, die ihn verbotenerweise benutzen.

Entlang des Radwegs befinden sich Kreuzwegstationen, in weißen Stein gemeißelte Reliefs. Dann kommen Marienstatuen, und irgendwo eine Messe im Freien. Das hat alles etwas zu tun mit der Verehrung der Ortsmadonna.

Als wir in Jujuy kehrtmachen, kommt ein Motorradkonvoi mit Hupkonzert und Jubelrufen an uns vorbei. Vorne auf dem ersten Motorrad ein Pokal, ein silberner Pokal, der so groß ist, dass er wie eine Standarte aussieht.

Auf dem Rückweg ist es viel stiller. Nicht mehr so viel Verkehr. Man hört die Grillen. Der Mond scheint. Und schon kommen die Fragen: Haben sie hier den zunehmenden Mond, wenn wir den abnehmenden haben? Oder ist das auf beiden Erdhälften gleich? Und: Ist dies ein abnehmender oder ein zunehmender Mond? Vorläufige Antwort: Wir haben beide gleichzeitig den zunehmenden Mond, aber hier wächst er „falsch“ herum.

Die Kreuzwegstationen sind jetzt beleuchtet. Sieht schön aus. Dann geht plötzlich das Licht aus. Stromausfall. Man steht von einem Moment auf den anderen in völliger Dunkelheit. Aber dann gewöhnt sich das Auge schnell daran, und wir können weiterfahren. In Palpalá schieben wir dann das Rad über die unmöglichsten Wege. Dabei kommen wir an einem Platz vorbei, den ich bisher noch nicht gesehen habe. Hier stehen überall Kakteen.

Als wir ankommen, haben die Geschäfte immer noch geöffnet, und ich komme doch noch zu meinem wohlverdienten Bierchen. 

9. Februar (Sonntag)

Bei brüllender Hitze (33°) geht es zum Busbahnhof. Morgen steht eine Fahrt zum Parque Nacional Calilegua an, und der Bus geht so früh, dass die Schalter dann noch nicht geöffnet haben.

Derweil hat Nicolás im Garten den Grill angeworfen, einen provisorischen Grill. Die Holzkohle glüht. Als Blasebalg dient ein alter Tischtennisschläger.

Dann wird aufgetischt. Eine riesige Fleischplatte, die für eine ganze Kompagnie reichen würde. Der Grillmeister ist der bescheidenste Esser, der Gast der unbescheidenste. Alles, ob Wurst oder Fleisch, ob Schwein oder Rind, ist erster Klasse. Da kommt man auch als Grillskeptiker ins Schwärmen. Dazu gibt es Salate und Andenkartoffeln. Schon deren Anblick macht Appetit. Als Getränk gibt es einen Malbec mit dem Namen Cordero de Piel de Lobo, in ironischer Umkehrung des Märchens mit dem Wolf im Schafspelz. 

Die Oma ist auch mit von der Partie. Sie bekommt nicht alles mit, kann aber beitragen, dass es im Mai eine besondere Kartoffelsorte gibt, die in knapp fünf Minuten gar ist.

Ich werde gefragt nach Grillen und Kartoffeln in Deutschland. Und scheitere kläglich an der Aufgabe, die anderen davon zu überzeugen, dass Grillen in Deutschland ebenso beliebt ist und dass es eine ganze Bandbreite von Kartoffeln gibt.

Ich frage Nicolás nach seinen Helden im Tennis. Die Nummer Eins für ihn ist Federer. Er ist einmal extra nach Buenos Aires gefahren, um ihn zu sehen. Er sollte gegen einen Argentinier spielen, aber der fiel verletzt aus, und da spielte Federer dann gegen Zverev. Und verlor prompt. Es war nur ein Schaukampf.

