Bergamo (2023)

23. Oktober (Montag)

Die Bergamotte, die unsäglich bittere Frucht, der ich in Griechenland begegnet bin, ein Art Pomeranze, die sich dann aber in einem süßen Nachtisch gut machte und die in ätherischen Ölen und im Earl Gray verwendet wird, hat nichts mit Bergamo zu tun. Sie kommt von Bergama, dem heutigen Namen des antiken Pergamons, dessen Wurzel, perk, direkt in Verbindung steht zu Berg und Burg.

Die Bergamasca, ein schneller bäuerlicher Tanz, der am Ende von Shakespeares Sommernachtstraum getanzt wird, die kommt dagegen wohl aus Bergamo. Woher Shakespeare sie kannte, ist unklar. In Bergamo ist er wohl nie gewesen.

Ich aber. Oder auch nicht. Nur einmal, bei einer Städtetour nach Mailand, habe ich Bergamo, eher unfreiwillig, betreten, weil die Billigfluglinie nicht den Flughafen von Mailand, sondern den von Bergamo anflog. Das wenige, das ich damals gesehen habe, macht Lust auf mehr.

Bergamo liegt nicht in der Toskana, nicht in Sizilien und ist nicht Venedig oder Rom. Scheint stattdessen aber zu der Klasse von Städten zu gehören, die es mir in Italien besonders angetan haben, die Lucca, Ascoli, Bologna, Perugia.

Das ist schon meine 17. Reise nach Italien, und das, obwohl die letzte schon 6 Jahre zurückliegt und es 40 Jahre bis zu der ersten Reise gedauert hat.

In einem etwas schmalbrüstigen Reiseführer, den ich im letzten Moment ergattert habe, erfahre ich, dass Bergamo der Geburtsort von Donizetti ist. Er kam aus ganz armen Verhältnissen, als eins von sechs Kindern, die zusammen mit den Eltern in zwei Zimmern wohnten. Sein Leben machte eine Kehrtwende durch einen deutschen Komponisten namens Mayr, der sich Bergamo niedergelassen und dort eine Musikschule für Kinder gegründet hatte. Donizetti blieb dem Mann ein Leben lang verbunden und vergaß nie, was er ihm zu verdanken hat.

In dem Reiseführer heißt es, dass die Besonderheit von Bergamo die Doppelstadt ist, die historische Oberstadt, die Città Alta, und die neuere Unterstadt, die Città Bassa, die wohl erst im 19. Jahrhundert entstand, aber ältere Wurzeln hat. Das mit den zwei Städten ist sicher ein Charakteristikum von Bergamo, aber keine Alleinstellungsmerkmal: Lissabon, Saloniki, Marburg, Luxemburg teilen diese Charakteristik.

Unterwegs lese ich in dem Roman von Italo Calvino, den ich mir für die Reise mitgenommen habe, Il visconte dimezzato. Der deutsche Titel lautet Der geteilte Visconte. Ich hätte Der zweigeteilte Graf gesagt, auch wenn visconte und Graf nicht genau dasselbe ist.

Calvino wurde in Kuba geboren, in der Nähe von Havanna (auf Italienisch L’Avana), kam aber schon mit zwei Jahren nach Italien, nach San Remo und betrachtete sich selbst ein Leben lang als Italiener, als Ligurier. Er wuchs in einer ungewöhnlichen Familie auf, Naturwissenschaftler, Kosmopoliten, Freidenker. Er hatte einen Onkel, der Chemieprofessor und mit einer Chemikerin verheiratet war und zwei Tanten, die Chemikerinnen und mit Chemikern verheiratet waren. Er war das „schwarze Schaf“ der Familie und interessierte sich für Literatur.

Seine Eltern waren auch als Menschen ganz „unitalienisch“. Seine Mutter war, ihm zufolge, äußerst streng, herb, rigide, und auch sein Vater war streng, wenn auch mit einem aufbrausenderen Temperament versehen. 

Als Vorwort gibt es einen Auszug aus einem Interview mit Calvino, das alleine ist schon das ganze Geld für das Buch wert. Calvino sagt, er habe die Geschichte geschrieben, um sich selbst zu unterhalten, und Unterhaltung sei ohnehin der wichtigste Zweck von Literatur.  Angaben zu seiner Person mache er nur ungern und manchmal streue er dann ein paar Abweichungen von der Wirklichkeit ein, die dann von allen übernommen würden. Er hätte immer ein merkwürdiges Gefühl, wenn er sich in Lebensläufen aufgezeichnet sehe. Die sagten herzlich wenig aus.

Beim Visconte geht es darum, dass ein zweigeteilter im wörtlichen Sinne zweigeteilter) Graf nach einer Schlacht gegen die Osmanen in seinen Heimatort zurückkehrt. Die eine Hälfte ist böse und tyrannisiert die Bewohner. Dann taucht die gute Hälfte auf. Sie ist voller Mitgefühl und will allen beistehen. Und am Ende? Am Ende geht die eine Hälfte den Bewohnern genauso auf die Nerven wie die andere!

Als wir in Bergamo landen, ist der Himmel bedeckt und es kommt kein Sonnenstrahl hervor. Aber es ist nicht kalt und es regnet nicht. Noch nicht. Für den Rest der Woche ist fast ununterbrochen Regen angesagt.

Auf dem Weg zum Ausgang wird man darauf aufmerksam gemacht, dass Bergamo, zusammen mit Brescia, der Partnerstadt, in diesem Jahr Italiens Kulturhauptstadt ist. Das farbenfrohe Logo dafür sieht man überall in der Stadt.

Außerdem wird man darauf aufmerksam gemacht, dass Bergamo die Stadt ist, in der die Stracciatella erfunden worden ist. Im Reiseführer steht sogar die Eisdiele, deren Betreiber die Stracciatella erfunden hat.

Die Dame bei der Touristeninformation am Flughafen ist freundlich und effizient. Ich bekomme, beinahe ungefragt, alles, was ich will, vor allem einen Stadtplan. Und genaue Informationen, wie ich zu meiner Unterkunft komme. Die ist in der Unterstadt. Sogar das Busticket kann ich bei ihr bekommen, gleich für drei Tage, für 14,50 €. Ob ich denn überhaupt ein Busticket brauche, will ich wissen, ich wollte eigentlich alles zu Fuß machen. Nein, meint sie, das sei doch ein bisschen weit. Damit sollte sie Recht haben. Mehr als mir lieb ist.

Ich muss in den Flughafenbus und dann an der Porta Nuova umsteigen. Ich habe gerade noch versucht, mich zu erinnern, was Rucksack auf Italienisch heißt – vergeblich. Eine Frau auf einem anderen Sitz tut mir den Gefallen und macht eine Bemerkung zu dem Rucksack des jungen Mannes an ihrer Seite: lo zaino. Danke!

Angeblich sind es nur drei Kilometer bis in die Innenstadt, aber das kommt mir weiter vor. In der Nähe des Stadtzentrums sieht man noch gelegentlich verlassene Telefonzellen. Unglaublich, wie schnell die aus der Zeit gefallen sind. Ob sie heute noch benutzt werden?

Die Haltestellen werden im Bus nicht angekündigt, und die nächste Haltestelle ist etwas schwer zu finden. Da muss man sich durchfragen. Die Porta Nuova scheint so etwas wie das Zentrum der Unterstadt zu sein. Dann geht es mit einem anderen Bus weiter, der 9. Der erste Teil der Strecke geht durch ein Spalier von schönen Gebäuden, dann kommen Außenviertel, und mein Herz sinkt, als die Haltestelle nicht kommt und immer noch nicht kommt. Im Routenplaner hieß es 39 Minuten zu Fuß zur Altstadt, jetzt sieht es eher nach 39 Minuten mit dem Bus aus.

Das Haus, in dem die Unterkunft ist, ein mehrstöckiges Haus, liegt gleich an der Haltestelle. Dann passiert das, was ich immer heimlich befürchte: Niemand antwortet auf mein Klingeln. Die Vermieterin hatte immer sofort auf meine Nachrichten geantwortet, nett und auch ausführlich, hatte aber meine Fragen nicht beantwortet. Beim dritten Klingeln öffnet sich dann die Tür. Eine junge Frau öffnet, aber sie ist selbst nur eine Mieterin. Dann kommt die Frau, die für die Einweisung zuständig ist. Sie ist nicht die Vermieterin. Es geht alles sehr schnell, ein bisschen zu schnell für meinen Geschmack. Ihr ist das wohl alles eher lästig. Kurz macht sie mich noch die Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite aufmerksam und erklärt, ich könne die 8 oder die 9 nehmen. Mit ihrer Einschätzung „5 Minuten bis zur Porta Nuova“ liegt sie allerdings ganz schön daneben. Sie sagt noch schnell, dass es auf dem Weg in die Stadt einen Carrefour gebe und ein Restaurant, Al Carroponte, aber das scheint wirklich nicht auf dem Weg zu liegen. Dann ergänzt sie noch, in der Innenstadt, da gebe es natürlich „jede Menge Lokale“. Das sagen alle Vermieter. Sonderlich hilfreich ist es nicht.

Das Apartment ist modern und geschmackvoll eingerichtet, aber alles ist etwas unpraktisch. Überall fehlt es an Steckdosen, wenn man den Wasserkocher anmachen will, muss man den Kühlschrank ausstellen. In dem großen Schrank gibt es eine Stange, aber keinen einzigen Bügel, und die beiden Regalflächen sind fast vollständig von Decken belegt. Der Müll wird perfekt getrennt, aber es gibt nur Sondermüll. Was macht man mit dem Restmüll? Das Bad ist perfekt, aber auf dem Flur. Und einen Schreibtisch hat das Zimmer auch nicht. Für das, was das Apartment bietet, ist es zu teuer. Aber die vorherigen vier Anläufe bei unterschiedlichen Anbietern, teils in der Oberstadt, waren alle fehlgeschlagen.

24. Oktober (Dienstag)

Bergamo liegt, grob gesprochen, zwischen dem Comer See im Westen und dem Gardasee im Osten. Etwa eine Stunde entfernt sind Mailand und Brescia. Auch nach Monza ist es nicht weit.

Die Broseta scheint eine wichtige Einfallstraße zu sein. Ich setze mich an den Tisch im Wohnzimmer und wundere mich, wie laut es ist. Dann merke ich, dass das Fenster offen ist. Aber auch so ist der Lärm nur abgetönt. Man hört die Busse und die Laster und die Krankenwagen und laute Musik. Die kommt von der gegenüberliegenden Bushaltestelle. Dort stehen die Leute im Regen und warten auf den Bus.

Statt auf die 8 oder 9 zu warten, nehme ich den ersten besten Bus, in der Annahme, dass alle ins Zentrum fahren. Das bereue ich fast, aber es geht gut aus. Ein freundlicher Mann im Bus erklärt mir nicht nur, wo ich aussteigen muss, sondern auch, wohin ich von der Bushaltestelle gehen soll und wie ich in die Città Alta komme.

An der Haltestelle brauche ich nur einmal um die Ecke gehen, und schon stehe ich an der Porta Nuova. Das erste, was ich sehe, ist merkwürdigerweise auf der anderen Straßenseite das Fangeschäft von Atalanta Bergamo.

Ein Mann mit Regenschirm spricht mich an und fragt mich, was ich suche. Die Touristeninformation. Oh, das weiß er auch nicht so genau. Die sei früher hier gewesen. Er zeigt mir noch das Teatro Donizetti und die Torre dei Caduti und schickt mich dann zum Bahnhof. Soll mir recht sein, ist nicht weit.

Es regnet in Strömen, und wenn man mal das Gefühl hat, dass der Regen etwas nachlässt, schlägt er erneut zu. Die afrikanischen Straßenhändler haben schnell reagiert und verkaufen Regenschirme. Erinnert mich an eine ähnliche Situation in Florenz, wo ich mal für 10 DM einen riesigen Schirm gekauft habe, der dann lange Jahre seine Dienste tat.

Im Bahnhofscafé bekomme ich einen Cappuccino und eine Brioche. Beides nichts Besonderes.

Dann geht es zur Touristeninformation. Die Frau hinter dem Schalter ist ausgesprochen freundlich und hilfsbereit. Sie ist auch geduldig und bleibt beim Italienischen, auch wenn ich mich ständig verdattere.

In erster Linie möchte ich wissen, wie ich in das WiFi-Netz der Stadt Bergamo gelange. Ich habe zuhause eine SMS geschickt und eine Geheimzahl bekommen, aber weiß nicht, wie es weiter geht. Ganz einfach, meint sie. Einfach den Einstellungen nach dem Netzwerk suchen und sich dort anmelden. Ja, aber wo ist das? Sie sieht überrascht auf mein Handy – nichts. Dann probiert sie es auf ihrem – nichts. Die Stadt Bergamo erscheint einfach nicht. Wir versuchen dann, den Namen des Netzwerks einzugeben. Wird nicht erkannt. Sie ist ganz verdutzt. Muss wohl am Wetter liegen. Ganz überzeugt klingt sie nicht. Ich solle es einfach im Laufe des Tages wieder versuchen. Das tue ich. Aber ohne Erfolg.

Dann gibt sie mir Informationen über Bergamo, erklärt alles glasklar. Die Dinge in der Città Bassa, die ich besichtigen will, sind alle ganz in der Nähe. Leider sind sie gar nicht oder nur am Wochenende geöffnet.

Dann frage ich noch nach einem Reiseführer. Sie präsentiert drei und sagt mir, ich könne mir die in Ruhe ansehen. Am liebsten würde ich alle drei nehmen, entscheide mich dann für den mit dem kleinsten Format. Der hat auch einen praktischen Teil. Im Laufe des Tages merke ich dann, dass er zwar eine ganze Menge Stadtgeschichte und was zur Geschichte der Gebäude hat, aber kaum mal ein Detail über die Sehenswürdigkeiten.

