Stratford (2017)

13. Agust (Sonntag)

Als ich bei meiner Unterkunft, einem Bed & Breakfast Haus, klingele, öffnet keiner. Die Klingel scheint nicht gut zu funktionieren, aber ich versuche es mehrmals und irgendwann hört man auch deutlich, dass die Klingel geht. Keine Antwort. Ich sehe mich etwas hilflos um. Da kommt ein Nachbar zu Hilfe und macht mich auf den Fehler aufmerksam: Ich bin an der falschen Haustür. Es ist nebenan. Da bin ich wohl nicht der erste, dem das passiert.

Nebenan (ich hatte vorher schon auf diesen Eingang geschielt, weil das Haus viel besser aussah) wird geöffnet. Ein junger, stattlicher Mann namens Rob führt mich nach oben und gibt alle nötigen Instruktionen. Das Zimmer ist winzig, hat aber alles, was der Mensch begehrt, darunter einen Teekessel und WLAN. Das Bad ist außerhalb des Zimmers und, im Unterschied zum Zimmer, so modern, dass ich am nächsten Morgen die Dusche erst nicht in Gang setzten kann. Sie funktioniert auf „Knopfdruck“.

Bei der Landung in London, noch im Flugzeug war mir beim Blick auf die Uhr das Herz in die Hose gerutscht: Das ist doch gar nicht zu schaffen, von hier bis Marylebone in fünfzig Minuten. Dann Entwarnung: Ich hatte vergessen, die Uhr zurückzustellen.

Alles funktionierte reibungslos. Auf die britischen Bahnen war mal wieder Verlass. Aber am Ende ist es eine umständliche Reise, mit fünf verschiedenen Verkehrsmitteln: Auto, Flugzeug, U-Bahn, Zug, Taxi.

Der Taxifahrer ist pakistanischer Abstammung, dritte Generation. Sein Großvater hat Indien noch vor der Teilung gekannt!

14. August (Montag)

Es gibt English Breakfast, wie es im Buche steht. Das junge Ehepaar hat das Haus vor ein paar Jahren gekauft (und fast komplett modernisiert) und sich den Wunsch erfüllt, ein eigenes B&B zu betreiben. In dem Begrüßungsschreiben steht, sie hätten beide Hospitality studiert, an der Universität (!), und sich dabei kennen gelernt. Der Service ist gut, aber nicht besser als woanders, und bleibt etwas hinter der unnötig bombastischen Ankündigung der Gastfreundschaft in dem Begrüßungsschreiben zurück. Sehr gut waren die Tipps, die ich zum Transfer von London nach Stratford bekommen habe. Die haben Zeit und Geld gespart.

Schon gestern im Taxi konnte ich sehen, dass man den Weg von der Unterkunft zum Zentrum problemlos zu Fuß machen kann. Das erspart viel „Theater“. Später spreche ich mit einer Frau, die mit dem Auto angereist ist, auch nur für diese eine Woche, und sechs Kilometer außerhalb des Stadtzentrums wohnt. Da habe ich es besser getroffen.

Auf dem Weg zum Shakepeare Centre lese ich an einem Supermarkt ein Schild falsch: Watch batteries. Das ist ein Kompositum, kein Imperativ.

Bei dem Weg über den Avon und durch das Zentrum kommt mir wieder ins Bewusstsein, dass Stratford, auch wenn man den ganzen Shakespeare-Trubel weglässt, einfach auch eine schöne englische Kleinstadt ist, sehr typisch. Das gilt auch für die Pfarrkirche, dem besten Postkartenmotiv, im alten Zentrum gelegen, ein ganz klein bisschen abseits der Shakespeare-Stätten.

Der Kurs wird vom Shakespeare Birthday Trust geleitet, im Shakespeare Centre untergebracht. Das ist in der Henley Street, direkt neben dem Geburtshaus. Jetzt, am frühen Vormittag, ist es hier noch sehr ruhig.

Es wird ziemliches Aufhebens um die Sicherheit gemacht. Man hat den Eindruck, man würde für einen Flug einchecken. Aber das wird dann bald anders, sobald man seinen Ausweis hat.

Es geht los mit einer unterhaltsamen Einführung durch einen rundlichen Mann, Nick Walton, der mit hoher Stirn und Bart fast selbst etwas wie Shakespeare aussieht. Er betont, wie klein Stratford sei, dass wir es in zwei Tagen in- und auswendig kennen würden. Komischerweise habe ich gerade am Morgen noch gedacht, dass Stratford größer ist, als ich es in Erinnerung habe. Als wir am Mittag wieder auf die Straße kommen, ist in der Innenstadt Verkehr wie in einer Großstadt.

Natürlich, sagt Walton, werde Shakespeare hier an allen Ecken und Enden ausgeschlachtet. Er nennt ein paar Geschäftsnamen, darunter, gleich gegenüber ein Café, das The Food of Love heißt und einem Zitat aus Twelfth Night geschickt eine materielle Bedeutung gibt, die es im Stück nicht hat.

Wir werden drei Stücke im Royal Shakespeare Theatre sehen und zwei im Swan Theatre, dem kleineren, intimeren, von Schauspielern bevorzugten Theater. Das Royal Shakespeare Theatre ist mehrere Jahre geschlossen gewesen und unter erheblichen Kosten umgebaut worden. Ich kenne es noch aus der Zeit vor dem Umbau, als es noch eine Guckkastenbühne hatte.

Walton erklärt, dass man entschieden hat, jedes Jahr eine bestimmte Gruppe von zusammengehörigen Stücken aufzuführen, Historien, Stücke, die in Venedig spielen, und dieses Jahr eben Stücke, die in Rom spielen. Von den vier römischen Stücken dieser Spielezeit sehen wir drei. Viele Schauspieler haben Rollen in zwei Stücken und proben gleichzeitig jetzt ihre dritte Rolle in Coriolanus.

Zu den römischen Stücken zählt auch Titus Andronicus, eins der seltensten Shakespeare-Stücke, was die Aufführungen betrifft. Es ist auch das letzte Shakespeare-Stück, was durch die RSC zur Aufführung gebracht wurde, 1955.

Die letzten Jahre waren besonders für die RSC. Es gab zwei Jubiläen zu feiern: den 450. Geburtstag 2014, den 500. Todestag 2016. Bei den Feiern tragen viele der Beteiligten Rosmarin am Revers, eine Anspielung auf Hamlet („There’s rosemary, that’s for remembrance“), oder sind in schwarz und gelb gekleidet, den Farben des Shakespeare-Wappens, das sein Vater beantragt hatte (und das auch an der Fassade des Geburtshauses hängt). Beim Todestag wurde jedem Besucher eine Shakespeare-Maske in die Hand gedrückt, die man dann auf Kommando vors Gesicht hielt. Auf einmal war die ganze Stadt voller Shakespeares.

500.000 Besucher hat das Geburtshaus jedes Jahr. Man versucht, den Besuchern Shakespeare durch eine Ausstellung nahezubringen, durch die man geht, bevor man das Haus selbst betritt. Diese Ausstellung wird alle vier bis fünf Jahre neu konzipiert. Es gibt ein Leitmotiv. Das Leitmotiv der jetzigen Ausstellung will er uns aber nicht verraten. Das sollen wir selbst rausfinden.

In der vorherigen Ausstellung wurden u.a. 13 große Shakespeareaner vorgestellt, darunter Wanamaker, der die Initiative zum Wiederaufbau des Globe gab. Warum 13? Das ist hier die Frage. Gar nicht so leicht zu beantworten. Die Antwort: Weil man jedes Shakespeare-Stück mit 13 Schauspielern zur Aufführung bringen kann. Vorausgesetzt, man will nicht für jede Rolle einen anderen Schauspieler.