So viel verdienten die Tennisspieler nicht, meint er auf meinen Kommentar hin. Vielleicht 1-3 Millionen Dollar für einen Turniersieg. Na ja, nicht schlecht, wende ich ein. Ja, ja, aber die eigentliche Einnahmequelle seien die Verträge mit den Sportartikelanbietern wie Nike.

Nicolás ist Anhänger von Boca Juniors, obwohl der Fußball für ihn zweitrangig ist. Auf jeden Fall kann ich mit meiner Erzählung vom Besuch in der Bombonera trumpfen. Alle weiteren Erinnerungen an das Gespräch werden von dem Malbec getilgt.

10. Februar (Montag)

Beim Taxidienst geht niemand ans Telefon. Uber funktioniert hier nicht. Busse fahren zu so früher Stunde noch nicht. Und Nicolás ist mit dem Auto unterwegs.

Es bleibt mir nichts anderes übrig, als auf der Straße nach einem Taxi zu sehen. Aber es tut sich nichts. Ich gehe Richtung Busbahnhof und hoffe, dass irgendwann eins auftaucht.

Es geht durch die dunklen Straßen. Ein einsamer Radfahrer, schlafende Hunde vor den Hauseingängen, frühe Vögel. Ich lege noch einen Schritt zu. Irgendwann kommt ein Taxi, aber das ist voll.

In der Ferne erscheint der Busbahnhof. Es geht noch über einen Platz und eine Wiese, dann bin ich da. Rechtzeitig. Gott sei Dank. Ich sehe in mein Portemonnaie. Und finde die Fahrkarte nicht. Die hab ich wohl zu Hause liegen lassen. In der Schlange ein Mann, der sein Portemonnaie zückt. Kann man hier auch beim Fahrer bezahlen? Ja. Wieder Glück gehabt. Der Fahrer ist nicht gerade begeistert, das sei nicht seine Aufgabe, dafür gebe es doch Schalter, aber er verkauft mir eine Fahrkarte. Nach Libertador General San Martín. So einen komplizierten Städtenamen muten sich die Argentinier nicht zu und sagen einfach Ledesma. Das ist der Name des Departamentos, dessen Hauptstadt Libertador General San Martín ist.

Es ist noch dunkel, aber im Osten taucht das erste Morgenrot auf. Auf der anderen Seite blaue Berge, eine Bergkette, die in verschiedenen Blautönen schimmert. Oder zu schimmern scheint. Es ist das Morgenlicht.

Als es hell wird, kommen Zuckerrohrfelder in Sicht, kilometerlang. Verbindet man eigentlich nicht mit Argentinien.

Im Vorbeifahren sehe ich das Schild Parada de Remis. Das Wort wird hier, aber wohl nur in Argentinien und Uruguay, als Synonym von Taxi gebraucht. Habe es in den letzten Tagen mehrmals gehört, vorher aber nie. Streng genommen gibt es einen Unterschied. Die Remis kamen in Buenos Aires zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf, als es abends oft schwer war, nach dem Theater noch ein Taxi zu bekommen. Also füllten Privatpersonen diese Lücke. Sie boten ihre Fahrdienste an, durften aber nicht auf öffentlichen Straßen auf Fahrgäste warten. Man musste sie über eine Agentur oder eine private Rufnummer kontaktieren. Sie hatten keine einheitliche Farbe und durften nicht das Schild Taxi verwenden, mussten aber als Remis auf dem Nummernschild gekennzeichnet sein. Mit der Wirtschaftskrise des beginnenden 21. Jahrhunderts boten immer mehr Privatleute ihre Dienste als Remis an und hielten sich dabei nicht immer an die Vorschriften. Heute scheint das System irgendwie geduldet zu werden. Die Remis halten auch an öffentlichen Stellen. Sie haben aber keine Sicherheitsvorschriften und keine Unfallversicherung für mitgenommene Passagiere. 

Nach zwei Stunden sind wir da. Am Busbahnhof gibt es einen guten Kaffee in einem ganz einfachen Imbisslokal. Am Fernseher werden für heute bis zu 38° angekündigt.