In der Zwischenzeit spricht sie mit einem spanischen Touristen – in fließendem Spanisch. Vorher hat sie mit englischen Touristen fließend Englisch gesprochen. Als der Spanier geht und ich meinen Reiseführer bezahle, sprechen wir dann eine Weile Spanisch. Sie spricht ungewöhnlich gut, keine Interferenzen vom Italienischen und wenig Akzent. Ja, die Fremdsprachen, das sei schon immer ihr Hobby gewesen.

Die Avenue, die schnurstracks vom Bahnhof zur Porta Nuova führt, heißt Viale Papa Giovanni XXIII. Der kam aus Bergamo, aus der Provinz Bergamo.

Hinter einem vorspringenden Gebäude verbirgt sich eine Bar mit einem passenden Namen: Bar Escondido. Sie versteckt sich wirklich. Aber das ist doch nicht Italienisch? Das ist doch Spanisch. Um auf sich aufmerksam zu machen, haben sie Hinweisschilder auf den Bürgersteig gestellt. Es werden preiswerte Gerichte angeboten.

An der Porta Nuova gibt es kein Tor. Nur der Name ist geblieben, von dem Stadttor der ehemaligen Stadtmauer der Città Bassa, die dann abgerissen wurde. Es stehen aber an der Flanke des ehemaligen Stadttors zwei identische klassizistische Gebäude, von schlichter Eleganz. Da gingen früher alle Waren durch, die in die Stadt eingeführt wurden. Und hier wurde der Zoll erhoben.

Von hier aus sieht man hinauf auf die Città Alta mit ihrer (fast) vollständig erhaltenen Stadtmauer, fünf Kilometer lang. Sie wurde von den Venezianern errichtet. Bergamo gehörte jahrhundertelang, vom ausgehenden Mittelalter bis Napoleon, zur Republik Venedig. Der Erzfeind war Mailand.

Die vollständig erhaltene Stadtmauer ist eine Besonderheit Bergamos, aber auch kein Alleinstellungsmerkmal: Lucca, Lugo, Perpignan, Avila, Rothenburg haben sie auch. In Avila ist die Stadtmauer nur erhalten geblieben, weil man im 19. Jahrhundert kein Geld hatte, sie abzureißen!

Kurz dahinter steht die auffällige Torre dei Caduti. Wer sind hier die Gefallenen? Die Soldaten Bergamos, die im 1. Weltkrieg gefallen sind. Der Turm wurde von Mussolini eingeweiht. Oben, im Glockengeschoss, sieht man, statt der Glocken die Allegorie der siegreichen Italia. Das empfand man damals wohl als eine angemessene Form der Erinnerung an die Soldaten.

Etwas seitlich davon ein Monument ganz anderer Art, das Monumento al Partigiano, eine modernes Bronzerelief mit einem mit dem Kopf nach unten aufgehängten Jungen. Neben ihm steht eine Frau, die mit erhobener Hand auf ihn weist. Darunter eine Inschrift, die besagt, dass der Bildhauer genau so eine Szene bezeugt hat. Er hätte ihn auch, wie die Frau auf dem Relief, gerne gestreichelt.

An einer Seite der Porta Nuova eine schräg zum Platz stehende Kirche mit monumentaler Kuppel. Das ist die Kirche mit dem beeindruckenden Namen Chiesa di Santa Maria Immacolata delle Grazie. Geschlossen. Die spätmittelalterliche Kirche, die hier ursprünglich stand, fiel der Errichtung der neuen Trasse vom Bahnhof zur Porta Nuova im 19. Jahrhundert zum Opfer. Teile der Ausstattung der alten Kirche sind aber erhalten geblieben.

An einer anderen Seite der Porta Nuova steht der mächtige Bau des Credito Bergamasco. Davor ein Marmorbrunnen, auf dessen Wangen mehrere, vielleicht mythologische Gestalten und Putten zu sehen sind, die in ihren Händen einen Wal, eine Muschel, einen Krebs, eine Amphore halten, aus denen Wasser in die Brunnenschale fließt. Interessant eine Gestalt, die, um nicht geblendet zu werden, die Arme hochreißt und die Augen schützen will. Vielleicht Phaeton, der die Kontrolle über den Sonnenwagen verloren hat?

Gleich daneben eine moderne Bronzeskulptur, groß, ein geflügeltes weibliches Wesen, ohne Kopf, darstellend, dessen Rumpf teilweise mit einer Art Federkleid bedeckt ist. Es ist ein Monument in Erinnerung an die Opfer der Corona-Epidemie, die in Bergamo so schlimme Ausmaße hatte wie sonst kaum irgendwo.

Zur anderen Seite der Porta Nuova erstreckt sich Il Sentierone, ein Name, auf den ich schon mehrfach gestoßen bin, ohne mir vorstellen zu können, was gemeint ist. Es scheint so etwas wie eine Promenade zu sein, breit, mit Kastanien auf der einen und einem Laubengang auf der anderen Seite.

Hier befindet sich das Teatro Donizetti. Es war früher nach seinem Erbauer benannt, später, nach einem Jahrestag, dann nach dem Komponisten. Der ursprüngliche Bau entstand, durchaus umstritten, an der Stelle, wo bis dahin mobile Theater waren, die im Sommer aufgebaut und im Winter wieder abgebaut wurden. Das neue Theater brannte dann auch bald ab und wurde dann durch den heutigen Bau ersetzt.

Daneben ein etwas merkwürdiges Monument für Donizetti und auch eine Hinweiszeichen auf sein Geburtshaus. Das befindet sich aber in der Oberstadt. Und ist nur am Wochenende geöffnet.

Unter die Arkaden kann man sich vor dem Regen flüchten. Hier sehe ich irgendwo eine Straße mit dem Namen Monte Grappa. Was das wohl zu bedeuten hat?

Ich streife noch ein bisschen herum und trinke irgendwo einen Cappuccino. Es ist gerade mal zwölf, aber hier essen einige Kunden schon zu Mittag. Wäre in Spanien undenkbar. Sie hätten keine feste Speisekarte, jeden Tag ein anderes Menu. Kann man sich merken. Der Cappuccino ist allerdings auch keine Offenbarung.

Ich brauche fünf Minimärkte oder asiatische Billigläden, um an Wasser und Teebeutel zu kommen. Obst gibt es nirgendwo, obwohl es in verschiedenen Läden Gemüse gibt.

Unterwegs sehe ich einen Tabaccaio mit einem Hinweis im Schaufenster: No monopattini. – Keine Roller.

Dann komme ich an der Taqueria Mexicana vorbei. Hinweis auf dem Geschäftsschild: Piccante su misura.

Auf einem Platz in der Fußgängerzone ein ganz modernes Monument, zwei mit Spiegelglas verkleidete Streben mit einem Balken, der sie miteinander verbindet. Dieses Monument repräsentiert die Städtefreundschaft zwischen Bergamo und Brescia.

Eine Apotheke zeigt die Temperatur an: 15°. Kalt ist es nicht. Aber der Regen will nicht aufhören.

Ein Burgerlokal, Burgez, hat im Schaufenster den hintergründigen Slogan: Try not to come back if you can.

Ich gehe dann zur Bar Escondido. Ganz einfaches Interieur. Das Kotelett der Speisekarte erweist sich als hauchdünnes paniertes Schnitzel. Die Kartoffeln, die es dazu gibt, sind eine Kreuzung aus Bratkartoffeln und Wedges, aber weich. Der reichhaltige Oregano, der auf beides gestreut ist, macht die Sache auch nicht viel schmackhafter. Bewertung: Kann man essen. Braucht man nicht noch mal.

Ich bin inzwischen ganz durchnässt, und die Sachen in meinem Rucksack sind es auch, einschließlich des neuen Reiseführers. Zeit, nach Hause zu fahren.

Der Bus ist voller Schüler. Auch hier herrscht das Handy vor, aber es gibt auch viele, die sich unterhalten, meist im Duo, mit gedämpften Stimmen. Ein Mädchen liest ein Buch.

Es wird immer voller, und ich bekomme Platzangst. An der nächsten besten Haltestelle steige ich aus. Besser nass werden als ersticken.

Ich gehe zu Fuß weiter. Spätestens, als ich am Stadion von Atalanta vorbeikomme, schwant mir, dass hier etwas nicht stimmt. Ich frage eine entgegenkommende Frau, die mir freundlich Auskunft gibt. Nachdem wir eine Zeitlang aneinander vorbei geredet haben, stellt sich heraus: Ich bin in die falsche Richtung gefahren. Deshalb hat sie ständig von der Porta Nuova gesprochen.

In einer modernen Bar trinke ich einen Kaffee und frage den Mann hinter dem Tresen, was denn mit dem Stadion los sei. Wie, was soll da los sein? Ja, da fänden doch Bauarbeiten statt. Ach so, ja, sie bauten eine neue Südtribüne. Vor Jahren hätten sie Nordtribüne erneuert, und jetzt sei die Südtribüne dran. Aber der Spielbetrieb gehe weiter. Kann man sich kaum vorstellen, bei den massiven Betonblöcken, die da bewegt werden. Wie es denn mit Atalanta stehe, will ich wissen. Gut, Fünfter in der Serie A und beide Spiele in der Europaliga gewonnen.

Dann geht es mit dem Bus in die andere Richtung. Beim Aldi, zwei Stationen vor der Unterkunft, steige ich aus. Dürfte wohl Aldi Süd sein. Das Sortiment ist eigentlich wie bei uns, aber irgendwas ist anders, aber ich weiß nicht genau, was. Ich bekomme Milch, Äpfel, Käse, Tomaten und eine Tüte, die ich zum Mülleimer umfunktionieren kann.

25. Oktober (Mittwoch)

Heute ist es kälter, aber trocken. Immer noch dichte Wolken, kein Sonnenstrahl in Sicht.

An der Bushaltestelle sehe ich zwei, drei Radfahrer vorbeifahren. Habe bisher noch nicht so viele gesehen, obwohl es am Bahnhof einen großes Fahrradparkhaus gibt.

Diesmal steige ich etwas eher aus, da, wo die Kolonnaden beginnen. Dort kommt man in den schönsten Teil der Città Bassa.

In einer Bar unter den Kolonnaden bestelle ich einen Cappuccino und eine Brioche. Der Besitzer, ein großgewachsener Mann, ist Italiener, die Kellnerinnen sind Ausländerinnen, haben einen dunkleren Teint und andere Gesichtszüge. Sie sprechen aber akzentfrei Italienisch, vermutlich aus der zweiten Generation von Einwanderern. Sie sehen sich alle ähnlich, als ob sie Schwestern wären.

Als ich aus der Bar komme, erscheint der erste Sonnenstrahl. Durch eine Lücke zwischen den Häusern sieht man einen schönen, mehrstöckigen Campanile. Den sieht man immer wieder, aber ich weiß nicht, zu welcher Kirche er gehört. Ist jedenfalls ein schönes Photomotiv, jetzt vor dem plötzlich fast wolkenlosen Himmel.

Es geht durch eine Fußgängerzone. Hier gibt es ein paar schöne Läden, auch gut bestückte Buchhandlungen. In einem Schaufenster Harry Potter auf Italienisch, in allen möglichen Bänden. Daneben ein Roman von Paolo Cognetti, einem Autor, auf den ich erst vor kurzem gestoßen bin.

An einer Fußgängerampel versuche ich noch mal mein Glück mit dem Netzwerk von Bergamo. Diesmal erscheint es! Muss wohl doch am Wetter gelegen haben. Ich gebe meine Daten ein – nichts. Es kann keine Verbindung hergestellt werden.

Ich gehe Richtung Seilbahn, zur funiculare, die als eine der Sehenswürdigkeiten Bergamos angepriesen wird. Soll man sich keinesfalls entgehen lassen.

Warum das eine Sehenswürdigkeit sein soll, ist mir ein Rätsel. Es ist eine ganz gewöhnliche Seilbahn, der Wagen ist proppenvoll, es ist stickig, und man sieht nur die Köpfe der Mitreisenden und das Grüne an der Mauer, an der man vorbeifährt. Ich bin froh, aussteigen zu können.

Die Seilbahn läuft auf die Piazza delle Scarpe hinaus, benannt nach den Schuhmacherwerkstätten, die hier im Mittelalter waren. Von hier aus gehen sieben Sträßchen in verschiedene Teile der Città Alta.

Ich gehe auf gut Glück Richtung Piazza Vecchia. Es geht über eine schmale Gasse mit Kopfsteinpflaster. An der Seite überall Souvenirläden und Bars. Ich gehe in einen Laden und bekomme dort einen Kühlschrankmagneten und dann auch noch Spiralblöcke für meine Notizen. Die haben hier ihren Preis, aber das ist es mir wert. Ich frage die freundliche Frau nach der Touristeninformation. Sie weist mir den Weg und sagt, ich solle einfach nach oben gucken, dann könne ich sie nicht verfehlen. Was sie meint, verstehe ich erst, als ich näher komme. Über der Touristeninformation, die in einem alten Turm untergebracht ist, ist ein Netz gespannt, für Bauarbeiten. Was für ein Wort die Frau wohl gebraucht hat? Vielleicht impalcatura, also Gerüst, aber ein richtiges Gerüst ist es nicht.