Dann ist Pause. Ich komme mit einer sehr gut Deutsch sprechenden Amerikanerin ins Gespräch, die ein Multitalent zu sein scheint. Unter anderem ist sie selbst auch Schauspierlin und hat eine Jazzband. Sie sagt aber, die einzige Vollzeitarbeit, die sie je gehabt habe, sei die einer Mutter. Sie hat in Michigan studiert und ist jetzt in Basel. Sie ist mit der Baseler Gruppe hier, mit der wir einige Veranstaltungen zusammen machen.

Dann komme ich noch mit einer Frau aus Greifswald ins Gespräch. Sie hat neben Englisch auch Schwedisch studiert. Das ist in Meck Pomm ein vollwertiges Schulfach. Sie sagt, sie habe selbst eine wunderbare Literatur-Lektorin gehabt, die ihnen Shakespeare nahegebracht habe, habe selbst aber lieber Sprachwissenschaft gemacht. Da wisse man doch, wo man dran sei. Sie habe auch in Sprachwissenschaft viel von einem Fach zum anderen transferieren können.

Nach der Pause ist ein ganz anderer Sprecher an der Reihe, Paul Edmondson, ein ganz bedächtiger, leise sprechender Mann, der sich immer wieder mit der Hand gedankenschwer über den kahlen Kopf fährt. Er ist im Nebenberuf Priester der Anglikanischen Kirche. Wie das wohl mit dem Shakespeare-Posten zu vereinbaren ist? Zeitlich.

Er spricht über Julius Caesar, unser erstes Stück. Er erwähnt eine moderne amerikanische Inszenierung, bei der Cäsar wie Donald Trump aussah. Eine Entscheidung, die Delta Airlines und die Bank of America dazu veranlasste, ihre Sponsorengelder zurückzuziehen.

Edmondson zeigt einen Cartoon, der das Stück in drei Bildern zusammenfasst: Cassius und Brutus töten Cäsar; Marc Anton hält eine große Rede; Cassius und Brutus töten sich.

Eine der Entscheidungen, die jeder Regisseur zu treffen hat, ist, wie viele Statisten man auf die Bühne bringt. Er selbst, Edmondson, ist ganz im Anfang seiner Tätigkeit bei der RSC mal in die Lage gekommen, eine Statistenrolle einzunehmen, weil er zufällig die richtige Größe hatte. Er erinnert sich auch an eine eindrucksvolle Inszenierung, bei der die Bühne voll war von Soldaten, Plebejern und Senatoren. Aber nicht jeder Regisseur hat das Geld, so viele Statisten zu bezahlen.

Julius Caesar, sagt Edmondson, sei ein ernstes Stück. Es gebe fast keine Komik, keine Schlüpfrigkeiten. Außerdem gebe es ganz wenig Prosa. Es ist auch ein sehr männliches Stück mit wenigen Frauenrollen. Und diese Rollen, Brutus‘ Frau Portia und Cäsars Frau Calpurnia, sind weder zentral für die Handlung noch sehr ausdifferenziert.

Unsere Aufführung lässt die Figuren in römischen Kostümen auftreten. Und überlässt es damit dem Betrachter, die ohnehin vorhandenen politischen Implikationen selbst zu erkennen. Die meisten Inszenierungen machen das aber explizit, indem sie Cäsar als eine Art Tito, Mussolini oder als einen afrikanischen Despoten auftreten lassen oder eben als Trump.

Einigkeit scheint darüber zu herrschen, dass Cäsar ein Diktator und Brutus der Befreier ist. Aber ob das Stück das wirklich hergibt? Ich frage mich auch heimlich, ob es etwas zu bedeuten hat, dass das Stück Julius Caesar heißt und nicht Brutus oder Antonius. Ein Zitat von Forster stellt eine wichtige handlungsrelevante Frage: “If I had to decide whether to betray my friend or my country, may God give that I betray my country”. Und Dante sah das auch so. Bei ihm landen Brutus und Cassius in den untersten Ringen der Hölle.

Obwohl das Stück Julius Caesar heißt, kommt Cäsar gar nicht so viel vor. Seine Rolle ist zumindest rein quantitativ der von Cassius, Antonius und Brutus unterlegen. Das sind wohl die vier Hauptcharaktere des Stückes.

In einer Nebenrolle taucht auch Cicero auf. Jemand sagt von ihm, er spreche Griechisch. Das ist sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne gültig. Griechisch im Sinne von ‚Kauderwelsch‘ war auch schon zu Shakespeares Zeit im Umlauf.

Besonders eindringlich zitiert Edmondson eine Passage von Cassius: “What trash is Rome, what rubbish and what offal, when it serves for the base matter to illuminate so vile a thing as a Caesar!” Was die genaue Bedeutung dieser Passage ist, erschließt sich mir nicht. Vielleicht bei der Aufführung.

In der Mittagspause gehe ich irgendwo einen Tee trinken, High Tea mit scones. Die Bedienung ist sehr freundlich. Ich frage mich, warum die Frau aus Greifswald bei der Erwähnung der Engländer die Nase rümpft. Sie fühlt sich in Schweden wohler. Da sei es auch sauberer. Ja, das kann man verstehen. Aber sonst kann ich das nicht so nachvollziehen.

Am Ende der Henley Street sehe ich die Skulptur des Fools, die ich viel weiter draußen in Erinnerung hatte. Auf dem Sockel unter dem Narren, mit Narrenkappe, in gebeugter Haltung, steht auf allen vier Seiten ein Zitat zum Narren, darunter mein liebstes: „The fool doth think he is wise, but the wise man knows himself to be a fool.“

Am Nachmittag gibt es einen Vortrag zu Geschichte der Ausgaben und Herausgeber. Auf einem langen Tisch liegen Ausgaben von einer Quarto-Ausgabe von The Rape of Lucrece bis zur New Oxford Ausgabe mit allen Stücken. Vertreten sind auch Faksimile-Ausgaben aller vier Folios. Eine davon, nicht die erste, ist die wertvollste, da viele Exemplare im Great Fire von London zerstört wurden. Eine andere ist die erste, die auch Abbildungen enthält. Später gibt es dann auch Ausgaben für den Regisseur und Schulausgaben, vor allem seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, als die Schulpflicht eingeführt wurde. Wir sehen auch eine Seite aus einer elektronischen Ausgabe. Aber auf die Frage, wer von uns sie benutzt, gibt es nur Schweigen. So eine Ausgabe hat viele Vorteile, aber auch Nachteile. Man muss letztlich die Arbeit des Herausgebers selbst leisten, wenn alle Alternativen angeboten werden.

Die Frau, die den Vortrag hält, die selbst auch Schauspielerin ist, zählt die vielfachen Aufgaben des Herausgebers auf, Emendationen, ggf. Akteinteilung, Modernisierung der Rechtschreibung, Annotationen und vieles mehr. Wie wichtig das für einzelne Passagen sein kann, zeigt der Fall, wo entschieden werden muss, ob es son oder sonne heißen soll.

Von den Herausgebern wird besonders Malone erwähnt, der als erster auf die alten Quellen zurückgriff. Er hatte sowohl eine emotionale Leidensgeschichte als auch gesundheitliche Probleme und stürzte sich ganz in die Arbeit, so sehr, dass er kaum Zeit zum Schlafen hatte.