Gibt es hier einen Geldautomaten? Ja, da hinten. Ich probiere mein Glück – wieder nichts. Langsam wird es knapp mit dem Geld.

Bei der Abfahrt gibt es Gedränge und bange Fragen: Ist das der richtige Bus? Es fährt nur einer pro Tag. Der Fahrer sitzt auf einer Treppenstufe und spielt an seinem Handy herum. Ja, das ist der richtige. Wo bezahlt man? Einfach einsteigen und setzen. Kassiert wird später.

Ein klappriger, alter Bus quält sich über eine schmale Straße, eine Schotterpiste. Wenn Gegenverkehr kommt, müssen Ausweichmanöver gemacht werden.

Es ist eine einsame Gegend, mit wuchernder Vegetation zu beiden Seiten, bis dicht an die Straße heran. Äste klatschen gegen das Dach oder streifen das Fenster.

Dann geht es bergauf. Immer und immer weiter bergauf, über unendlich viele enge Kurven.

Weiter oben lichtet sich die Vegetation und erlaubt immer wieder mal den Blick tief, tief hinunter ins Tal.

Irgendwann steht eine junge Frau auf. Sie kassiert. Ich sage, dass ich beim Río Jordán aussteigen will. Dort wartet mein Führer auf mich. In Ordnung. Sie will mir Bescheid geben. Dann beantwortet sie geduldig meine Fragen nach der Rückfahrt. Kalkuliert sogar die Stunden für mich. Ja, ich könne nach der Wanderung mit dem Taxi nach San Francisco fahren und von dort mit diesem Bus zurück. Wenn ich die Fahrkarte jetzt schon kaufe, könne sie mir einen Platz reservieren. Ist gebongt.

Es geht weiter. Als wir auf dem höchsten Punkt sind, sieht man weiter unten ein Zelt, und dann kommt eine Statue von San Francisco. Wir halten an dem Zelt. Wir sind angekommen. Mit mir steigen noch ein paar weitere Touristen aus.

Juan, mein Führer, wartet direkt vor dem Bus. Meinen Rucksack könne ich dort oben bei der alten Frau lassen. Da gebe es auch ein WC.

Oben bei der alten Dame kommt von irgendwoher dichter Rauch. Ich dachte zuerst, hier würde gekocht. Aber es ist wohl nur Rauch zur Mückenabwehr.

Das eigens mitgebrachte Mückenspray, sagt Juan, bräuchte ich nicht. Ich sei so dick eingepackt, da machten sich die Mücken nicht ran. Aber einen Helm muss ich aufsetzen.

Neben dem beträchtlichen Geld für die Führung wird auch noch für Versicherung und Eintritt kassiert. Alles vor dem Beginn der Wanderung zu entrichten. In bar.

Wir gehen einen Waldweg rauf. Steinig, aber gut machbar. Das sollte sich bald ändern.

Juan zeigt mir zuerst einen jungen Nussbaum. Daneben ein dicker, verdorrter Stamm eines Nussbaums. Der sei ein Baum des Wassers, sagt Juan, im Fluss könne er locker 50 Jahre alt werden.

Er erzählt, wie man früher aus der Baumrinde Dächer machte. Die Rinde wurde ganz vorsichtig, ohne dem Stamm zu schaden, entfernt und dann drei Monate getrocknet. Dabei wurde sie glatt und konnte zum Bau von Dächern verwendet werden.

Hinter einem Blatt deckt er ein paar ovale grüne Früchte auf. Was ist das? Tomaten! Chilto-Tomaten.

Die Gräser, die hier oft auf den Baumstämmen wachsen, gehören nicht zu dem Baum, erfahre ich jetzt. Es sind Parasiten. Sie bieten einen kuriosen Anblick.