Ich öffne die Tür, und da sitzt in dem kleinen Raum hinter der Theke – die Frau von gestern, aus der Touristeninformation vom Bahnhof. Auf den zweiten Blick erkennt sie mich und fragt, wie der Reiseführer sei. Und was ich in der Città Bassa gesehen hätte. Dann zeige ich ihr mein Handy, sie sieht sich die Sache an, setzt irgendwo noch ein Häkchen, und dann klappt es auf einmal. Sie gibt mir dann noch ein paar Tipps für die Città Alta

Gleich um die Ecke ist die Piazza Vecchia, die fast synonym für die Città Alta steht. Sie ist das eigentliche Zentrum der Città Alta. Wichtiger war aber in der Geschichte die Piazza Duomo, gleich dahinter gelesen, trotz ihres Namens nicht nur in kirchlicher Hinsicht. Hier wurde auch Handel betrieben und Politik gemacht.

Die beiden Plätze sind nur getrennt durch den Palazzo della Ragione, dessen hohe Torbögen von einem auf den anderen Platz führen. Er ist das älteste kommunale Gebäude Italiens und hieß früher Palazzo Vecchio. Im Obergeschoss ist bei dem der venezianische Löwe zu sehen, Reminiszenz aus der Zeit, als Bergamo zur Republik Venedig gehörte. Er ist offensichtlich später angebracht, der Palazzo selbst ist älter (XII). Über den Namen Palazzo della Ragione habe ich mich schon bei der Lektüre gewundert. Der Name bezieht sich, so heißt es, auf die Rechtsprechung, die hier ausgeübt wurde.

Im Zentrum des rechteckigen Platzes ein schöner Brunnen, an den Seiten, dem Palazzo della Ragione gegenüber, der Palazzo Nuovo, aus weißem Marmor, und der Palazzo del Podestà. An der vierten Seite Wohnhäuser, heute meist mit gastronomischen Betrieben. Darunter das Caffè del Tasso, auf das 14. Jahrhundert zurückgehend, eins der ältesten Italiens. Le Corbusier fand den Platz einen der schönsten der Welt.

Dem steht aber die Piazza Duomo in nichts nach. Der Blickfang sind die Fassaden der Kirchen – oder ist es eine Kirche? – auf die man sieht, wenn man auf den Platz kommt, aber rechts und links stehen weitere bedeutende und schöne Gebäude. An irgendetwas werde ich erinnert, aber ich weiß nicht, was. Dann fällt mir ein: Parma.

Das Gebäude rechts hat es mir besonders angetan, das Baptisterium, zweistöckig, feingliedrig, mit schönen Archivolten. Aber ausgerechnet das ist ein Neubau, eine Rekonstruktion des alten Baptisteriums, das abgerissen wurde, als die Taufzeremonie in den Dom verlegt wurde.

Der Dom ist nicht, wie man glaubt, das Gebäude vor einem, sondern das zur Linken, mit weißer, klassizistischer Fassade.

Vor sich hat man die Basilica Santa Maria Maggiore, die Kirche der Bürger, gleich hier neben dem Dom. Der erste Hingucker ist eine Reiterstatue in einer gotischen Vorhalle, vor die schlichte romanische Fassade gesetzt. Die stellt Alexander dar, den Patron Bergamos. Er ist auch der Patron des jetzigen Doms, der früher San Vicenzo hieß. Der Name wurde übernommen, als der alte Dom, an anderer Stelle gelegen, abgerissen wurde.

Das schönste Gebäude ist die Cappella Colleoni, die, die gleich an die Basilika angrenzt. Oder sogar ein Teil von ihr ist. Der Name Colleoni kommt mir so bekannt vor, aber ich kann ihn nicht einordnen. Der Reiseführer hilft weiter: Die Reiterstatue, die in jeder Kunstgeschichte vorkommt, stellt ihn da, die zweitälteste der Neuzeit, nachdem die Kenntnis der Errichtung von Reiterstatuen seit der Antike für Jahrhunderte verlorengegangen war.

Hier hat er sich selbst ein Denkmal gesetzt, in Form seiner Grabkapelle. Die Fassade, aus polychromem Marmor, ganz und gar Renaissance, aber nicht von der nüchternen Renaissance der frühen Bauten in Florenz, ist eine Sternstunde der Dekoration. Eine tiefe Rosette mit geschmückten Speichern in der Mitte, drum Säulen, Arkaden, Nischen, eine Galerie und an den Rändern Reliefs. Die stellen alttestamentarische Motive dar, aber auch die Taten der Herkules. Mit dem stellte sich Colleoni auf eine Stufe. Und seine Figur steht auch, mit Rüstung, oben auf der Rosette. Er beherrscht das Rad der Fortuna. Man kann sich an den Details gar nicht satt sehen.

Von hier aus gehe ich über eine enge Gasse, mit einem Lokal in jedem zweiten Haus, in die entgegengesetzte Richtung der Piazza delle Scarpe, ans andere Ende der Città Alta. Dort kommt man auf einen großen, merkwürdig leeren Platz – im doppelten Sinne, hier sind keine Touristen und keine Brunnen oder Statuen – der aus der Zeit stammt, als Bergamo den Visconti gehörte, der Epoche vor Venedig. Von hier aus verlässt man die Stadt und kommt an eine Aussichtsplattform. Man sieht Bergamo, wie es scheint, ganz in der Ferne.

Es geht zurück und dann über eine ganz einsame, steil ansteigende Gasse zur Rocca,  von  der Frau im Touristenbüro empfohlen. Dies ist die höchste Erhebung der Città Alta, und hier war früher eine Festung, die heute als Museum dient. Auch von hier aus sieht man auf Bergamo hinab, aber alles ist näher. Man sieht auf die Berge der Umgebung, hinter denen dunkle Wolken aufziehen.

Aber noch ist es sonnig, und ich will das schöne Wetter nutzen, um über die Stadtmauer zu gehen. Ganz rum geht es nicht, aber fast, hat mir die Frau in der Touristeninformation erklärt. Ich fange bei der Porta San Giacomo an. Der Weg ist breiter, als ich dachte, und man scheint auf der Mauer zu sein. Das ändert sich aber bald. Anders als in Lucca oder in Lugo führt der Weg hier nicht über die Mauer, sondern an der Mauer entlang, und die verdeckt den Ausblick. Auf der anderen Seite Häuser, genauso wie oben, aber keine Läden oder Lokale, sondern normale Wohnhäuser. Eine ganz normale Straße.

Ungeplant endet die dann auch in der Città Bassa, an einer Ecke wo ich noch nicht gewesen bin, aber bald bin ich dann schon in halb vertrauter Umgebung. Wieder erscheint der schöne Campanile von heute Morgen.

Jetzt habe ich glatt vergessen, in die alte Eisdiele zu gehen, in der das Stracciatella erfunden wurde. Stattdessen will ich es hier in der Città Bassa versuchen. Gar nicht so leicht, eine Eisdiele zu finden, auch in Italien nicht, wenn man sie sucht. Eine Frau gibt mir freundlich Auskunft. Und tatsächlich stoße ich nach ein paar Minuten auf eine Eisdiele. Drinnen ist kein Kunde, und ich kann in Ruhe meine Fragen stellen und auswählen: eine Kugel Stracciatella und eine Kugel mit Mandeln mit Sahne in einem Becher. Es schmeckt zum Niederknien gut. Ich genieße das Eis, um möglichst lange was davon zu haben.

Dann geht es auf die Suche nach La Scagna. Ich kann jetzt den Routenplaner benutzen, aber der sagt mir schon unterwegs, dass La Scagna vielleicht schon bald schließt. Ich gehe ein bisschen schneller, nach ein paar Minuten sagt der Routenplaner, ich wäre da. Aber nirgendwo ist ein Lokal zu sehen. Ich frage ein Ehepaar. Die kennen La Scagna nicht, versuchen es aber auf ihrem Handy. Wir stehen wohl auf der Hinterseite des Gebäudes, in dem La Scagna ist. Ich muss nur einmal um die Ecke gehen.

In dem Lokal sind alle Tische reserviert. Ich solle in zwanzig Minuten noch mal wiederkommen. Also gehe ich einen Kaffee trinken und stelle damit die Reihenfolge komplett auf den Kopf: erst Eis, dann Kaffee, dann Essen.

In die Bar kommt ein spanischsprechendes Paar und lässt sich von der Kellnerin die Speisekarte auf Spanisch erklären. Sieht so aus, als wäre ich hier in einem spanischen Viertel gelandet. Vor einem anderen Lokal habe ich schon eine Speisekarte und eine Karte mit Säften auf Spanisch gesehen. Und ich habe inzwischen aus verlässlicher Quelle erfahren, dass Bergamo eine Städtepartnerschaft mit Cochabamba hat.

Dann geht es in La Scagna. Es gibt ein Menu, aber ich will die Spezialitäten Bergamos probieren.  Das klappt auch. Als Vorspeise gibt es casoncelli. Die stehen in jedem Reiseführer. Es sind halbmondartige Teigtaschen, wie Ravioli, mit Fleisch gefüllt. Ihr Pendant sind die scarpinocc, die sind statt mit Fleisch mit Käse gefüllt. Die zweite Spezialität Bergamos ist die Polenta. Die gibt es zur Hauptspeise, Kaninchen, als Beilage dazu.

Die Kellnerin empfiehlt mir einen Wein, aus der Gegend. Der ist mir eigentlich zu trocken, aber zu dem Essen passt er gut. Ich frage die Kellnerin, was den scagna bedeute. Ganz einfach: Stuhl. Das ist das Wort aus dem regionalen Dialekt, vermutlich venezianisch. Dann sagt sie, ich Italien habe jede Region einen eigenen Dialekt, ohne zu ahnen, dass sie mit so was auf die Palme bringen kann. Erst als ich auf das Essen warte, sehe ich den Stuhl überall: Auf der Speisekarte, als Teils des Logos des Lokals an der Wand, auf den Servietten.

Ich sehe im Internet nach, und da ist von scagna und cadréga als zwei dialektalen Wörtern aus dieser Gegend die Rede, die beide ‚Stuhl‘ bedeuten. Jemand sagt, cadréga komme aus dem Lateinischen, scagna aus dem Germanischen. Das kommt mir merkwürdig vor. Dann stoße ich auf einen Kommentar, der vorsichtig darauf verweist, dass cadréga doch wohl von kathedra (καθέδρα) und damit aus dem Griechischen komme und scagna von scabellum, also aus dem Lateinischen. Jetzt ist die Welt wieder in Ordnung.

Die casoncelli sind sehr schmackhaft. Dazu trägt auch bei, dass sie in Butter schwimmen, mit Käse und ein paar Speckwürfeln bestreut sind. Das muss ja schmecken. Das Kaninchen ist auch sehr gut, obwohl das Fleisch etwas trocken ist. Aber die Kruste ist ein Gedicht. Und die Polenta passt gut dazu. Das Ganze hat seinen Preis, aber es geht von dem geschwisterlichen Bildungsbudget ab.

26. Oktober (Donnerstag)

Ich schlage das Wort pelagra nach. Die deutsche Übersetzung lautet Pelagra. Da bin ich so schlau wie vorher. Dann schlage ich roncole nach. Die deutsche Übersetzung lautet Hippe. Auch da bin ich nicht weiter.

Die Busse machen Werbung damit, dass sie mit Methangas fahren. Was für Auswirkungen das hat, weiß ich nicht. Sie sind nicht laut, aber wohl auch nicht leiser als Busse, die mit Diesel betrieben werden. Vielleicht besser für die Luft?

Vespas sieht man hier auch, aber kein Vergleich zu anderen italienischen Städten, allen voran Bologna.

In die Busse muss man vorne einsteigen. Das ist nicht zu übersehen, es gibt dicke grüne und rote Pfeile und Kreuze, die darauf aufmerksam machen. Das wird aber oft nicht beachtet, und die Busfahrer scheinen es auch in Kauf zu nehmen. Bisher hat es nie Probleme gegeben. Heute Morgen aber wohl. Zwei Frauen sind noch dabei, einzusteigen, als der Busfahrer schon die Tür in der Mitte schließt. Sie können sich noch gerade reinzwängen, heben aber ein ungeheures Gezeter an. Eine der beiden behauptet, der Busfahrer habe ihr die Rippen gebrochen – rotto le costole – was zumindest eine leichte Übertreibung ist. Der Busfahrer reagiert zunächst ganz ruhig, weist darauf hin, dass man vorne einsteigen muss. Die Frauen protestieren weiter. Der Busfahrer sagt, jetzt etwas lauter, man müsse vorne einsteigen. Ja, aber das sei doch kein Grund, ihr die Rippen zu brechen. Der Busfahrer sagt, man müsse vorne einsteigen. Er könne von seinem Sitz aus die Mitteltür nicht einsehen. Ob das stimmt? Jedenfalls hat er Recht.

Ich bin bisher immer vorne eingestiegen. Noch nie hat ein Busfahrer nach meiner Fahrkarte gefragt, und ein Kontrolleur ist bisher auch nicht gekommen. Etwas schwieriger ist es mit dem Aussteigen. Wenn die Busse drei Türen haben, weiß man nicht, ob man in der Mitte oder hinten aussteigen soll, und nicht immer werden beide Türen geöffnet.

Wieder steige ich an den Kolonnaden aus. Diesmal setze ich mich hin für Kaffee und Brioche. Das ist in Italien dann gleich teurer.

Eine Seitenstraße heißt Via Gallicciolli. Drei Doppelkonsonanten. Eignet sich für eine italienische Ausspracheübung.