Vor ihm spielt Pope eine große Rolle, der Shakespeare ganz im Sinne des Klassizismus verstand. Er entfernt aus allen Stücken Passagen, weil er glaubte, sie stammten nicht von Shakespeare, notierte sie aber gewissenhaft am Ende der Seite. Er kennzeichnete auch solche Passagen, die ihm nicht gefielen, mit einem Dolch. Wir sehen eine aus Love’s Labour’s Lost, die drei Dolche bekam.

Dann gibt es natürlich noch Bowdler, der die purgierte Ausgabe von Shakespeare besorgte. Die wurde anfangs sehr kritisiert, hatte aber allergrößten Erfolg. Alles, was für Kinderohren oder die von Erwachsenen der Mittelschicht nicht zumutbar war, wurde getilgt. Armer Shakespeare! Hinter dieser puritanischen Attitude kommt aber doch die Lust am Schimpfwort zum Vorschein, dem man zu Leibe rückt. Wie immer bei solchen Eingriffen sind die Entscheidungen eher willkürlich: Einige Wörter, die drin blieben, scheinen stärker zu sein als andere, die rausflogen.

Nach dem Vortrag können wir uns die Bücher ansehen. In den meisten darf man sogar blättern. Auf einem Nebentisch liegen auch ein paar deutsche Ausgaben. Die will wissen, was wir dazu zu sagen haben. Wenig. Interessanter wäre hier die Frage nach den Übersetzungen. Im Ausland entsteht in jeder Generation ein neuer Shakespeare.

Auf dem Rückweg komme ich, kurz vor der Brücke, an einem Monument vorbei, von Gower Ende des 19. Jahrhunderts gestaltet, in Erinnerung an Garricks Festival mehr als hundert Jahre vorher, das Stratford überhaupt erst wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte. Der Bard sitzt ganz oben auf einem Sockel, dem Betrachter weit entrückt. Um das Monument herum gruppieren sich die Statuen von vier repräsentativen Charakteren: Hamlet, in Denkerpose, mit Totenschädel (aber auch mit Dolch!), steht für die Philosophie; Lady Macbeth, ihre Hände waschend, seht für die Tragödie; Falstaff, mit Bierbauch und offenem Mund, in dem ein paar Zähne fehlen, steht für die Komödie; Prince Hal, im Begriff, sich selbst die Krone aufzusetzen, steht für die Historie. Am Sockel selbst skulptierte Pflanzen, die für die einzelnen Charaktere stehen, weiß der Henker warum: Efeu und Zypressen für Hamlet, Mohn und Pfingstrosen für Lady Macbeth, Hopfen und Rosen für Falstaff, Lilien und Rosen für Prinz Hal.

Am Abend dann die Aufführung. Wir haben Karten im Parkett (The Stalls), gleich an einer der Längsseiten der weit in den Zuschauerraum hineinreichenden Bühne. Die hat Ausläufer zu vier Seiten, so dass man in den Szenen, in denen von allen Seiten mit lautem Gebrüll allerlei Volks zusammenläuft, den Eindruck hat, mitten drin zu sein.

Cäsar kommt als herrschsüchtig und überheblich rüber, aber nicht so richtig als Tyrann. Den stärksten Eindruck als Persönlichkeit macht Antonius, vor allem bei der berühmten Rede.

Am Ende verliert man etwas den Überblick und weiß schon bald gar nicht mehr, wer schon alles gestorben ist. Portia hat sich außerhalb der Bühne das Leben genommen; Cäsar wird auf der Bühne ermordet; ebenso Cinna, der einer Verwechslung zum Opfer fällt – er ist der Dichter Cinna, nicht der Verschwörer Cinna – und von dem wütenden Volk gelyncht wird. Cassius begeht auf der Bühne Selbstmord, ebenso wie Brutus.

Trotz all der Gewalt bietet die Aufführung erstaunlich viel Komik. Aus absurden Situationen und Kommentaren resultierend.

Zu den Toten des Stückes kommt noch einer, den die Aufführung dazu dichtet: Lucius, noch ein Knabe, der Diener des Brutus, der schon in vorherigen Szenen präsent war, im Haus von Brutus und in dessen Feldlager, wird von einem vorbeigehenden gemeinen Soldaten, einfach so, das Genick gebrochen. In dem Moment kommt aus den Lautsprechern ein Knackgeräusch, das einen zusammenzucken lässt.

Mehrmals im Stück gibt es einen zynischen Trost für einen frühen Tod: Der erspare einem viele Jahre der Angst vor dem Tod: „Why, he that cuts off twenty years of life / cuts off so many years of fearing death“, sagt Casca, und Brutus pflichtet ihm bei. In diesem Sinne hätten sie, Cäsars Mörder, Cäsar einen Gefallen getan. Etwas Ähnliches am nächsten Tag in Antony and Cleopatra.

Auch ein Geburtstag kommt in beiden Stücken vor, einmal der Geburtstag von Cassius, der gleichzeitig sein Todestag sein wird (ein Hinweis auf eine zyklische Auffassung von Geschichte?), dann der Geburtstag von Kleopatra.

Von allem, was ich im Laufe des Tages gehört habe, bleibt mir ein Zitat besonders in Erinnerung, das in Zusammenhang mit Salome gefallen ist, an das ich mich aber nur noch halb erinnern kann: „Fear and desire are never separate, they are always together in bed“.

15. August (Dienstag)

Die Hauswirtin erzählt, dass sie bis zu 14 Gäste haben können, vorausgesetzt, alle Zimmer sind voll besetzt. Das ist im Moment nicht der Fall, da wir fast ausschließlich Einzelreisende sind. Sie wollten eigentlich ein Haus mit sechs Zimmern, dann sind es acht geworden. Das mache erheblich mehr Arbeit. Die Hochzeit ist von März bis Oktober. Im Winter ist es ruhig.

Bei der Diskussion der Aufführung von Julius Caesar steht eine Gebärdendolmetscherin im Vordergrund, die von der ersten bis zur letzten Szene auf der Bühne war. Sie bekam am Ende den meisten Applaus. Alle sind begeistert darüber, wie sie die „Seele“ der Charaktere ausgedrückt und wie viel Poesie sie in die Aufführung gebracht habe. Dann sagt eine Frau, sie habe sich in erster Linie gestört gefühlt. Ich bin erleichtert. Das ging mir auch so.

Dann geht es um die Kostümierung. Die war semi-authentisch, römische Togen, aber keine „echten“. Man habe gespielt mit gewissen Anachronismen, von denen der Shakespeare-Text sowieso voll ist (Schornstein, Buch, Wams, Uhr, die drei schlägt, aber auch Dichter, der Reime schmiedet). Es wird aber bemängelt, dass dieses Spiel in der Aufführung nicht klar geworden sei. Die sei als authentisch herübergekommen.

Dann geht es um Cäsar, der in der Aufführung als sehr hochnäsig gezeichnet wird (was mir nicht einleuchtet), um Brutus (den einige überzeugend, andere schwach fanden), Cassius (der jünger war als in vielen anderen Aufführungen, was wiederum sein Verhältnis zu Brutus prägt) und um Antonius (den ich, gerade in der großen Rede-Szene sehr gut fand).

Einer der Teilnehmer geht auf die Nerven, indem er immer nur auf Film-Adaptationen von Julius Caesar eingeht und dann noch lange über die New Yorker Trump-Geschichte spricht, obwohl das mit der Diskussion nichts zu tun hat.