Damit endet der „gemütliche“ Teil der Wanderung. Jetzt geht es über den Fluss, durch den Fluss und auf verwegenen Pfaden am Fluss entlang, wobei man sich an Halteseilen an den Felsen festhalten muss. Öfter als mir lieb ist, muss ich Juans Hilfe annehmen und mich an seiner Hand festhalten. Einmal sogar an seiner Schulter anlehnen, als es darum geht, auf dem Hosenboden einen Felsen hinunterzurutschen.

Der Name des Flusses, Jordan, hat nichts mit Palästina zu tun, sondern kommt von dem Nachnamen eines spanischen Eroberers.

Der Fluss ist eine echte Naturschönheit. Das Wasser ist glasklar, man sieht jeden Felsbrocken und jeden Kieselstein am Flussbett. Das Wasser ist wunderbar kühl und erfrischend, man kann es bedenkenlos trinken und sich Gesicht und Hände kühlen. Überall rauscht es, und immer wieder bilden sich kleinere Wasserfälle und Buchten. Am Ende geht der Jordan durch eine Schlucht mit hohen Felswänden.

An einer Stelle baden ein paar Touristen, tollen im Wasser herum und machen Kopfsprünge. Bei der Gelegenheit fällt mir auf, dass sie alle jung sind. Ich bin mindestens doppelt so alt wie der Älteste, dem ich auf der Wanderung begegne.

Wir kommen an verschiedenen markanten Punkten vorbei, der Fuente del Tapir, der Fuente del Jaguar und dem Cañon de los Loros. Tatsächlich ist hier einmal ein Tapir aufgetaucht, von Hunden verfolgt. Er hat sich in das Becken geflüchtet, das später seinen Namen bekam, mit dem Rücken zur Wand, und konnte sich so gegen die Hunde wehren.

Einen Jaguar gab es hier nie. Dieses Becken heißt so, weil es durch die hohen Bäume drum herum dunkel ist und die Sonne durch die Blätter Punkte zeichnet, die an das Fell des Jaguars erinnern.

Im Cañon de los Loros gibt es wirklich Papageien. Deren Schreie hört man von ganz weit oben, von den Bäumen oben auf der Felswand. In der Felswand befinden sich, Juan zufolge, die Nester der Papageien. Aber man sieht keine. Ich kann auch keine Nester entdecken. Die weißen Flecken an der grauen Felswand erinnern mich eher an den Kot der Kormorane bei uns an einem stillen Nebenarm.

Dann kommen die typischen Erklärungen von allen möglichen Gestalten, die man angeblich in der Felswand sieht: eine Madonna, einen Christus mit Kreuz, einen Tapir, eine Riesenschildkröte, das Gesicht eines Indios. Ich finde das immer etwas unangenehm, weil ich die Figuren einfach nicht erkenne und auch nicht vor Entzücken jauchze, wenn ich sie erkenne.

Nach der Wanderung geht es noch einmal zu der alten Frau rauf und ihrem abenteuerlich einfachen WC.

Dann bestellt mir Juan ein Taxi, um nach San Francisco zu kommen. Ich frage den Taxifahrer „¿Cuánto es?“, und er antwortet: Was? Kilometer? Minuten? Pesos? Alles. Dann sind es sechs Kilometer, zwanzig Minuten und 100.000 Pesos. Ha ha, das mit dem Preis müssen wir noch mal verhandeln. Also gut, dann ausnahmsweise 10.000 Pesos.

San Francisco kündigt sich mit einer großen Figur des Heiligen vor dem Ortseingang an. Es ist ein verschlafener Ort, der in der Hitze des Nachmittags brüht. Er hat eine Kapelle, San Francisco geweiht, mit einem schönen, dreistöckigen Turm, der Turm einer Dorfkirche, wie er sein sollte.

Über eine Treppe geht es in ein Lokal, wo es ein schmackhaftes Lammgericht gibt. Und ein eiskaltes Bier zum Abkühlen.

Danach gehe ich noch etwas durch den Ort und mache Photos von den hohen Bergen jenseits des Tals.