Wieder komme ich an dem schönen, irgendwie isoliert in der Gegend herumstehenden Campanile vorbei. Ich frage einen Passanten, wie die Kirche heiße: Sant’Alessandro. . Um zu dem Campanile zu kommen, muss man durch eine Toreinfahrt gehen. Die sieht aus, als wenn sich dahinter ein Parkplatz befände, aber es erscheint wirklich der Campanile. Und der scheint zu der Kirche zu gehören. Dass der Campanile in Italien gesondert von der Kirche steht, ist keine Seltenheit, aber hier wirkt es so, als hätte er mit der Kirche gar nichts zu tun.

Da er hier ständig vorkommt, schaue ich mal nach, was es mit diesem Sant’Alessandro auf sich hat. Er war römischer Soldat und Mitglied der Thebäischen Legion. Er schändete in der Gegenwart von Kaiser Maximian antike Götzenbilder, mit den vorauszusehenden Konsequenzen. Wie er zum Schutzpatron von Bergamo wurde, ist mir ein Rätsel. In irgendeiner mittelalterlichen Chronik heißt es wohl, er habe hier gebetet, aber ob er biographisch was mit Bergamo zu tun hat, ist nicht überliefert.  

Ich gehe so in die Città Alta rauf, wie ich gestern runtergekommen bin. Da kommt man aber schnell ins Schnaufen. An der Porta San Giacomo sehe ich jetzt, von dieser Seite aus, den venezianischen Löwen. Die Stadtmauer wurde errichtet, nachdem Bergamo zu Venedig kam. Sie war notwendig, weil Bergamo ganz am Rand des venezianischen Territoriums lag, unter anderem an der Grenze zu dem befeindeten Mailand.

Auf der Piazza Vecchia angekommen, suche ich das Caffè Tasso, das ganz alte. Das habe ich bisher übersehen. Es liegt ganz am Rand, unmittelbar vor der Porta della Ragione. Daneben befindet sich die Pasticceria dei Mille. Der Name verweist auf die Tausend, die sich freiwillig Garibaldi anschlossen, als er Sizilien eroberte und einen weiteren Schritt zur Einigung Italiens gemacht hatte. Unter den Tausend befanden sich auch 200-300 Bergamasker. Im Rückblick wird die Geschichte allerdings etwas verklärt. Bergamo wäre, wenn es nach dem Willen der Venezianer gegangen wäre, bei Venedig als unabhängigem Staat geblieben. Die Begeisterung für Italien hielt sich in Grenzen. Venedig war 1000 Jahre eine unabhängige Republik gewesen, und das gibt man nicht so schnell auf. Die Vereinigung von Venedig mit Italien ist nicht den Italienern zu verdanken, sondern Napoleon III. Österreich und damit indirekt Preußen.

Die österreichische Präsenz in Bergamo zeigt sich hier oben in Einschusslöchern an mehreren Pfeilern der Porta della Ragione. Und der ganze Ausbau der Città Bassa erfolgte unter der österreichischen Herrschaft.

Ich gehe in die Capella Colleoni, nicht ohne mir vorher nochmal ein paar Details der Fassade angesehen zu haben. Sie ist erstaunlich klein. Quadratisch. Barock. Von außen viel schöner.

Der Hingucker sind die zwei Sarkophage, auf Stützen, einer über dem anderen, der kleinere, oben, ist der von Colleonis ältester Tochter, der größere, unten, ist der von ihm selbst. Über der ganzen Struktur die goldene Reiterstatue Colleonis.

Beide Sarkophage haben reichlichen Bauschmuck, biblische Szenen im Relief. Der untere die Kreuzigung und die Kreuzabnahme, der obere, der der Tochter, Geburt und Anbetung der Könige.  

Der Tod der Tochter muss ein wichtiger Einschnitt im Leben Colleonis gewesen sein. Er hatte eine besondere Verbindung zu ihr. Er hatte dann noch weitere sieben Töchter, aber keinen Sohn und damit keinen Nachfolger. Da war also nicht nur persönlich schmerzhaft, sondern auch von Konsequenz für die dynastische Folge.

Auf einem Fries unten am Sarkophag das Gegenprogramm zu den biblischen Szenen. Putten, zwischen 20 und 30 an der Zahl, halbnackt, mit prallen Formen. Einer streckt dem Betrachter sein Hinterteil entgegen. Das ist durch die Berührungen der Besucher ganz blank gerieben. Die Putten halten Medaillons mit dem Portrait von Herrschern und das Wappen der Colleoni. In dessen Mitte drei merkwürdige Formen, ein bisschen wie kleine Teigtaschen aussehend. Und was die darstellen sollen, erfährt man aus Reiseführer und Internet: Hoden.  

Draußen sehe ich mir die Eisenstäbe an, die in die Mauer von Santa Maria Maggiore eingelassen sind. Es sind Maße, Maßeinheiten, deren Namen mir nichts sagen und die auf das Meter übertragen, alles krumme Zahlen sind.

Der gotische Vorbau von Santa Maria Maggiore mit der Reiterstatue Alexanders ruht auf Säulen, die wiederum auf Löwen ruhen. Die stehen dafür, dass hier früher Gerichtsbarkeit abgehalten wurden. An dieser Seite sind die Löwen rot, an der anderen weiß. Um die zu sehen, muss man einmal um die Kirche herum gehen, und das lohnt sich, sie hat schöne romanische Apsiden und schöne Archivolten über einem weiteren Eingang. Die Kirche scheint keinen Haupteingang zu haben, dafür vier Nebeneingänge.

Wie alle Touristen, gehe ich von der Piazza Duomo aus rein. Der Eintritt kostet 7 Euro, aber ich bekomme Seniorenrabatt: 2 Euro!

Was man von außen nicht erwartet, hier stößt man auf barocke Dekorationsfreude im Übermaß: Stuck, Gemälde, Skulpturen, liegende, stehende fliegende, rote Löwen, Pilaster, Gemälde, Wandteppiche Intarsienarbeiten, Wappen. Es gibt kaum eine Stelle, an der man den Baukörper selbst sieht. Alles sehr farbenfroh.

Ganz im Kontrast zu der barocken Pracht und leicht zu übersehen ist ein Christus am Kreuz, ganz hoch über dem Eingang zum Chor thronend. Das Holz ist nicht farbig gefasst, die Details des Körpers zeichnen sich auf dem Holz ab, und der Kopf ist zur Seite gesenkt. Es ist vermutlich das älteste Stück der Ausstattung der Basilika.

Ganz interessant die Intarsienarbeiten im Chor. Da gibt es Szene um Szene, Detail um Detail zu entdecken. Und ich bin nicht der Einzige, der das tut. Man kann ganz nah rangehen. Die Figuren sind braun, der Hintergrund gelb. Es scheinen keine christlichen Motive zu sein. Man sieht Landschaften, bäuerliche Szene, städtische Szenen, wohl auch ein paar höfische Szenen. Schiffe, Fischerboote, ein ausbüchsender Esel, eine Flirtszene, ein Mann, der in ein Krummhorn bläst. Scheint alles profan zu sein. Erst ganz zum Schluss, als ich eine Szene sehe, in der ein Mann mit einer Axt auf einen am Boden liegenden Mann einschlägt, kommen mir Zweifel: Kain und Abel? Sind das doch lauter biblische Szenen?

Ganz wunderbar gearbeitet auch die ganz fein geschnitzten Figuren in den Kapitellen der Säulchen, die die Szenen voneinander trennen: Drachenköpfe, Amphoren, Helme, Wappen.

Die Grabdenkmäler für Donizetti und Mayr sehe ich erst gar nicht. Sie stehen ganz hinten, im Westen, Seite an Seite, aber durch einen breiten Wandteppich voneinander getrennt. Die Sarkophage ähneln sich, sind gleich groß und aus demselben Material, aber unterschiedlich dekoriert. Mayr hat drei geflügelte singende Engel mit Lyra und Spruchband, Donizetti hat einen trauernden Engel und trauernde Putten in dem Fries unten. Einer scheint richtig wütend zu sein und seine Lyra auf dem Boden zerschmettern zu wollen.

An dem Todestag Donizettis im November legt der Bürgermeister in einer Zeremonie, die sehr beliebt ist, vor beiden Sarkophagen einen Kranz nieder. Man hat die Verdienste Mayrs nicht vergessen.

Dann kommt der Dom an die Reihe, ein großer einschiffiger Raum mit spätbarocker Ausmalung, nicht ganz so farbenfroh, nicht ganz so üppig wie Santa Maria Maggiore. In der Kuppel die Apotheose Alexanders, der außen die Bronzestatue Alexanders als Fahnenträger entspricht.

Im Chor in einem Schaukasten die Reliquien Alexanders, flankiert von den Statuen Vicenzos Alexanders, dessen alten und des neuen Patrons der Kirche.

In einer Seitenkapelle ist die Tiara Johannes XXIII. ausgestellt. Hat jeder Papst seine eigene Tiara? Ich dachte, die würde einfach immer weitergegeben. Vor der Tiara eine überlebensgroße Bronzestatue des Papstes. Man erkennt ihn auf den ersten Blick. Als er das Zweite Vatikanische Konzil gegenüber den Kurienkardinälen ankündigte, antworteten die mit eisigem Schweigen. Das Zweite Vatikanische Konzil war ökumenisch, aber auch global, anders als das Erste. Das war eine rein europäische Angelegenheit. Jetzt konnten auch Vertreter aus Amerika, Asien, Afrika und Australien anreisen.

Danach mache ich mich auf die Suche nach dem etwas abseits gelegenen Lavatoio. Es wurde Ende des 19. Jahrhunderts errichtet und ist das älteste erhalten gebliebene. Diese Lavatoios sind eine Art Sammelstelle fürs Wäschewaschen, eingeteilt in eine Vielzahl von Parzellen, an denen sich ein Waschweib niederlassen und die Wäsche waschen und dann gleich mit frischem Wasser reinigen konnte. Das sprudelt auch jetzt noch in aus den feinen Wasserhähnen heraus. Die Lavatoios wurden für die Waschfrauen der Città Alta gebaut und entstanden nach einer Typhusepidemie, als man erkannte, dass mangelnde Hygiene dem Ausbruch der Epidemie Vorschub leistete.

Ich mache mich auf den Weg zum Museo Donizetti. Das befindet sich in einem etwas abgelegenen, wenig belebten Viertel der Città Alta. Der Weg dorthin führt über die Via Arena. Der Name erinnert an das römische Amphitheater, das hier gestanden hat. Endlich mal eine Erwähnung der Römer, die schon im 2. Jahrhundert vor Christus hier ankamen, aber deren Spuren verschwunden zu sein scheinen.

Das Museum in ist in einem alten, etwas heruntergekommenen Palast, im Obergeschoss. Alles wirkt etwas verstaubt. Ich bin der einzige Besucher und bleibe es auch. Der Eintritt kostet hier 5 Euro und es gibt keine Ermäßigung, wie mir das gelangweilte Mädchen am Empfang mitteilt.

Das Museum ist klein, anderthalb Räume, an den Wänden Malereien von Amphoren, Musen, Instrumenten in Trompe-l’œil, und im Hintergrund läuft Musik von Donizetti, feierlich.

An den Wänden Porträts von Mayr und Donizetti, jeweils einmal jung, einmal alt, Mayr bartlos, Donizetti erst bartlos, dann mit dem typischen Schnäuzer und Backenbart und dem unbändigen Haarschopf.

Ausgestellt sind ein Spinett und ein Klavier. Ob die Donizetti gehörten, wird nicht klar. Auf dem Spinett ist eine Metalltafel auf Deutsch angebracht. Vielleicht gehörte es Mayr. Auf dem Klavier hat man auf einer Bronzeplatte einen Brief Donizettis reproduziert.

Donizetti wurde 1797 geboren und kam schon 1806 in die Musikschule. Die war öffentlich und gratis und finanzierte sich durch Spenden, die der findige Mayr, der Gründer der Musikschule, bei Politikern und Bürgern eintrieb. Mayr hatte sich in Bergamo niedergelassen und war Kapellmeister in Santa Maria Maggiore.  

Donizetti bekam Unterricht in Gesang, Theorie und Klavier. Er war nicht sonderlich gut im Gesang, und es ist ein Brief des Vaters ausgestellt, in dem er bittet, sein Sohn möge trotz der Probleme im Gesang weitermachen dürfen. Der Bitte wurde stattgegeben.   

Donizetti zeigte großes Talent im Komponieren, die ersten Autographen mit seinen Partituren, hier ausgestellt, stammen schon von 1813. Mayr schickte ihn, unter Zuschuss von Geldern aus seiner eigenen Schatulle, nach Bologna.

Bei der Rückkehr nach Bergamo verknüpfte er sich mit der Musikszene hier und schrieb geistliche Musik. Er schuf sich einen gewissen Ruf und bekam Engagements in Venedig, Rom und Mantua. Das war der Durchbruch.

Ausgestellt ist eine Karikatur, die verschiedene Musiker in Paris zeigt, Meyerbeer, Rossini, Berlioz und viele andere, jeder in einer spezifischen Pose. Donizetti sieht man, wie er im Akkord Kompositionen auswirft.

Ausgestellt sind auch zwei Reiseetuis Donizettis, hölzerne, zuklappbare Kästen, eins mit Hygieneartikeln – Nagelfeile, Pinzette, Dosen – eins mit Schreibutensilien.

Dann sieht man ein paar persönliche Gegenstände, eine kurze, wie abgeschnitten aussehende türkische Pfeife, und ein paar kleinere Orden, die man an einer Schnur tragen konnte, alle verliehen, als er an verschiedenen Orten zum Ritter geschlagen wurde.

Dann gibt es ein Porträt seiner Verlobten, Virginia, und darunter die Partitur eines Liedes, das er für sie komponiert hatte. Muss ein gutes Gefühl sein, wenn man für seine Verlobte was komponieren kann.