Mit meiner Meinung, dass Caesar kein Tyrann, sondern eher ein Tyrann in den Augen der anderen ist, dringe ich nur halb durch. Die Inszenierung – nicht allerdings der Text – scheint den Schluss zuzulassen, dass das Testament zugunsten des römischen Volkes eine Erfindung von Antonius ist. Das nimmt Cäsar einen Pluspunkt. Historisch ist das aber verbürgt. In dem Zusammenhang nenne ich noch eine deutsche Aufführung, in der die Rollen von Cäsar und Octavius von demselben Schauspieler gespielt wurden – eine gewichte Aussage über das Stück im Sinne der Wiederherstellung der Ordnung. Shakespeare war für Rebellionen nicht so zu haben.

Als Zeit für die Kaffeepause ist und der Diskussionsleiter eine Frage von der Art stellt, die bedeutet „Bitte keine Fragen mehr!“, stellt doch jemand eine. Manche können nicht zwischen den Zeilen lesen.

In der Kaffeepause spreche ich mit der Frau, die die unbotmäßige Äußerung zu der Gebärdenschauspielerin gemacht hat. Sie ist Journalistin und hat lange für den englischen Dienst der Deutschen Welle gearbeitet. Jetzt arbeitet sie in Köln für eine Presseagentur der Evangelischen Kirche. Sie kommt gerne nach England, hätte aber große Bedenken, hier zu leben. Das geht beim Gesundheitswesen los. England sei ein „zerfallenes Land“ und in einiger Hinsicht einem „Schwellenland“ vergleichbar. Sie kennt da sicher viel mehr von den politischen und sozialen Verhältnissen, aber als Reisender nimmt man das Land nicht so wahr. Dass der Brexit die Sache nicht unbedingt besser macht, darüber sind wir uns wiederum einig.

Nach der Kaffeepause sprechen wir mit dem Schauspieler, der den Dichter Cinna gespielt hat, der umgebracht wird, weil er mit dem Verschwörer Cinna verwechselt wird (eine Szene, die mein Gefühl bestätigt, dass der wirkliche „Böse“ des Stückes das Volk ist). Die erste Frage ist meines Erachtens zu negativ, sie kritisiert die Tötungsszene als nicht brisant genug. Aber der Schauspieler zieht sich gut aus der Affäre. Er sagt, er müsse einfach den Anweisungen des Regisseurs gehorchen – es ist seine erste Saison bei der RSC – und dass die Szene bewusst so gespielt werden sollte. Ich habe die Szene auch nicht als so lasch empfunden. Dann macht er geltend, dass er immerhin auf offener Straße getötet werde. Allerdings. Und fügt hinzu, dass die Ermordung Cinnas in vielen Aufführungen gar nicht auf der Bühne, sondern abseits geschehe.

Es wird gefragt, wie die komischen Effekte zustande gekommen seien. Meist in der Aufführungspraxis. An bestimmten Abenden erziele man an bestimmten Stellen einen Lacher, und wenn ein Schauspieler einmal einen Lacher hat, lässt er sich den nicht mehr so einfach nehmen. Interessant. Und erstaunlich. Denn in der Aufführung sieht das alles nach Planung aus, wirkt kohärent. Und wenn die Erklärung stimmt: Warum haben dann nicht alle Stücke so viel Komik?

Er spricht von dem langen Prozess der Entstehung einer solchen Aufführung. Von den ersten Tagen mit Stimm- und Bewegungsübungen und dann von langen Besprechungen, in denen in großer Runde mit allen Beteiligten das Stück diskutiert werde. Auch Experten werden herangezogen. Die RSC habe praktisch unbegrenzte Möglichkeiten. Sie hat 2300 Mitarbeiter!

Parallel dazu lerne man seinen Text. Wie? Durch Wiederholung. Da hätte ich mir ein paar Details mehr gewünscht. Interessante Frage: Ist es leichter, Prosa oder Vers zu lernen? Keine eindeutige Antwort, aber Shakespeares Blankvers wird eher als Hilfe empfunden. Auf jeden Fall gebe es Unterschiede zwischen den Stücken. Titus sei einfacher, Julius Caesar nicht so einfach, Antony and Cleopatra gar nicht einfach.

Interessant auch die Frage nach den Aufführungstagen. Jedes Publikum reagiere anders. Als ganz generelle Regel gilt: Donnerstags- und Freitagspublikum hat den besten, Samstagspublikum den schlechtesten Ruf!

Jemand fragt nach der Skulptur, die auf dem Forum stand. Es war ein Löwe, der ein Pferd anfällt. Das konnte man von uns auch nicht sehen. Wir haben nur die Seite des Löwen gesehen. Im Dunkeln dachte man zuerst an die Lupa.

Ob er sich eine Aufführung in originaler Aussprache vorstellen könne? Ja, auf jeden Fall, er sei ganz dafür. Was er allerdings hierzu ausführt, klingt so, als habe er keine große Ahnung. Es ist von einem „volleren“ Klang der Sprache die Rede, aber was das bedeuten soll, bleibt jedem überlassen. Er wirft auch Shakespeare mit Chaucer in einen Topf.

Dann kommt die Rede auf Akzente. Er kann wohl eine ganze Menge davon, und macht das mit großer Freude. Er ist gebürtiger Ire und damit für Irische Akzente prädestiniert, könne aber auch Midlands und eine Reihe amerikanischer Akzente, einfach, weil er sie immer wieder spielen musste. Faszinierend.

Am Ende kommt das unvermeidliche Gruppenphoto. Ich will mich erst verweigern, lasse es dann aber und merke, dass sich nur die Journalistin aus Köln ausgeklinkt hat Sie hat den Mut dafür aufgebracht. Chapeaux!

Am Nachmittag ist der Altstar des Shakespeare Trusts an der Reihe, Robert Smallwood: agil, dynamisch, witzig, unterhaltsam, everybody’s darling. Aber die Jahre sind nicht spurlos an ihm vorüber gegangen. Er turnt auch nicht mehr auf seinem Stuhl herum, sondern steht am Pult und liest seinen Vortrag vom Blatt ab. Der alte Witz blitzt nur noch gelegentlich auf, so, wenn er die Nachricht von Cleopatras Tod als fake news bezeichnet.

Am Anfang des Vortrags geht er auf seine vielen Begegnungen mit der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft ein. Besonders in Erinnerung hat er das erste gemeinsame Treffen nach der Vereinigung. Da wurde er als Gastredner eingeladen. Man konnte sich nicht einigen, wo die Vereinigungstagung stattfinden sollte! Bochum oder Weimar? Man entschied sich für Wien.

Er geht auf drei Dialoge näher ein, einen aus der Mitte, einen vom Anfang, einen vom Ende von Antony and Cleopatra. Das Stück ist für ihn eins der komplexesten Werke Shakespeares. Es ist auch eins der längsten, das mit den meisten Szenen (42) und dem größten Redeanteil einer weiblichen Figur nach Rosalinde aus As You Like It. Die römische Welt ist allerdings eine fast ausschließlich männliche.

Smallwood versteht das Stück in erster Linie als Antithese: Rom gegen Alexandria, Ost gegen West, Antonius gegen Octavian, Gewalt gegen Frieden, Leidenschaft gegen Ratio, aber auch Anthony gegen Cleopatra!

Rom, sagt er, gewährte Kleopatra große Privilegien und konzedierte ihr den Titel Absolute Queen. Zu einer Zeit, als Rom, wenigstens nominell, immer noch eine Republik war! Kleopatra herrschte nicht nur über Ägypten, sondern über eine Reihe anderer Länder des Ostens, obwohl sonst Rom alle lokalen Herrscher unter seine Oberaufsicht stellte.