Dann flüchte ich mich in den Schatten eines Lokals mit Aussicht auf eben diese Berge. Ich bin der einzige Gast. Die Wirtin erzählt, das weiße Gebäude gegenüber, das sei die Grundschule. Und das in der anderen Richtung, hinter der Polizeistation, das sei die weiterführende Schule. Was? In diesem Nest gibt es eine weiterführende Schule? Ja. Kommen die Schüler von auswärts? Ja, aber nur ganz wenige. Die meisten kommen aus dem Ort. Und wo sind die? Ausgeflogen. Es sind Ferien.

Im Schatten des Lokals sitzen wir auf einer Treppe und warten auf den Bus. Eine pensionierte Lehrerin neben mir schimpft über Trump. Irgendwie kommt sie immer wieder auf die USA zu sprechen, auch nachdem ich ihr gesagt habe, dass ich Deutscher sei. Auch als ich Kommentare zu den Preisen in Argentinien macht, glaubt sie, ich spräche von den USA.

Dann kommt der Bus. Das Mädchen von der Hinfahrt erkennt mich und weist mir sofort meinen reservierten Platz zu. Und los geht’s.

Der Busfahrer, ein ganz junger Mann, fast noch ein Kind, fährt ganz lässig die steile kurvenreiche Straße runter, mit einer Hand am Steuer. Entgegen der Fahrtrichtung sitzt ein Polizist auf dem verlängerten Armaturenbrett und hält sich notdürftig an der geöffneten Tür fest. In dem Trittbrett steht auf der untersten Stufe ein rundlicher Mann, der sich so gut wie gar nicht festhält. Er stopft Schokodragees in sich hinein und dann Coca, bis eine Backe ganz aufgeblasen ist.

Die Passagiere sind, bis auf eine Handvoll Touristen, alle Ortsansässige. Alle schleppen ein Bündel mit sich herum. Einer eine alte Autobatterie, ein anderer einen ganz Sack voller Klopapier, eine junge Frau zwei Schoßhunde und ein junger Mann eine Musiksäule, ein moderner Nachfolger des alten Ghettoblasters.

Kurz bevor wir nach Ledesma reinkommen, hält der junge Fahrer mitten auf der einsamen Strecke an und übergibt das Steuer an den Dicken vom Trittbrett. Der ist Busfahrer!

Nach ein paar Stationen innerhalb der Stadt kommen wir endlich am Busbahnhof an. Als alle ausgestiegen sind, sehe ich, wie der junge Mann als einziger im Bus geblieben ist und den Busfahrer beim Rangieren dirigiert. Mir kommt ein Verdacht: Hat Daddy hier seinen Sohn fahren lassen?

Mein erster Weg führt ich zu einem Supermarkt, wo es eisgekühltes Wasser gibt.

Dann halte ich ein Taxi an. Hier gibt es nur Sammeltaxis, und der erste Fahrer sagt gleich, er könne mich mitnehmen, zur Posada del Sol. Für unschlagbare 1.600 Pesos.

Im Hotel erwartet Francisco, der Portier, mich schon. Er ist ausgesprochen freundlich und hilfsbereit. Fragt mich, ob ich am Río Jordán gewesen sei und wie das mit meinem Spanisch komme und erklärt, wo ich morgen früh Geld abheben könne. Er begleitet mich aufs Zimmer, erklärt alles und drückt mir ein Extra-Handtuch in die Hand. Für den Swimming-Pool.

Dahin führt mich dann auch gleich mein erster Weg. In dem nicht gerade kühlen Wasser des herrlichen Swimmingpools drehe ich ganz für mich alleine ein paar Runden unter dem Schein des Vollmonds.