In dem kleinen Raum, der von diesem ausgeht, wird von den letzten Jahren berichtet, von der Zeit nach seiner Rückkehr nach Bergamo, wo er Aufnahme im Haus einer Bewunderin und bei ihrer Familie fand. Es sind ein Ohrensessel und ein Bett ausgestellt und ein Photo, auf dem man sieht, wie der Hausherr den kranken Donizetti in den Sessel hievt.

Eine etwas enttäuschende Ausstellung, von keiner einzigen Oper ist die Rede, auch von der schwierigen Kindheit im Armenviertel von Bergamo nicht und auch nicht von der Krankheit im Alter und der zunehmenden Demenz. Vielleicht gibt es im Geburtshaus mehr dazu, aber das hat nur am Wochenende geöffnet.

Dann geht es auch zu Fuß wieder runter zur Porta Nuova. Die Hälfte der großen Gebäude hier scheint von Banken eingenommen zu werden, dann gibt es ein paar Versicherungen und ein paar Regierungsgebäude.

Von hier geht es schnurstracks zum Bahnhof. Den Weg hätte ich mir sparen können, denn meine Fahrkarten kriege ich auch beim Tabaccaio, sowohl für den Bus als auch für den Zug. Das Busticket für die nächsten Tage kostet wieder 14,50 €, und die Fahrt nach Brescia morgen gibt es für sensationelle 10,40 € – hin und zurück!

Auf dem Rückweg komme ich an Vox vorbei, einem Restaurant. Nach kurzem Blick auf die Speisekarte gehe ich rein. Ein schlauchartiger Raum, mit weiß eingedeckten Tischen, fast alle besetzt. Die meisten sehen nach berufstätig aus. Wie oft in Italien, trinkt der eine oder andere ein Glas Wein, aber die meisten trinken Wasser. Ich bin mit einem weiteren Gast zusammen der einzige, der Bier trinkt.

Ich bestelle Antipasto Bergamasco und eine Pizza. Das Antipasto bestehen aus ein paar dicken Stück Salami und ein paar dicken Stück Käse. Dazwischen gebratene Pilze in einer grünen Soße auf Polenta. Die Polenta schmeckt nicht nach viel, aber die Pilze sind lecker, und die Salami und der Käse – auf Nachfrage erfahre ich, dass er Taleggio heißt – sind ausgezeichnet. Die Pizza schmeckt wie bei uns. Die Rechnung ist auf den Cent genau die gleiche wie gestern.

27. Oktober (Freitag)

Die beiden anderen, die hier im Apartment wohnen, ein Mann und eine Frau, sind keine Italiener, wie ich dachte, sondern Albaner, und nicht Mann und Frau, wie ich dachte, sondern Cousin und Cousine. Er ist wegen einer medizinischen Behandlung hier, und sie betreut ihn. Jeden Morgen und jeden Abend bekommt er sein Essen serviert, immer gleich, Tomaten, Salat, Käse, hartgekochter Eier und Brot. Er isst immer alleine. Sie sieht man nie etwas essen. Sie sprechen kein Italienisch, was wohl ihre etwas wortkargen Antworten bis jetzt erklärt. Allerdings sind sie in den gängigen Grußformeln beim Alltagsgespräch so gut, dass ich sie für Italiener gehalten habe. Morgen fliegen sie zurück nach Albanien, direkt von Bergamo aus, in anderthalb Stunden.

Inzwischen habe ich doch erfahren, was Sant’Alessandro mit Bergamo zu tun hat – und dass er überhaupt was mit Bergamo zu tun hat. Er diente in der römischen Armee, konvertierte zum Christentum und begann zu predigen, zunächst in den eigenen Reihen, dann in der ganzen Gegend um Bergamo. Er wurde gefangen genommen und in Mailand in den Kerker gesteckt und aufgefordert, die heidnischen Idole anzubeten. Er weigerte sich und wurde daraufhin hingerichtet, und zwar an der Stelle, an der heute die Kirche Sant’Alessandro in Colonna steht, die mit dem Campanile, in der Città Bassa.

Dann lese ich noch etwas über den Turm, in dem die Touristeninformation in der Città Alta untergebracht ist. Ich habe ihn in der Enge der Gasse da oben und wegen der Bauarbeiten nicht richtig beachtet, aber er gilt als so etwas wie das Erkennungszeichen Bergamos. Er stellt so etwas wie den Punkt Null der Stadt da und liegt genau da, wo sich der römische Decumanus mit dem Cardo kreuzte. Daher erklärt sich auch sein Name, Torre Gombito, von compitum, ‚Kreuzung‘: Er stammt aus dem 13. Jahrhundert und war ursprünglich Privatbesitz einer Guelfen-Familie und ging dann in städtisches Eigentum über. Heute ist er noch 52 Meter hoch, etwas kürzer als früher, weil das Obergeschoss irgendwann wegen Einsturzgefahr abgetragen wurde. Man kann ihn besteigen, aber nur im Sommer.

Der Name Bergamo kommt vom Lateinischen Bergamum. So nannten die Römer die Stadt. Das war die latinisierte Form des keltischen Namens der Stadt, und der war – Bergheim! Bergamo heißt also Bergheim!

Heute geht es mit dem Zug nach Brescia. Schon auf dem Bahnsteig werden alle Stationen mit Angabe der Ankunftszeiten angegeben. Der Zug ist modern, sauber und auf die Minute pünktlich, auf dem Hinweg wie auf dem Rückweg. Es gibt Buchsen, an die man sein Handy anschließen kann und eine Steckdose, unter jedem Sitz. Eine Verbindung zum Internet gibt es allerdings nicht.

Die einzelnen Orte, in denen wir halten, sagen mir nichts. Nur einer hat einen renommierten Namen: Cologne.

Beim Einsteigen auf dem Rückweg frage ich den Mann, der dort sitzt, ob der Platz neben ihm frei sei: „E libero qui?“ Er versteht mich, aber wie man es richtig macht, zeigt mir ein Schweizer, der sich kurz darauf zu uns setzt: „Posso?“

Auf dem Rückweg sehe ich, wie wir einen Fluss überqueren, und dann noch einen. Ich weiß nicht, welche Flüsse das sind. Irgendwo habe ich mal von einem Fluss namens Adda gelesen. Könnte sein, dass diese Flüsse aus den Alpen kommen. Die sind nicht weit. Der zweite Fluss, den wir überqueren, hat eine Stromschwelle, und da bildet sich ein kleiner, aber rauschender Wasserfall.

Als wir in Bergamo ankommen, zeigt sich zaghaft die Sonne. Dann wird es immer schöner, immer heller, immer wärmer, so dass ich am Ende sogar draußen auf einer Terrasse essen kann. Und das Ende Oktober!

Der Weg vom Bahnhof in die Innenstadt ist weiter als in Bergamo, und die Monumente liegen auch etwas weiter auseinander. Unterwegs sehe ich an einem Kiosk Il Giornale di Brescia, das Pendant zum L’Eco di Bergamo. Lokale Tageszeitungen scheinen hier noch nicht ausgedient zu haben.

Zuerst komme ich auf einen Platz, mit dem ich nichts anfangen kann, groß, leer, nicht sehr als, mit dem kolossalen Post- und Telegraphenamt an einer der Stirnseiten. Später lese ich, dass dies die Piazza della Vittoria ist. Faschistische Architektur. Warum kann man damit wenig anfangen?

Im einer modernen Fußgängerpassage stoße ich auf ein spanisches Lokal, dessen Name gleich angibt, was es dort gibt: 100 Montaditos.

Im Innenhof dieser Einkaufspassage hängt ein Nilpferd. Es hängt an Bändern und schwebt über den Passanten, die hier durchgehen, unter dem Lichthof der Passage. Gut, dass es eine Erklärung dazu gibt. Die Skulptur wurde zur Hochzeit von Corona angebracht. Das Nilpferd, das sind wir selbst. Wir befinden uns in der Schwebe, haben vorübergehend den Kontakt zum Boden verloren, hängen förmlich in der Luft.

Dann kommt die Piazza Paolo VI. Schon wieder ein Papst. Er stammte aus der Provinz Brescia.

Der langgestreckte Platz hat an den Endpunkten der Längsachse zwei identische Brunnen. Erinnert mich an einen (ovalen) Platz in Rom, aber ich weiß nicht mehr, welchen. An der Längsseite eine riesige Kirche, weiß, klassizistisch, mit einer Kuppel, von der es heißt, sie sei die drittgrößte Italiens. Ich kann sie später von oben immer wieder sehen. Diese Kirche ist der Duomo Nuovo. Man hat über 200 Jahre an ihm gearbeitet, von 1605 bis 1825.

Links davon ein älteres Gebäude mit Turm, aber als ich darauf zusteuere, werde ich von einem Mann mit wild wedelnden Armen aufgehalten. Hier finden Bauarbeiten statt, Durchgang verboten.

Auf der anderen Seite der Kirche steht ein Gebäude, kreisrund, aus Backsteinen, das man sofort für ein Burg hält. Aber was macht eine Burg hier unten auf einem solchen Platz? Es stellt sich heraus, es ist keine Burg, sondern der Duomo Vecchio. Einen größeren Kontrast zu dem Duomo Nuovo kann man sich nicht vorstellen. Wenn man es weiß, sieht man es auch sofort: Der Bau ist mehrere Meter in die Erde gerutscht, die heutige Eingangstür ist später angebracht worden, Der Umgang um das Gebäude liegt mehrere Meter tiefer.

Auf einem Schild steht Piazza Paolo VI – già Piazza Vecchia. Das hat mich früher verwirrt, denn già bedeutet hier das Gegenteil von sich selbst. Da kann ich mir ein Photo nicht entgehen lassen.

Dann komme ich in einem anderen Viertel zu den Ausgrabungen, ein römisches Forum, von der Straße aus einzusehen. Beeindruckend, was hier steht, u.a. ein römisches Theater und Reste des römischen Forums. Nicht umsonst hat das römische Erbe Brescias den Status eines Weltkulturerbes. Erstaunlich, eie wenig bekannt das ist.

Am Rande des Ausgrabungsfelds ein Sträßchen, das nach oben ins Nichts zu laufen scheint. Wo keiner unterwegs ist. Es heißt Vicolo Deserto.

Dann geht es den beschwerlichen Weg zur Burg rauf. Die Sonne steht jetzt im Zenit, und man kann sich an den verschiedenen Ausblicken auf die Stadt und die Berge der Umgebung erfreuen. Von der Burg sieht man nicht allzu viel. Ihre Front blickt auf die Ebene hinaus, von der Stadt weg.

Runter komme ich auf einem anderen Weg. Der hat es in sich, mit ganz ungleichmäßigen Stufen, mit Kies zwischen den senkrecht stehenden Steinen. Sieht schön aus, ist aber ein Balanceakt.

Weiter unten wird es dann gemütlicher, und wenn man sich der Stadt nähert, geht man über große längliche Bodenplatten, ganz eben, aber immer noch abwärts. In jede Bodenplatte ist eine kleine Bronzeplatte eingelassen, etwa in der Art der Stolpersteine bei uns. Hier erinnert jede Platte, unter Angabe des Namens, des Berufs und des Datums, an ein Opfer des Terrorismus.

Dann komme ich, wieder in einem anderen Viertel, über eine alte Straße, zwischen historischen Gebäuden, mit modernem Bodenbelag. Alles Fußgängerzone, aber es ist kaum jemand zu unterwegs. Wie überall ist alles hier piccobello sauber und gepflegt.

Hier befindet sich das Museo di Santa Giulia, mit den römischen Funden. Es ist untergebracht in einem ehemaligen Nonnenkloster, mit romanischer Architektur. Von der Straße aus kann man zumindest eine Apsis erkennen. Schon ein kurzer Blick in das Foyer gibt einen Eindruck davon, wie besonders das ist, was es hier zu sehen gibt. Aus dem Titel der Ausstellung ergibt sich, dass Brescia in römischer Zeit Brixia hieß.

Dann komme ich durch ein heimeliges Viertel mit unregelmäßigen Gassen und kleinen Plätzen und stoße dann unverhofft auf noch einen großen Platz, vielleicht den schönsten von Brescia, die Piazza della Loggia. Die Arkadengebäude mit den Laubengängen oben erinnern an Venedig. An einer Stirnseite der schöne Palazzo della Loggia, elegant, zweistöckig, auf Arkaden, mit einem besonderen Dach, das wie aus der Zeit des Jugendstils wirkt. Das Gebäude ist stammt aber vom Ende des 15. Jahrhunderts und ist pure Renaissance.

An einer Ecke des Platzes steht eine weiße Figur, die wie ein Engel aussieht, aber die siegreiche Italia darstellt.

Unter den Arkaden an der dem Palazzo della Loggia gegenüberliegenden Seite ein Monument an die Opfer einer terroristischen Attacke, die hier 1974 acht Todesopfer forderte und Verheerungen an den Gebäuden anstellte. Eine Bombe explodierte ausgerechnet, als hier gerade eine Demonstration gegen den rechten Terrorismus stattfand.

Über den Arkaden hängt eine wunderbare, verzierte astromische Uhr (XVI) Uhr, mit einem einzigen Zeiger mit einer vergoldeten Kugel, die auf die 24 römischen Ziffern auf dem Zifferblatt weist. Konzentrisch ordnen sich innerhalb des Zifferblatts verschiedene gemalte Szenen an und ein Fries mit den Tierkreiszeichen, einem Fries mit Verzierungen sowie dem Mond, dessen aktuelle Phase angezeigt wird. Die Sonne ist auf dem Zeiger angebracht. Über der Uhr thronen zwei Figuren, i macc de le ure genannt, die bei voller Stunde die Glocke schlagen.