Am Ende des Vortrags zitiert er David Lodge. Der war Kollege von ihm in der Anglistik in Birmingham. Ob einer von Lodges Charakteren auf Robert Smallwood beruht? Stoff genug würde er bestimmt bieten. Man müsste einen der alten Romane noch mal lesen und diese Spur verfolgen.

Nach dem Vortrag besichtigen wir das Geburtshaus, gleich neben dem Shakespeare Centre in der Henley Street gelegen. Als wir auf den Eintritt warten, spreche ich kurz mit einer Frau, die in einer gemeinsamen Vorstellungsrunde etwas losgetreten hatte, indem sie sagte, seit wann sie Mitglied der Shakespeare-Gesellschaft ist: 1973! Da kam dann immer wieder jemand, der schon noch länger Mitglied ist und zwischendurch ein junger Mann, der sagte: In dem Jahr bin ich gerade mal geboren. Die Frau erzählt mir, dass sie als junge Anglistik-Studentin in der DDR von einer Lektorin eingeladen wurde, Mitglied zu werden. Das war mit wenig Kosten verbunden und man konnte viele Leute kennenlernen. Und Shakespeare-Texte mit russischen Annotationen lesen.

Man wird durch die Ausstellung geschleust, bevor man ins Geburtshaus selbst kommt. Die ist sehr allgemein gehalten und bietet dem Fachmann nichts Neues. Dennoch finde ich den herablassenden Kommentar eines Mitreisenden – „Für die Japaner“ – unangemessen. Die Ausstellung ist eben für Nichtinitiierte.

Man sieht u.a. das alte Marktkreuz, an dem Shakespeares Vater seine Waren vertrieb und einen Kupfertopf mit Füßen, der direkt in den Ofen gestellt wurde. Und Shakespeare-Ausgaben aus aller Herren Länder.

Ansonsten ist die Ausstellung virtuell. Man hört To be or not to be in allen möglichen Sprachen, von Dutzenden gewöhnlicher Menschen auf der Straße rezitiert. Und man sieht die Anverwandlung von Shakespare in der heutigen Zeit, in Kitsch und Karikaturen.

Das Haus selbst ist erstaunlich groß. Hier lebten keine armen Leute. Schon Shakespeares Vater hatte es zu was gebracht. Er war bailiff von Stratford geworden, was grob unserem Bürgermeister entspricht. Das Haus ist eine Kombination dreier Häuser, die er, der Vater, aufkaufte und miteinander verband. Ein Immobilienhai? Das Haus beherbergte auch seine Werkstatt. Er produzierte in erster Linie Handschuhe. Das Rohmaterial kam von Eichhörnchen! Man spricht hier vom grey squirrel, aber das ist irreführend. Der Begriff bezog sich auf die graue Winterfärbung des roten Eichhörnchens, nicht auf das erst später aus Amerika  eingewanderte graue Eichhörnchen.

In der Halle wurde gegessen, an einem länglichen Holztisch, mit einem breiteren Stuhl für den Vater, dem Familienvorstand, am Kopf des Tisches und Holzbänken an deren Seiten. Die Hauptmahlzeit wurde schon um 11 Uhr eingenommen. Verrückt, wie sehr das Essen reguliert war: Shakespeares Familie durfte als Mittelständler zwei Gänge pro Mahlzweit einnehmen. Wer hat das wohl kontrolliert? Bei ärmeren Familien resultierte der einzige Gang aber wohl eher aus der Not. Gefastet wurde dreimal in der Woche: Mittwoch, Freitag, Samstag. Was genau Fasten bedeutet, ist nicht ganz klar. Hier scheint gemeint zu sein, dass es an diesen Tagen Fisch gab. Wenn es an den anderen Tagen Fleisch gab, war das halb so wild.

Das Fenster, das ursprünglich zur Straße hinausging, hat man hier nach oben geschafft, um es zu schützen. Es ist voll von Kritzeleien. Hinz und Kunz, aber nicht nur die, haben ihren Namen in das Fenster geritzt, um zu belegen, dass sie hier waren. Auch Scott und Carlyle waren sich nicht zu schade dazu.

Überall auf dem Gelände sind Führer in Kostümen der Shakespeare-Zeit, meist ganz einfacher Kleidung aus Leinen. Als ich in das hintere Gebäude komme, werde ich von einem solchen Führer in Empfang genommen, einem fülligen Mann mit einem merkwürdig statischen Blick, der fast etwas unterbemittelt wirkt. Er fragt mich, ob ich zu der Deutschen Shakespeare Gesellschaft gehöre. Wir kommen ins Gespräch und ich merke, wie gut er über Deutschland informiert ist und wechsle auf Nachforschungen im Internet auf der Suche nach deutschen Quellen zu Shakespeare. Inzwischen sind zwei andere Männer aus unserer Gruppe zu uns gestoßen. Der Mann kennt auch ihre Heimatstädte und weiß sie zu lokalisieren. Dann fragt er uns, ob wir Shakespeares Sonnet „Let me not to the marriage of true minds“ kennen und wir rezitieren unisono die zweite Zeile. Der Mann erzählt dann, welche deutsche Version er dazu gefunden hat und rezitiert das ganze Sonett auf Deutsch. Einer der anderen Männer, statt ihm Reverenz zu zeigen, sagt von sich: „Ich kann zehn Sonette auswendig!“. Wie ein Viertklässler.

Am Abend gibt es dann Antony and Cleopatra im Theater, einem Theatermarathon, bei dem einem leicht die Luft ausgeht. Antony will und will nicht sterben, und als er es dann endlich doch geschafft hat, bleibt immer noch ein kompletter Akt.

Kleopatra wird von einer dunkelhäutigen Schauspielerin gespielt, die die ganze Klaviatur spielt: von der albernen Teenagerin über die zickige Frau und die Femme Fatale bis zur Herrscherin. Diese Rolle spielt sie vor allem im Moment des Todes aus. Sie lässt sich für den Selbstmord in ihre Herrscherrobe kleiden, mit einem Diadem auf dem Kopf, und setzt sich auf den Thron, um sich voller Selbstbeherrschung die Schlange an die Brust zu legen. Ein Raunen geht durchs Publikum, als sie sich, bevor sie den Kopfputz anlegt, ihre Perücke abnimmt und kahlköpfig dasteht. Das ist historisch korrekt (aber wohl nicht im Text), und es konterkariert die römische Auffassung des kahlen Kopfes als Zeichen von Strafe, Unterwerfung, Demütigung.

Die Charaktere der drei männlichen Konkurrenten wird bei der Bootsszene gut herausgearbeitet, wo man einen Männerabend verbringt, wie er im Buche steht, mit Wein, lockeren Sprüchen, Liedern, Schulterklopfen, Frotzeleien. Antonius gibt sich der Sache ganz hin und verbrüdert sich mit allen, Lepidus betrinkt sich sinnlos und muss am Ende von Bord geschleppt werden, Octavian macht mit, aber steht etwas abseits und hat sich unter Kontrolle. Am Ende des Stückes, als er die letzten Worte gesprochen hat, scheint er zu einer Statue seiner selbst zu erstarren – ein Ausblick auf das, was kommt.

Von dem dritten Teil ist die Rede. Das kann auf verschiedene Weise verstanden werden: einer von drei Teilen, die die Welt ausmachen: Himmel, Erde, Wasser; einer von drei Kontinenten (mit der ironischen Auslassung des vierten Kontinents, Amerika, der Shakespeares Zuschauern, aber nicht den Römern bekannt war).