11. Februar (Dienstag)

Am Morgen geht es zuerst zur Bank. Es ist schon wieder lecker warm, 29° um 10 Uhr. Ich frage mich durch und komme zu einem Geldautomaten. Nichts. Dann finde einen weiteren. Wieder nichts. Ich gehe in die Bank und bitte um Hilfe. Der Bankbeamte ist völlig inkompetent. Er erklärt mir, ich müsse meine PIN wechseln, solle meine Bank anrufen und überprüfen, ob genug Geld auf dem Konto sei. Und das, nachdem ich ihm gesagt habe, dass ich gerade meine Hotelrechnung mit eben dieser Kreditkarte bezahlt habe und dass ich in Bolivien mehrmals problemlos habe Geld abheben können.

Ich mache mich, Franciscos Rat vom Vorabend folgend, auf den Weg zu Ledesma. Das ist der Name, identisch mit dem des Departamentos, der hier ansässigen Zuckerrohrfabrik. Die hat ein Museum, und da ist der Eintritt sogar gratis. Es liegt in einem gepflegten Viertel mit einem hinter einer hohen Hecke halb versteckten hochherrschaftlichen Gebäude, vermutlich dem Wohnsitz der Unternehmerfamilie.

Dabei komme ich an einem Schild mit der Aufschrift Baden vorbei. Das scheint hier die Bezeichnung für die Bodenwellen zu sein, die zur Verringerung der Geschwindigkeit zwingen. Konkret bezieht sich baden nicht auf die Erhöhung der Fahrbahn durch gepflasterte Rampen, sondern auf Bremsschwellen, die auf die Fahrbahn aufgelegt werden.

Ledesma ist ein Familienbetrieb, der auf eine Anlage in der Kolonialzeit zurückgeht. Ledesma ist das größte Unternehmen des argentinischen Nordostens und eins der größten des Landes. In den letzten Jahrzehnten hat man neben dem Zuckerrohr weitere Zweige aufgebaut, vor allem den Anbau von Zitrusfrüchten und die Rinderzucht. Der Basisbereich ist das Zuckerrohr, aus dem Zucker und Getränke hergestellt werden (Argentinien ist nicht sonderlich bekannt für seinen Rum), aber auch Papier und Kladden, vor allem für den Schulgebrauch. Zucker und Rum werden aus dem Saft des Zuckerrohrs gewonnen, Papier und Kladden aus den Fasern.

An einem großen Modell kann man gut die ganze Anlage erkennen: Fabrikhallen, Silos, Grünflächen, Wildwächterhäuschen, einen Waldbereich, der von wilden Tieren bewohnt wird. Die Zitrusfrüchte werden per Hand von Erntehelfern auf Leitern gepflückt und von Traktoren abtransportiert, die Zuckerrohrernte ist voll automatisiert.

Die Größe der Ernte lässt sich daran ermessen, dass pro Jahr 48.000 LKW-Ladungen von Zuckerrohr geerntet werden. Die Ernte, die hier zafra heißt, dauert von Mai bis Oktober. Das Rohr wird bis auf etwa 20 Zentimeter über dem Boden abgeschnitten, und schon im nächsten Jahr ist die Pflanze wieder voll nachgewachsen. Auf durchschnittlich sechs Metern Höhe. Bei Neupflanzungen ist die erste Ernte bereits im Folgejahr fällig.

Der Zuckerbedarf der Erde wird zu 70% aus Zuckerrohr gedeckt, zu 30% durch die Zuckerrübe, die vorwiegend in Europa und den USA angebaut wird.

Die gesamte Energie des Betriebs wird aus der Biomasse gewonnen, die bei der Ernte als Abfall entsteht.  

Das Zuckerrohr braucht ein feuchtes und warmes Klima, und das gibt es hier in der Yunga. Allerdings erfolgt die Bewässerung durch künstliche Bewässerungssysteme, um jederzeit eine gleichmäßige Menge zu erhalten.

Das Zuckerrohr kommt ursprünglich, obwohl wir es mit der Karibik verbinden, aus Neu-Guinea. Die Spanier haben es dann aus ihrer Kolonie Philippinen mit nach Amerika gebracht.