Meine Beine werden müde, aber tragen mich noch sehr bereitwillig zurück auf die Piazza Paolo VI. Dort habe ich vorher einen Kellner angesprochen. Ja, sie hätten durchgehend geöffnet und nein, die Gnochetti con stracciatella seien nicht süß – er muss versuchen, nicht zu lachen – sondern stracciatella bezeichne hier einfach einen Käse. Ich bestelle das Gericht, und dazu empfiehlt er mir einen Wein vom Gardasee – gibt es Wein am Gardasee oder habe ich da was falsch verstanden? – der ausgezeichnet schmeckt. Ich genieße die Sonne, das Essen, den Platz. Das alles hat hier verständlicherweise seinen Preis, aber es lohnt sich. Zum ersten Mal auf dieser Reise werden hier auch nach altbewährter italienischer Art Pane e coperto berechnet: 3 Euro.

In Bergamo gehe ich den Großteil der Strecke zu Fuß, denn im Bus ist es wieder sehr stickig. Dabei komme ich an einer Metzgerei vorbei und an einer Tankstelle. Das Benzin kostet 1,79. Ist das viel? Mehr als bei uns? Auf dem Geschäftsschild der Metzgerei steht Carni e salumi equini. Ein Pferdemetzger.

28. Oktober (Samstag)

Die Albaner hier im Apartment machen sich fertig zur Abreise. Der Mann trägt zum ersten Mal keine Mütze. Sein Kopf ist kahl. Es muss wohl eine Krebsbehandlung sein, wegen der er hier ist. Die Frau wird gesprächig, als ich sie frage, ob sie sich auf die Rückkehr freue. Oh ja, unendlich, sie habe die Heimat vermisst. Schon seit zwei Monaten ist sie mit ihrem Cousin unterwegs. Wie es komme, dass ich sie nie essen sehe, frage ich. Ach, sie habe lieber einen Kaffee und ein Croissant. Sie isst also wohl auswärts. Aber am Abend habe ich sie noch nie rausgehen sehen. Die Männer in Albanien hätten es gut, bemerke ich, ihr Cousin bekomme ja immer alles auf dem Tablett serviert. Ja, das findet sie auch. Und muss lachen. Was sollen wir machen? Dann sind sie weg.

Ich mache mich auf den Weg zur Academia Carrara, dem Kunstmuseum. Dabei komme ich durch ein bisher ganz unbekanntes Viertel. Ich passiere die Piazza della Vittoria. Wieder ein riesiges Post- und Telegraphenamt, wieder faschistische Architektur.

Dann kommt die Academia Carrara. Hier frage ich nur, ob sie am Montag geöffnet haben. Ja, haben sie. Dann kann ich bis Montag warten und am Wochenende die Museen ansehen, die nur jetzt geöffnet sind.

Praktischerweise ist gleich neben der Academia Carrara der Aufstieg über eine der Treppen, für die im Reiseführer geworben wird. Davon gibt es ein knappes Dutzend. Diese sind die Scalette della Noca. Die ist breit und lang und hat einen flachen Aufstieg. Aber wenn man oben ist, ist man doch außer Atem.

Oben angekommen steht man direkt vor dem Stadttor, der Porta San Giacomo. Denke ich. Stimmt aber nicht. Es ist die Porta San Agostino, der anderen zum Verwechseln ähnlich sehend. Aber ich bin in einem ganz anderen Teil der Stadt, viel weiter von dem Kern der Città Alta entfernt. Die liegt ganz weit oben und ein ganzes Stück weiter hinten, hinter einer Ebene. Hier kann man sehen, wie groß die Città Alta ist. Das täuscht, wenn man sich nur oben bewegt.

Gleich hinter der Porta liegt die Kirche der ehemaligen Augustinerkirche (XIII), mit einer schönen Fassade. Sie wurde unter Napoleon entweiht, wurde Kaserne und dann Gefängnis. Dann wurde sie lange nicht genutzt und schließlich zur Festaula der Universität gemacht. Drinnen spielt sich auch gerade in diesem Moment eine Zeremonie ab, und die Tore werden verschlossen.

Es geht weiter bergauf, die Via Porta Dipinta hinauf. aber mit sanftem Anstieg. Der Weg endet auf der Piazza delle Scarpe, genauso wie der von der Porta San Giacomo aus. Hier mache ich erst einmal eine Kaffeepause. Heute ist es hier oben noch voller als sonst.

Die Toiletten in dieser Region sind sauber und funktional, aber es gibt immer viel zu wenige, meist nur eine für Männer und eine für Frauen. Hier ist es noch schlechter. Es gibt überhaupt nur eine, und entsprechend ist die Schlange. Zu allem Übel ist die Toilette nicht sonderlich sauber, und es gibt kein Wasser.

Ich gehe den schon vertrauten Weg zur Piazza Vecchia und kaufe unterwegs Postkarten und Briefmarken. Es herrscht zwar kein Gedränge, aber man muss sich so zwischen den vielen Besuchern hindurchwinden. Das Wochenende ist gekommen, und das Wetter ist passabel, nicht sehr sonnig, aber mäßig warm und trocken.

Am Palazzo del Podestà sehe ich wieder ein Schild, das mir dieser Tage schon aufgefallen ist: Università degli Studi di Bergamo. Hier oben soll eine Universität sein? Kann man sich kaum vorstellen. Stimmt auch nicht. Hier hat lediglich 1968 die Sitzung stattgefunden, bei der die Stadt, die Provinz und die Handelskammer sich auf die Gründung einer Universität geeinigt haben.

Hier befindet sich auch das historische Museum, das ich mir ansehen will. Vorher aber geht es die Torre Civica rauf, die Teil des Gebäudes ist. Wieder geht es rauf, wenn auch diesmal über Stufen. Es ist ein ganz ordentlicher Aufstieg. Vernünftige Leute fahren mit dem Aufzug.

Aber der Aufstieg lohnt sich. Man hat auf zwei verschiedenen Stufen den Blick in drei Richtungen. Vor allem die Piazza Vecchia sieht man von hier ganz anders als von unten. Das schöne Dachgeschoss und den Turm von Santa Maria Maggiore sieht man von unten nicht, und jetzt sehe ich überhaupt zum ersten Mal, wie die Kirche ausgerichtet ist. Weiter links sieht man die goldene Statur Alessandros, fast auf gleicher Höhe. Auch die kann man von unten nicht sehen.

Auf der gegenüberliegenden Seite sieht man die Dächer der Häuser der Altstadt und blickt auf die Ausläufer der Alpen in der Ferne. Davor das Valle Brebana, nach dem Brembo benannt. Das könnte der Fluss sein, den ich auf dem Rückweg von Brescia gesehen habe. Von hier aus sieht man auch den Palazza Nuovo in seiner Gänze, und weiter hinten La Roca. Runter geht es dann mit dem Aufzug.

Unten ist ein Ausgrabungsfeld, 2-3 Meter tiefer gelegen. Man geht auf einem Steg darüber und kann die Konturen mit Hilfe der Erklärungen ganz gut erkennen. Die Ausgrabungen stammen aus der römischen Zeit. Man sieht Kanäle, eine Taverne, eine Straße.

Bei den Ausgrabungen ist man auf Reste aus der Zeit der römischen Republik, der römischen Kaiserzeit und der keltischen Epoche davor gestoßen. Die Kelten, Golasecchiani, hatten guten Grund, sich hier niederzulassen. Die Lage des Ortes, zwischen Tälern, Bergen und Ebenen, erlaubten Landwirtschaft, Bergbau und Viehzucht. Es wurden erstaunliche Eingriffe in die Natur gemacht, mit Nivellierungen, Terrassenanbau, Mauern und Häusern aus Holz und sogar aus Stein. Ab dem 4. Jahrhundert v.Chr. begann ein allmählicher Niedergang, über dessen Gründe nichts gesagt wird. Als die Römer im 2. Jahrhundert v.Chr. ankamen, waren nur noch Reste der Siedlung erhalten. Eine richtige Stadt erbauten die Römer aber erst in der Kaiserzeit. Das Vorhandensein der keltischen Siedlung erklärt vielleicht die Lage der römischen Stadt, hier oben auf dem Berg. Sonst haben die Römer immer die Ebene bevorzugt.

Das Museum, das Museo del Cinquecento, hat kein einziges Ausstellungsstück. Es ist eine reine Mediashow, aber ganz gut gemacht.

Der erste Raum handelt von dem Viertel Sant’Alessandro. Dort fand, um den Jahrestag des Stadtpatrons Ende August herum, der Jahrmarkt statt. Das muss ein für uns kaum vorstellbares Erlebnis gewesen sein: fremde Stimmen, fremde Sprache, fremde Kleidung, unbekannte oder erlesene Waren: Stoffe, Schmuck, Hüte, Waren, Eisenwerkzeuge, Kräuter, Fette. Virtuell nachgestellt, ganz dramatisch, wird ein Feuer, das einmal auf diesen Jahrmarkt ausgebrochen ist. Von Bude zu Bude (bottega) breitete sich das Feuer aus, und in anderthalb Stunden war alles hinüber. Genau erfasst sind die Verluste, die jeder der Händler hatte, in zwei Währungseinheiten, scudi und docati.

In einem anderen Raum geht es um die Ankunft des Buchdrucks mit beweglichen Lettern. Hier sieht man ein virtuelles Exemplar der ersten italienischen Bibelübersetzung, beeinflusst von der Reformation.

Es gab Schöne Literatur, Unterhaltung, Erziehung, Justiz, Handel, Freizeit, Lebensführung, ein viel breiterer Fächer von Themen als vorher. Auch suspekte Texte kamen so in den Umlauf.

Dann bekommt man Einblick in eine Apotheke, ein Ort, der sich ganz und gar von einer modernen Apotheke unterscheidet, nicht nur dadurch, dass Arzneien erst vor Ort gemischt wurden, auch durch das Warenangebot: Pfeffer, Ingwer, Zimt, Nelke, Rosenwasser, Tabak, Kakao. Neben diesen exotischen Waren gab es auch Wachs und Pigmente. Man kann dem Apotheker hier bei der Arbeit sozusagen zusehen.

Dann gibt es noch elektronische Karten der Stadt vom Ende des 15. Jahrhunderts. Man gut sehen, wo sich die Stadttore befanden und wo die Märkte. Es gab einen Fischmarkt, einen Heumarkt, einen Schuhmarkt (auf der Piazza delle Scarpe, meinem ständigen Anlaufpunkt in der Città Alta), einen Viehmarkt, einen Holzmarkt und einen Stoffmarkt und, ein ganz klein wenig abseits, aber in kurzer Entfernung gelegen, ein Freudenhaus.

Ich mache mich auf den Weg, und da das Wetter ganz schön ist, gehe ich diesmal den ganzen Weg zu Fuß. An einem Kiosk kaufe ich ein Exemplar des L’Eco di Bergamo. 1,50 €Es gibt einen längeren Artikel über den Papst, einen längeren Artikel über den Bischof und eine größere Beilage mit einem vom Papst veröffentlichten Text. Später lese ich, dass die Kurie bei der Gründung oder bei der Leitung der Zeitung die Hand im Spiel hatte.

Außer den Nachrichten über die große weite Welt, die man besser nicht liest, will man nicht der Verzweiflung anheimfallen, gibt es ein paar interessante Kurznachrichten: Die Zahl der Covid-Fälle ist im Vergleich zum Vormonat zurückgegangen, ein Netzwerk von Versicherungsbetrügern im Internet ist aufgeflogen, die Stimmung unter den Bewohnern und Unternehmern der Provinz ist so schlecht wie lange nicht mehr, aus Island kommt die Nachricht von einem neuen Medikament gegen Migräne, starke Niederschläge haben in der Provinz einen Erdrutsch verursacht und eine Provinzstraße unpassierbar gemacht, in Rom hat ein aus dem oberen Stock eines Hauses herunterstürzender Rottweiler eine schwangere Passantin verletzt. Bei den Todesanzeigen ist die jüngste der Betrauerten 74 und die älteste 96.

Bei vielen Artikeln muss ich passen, da reichen meine Sprachkenntnisse nicht. Bei dem Artikel über die Rentenerhöhung hängt alles an einem Wort, das immer wieder vorkommt: conguaglio. Die Übersetzungen, die man im Internet findet, helfen nicht. Jedenfalls scheint es so zu sein, dass die Renten jeweils der Inflationsrate angepasst werden, und da die im vergangenen Jahr doch etwas höher war als die Rentenerhöhung, gibt es jetzt noch einen Nachschlag von 1%.

Ich bleibe in dem Lokal hängen, wo ich dieser Tage eine Kellnerin spanischen Gästen die Speisekarte erklärte. Auch heute spricht sie Spanisch, mit Gästen aus Malaga, die hinter mir sitzen.

Mich bedient eine andere Kellnerin. Sie fragt auf Englisch, ich antworte auf Italienisch. Dann schwenkt sie auf Italienisch über, aber jedes Mal, wenn sie wiederkommt, spricht sie Englisch mit mir. Sie hat mich inzwischen gefragt, woher ich käme und warum ich Italienisch lerne und hat einen freundlichen Kommentar gemacht, aber besser wäre es, wenn sie einfach Italienisch mit mir sprechen würde.

Ich bestelle Pasta und dann eine gefüllte Paprika. Die Pasta ist gut, die Paprika sehr gut. Das Gemüse, das es dazu gibt, schmeckt nach nichts. Da muss man mit Salz, Pfeffer und Olivenöl nachhelfen. Die werden ungefragt bereitgestellt. Dazu gibt es Bier vom Fass. 5 Euro pro Glas.