Der Schauspieler, der gestern den Cäsar gespielt hat, spielt heute den Enobarbus. In beiden Stücken unterscheidet er sich in der Aussprache des /r/ von allen anderen. Er rollt oder trillt es, als Cäsar durchgehend, als Enobarbus hin und wieder. Ich suche vergeblich nach einer Erklärung dafür.

16. August (Mittwoch)

Der Tag beginnt mit Sonnenschein, und das ändert sich auch bis zum Abend nicht. Der schönste Tag der Woche, hell und warm.

Irgendwann im Laufe der Woche sehe ich mir die britischen Münzen an. Der Anlass ist eine Situation in einem Imbissladen, wo ein Kunde den Verkäufer nach alten Ein-Pfund-Münzen fragt. Davon sind einige wohl besonders begehrt. Dieser Tage hätte ich ihm noch helfen können. Ein freundlicher Mann am Postschalter hat mir geholfen, die alten Münzen auszusortieren. Wer weiß, welche Schätzchen noch darunter waren?

Die neuen Münzen sind seit 2008 im Umlauf. Seitdem bin ich nur einmal in England gewesen. Insgesamt sind 28 Milliarden Münzen im Umlauf. Am häufigsten vertreten ist der Penny, am seltensten das 25-Pence-Stück. Alle Münzen sind rund, bis auf die 20-Pence- und die 50-Pence-Münze, mit ihrem grob gesprochen achteckigen Form.

Als ich zum ersten Mal in England war, war das Dezimalsystem noch nicht eingeführt. 20 Schilling waren ein Pfund, 12 Pennies waren ein Schilling. Gut fürs Kopfrechnen. Das wurde auch Jahre später noch ernsthaft gegen die Einführung des Dezimalsystems angeführt. Es gab aber schon die ersten neuen Münzen als Vorboten des neuen Systems, 10 Pence und 20 Pence, einfach, damit sich die Leute an die neuen Münzen gewöhnen konnten. Denen wurde dann einfach ein Wort von einem bzw. zwei Schilling gegeben.

Ins RST passen 1.100 Zuschauer. Entspricht ziemlich genau meiner Schätzung. Drei hoch aufragende Ränge, dazu (relativ wenige) Plätze um die Bühne herum. Ob Parkett oder Rang, alle sitzen nahe an der Bühne. Ein Nachteil der Shakespeare-Bühne, der Arena-Bühne (thrust stage): Man kann oft schlecht verstehen, wenn in die andere Richtung gesprochen wird.

Immer noch durch den Kopf geht mir Robert Smallwoods Betonung von hear a play (im Gegensatz zu see a play). Das hätten die Elisabethanischen Zuschauer getan. Ich hatte genau das Gegenteil erwartet. Schade, dass es nach dem Vortrag keine Fragestunde gibt.

Bei der Diskussion der Aufführung vom Vorabend unter Leitung von Gill Day sehen wir Bilder von der Vorstellung. Da merkt man, was man alles nicht mitbekommen oder schon vergessen hatte. Die erste römische Szene spielt in den Thermen. Daran konnte sich keiner mehr erinnern! Es wird kontrovers diskutiert, ob das sinnvoll ist. Scheint es den stereotypen Kontrast zwischen dem nüchternen, kontrollierten Rom und dem sinnenfreudigen, bunten Alexandria nicht zu relativieren? Es zeigt die Römer in der Freizeit, nicht bei der Pflichterfüllung. Und beim Genuss von Wein. Wenn das die Intention ist, wird diese Fährte aber im weiteren Verlauf des Stücks nicht weiter verfolgt.

Eigentlich wird alles kontrovers diskutiert. Gill Day hat die Szenerie bei der Aufführung zu sehr an Filmkulissen erinnert, an Hollywood, die glatten Statuen der katzenköpfigen Götter zum Beispiel. Andere argumentieren, dass die Szenerie eher dezent ist. Längst nicht so opulent wie in den Filmen.

Auch Kleopatra selbst wird sehr unterschiedlich gesehen. Einige fanden, sie habe zu sehr dem Klischee der Verführerin entsprochen, einige fanden sie in der ersten Hälfte des Stücks besser und in der zweiten schlechter, andere gerade umgekehrt. Antonius wird von den meisten als sehr nüchtern, militärisch empfunden, nicht als der Charmeur, den man sich vorstellt. Das finden einige gut, andere schlecht.

Octavian scheint keine große Persönlichkeit zu haben, aber er ist sehr kontrolliert, auf eine unaufdringliche Art. Mir erschien er ein bisschen zu mausgrau. Aber das fanden die meisten nicht.

In einer Stelle des Stückes bezeichnet Kleopatra ihn scarce-bearded, als Milchgesicht. Tatsächlich war er damals erst 23 und etwa 20 Jahre jünger als Antonius. In der Aufführung wird das nicht deutlich, obwohl Octavian glattrasiert ist und Antonius einen Bart trägt.

Nach der Diskussion schleiche ich mich weg und gehe zu einer Stadtführung. Die ist sehr unterhaltsam und auch ganz informativ. Eine mittelalte, extrovertierte Frau, die hier aus der Gegend stammt, macht die Führung. Wir sind eine eher große Gruppe, zwei Iren, ein Paar aus Singapur, alle anderen aus England.

Der erste relevante Haltepunkt ist ganz oben in der Bridge Street, einer ungewöhnlich breiten Straße, deren beide Trassen oben zusammenlaufen und sich dann wieder trennen. An dem Scheidepunkt ist ein Haus, das eine Bank beherbergt. Da habe ich am Morgen vergeblich versucht, Geld abzuheben.

Von hier aus sieht man die Bridge Street hinunter bis zu der Brücke, von der sie ihren Namen hat. Das ist die Clopton Bridge. Clopton war ein Bürger von Stratford, der – wie Shakespeare – nach London ging und dort Karriere machte. Er wurde am Ende Bürgermeister. Seiner Heimatstadt vermachte er diese Brücke, eine Brücke aus Stein, zu einer Zeit, als die meisten Brücken noch aus Holz waren. Da, wo die Brücke ist, war früher eine Furt. Und das erklärt den Namen der Stadt: Die Straße, die zu der Furt führt, die über den Fluss führt. Avon bedeutete, wie viele Flussbezeichnungen, einfach ‚Wasser‘, ‚Fluss‘.

Später kommen wir an einem Verwaltungsgebäude vorbei, einer Art Kreisverwaltung. An dem Gebäude steht Stratford-on-Avon. Das ist der Name des Distrikts. Der Name der Stadt ist, Gott weiß warum, Stratford-upon-Avon.

Gleich zu unserer Seite sind zwei Fachwerkhäuser. Wir sollen raten, welches das ältere ist. Gar nicht so einfach. Das rechte, das aufwendiger verzierte, ist das jüngere, frühes 20. Jahrhundert. Erst auf den zweiten Blick sieht man, dass bei dem älteren die Querbalken sich mehr verzogen haben. Stratford hat viel Fachwerk, teils noch original, aber hinter Putz verborgen, teils, wie hier, nicht original, sondern historisierend nachgebaut.

In das Straßenpflaster der Henley Street, in die wir jetzt einbiegen, sind Buchstaben eingelassen, Worte. Shakespeare-Zitate? Nein, ausnahmsweise nicht. Hier ist jemand auf die Idee gekommen, zuzuhören, was ganz normale Passanten sagen und das hier „aufzuschreiben“: „Might as well get out a large sum.“ „It’s too weird for me.“

Wir machen einen kurzen Halt vor dem Geburtshaus. Der Reichtum der Besitzer kommt auch in dem Schornstein, der relativ großen Fensterfläche und dem steinernen Dach zum Ausdruck.  An der Fassade ist ein kleines Stück unverputzt gelassen worden, so dass man die Technik sehen kann, das Flechtwerk (wattle) unter dem Lehm (daub), zusammen bekannt als wattle and daub wall.