Alle Decken des Museums und auch die des Ganges im Innenhof sind aus Zuckerrohr. In dem Innenhof hat man außerdem ein Schaustück einer Zuckerrohrplantage  angelegt.

Dekoriert ist der Innenhof mit allen möglichen Figuren, darunter einem Jaguar, die nur aus alten Maschinenteilen bestehen. Am schönsten eine Kugel aus Bolzen und Schrauben.

Ich lasse es dabei bewenden und mache mich auf den Heimweg. In den  nächsten Tagen fallen mir in Cafés immer wieder die Zuckertütchen von Ledesma auf.

12. Februar (Mittwoch)

Homero leckt an meinen Beinen. Da muss was Interessantes dran sein. Vielleicht sind es die Mückenstiche. Die Mücken haben keine Veranlassung gesehen, von mir abzulassen – trotz der gegenteiligen Versicherung meines Führers im Nationalpark.

Evangelina zeigt mir ein Video, das ihr Bruder geschickt hat, von seiner letzten Strecke auf der Rückreise nach Feuerland. Sie fahren durch Schneeregen an den schneebedeckten Bergen vorbei.

Gleichzeitig kommen Nachrichten von Waldbränden aus Patagonien. Es heißt, die seien kein Resultat von Nachlässigkeit oder Hitze, sondern von Brandstiftung. Portugal lässt grüßen.

Wir haben eine sprachliche Meinungsverschiedenheit: Ich behaupte, es heiße gorronear, Evangelina behauptet, es heiße garronear. Ich bin felsenfest überzeugt, richtig zu liegen, denn gorronear muss mit gorro zusammenhängen, also dem Hut, den der Schnorrer aufhält. Evangelina ist felsenfest davon überzeugt, richtig zu liegen, denn garronear muss von den garras kommen, den Klauen, mit denen der Schnorrer sich deiner Sachen bemächtigt. Wir sehen nach, und es findet sich eine versöhnliche Antwort: Es ist gorronear in Spanien, garronear in Argentinien!

Mir ist schon öfter aufgefallen, dass sich an den Stromleitungen hier kleine Büschel von Pflanzen festsaugen. Evangelina findet die richtige Internetseite. Die sagt, bei denen handele es sich um einen festen Bestandteil der städtischen Landschaft, nur, dass die oft übersehen werde, weil man dafür nach oben gucken müsse. Diese Pflanzen krallen sich nicht nur an Stromleitungen fest, sondern auch an Bäumen und Dächern, an allem, woran sie sich festhalten können. Ihr wissenschaftlicher Name ist Tillandsie, hier sind sie auch als Nelken der Luft bekannt, bei uns als Luftpflanzen. Sie haben die Fähigkeit, epiphytisch, also auf anderen Pflanzen zu wachsen, geradezu perfektioniert. Merkwürdigerweise gehören sie zur selben Klasse wie die Ananas. Was der auskunftsreiche Artikel nicht erklärt, ist, warum einige Stromleitungen voll von ihnen sind, aber andere ganz frei von ihnen.

Wir fahren in die Stadt, um Besorgungen zu machen. Als wir aus dem Bus aussteigen, grüßt Evangelina freudig eine Nachbarin, die gerade einsteigt. Solche Begegnungen wiederholen sich im Laufe des Vormittags. Insgesamt zähle ich sechs, die meisten mit Kolleginnen oder ehemaligen Kolleginnen.  

Zuerst geht es in ein Kurzwarengeschäft, ganz so wie wir es von früher kennen. Alles voller Rollen und Bändern und Fäden und Knöpfen, auf allen Seiten Schublade über Schublade. Und über dem Tresen hängen Etiketten aller Art zum Aufnähen. Wir kaufen einen einzelnen Knopf und eine Rolle Faden und dürfen ein Photo von diesem herrlichen Laden machen.