Von dem Lokal aus gehe ich zu Fuß nach Hause, um das Essen sacken zu lassen, und gehe kurz in den Aldi.

Bei Aldi gibt es tschechisches, dänisches, spanisches, deutsches, mexikanisches, holländisches und belgisches Bier, aber das italienische muss man mit der Lupe suchen. Der Aldi hat auch morgen geöffnet, mit den ganz normalen generösen Öffnungszeiten des Alltags.

Als ich nach Hause komme, sind alle meine Sachen aus dem Kühlschrank futsch, Tomaten, Käse, Milch, Salat, Würstchen. Die Putzfrau hat gründlich aufgeräumt.

Am späten Nachmittag kommt sie dann und bringt mir die Sachen zurück. Will unbedingt, dass ich auch von den Sachen der Albaner war nehme. Sie entschuldigt sich tausendmal und tut mir fast leid. Ihr Italienisch ist ziemlich begrenzt, sie ist erst ein Jahr hier, auf den Spuren ihrer Tochter, die schon seit ein paar Jahren hier ist. Für jede Information brauchen wir drei Anläufe, aber am Ende versteht sie meine Frage und erklärt, sie sei auch aus Albanien. Und Deutschland fände sie ganz wunderbar. Dabei kreuzt sie die Arme vor der Brust.

29. Oktober (Sonntag)

Erst aus der Heimat erfahre ich, dass heute Nacht die Uhr umgestellt worden ist. Eine Stunde zusätzlich.

Warum heißt das Stracciatella eigentlich Stracciatella? Auf die Frage bin ich auch nicht selbst gekommen. Dabei ist sie so naheliegend. Ich habe eine vage Ahnung, dass stracciare etwas mit Streifen zu tun hat, stimmt aber nicht. Es heißt ‚zerfetzen‘, ‚zerreißen‘. Stracciatella ist, wie ich inzwischen erfahren habe, nicht nur eine Eissorte, sondern auch eine Käsesorte und, wie ich jetzt erfahre, auch noch eine Suppe. Was wird bei den verschiedenen Speisen „zerrissen“? Beim Eis ist es die erkaltete Schokolade, die zerbrochen wird. Bei dem Käse wird die Masse zerstückelt und reift dann in der Molke. Bei der Suppe ist es das zerschlagene Ei, das beim Rühren Fetzen bildet.

Das Wetter zeigt sich gemischt. Die Straße ist nass, der Himmel bewölkt, aber hinten kommt die Sonne heraus. Danach wechselt den ganzen Tag der Nieselregen mit trockenen Phasen ab.

An der Bushaltestelle ein Info-Point des Tourismusbüros, elektronisch. Gute Idee, man braucht nur den Bildschirm berühren und bekommt sofort ein ganzes Menu. So kann man sich die Wartezeiten verkürzen. Nur: Sobald man einen Unterpunkt aktiviert, muss man den QR-Code kopieren. Ohne den geht gar nichts mehr.

In den Bus steigt eine alte Frau ein, winzig klein, tief zerfurchtes Gesicht. Auf dem Kopf hat sie ein Drittel weißes Haar, ein Drittel Glatze, ein Drittel blaues Haar.

In der Innenstadt ist viel Betrieb. Die Leute sind in der Fußgängerzone unterwegs, gehen einkaufen oder einfach flanieren oder Kaffee trinken.

Eine Kette, auf deren Filialen man immer wieder stößt, heißt Kasanova. Sie macht sich die wörtliche Bedeutung des Wortes zu Nutze, casa nova, ‚neues Haus‘. Hier gibt es Haushaltswaren.

Der Routenplaner schickt mich zum Geburtshaus von Donizetti wieder eine Treppe rauf, dann geht es auf einer schmalen Gasse weiter, immer bergauf, bis zum Forte San Domenico, und dann über eine asphaltierte Straße, direkt an der Stadtmauer entlang, die sich rechts hoch auftürmt. Obwohl es gerade mal zweieinhalb Kilometer vom Zentrum sind, ist dies der anstrengendste Aufstieg bisher, immer steil rauf. Der Routenplaner zählt mit provozierender Langsamkeit: 400 Meter … 350 Meter … … 300 Meter … … … 250 Meter. Bin froh, als ich oben ankomme.

Donizettis Geburtshaus ist in der Via Borgo Canale, gerade außerhalb der Stadtmauern in der Città Alta. In dieser Ecke bin ich noch gar nicht gewesen. Das Museum hat nur sonntags geöffnet. Die freundliche junge Frau an der Rezeption erklärt mir, in welcher Reihenfolge man das Museum besichtigt und nimmt mir bescheidene 3 Euro für den Eintritt ab.

In dem Museum gibt es so gut wie keine originellen Ausstellungsstücke. Wo sind die nur alle abgeblieben? Aber die Erklärungen sind gut. Wie das Leben damals war, davon bekommt man nur im Souterrain eine Vorstellung, da, wo die Familie Donizetti tatsächlich wohnte, in zwei Zimmern mit sieben Personen. Es gab nur ein Schlafzimmer für alle und eine Küche. In der Küche gibt es einen Ofen mit Rauchfang. Das Schlafzimmer ist nach meiner Schätzung etwa 6×4 Meter groß, die Küche ähnlich. Im Flur gibt es zwei Räume, die man mit den Bewohnern der oberen Stockwerke teilte, für die Lagerung von Brennholz und für die Versorgung mit Wasser mittels eines Brunnens. Auch der Lokus draußen war eine Gemeinschaftsangelegenheit.

Als jüngstes der fünf Geschwister wuchs Donizetti hier, im Armenviertel Bergamos, als Sohn eines Textilarbeiters und seiner Frau auf. Wenig sprach dafür, dass er dieser Welt eines Tages entkommen würde, nichts sprach dafür, dass er eines Tages ein berühmter Komponist werden würde.

Dann kam Mayrs Musikschule. Außer ihm bewarb sich auch sein älterer Bruder Giuseppe dort, aber der wurde abgelehnt. Er verfolgte aber auch eine musikalische Karriere, diente als Flötist für Napoleon und folgte ihm sogar nach Elba. Er wurde dann vom Sultan, Mahmud II., nach Konstantinopel geholt, um dort die europäische Musik bekannt zu machen. Er blieb das ganze Leben dort und wurde von Mhamuds Nachfolger sogar zum Pascha gemacht. In einem Brief an seinen Vater schrieb er, er freue sich, zu hören, dass sein Bruder Geatano matto per la musica, verrückt nach Musik sei.

Gaetano erlangte zu Berühmtheit 1822 in Rom beim Karneval. Danach bekam er Engagements in Neapel und Mailand, und dann eine feste Stelle in Neapel. Hier schrieb er L’elisir d’amore, Anna Bolena, Lucrezia Borgia, Maria Stuart, Lucia di Lammermoor. Er hatte wohl ein Faible für historische Frauenfiguren.

Er hatte auch ein großes zeichnerisches Talent, und eine Zeitlang sah es so aus, als würde das sein beruflicher Weg werden. Aber er blieb der Musik treu und spielte fortan sein visuelles Talent in exakten Anweisungen für Regie und Bühnenbild aus.

Persönlich hatte er großes Leid zu ertragen. 1837 starb seine Frau im Kindbett, und das Kind überlebte auch nicht. Schon vorher hatten sie zwei Kinder verloren, eins durch eine Todgeburt, eins überlebte nur wenige Tage. Donizetti war verzweifelt, fragte sich, was er alleine noch auf der Welt solle. Er stürzte sich in die Arbeit und übersiedelte dann, nachdem ihm er in Neapel auch mit einer Initiative auf taube Ohren gestoßen war, nach Paris. Und komponierte für die Bühnen in Paris und Wien. Er pendelt zwischen Paris, Wien und Bergamo hin und her.

Schon 1843 gab es Anzeichen einer Gehirnerkrankung, und 1846 wurde er in ein Irrenhaus eingewiesen, im französischen Ivry-Sur-Seine. Von dort holte ihn Francesco, ein weiterer Bruder, nach Bergamo zurück, wo er 1848 im Alter von 51 Jahren starb. Über die Krankheit und deren Symptome wird hier nichts verraten.

In einem anderen Raum des Museums wird der Lebensweg von Mayr nachgezeichnet. Der hatte es einfacher als Donizetti. Er kam aus einer Musikerfamilie. Sein Vater, sein Großvater und sein Onkel waren allesamt Organisten. Er machte eine internationale Karriere und galt zu seiner Zeit als einer der berühmtesten Komponisten überhaupt. Ich hatte den Namen noch nie gehört. In Bergamo fand er seine Heimat und konnte es sich leisten, Rufe nach Rom, Mailand, Venedig und Dresden abzulehnen.

In der oberen Etage gibt es eine Photowand mit dem Theater von Bergamo und einer genauen Beschreibung der Einzelheiten. Davor stehen Kostüme von Sängerinnen und Sängern mit historischen Rollen.

Das Theater von Bergamo geht zurück auf die Initiative eines einheimischen Textilfabrikanten. Der begann damit, dass er 1784 illegal auf das Grundstück, auf dem im Sommer immer das mobile Theater errichtet wurde, Steinblöcke und Pfeiler verfrachtete und aufbaute. Es gab ein jahrelanges Tauziehen mit der Gemeinde, die aber am Ende nachgab.  Das Theater wurde vollendet, wurde aber 1797 durch ein Feuer vollständig zerstört. Der Mäzen machte sich sofort an den Wiederaufbau und vergrößerte das Forum dabei auf 2.000 Zuschauer. Dann machte er Bankrott, das Theater wurde versteigert, die Erben ersteigerten es, und dann ging es schließlich an die Gemeinde. Zum hundertsten Geburtstag des Komponisten wurde es dann in Teatro Donizetti umbenannt. 

Wieder draußen, stoße ich gleich an der Ecke auf ein modernes Café in einer alten Villa. Ich bestelle meinen Cappuccino und komme mit dem freundlichen Wirt ins Gespräch, über Donizetti und das Reisen und Brescia.

Gleich nebenan ist die Station des Funicolare San Vigilio, und da ich schon genug gelaufen bin, steige ich ein. Aber sie fährt in die falsche Richtung, rauf statt runter. Egal, ist umsonst, wird mitgenommen. Oben komme ich in einem völlig unbekannten Viertel der Altstadt an. Jetzt geht es wieder runter, zu Fuß. Von hier aus blickt man in die Ferne und sieht, wie groß die Ebene ist, die die Kelten veranlasst hat, sich hier niederzulassen. Man sieht auch, wie groß die Città Alta ist, denn Santa Maria Maggiore sieht man in guter Entfernung auf dem Nachbarhügel. Wieder komme ich an San Vigilio vorbei, und immer weiter geht es runter. Ich passiere ein weiteres Stadttor, die Porta San Lorenzo. Ihren Namen hat sie von einer ehemaligen Kirche, die hier stand, aber den Verteidigungsanlagen weichen musste. Dieses Stadttor wurde später geschlossen, weil es baufällig war. Die Anwohner protestierten, denn sie mussten jetzt weite Umwege machen, um in die Stadt zu kommen. Daraufhin wurde das Stadttor wiederhergerichtet. Man kann die Bauarbeiten gut erkennen.

Es geht noch weiter runter und dann komme ich unten an, in einem unbekannten Viertel. Der Blick auf die vor mir liegenden, halb in den Wolken verschwindenden Berge hat was.

Zufällig stoße ich auf eine Haltestelle, an der die 9 abfährt. Glück gehabt. Beim Blick auf den Fahrplan bin ich wieder mal leicht verwirrt wegen feriale und festivo. Hören sich beide nach Feiertag an. Ich brauch nur zehn Minuten zu warten.

An der Haltestelle wartet ein Mann mit Gehstock und Stockschirm. Das scheint gut zu gehen wie mit zwei Stöcken. Allerdings hat er einen Rucksack um und eine Tasche umgeschnallt. Ich habe mal gelesen, dass der Erfinder des Knirpses ein Mann war, der einen Gehstock benutzte und den Knirps erfand, damit er die andere Hand frei hatte.

Ich habe es mir im Bus bequem gemacht und achte gar nicht darauf, dass der an der Porta Nuova anders abgebogen ist, zum Bahnhof hin. Dann merke ich es, steige aus und gehe zurück zur Porta Nuova. Da muss ich aber feststellen, dass die 9 sonntags gar nicht in diese Richtung fährt und die 8 erst in einer Stunde wieder kommt. Die muss gerade abgefahren sein. Also geht es zu Fuß nach Hause. Als ich den ersten halben Kilometer hinter mir habe, fährt die verspätete 8 an mir vorbei. Egal, es regnet nicht mehr, und so komme ich heute auch auf eine ordentliche Anzahl von Schritten. Und zu Hause wartet das italienische Bier aus dem Aldi.

30. Oktober (Montag)

Gestern sind zwei neue Gäste gekommen, zwei Italiener. Sie sind am Abend ausgegangen und kommen erst spät zurück. In der Nacht lassen sie das Licht im Flur, in der Küche und im Wohnzimmer brennen. Ich mache es aus, und als ich das nächste Mal aufstehe, sind alle wieder an. Heute, als ich aus der Stadt zurückkomme, sind sie schon wieder abgereist. Wieder brennen alle drei Lampen. Sie scheinen ein entspanntes Verhältnis zum Stromverbrauch zu haben.

Ich habe Glück: Es hat die ganze Nacht geregnet, aber als ich mich auf den Weg zum Museum mache, hat es aufgehört, zu regnen, und ich komme trockenen Fußes an. Dann habe ich nochmal Glück: Als ich im Museum bin, regnet es, aber als ich rauskomme, hört es gerade auf. Dann habe ich aber mein Glück aufgebraucht. Wieder in der Stadt, fängt es an zu regnen, und dann hört es auch gar nicht mehr auf. Es ist der bisher wohl trübste Tag in Bergamo.