Wir gehen aus unerfindlichen Gründen durch ein neu entstehendes Einkaufszentrum. In einem offenen Innenhof hat man einen Puck aufgestellt und die Wände mit Pflanzen bepflanzt, die in Midsummer Night’s Dream vorkommen.

Am anderen Ausgang stehen wir an einer etwas größeren Kreuzung mit einem Parkplatz, der wohl früher mal Marktplatz war: Rothbone (Rathbone?) Market. Der Name ist abgeleitet von dem alten englischen Wort für ‚Vieh‘, heißt es. Sagt mir gar nichts.

An einer Ecke des Platzes steht The Thatched Tavern, das einzige Haus, das noch teils ein Reetdach hat. Es stand gerade außerhalb des eigentlichen Zentrums und unterlag deshalb nicht der Regel, derzufolge alle Reetdächer durch Stein ersetzt werden mussten. Eine Feuerschutzmaßnahme.

Ganz in der Nähe stoßen wir auf das Rathaus, einen klassizistischem, beinahe quadratischen Bau aus warmem, gelbem Sandstein. Der kommt aus den Cotswolds, ganz in der Nähe.

In einer Nische im zweiten Geschoss ist eine Statue eingelassen. Shakespeare. Mal wieder. Die Statue ist ein Geschenk von David Garrick, dem Schauspieler, der das erste Shakespeare-Festival in Stratford veranstaltete und damit den Tourismus hierher brachte. Bei dem Festival regnete es tagelang in Strömen. Erstaunlicherweise wurden keine Shakespeare-Stücke aufgeführt!

Wir kommen zu einem langgestreckten Fachwerkhaus, das ein Hotel beherbergt: The Shakespeare. Das hat eine Suite für frischgebackene Ehepaare. Wir werden nach Vorschlägen für einen Namen für diese Suite gefragt. Die offensichtliche Antwort ist Romeo and Juliet. Aber dann trudeln Alternativen ein: A Midsummer Night’s Dream. Love’s Labour’s Lost. The Comedy of Errors. The Tempest. The Taming of the Shrew. Much Ado About Nothing.

Ganz in der Nähe das Harvard House, ein schmaleres Fachwerkhaus. Die Familie Harvard stammte aus Stratford und legte den Grundstein zu der Bibliothek, aus der später die Harvard University erwuchs. Das Haus gehört bis heute der Harvard University. Die könnten sich allerdings ein bisschen mehr darum kümmern. Ich sehe mir das Haus später näher an. Es kann nicht mehr besichtigt werden und sieht ziemlich vernachlässigt aus. Unten fehlen sogar einige der kleinen Fensterscheiben.

Wir kommen zu der Guild Chapel und der quer dazu stehenden Guld Hall, in der die alte Grammar School untergebracht war, Shakespeares Schule. Die beiden Gebäude gehören zusammen und haben auch eine innere Verbindung, obwohl sie ganz unterschiedlich aussehen.

Die Guild Chapel, mittelalterlich, einschiffig, mit langen, viktorianischen Glasfenstern, war ursprünglich die Kapelle einer Gilde (wohl nicht in dem beruflichen Sinne), der man freiwillig beitreten konnte. Man musste dann einen Obolus für die Armenfürsorge entrichten und bekam dafür Gebete für die Seele nach dem Tod zurück.

Der Status der Guild Chapel veränderte sich, vielleicht sogar mehrmals, während der Reformation, aber die Details verstehe ich nicht. Jedenfalls wurden die Buntglasfenster entfernt und die mittelalterlichen Fresken übertüncht. All das war Aberglauben. Diese Aktion könnte unter Shakespeares Vater stattgefunden haben, der als Bürgermeister dafür verantwortlich war. Und das, obwohl er vielleicht heimlich bis ans Lebensende Katholik geblieben ist.

Man hat jetzt einige der mittelalterlichen Fresken wieder freigelegt. Man sieht ein Letztes Gericht mit den Seligen auf der einen und den Verdammten auf der anderen Seite.

In den viktorianischen Fenstern erscheinen verschiedene Figuren, die eine Beziehung zu Stratford hatten, darunter Edward VI. Zu dessen Regierungszeit wurde offensichtlich die ganze Institution, verändert, wieder auf eine legale Basis gestellt, nachdem sie in den Anfängen der Revolution verboten war.

Wir kommen in eine parkähnliche Gegend, wo Hall’s Croft steht, das Haus von Shakespeares Schwiegersohn, einem Arzt. Er muss sehr kundig gewesen sein, führte auch Behandlungen durch, aber keine chirurgischen Eingriffe. Die blieben den surgeons vorbehalten, einer „niedrigeren“ Klasse von Ärzten. Deren Titel ist auch heute noch Mister, nicht Doctor. Hall hatte, wie die Ärzte seiner Zeit, ziemlich verrückt klingende, aber nicht ganz abwegige Heilmethoden, teils auf Naturheilkunde beruhend. Erkältungen wurden zum Beispiel mit dem Speichel von Fröschen bekämpft. Die hielt man so lange über dem offenen Mund, bis sie Speichel absonderten.

Dr. Hall ist der Autor eines posthum aufgrund seiner Notizen publizierten Buchs mit dem wunderbaren Titel Select observations on English bodies, or Cures both empericall and historicall performed upon very eminent persons in desperate diseases. Für die Veröffentlichung mussten seine Notizen übersetzt werden – vom Lateinischen ins Englische!

Hall war der Mann von Shakespeares Tochter, dem einzigen seiner Kinder, das ihn überlebte. Die Kinder dieses Ehepaars starben aber auch alle kinderlos, und damit war die Linie der Shakespeares ausgestorben. Es sei denn, man sucht nach illegitimen Nachkommen aus der Zeit der Lost Years, nachdem er Stratford verlassen hatte.

Shakespeare muss ständig mit dem Tod konfrontiert worden sein. Unter anderem durch verschiedene Epidemien. Er selbst überlebte die Pest, die in Stratford ausbrach, als er ein Kind war und die einem Siebtel der Bevölkerung das Leben kostete. Als er geboren wurde, waren schon seine beiden älteren Geschwister gestorben, und von den drei Schwestern, die noch folgten, überlebte ihn nur eine, die beiden Brüder starben.

Das Haus der Halls ähnelt sehr Shakespeares Geburtshaus, ist aber etwas kleiner. Auch hier viel Fensterfläche. Bevor Glas Allgemeingut wurde, benutzte man Kuhhorn. Da drang dann nur ganz leicht das Licht ein.

Dann kommen wir noch zu der Pfarrkirche. Wir sind gerade rechtzeitig vor dem Mittagskonzert, um uns die Kirche kurz anzusehen. Der Chor liegt nicht auf einer geraden Achse mit dem Mittelschiff, sondern biegt etwas ab. Das wird fromm gedeutet als Anspielung auf das geneigte Haupt Christi am Kreuze, aber das ist natürlich Unsinn. Es ist einfach eine architektonische Fehlkalkulation. Und die gibt es nicht nur in Stratford.

Um in den Chor zu kommen, muss man zahlen. Der Chor schließt, wie bei den meisten englischen Kirchen, gerade ab.