Danach geht es zu Western Union. Meine letzte Zuflucht, nachdem nirgendwo Geld zu beschaffen war. Ich habe Evangelina Geld überwiesen, sie soll es abholen und mir geben. Aber vor der Filiale von Western Union ist wieder eine unendliche Schlange. Warum? Hier kann man auch seine Rechnung für Strom und Wasser bezahlen.

Stattdessen geht es in eine Einkaufspassage. Auf verzweigten Wegen, vorbei an Geschäften mit schönen, geschmackvollen Möbeln, geht es in einer ganz versteckten Ecke zu einem Uhrmacher. Mit dem hat die Familie nur gute Erfahrungen gemacht. Ich bekomme auf Anhieb ein dringend benötigtes neues Armband. Für 12.000 Pesos. Absolut in Ordnung.

Dann geht es zu einer anderen Filiale von Western Union. Auch hier eine Schlange. Aber die bewegt sich schnell. Wir kommen in ein dunkles Kabuff, aber alles läuft ordnungsgemäß ab. Und ich habe wieder Geld für die nächsten Tage.

Danach geht es in eine Apotheke. An der Wand ein großes Schild mit Werbung  für Paracetamol von Bayer. Das, sagt Evangelina, sei hier oft beim Dengue-Fieber verschrieben worden.

Wir gehen in ein Café, um das frisch verdiente Geld auszugeben, aber bekommen nichts. Stromausfall!

Dann kommen wir an einem Handygeschäft vorbei. Hier bekommen wir eine Hülle für mein und eine neue Hülle für Evangelinas Handy. Und ich bekomme eine Schutzfolie für mein Handy. Der junge Mann macht das sehr gut, sehr sorgfältig.

Auf dem Weg zum Busbahnhof finden wir dann doch noch ein Café, wo es Kaffee gibt.

Wir kommen an mehreren Monumenten oder Plätzen vorbei, die was mit Belgrano zu tun haben. Das ist einer der Heroen des argentinischen Freiheitskampfs. Im Gegensatz zu San Martín war er kein General, sondern Anwalt. Er schloss sich aber der Bewegung an und diente als Befehlshaber einer Heereseinheit.

Vom Bus aus sehe ich ein Lokal mit dem Namen Panchamama. Ein Wortspiel mit Pachamama, der Mutter Erde der indigenen Völker, und Pancho, einer Art Hotdog.

Später, als es kühler wird, gehen wir zu dem Platz mit den Kakteen. Die machen sich im beginnenden Zwielicht sehr gut als Photo-Objekte, vor allem die mit den Früchten an den Blättern.

Im Zentrum des Platzes ein Denkmal, das an die Ursprünge des Landes erinnern soll und zwei Indios mit Weihegefäßen zeigt, die in die Luft gereckt werden. Das Denkmal ist aber nicht sehr gelungen. Die Figuren sind zu groß und zu athletisch und zu pathetisch und, einer Kollegin Evangelinas zufolge, eher Indios der Karibik als des Südens.

Von hier aus geht es zum Busbahnhof, um die Fahrkarten für morgen zu kaufen, für die Fahrt in die berühmte Quebrada de Humahuaca. Mal wieder ist alles schön kompliziert, man kann keine Fahrkarte von hier nach Humahuaca kaufen. Man muss zwei verschiedene Karten kaufen, obwohl es ein und derselbe Bus ist. Dann müssen wieder Angaben gemacht werden, einschl. der Passnummer, und schließlich gibt es Probleme bei der Bezahlung per Handy. Dass es am Ende doch gutgeht, grenzt an ein Wunder.

Auf dem Rückweg werden wir an jedem zweiten Haus von plötzlich aus dem Dunkel hervorstürzenden und wild bellenden Hunden erschreckt. Und dann erwischt uns auch noch das aufziehende Gewitter. Hoffentlich gibt es morgen schönes Wetter.