Auf dem Weg zum Museum mache ich Halt in einem Café. Dort gibt es ein bisschen Kakao oben auf den Cappuccino drauf, den besten, den ich bisher hier getrunken habe.

Die Academia Carrara ist ein renommiertes Gemäldemuseum, untergebracht in einem sehr musealen Gebäude, mit einer Fassade, die zwischen Barock und Klassizismus oszilliert. Der Bau ist, wie eine Inschrift auf der Fassade verrät, von 1810.

Es gibt eine originelle Sonderausstellung, in der sich alles um das Thema Theater dreht, aber ich sehe mir die Dauerausstellung an. Mit 8 Euro bin ich dabei – trotz Rabatt der bisher teuerste Eintritt.

Die Ausstellung deckt die Spätgotik und die Renaissance ab, und fast alle Maler sind Italiener.

Es geht los mit einer anonymen Kreuzigung aus Siena (1310). Wie Florenz war Siena bekannt für Tafelbilder der Spätgotik und den eleganten, schönen, ausdrucksvollen Darstellungen. Nur hielt der Trend in Siena länger an, in Florenz vollzog sich eher die Entwicklung zu einer realistischen Darstellung unter der Beachtung der Perspektive, wie sie für die Renaissance charakteristisch wurde. Hier in der Kreuzigungsszene haben wir einen schräg am Kreuz hängenden Christus mit bleicher Haut zwischen den in langen Gewändern gekleideten Johannes und Maria, sie in Grün-Rot, er in Rot-Grün. Ihre Trauergesten sind sehr unterschiedlich, aber beide etwas theatralisch.

Dann kommt ein Bild, ein Bild von Piselli (1450), bei dem man, obwohl übermalt, noch ein Schlüsselloch erkennen kann. Solche Bilder waren für die Abdeckung von Truhen gemacht, in der Regel Truhen, in denen die Mitgift aufbewahrt wurde. Dazu wurde ein passendes Thema gewählt, die Geschichte von Griselda, von Boccaccio erzählt. Griselda wurde von ihrem künftigen Ehemann auf ziemlich harte Weise auf die Probe gestellt, um ihre Treue zu überprüfen. Sie bestand den Test. Deutlich zu erkennen ist der Kontrast zu dem ersten Bild in der Malweise. Hier erhält die Perspektive in der Säulenhalle und in den Körpern der davorstehenden Hunde Eingang in die Malerei.

Dann kommt ein ganz ungewöhnliches Ausstellungsstück, eine Sammlung von Tarok-Karten, 21 von insgesamt 56. Sie zeigen entweder Symbole wie Dukaten, Schwerter, Speere und Pokale oder Figuren: Frauen mit einer Mondsichel oder einem Stern in der Hand, androgyne Höflinge und langhaarige blonde Frauen mit Schwertern und auf dem Pferderücken. Man fragt sich, was sie wohl zu bedeuten haben.

Dann kommt das einzige Bild der Sammlung, das nicht von einem italienischen, jedenfalls nicht aus Italien stammenden Malers stammt, eines Malers, dessen Name seine Herkunft verrät: Giovanni d’Alemagna (nicht della Germania!). Es zeigt die Hinrichtung von Sant’Appolonia. Sie liegt am Boden, der Scharfrichter hält ihr das Messer an den Hals, ein strenger Richter mir hohem Hut sitzt auf dem Sockel einer Säule, umgeben von Beamten und Zuschauern. Von oben auf der Treppe, gucken zwei Betrachter heimlich zu, und ein Kind versteckt sich hinter der Säule, halb neugierig, halb verängstigt dahinter hervorguckend.

Dann kommt ein Bild von Mantegna. Der kam schon in jungen Jahren in die Werkstatt Donatellos in Padua, der ihn sehr beeinflusste. Auch seine Beziehung zu seinem Schwager Bellini war wichtig für ihr. Er wurde dann später Hofmaler bei den Gonzaga in Mantua. Groß im Mittelpunkt des Bildes eine Madonna mit einem zahnenden Jesuskind, das sich an die Mutter klammert. Die sieht in liebevoll an. Hier steht die Beziehung im Vordergrund, das Bild ist kaum als sakrales Bild zu erkennen. Für die besondere Technik Mantegnas, heißt es, war die Tempera verantwortlich, auf einer Mischung von Pigmenten mit Eigelb beruhend.  Das erklärt den fast durchsichtig schimmernden Umhang der Madonna.

Dann kommt Bellini mit einem Christus zwischen Maria und Johannes, in Halbkörperdarstellung. Der weiße weißer Körper Christi mit geschlossenen Augen zwischen Maria und Johannes, mit unterschiedlichen Trauergesten. Es gibt keinen Hintergrund, nur die Figuren zählen. Das Bild erinnert an die frühe Darstellung aus Siena, könnte aber unterschiedlich gar nicht sein. Der gewählte Ausschnitt der Figuren ist viel kleiner als bei dem Gemälde aus Siena, und die Figuren sind ganz nahe an Christus, schmiegen sich beinahe an ihn.

Auf dem folgenden Bild, einer Geburt Mariens von Carpaccio (1502), gibt es immer neue Details zu entdecken, je länger man hinschaut. Die Geburt findet nicht in Palästina statt, sondern in einem venezianischen Herrenhaus mit Holzbalkendecke und gefliestem Boden. Auf das biblische Thema weist eine Wandtafel auf Hebräisch hin, vor der sich gerade ein Vorhang öffnet. Auf einem Wandregal stehen Leuchter, Dosen und Vase, und über dem Mäuerchen im Vordergrund hängt ein gewebter Läufer. Maria liegt in einem Alkoven, sieht entspannt aus, den Kopf auf eine Hand gestützt. Ein Dienstmädchen kommt auf die zu mit einer Schale mit Suppe und einem Löffel. Vorne im Zentrum eine Amme mit dem Jesuskind über einem Zuber. Links davon Joachim, ein bisschen alt für die Rolle des Vaters, mit Stock und langem, grauen Bart. In der Mitte machen sich zwei Hasen über die Nachgeburt her. Auf dem Mäuerchen vorne eine Rolle Klopapier! Durch eine Öffnung links sieht man nach draußen, und in der Mitte sieht man weitere Räume nach hinten hin, in denen sich Dienstmädchen mit der Wäsche beschäftigen. Ganz hervorragend das Spiel von Licht und Schatten, die genauen Schattenlinien, die der Vorhang, die Vasen, die Balken und die Körper der Figuren werfen.

Dann kommt wieder ein Bild von Madonna mit Jesuskind. Wieder befinden sich Mutter und Kind in inniger Kommunikation. Aber hier gibt es im Hintergrund verschiedene Szenen zu sehen, rechts eine Burg und halb verdeckte Bäume, links in der Ferne eine Stadt mit schlanken Türmen, und davor ein berittener Jäger mit Jagdgehilfen, die mit Speeren vor ihm hergehen, und zwei Schäfer bei der Rast. Der absolute Hingucker ist aber eine Birne, vermutlich von symbolischer Bedeutung, vorne auf der Brüstung. Die sieht zum Reinbeißen aus.

Im letzten Saal geht es um Mittelitalien. Es gibt Bilder von Botticelli und Raffael und einem Maler namens Genga, die Taufe von Katechumenen durch San Agostino darstellend. Nicht der Heilige ist der Protagonist, auch nicht die Umstehenden, sondern die vier Katechumenen, leicht bekleidet, jeder in einer anderen Pose. Der eine zieht gerade ein Hemd aus, der nächste steigt ins Taufbecken, der nächste klettert heraus, und der vierten, bereits abgefertigt, liegt auf dem Boden. Es sind Muskelprotze, Bodybuilder, moderne Zehnkämpfer, und durch die Bewegung kommen ihre verschiedenen Muskeln ganz zur Geltung, Oberarme, Waden, Pobacken, Schultermuskulatur usw. Das Bild ist wie eine anatomische Studie. Hier, hat man den Eindruck, könnte sich Michelangelo was abgeguckt haben.

Von Raffael ist ein Sebastian erhalten (1502), den er mit gerade mal 20 gemalt hat. Keine Wundmale, kein Martyrium, einfach ein junger Mann, der etwas gedankenverloren, träumerisch in Richtung des Betrachters schaut. Er hält einen Pfeil in der Hand, aber der könnte ebenso für Amor wie für das Martyrium stehen. Interessant, wie hinten Himmel und Landschaft in blauer Pastellfarbe miteinander verschwimmen.

Ganz anders ein Botticelli (1505), der eine römische Jungfrau, die auch noch Virginia heißt, zum Thema hat. Das ganze Bild ist voller Figuren, vielleicht werden verschiedene Szenen dargestellt, denn man glaubt, Virginia mehrmals zu erkennen. Ganz hinten in der Apsis Appio Claudio, von Häschern, Ratgebern und Soldaten umgeben, der Mann, der Virginia nachstellt, aber von ihr zurückgewiesen wird. Virginia wird hingerichtet, aber ihr Tod bedeutet, wie bei Lucrezia, das Ende des Despoten. Auffallend die vielen Pferde im Vordergrund, braune, graue, schwarze, weiße, in unterschiedlichen Szenen in unterschiedlichen Positionen. Ihre Füße bewegen sie so wie es Dressurpferde tun, so als ob sie unterschiedliche Figuren darstellen wollten. Damit endet die Besichtigung  in diesem sehenswerten Museum.

Wegen des Taxis morgen früh habe ich an das Taxiunternehmen geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Beim Anruf heute Morgen bin ich auch nicht weitergekommen. Warum, weiß ich auch nicht genau. Ich habe nicht alles verstanden, aber ich habe wohl eine Taxifahrerin unterwegs erwischt und nicht die Zentrale. Aber unter der Nummer, die im Internet angegeben ist. Jedenfalls hieß es, sie könne keine Reservierung vornehmen.

Ich gehe zum Taxistand an der Porta Nuova, und die Taxifahrerin sagt mir, hier stünden nachts keine Taxis, wohl aber in der Regel am Bahnhof. Ich solle aber besser reservieren. Daraufhin schildere ich ihr mein Dilemma, und sie sagt nur achselzuckend, das verstehe sie auch nicht.

Ich gehe zur Touristeninformation am Bahnhof und bitte die Frau dort, für mich anzurufen. Sie ist kurz angebunden und sagt nur, das könne sie nicht machen. Daraufhin gehe ich zu einem der Taxifahrer und der sagt mir, ja, während der Nacht könne ich hier ein Taxi bekommen. Hierher muss ich dann wohl laufen. Werde also auch morgen auf meine Schritte kommen.

Ich gehe in die Innenstadt zurück und esse unterwegs in einem Café eine Polenta e osei, eine süße Spezialität Bergamos.  Es handelt sich um eine Halbkugel aus Biskuit, mit Creme gefüllt und mit einem gelben Überzug aus Kristallzucker. Oben drauf sitzt der namensgebende Vogel – osei ist das regionale Wort für uccello – aus schwarzer Schokolade. Hier muss man viel Phantasie aufwenden, um einen Vogel erkennen zu können. Habe schon bessere gesehen, in den Schaufenstern der Konditoreien der Città Alta. Wie dem auch sei, dies ist die süße Imitation der ursprünglichen Polenta e osei, die nicht süß, sondern herzhaft ist und wirklich aus Polenta besteht. Und der Vogel, der oben draufsitzt und den Fleischanteil ausmachte, war ein Singvogel.

Briefkästen sind heutzutage eine Rarität, nicht nur in Deutschland. Ich streife durch die Innenstadt auf der Suche nach einem, lange vergeblich. Selbst an der Porta Nuova ist keiner. Dann sehe ich einen am Straßenrand, gehe freudig drauf zu, muss aber feststellen, dass die Briefschlitze zugeklebt sind. Die Suche geht weiter. Ich finde nichts, muss also zum Bahnhof zurück. Dort laufe ich etwas verloren über den Platz, gehe ins Bahnhofsgebäude rein – nichts. Alle möglichen roten Kästen, die vielversprechend aussehen, erweisen sich als Stromkästen.

Ich gehe zum Bushahnhof und irre dort umher, ohne Erfolg. Ich frage den Mann an der Information – keine Ahnung. Vielleicht auf den Gleisen? Also zurück in den Bahnhof und die Gleise abklappern. Nichts. Dann kommt die Lösung. Eine Frau beim Tabaccaio sagt mir, auf der Giovanne XXIII sein einer, auf der linken Seite. Sie hat Recht. Erleichtert werfe ich meine Fracht ein. Wie das so ist, komme ich dann später auf dem Heimweg an einem Postamt vorbei.

Bei der Gelegenheit kaufe ich in einer Art Feinkostgeschäft ein Stück Pizza, Margerita zum Mitnehmen. Das kostet 5 Euro! Und gleich gegenüber gibt es dann noch zwei Flaschen Moretti für heute Abend.

Aber vorher will ich noch mal in die Eisdiele, die Roma, dieselbe wie dieser Tage. Wieder zwei Bällchen, wieder ist Stracciatella dabei, wieder mit Sahne, wieder derselbe umwerfende Geschmack. Ich achte auf die Fragen des Mädchens hinter dem Tresen und erinnere mich an vergessen geglaubte Wörter: cono, ‚Hörnchen‘, copetta, ‚Becher‘, pallina, ‚Kugel‘. Hört sich alles ganz einleuchtend an, aber aus dem aktiven Wortschatz ist das alles verschwunden.