Das Grab Shakespeares ist direkt vor dem Altar. Er wurde hier, in dieser privilegierten Lage, nicht begraben, weil er ein berühmter Schriftsteller war, sondern weil er ein angesehener, reicher Bürger war. Auf seiner Grabplatte der berühmte Fluch an diejenigen, die wagen sollten, sich an seinen Gebeinen zu vergreifen. Der Grund dafür liegt, unserer Führerin zufolge darin, dass nach einer Karenzzeit die Knochen ausgegraben und dann in einem Charnel House deponiert wurden. Das mag sein, das war sicher der Normalfall, aber wohl nur für diejenigen, die auf dem Kirchhof begraben wurden. Der Fluch bleibt rätselhaft.

Neben Shakespeares Grab das seiner Frau und einer Reihe von Angehörigen, darunter auch Dr. Hall. Der hat sicher auch ein bisschen „nachgeholfen“, als es darum ging, die ganze Familie hier bestatten zu lassen, einer neben dem anderen, direkt vor dem Altar.

In die nördliche Seitenwand ist die Shakespeare-Büste eingelassen, etwa in halber Höhe. Shakespeare hat Kinnbart und Schnäuzer (auf anderen Abbildungen Vollbart) und hält eine Feder in der Hand. Die wird jedes Jahrerneuert, am Todestag (der möglicherweise mit dem Geburtstag übereinstimmt).

Über Shakespeares Aussehen wissen wir nichts Genaues. Die Führerin hält die Büste für ein realistisches Portrait, dem einzigen realistischen außer dem in der ersten Folio-Ausgabe. Das leuchtet allerdings hinten und vorne nicht ein, schon deshalb, weil die beiden Darstellungen sehr unterschiedlich sind. Im Folio sieht man einen Mann mit schmalem Gesicht und hellen Augen, ein kluger Kopf. Bei der Büste hat man eher den Eindruck, dass man es mit dem örtlichen Metzgermeister zu tun hat. Die Führerin scheint das aber nicht zu jucken. Sie argumentiert, dass die Freunde, Henning und Conwell, die die Folio-Ausgaben besorgten, Shakespeare schließlich kannten und ein wirklichkeitsgetreues Bild von ihm hinterlassen wollten. Aber erstens war er da schon ein paar Jahre tot, und vielleicht hatten sie sich schon viele Jahre vorher nicht mehr gesehen, zweitens spricht nichts dagegen, dass sie ein beschönigendes Bild ihres Freundes hinterlassen wollten.

Vor der Altarschranke steht das (etwas verstümmelte) Taufbecken, in dem Shakespeare getauft wurde. Das Datum der Taufe ist dokumentiert, nicht das des Geburtstags. Und der Sterbetag ist dokumentiert. Von beiden Urkunden  gibt es hier Faksimiles, mit einem bemerkenswerten, kulturhistorisch relevanten Unterschied: Der Eintrag für die Taufe ist auf Latein, der Eintrag für den Tod ist auf Englisch. Die Reformation hat ihre Spuren hinterlassen. Ein wunderbares Schmankerl zum Ende der Führung.

Am Nachmittag gehe ich zur Grammar School, Shakespeares alter Schule. Die Besichtigung ist teuer – 8 Pfund! – und nicht sehr ergiebig. Außerdem sind die Erklärungen, teils Video, teils Führer, nicht sehr hilfreich. Und dann wird man auch noch gedrängt, weil geschlossen wird.

Das Gebäude ist zweistöckig, und unten hat man, wie in der Guild Chapel, ein paar Fresken freigelegt, die in der Reformationszeit übertüncht wurden. Man präsentiert sie mit viel Stolz, aber ganz ungewöhnlich sind sie nicht.

Die Geschichte ist ziemlich verwirrend, aber zu einer Zeit scheint die Guild Hall so etwas wie das Rathaus gewesen zu sein. Die Schule war ursprünglich nebenan, aber als die Bevölkerung wuchs oder mehr Jungen auf die Schule geschickt wurden, verlegte man sie in das obere Geschoss dieses Gebäudes. Und das ist eine Sensation: Die Schule, auf die Shakespeare ging, steht tatsächlich noch. Und fungiert bis heute, das ist angesichts der alten Schulbänke mit eingeritzten Namen fast unvorstellbar, immer noch als Schule. Auf die seit ein paar Jahren auch Mädchen gehen!

Das ober Stockwerk ist zweigeteilt. In dem ersten Teil ist die Schule, auf die Shakespeare ging. Wenn die Rekonstruktion historisch stimmig ist, gab es keine Schreibfläche. Man saß der Reihe nach auf einer Bank und rezitierte. Ob man aber so die lateinischen Klassiker lernen konnte? In einem Video wird vorgeführt, wie ein Schüler das Glaubensbekenntnis aufsagt – auf Latein. Das geht sicher noch an. Die Schüler werden auch auf Latein nach ihrem Namen gefragt und geben ihn in latinisierter Form an.

Der andere Teil, der, wo heute die Schulpulte stehen, war zu Shakespeares Zeit der Raum für Aufführungen. Hier soll er zum ersten Mal Theater gespielt haben. Aber auch das scheint mir eher Spekulation zu sein.

Nach der Besichtigung lande ich in The Fourteas, einem Café, das ganz auf die vierziger Jahre getrimmt ist, mit Kellnerinnen in einfachen, kurzen Kleidchen mit Schürzen und mit verknoteten Kopftüchern, mit Kissen mit dem Union Jack und Durchhalteparolen und Warnungen („Careless talk costs lives“) an den Wänden und Musik der Zeit aus dem englischen Pendant des Volksempfängers. Die Speisekarte heißt The Ration Book. Da gibt es allerdings Schätzchen, von denen man in der Kriegszeit nur träumen konnte.

17. August (Donnerstag)

Die ganze Nacht über hat es unentwegt geregnet. Jetzt hat der Regen nachgelassen, aber der Himmel ist grau. Ganz anders als gestern.

Im Internet stoße ich zufällig auf Paul Edmondson, den, der uns die Einführung in Julius Caesar gegeben hat. Er hat ein Buch herausgebracht, in dem sich Experten verschiedener Länder zusammenschließen, um die These von der umstrittenen Autorschaft zurückzuweisen. Shakespeare hat Shakespeare geschrieben, nicht Marlowe oder der Earl of Oxford oder Queen Elizabeth. Der Anlass für das Buch ist der: An vielen Universitäten räumt man der Frage großen Raum ein, und es gibt sogar Universitäten, an denen es einen Master-Abschluss dafür gibt! Die Brunel University bietet einen M.A. in Shakespeare Authorship Studies an.

Auf diesen Eintrag bin ich gestoßen, als ich etwas anderes suchte, aber auch in diesem Zusammenhang: Die Führerin hat ihre Führung mit einem humorvollen Geschichte beendet, in der die Titelhelden Shakespeares unter Zitierung anderer Titel sich der Frage der Autorschaft widmen. Und am Ende zu dem gleichen Schluss kommen: Shakespeare ist Shakespeare. Leider kann ich mich nur noch an eine Passage erinnern: „At this junction, Macbeth drew out his sword and…“

Am Morgen gibt es die Diskussion des Stückes von gestern, Salome. Interessant zuzuhören, obwohl ich es nicht gesehen habe. Fast einhellige Meinung: Große Klasse. Die Frau, die die Diskussion leitet, Anjna Chouhan, die jüngste unserer Experten,  ist sehr angetan von der Bewertung. Dies sei die erste Gruppe, die so positiv auf das Stück reagiert habe. Sie selbst hat es dreimal gesehen und ist ganz und gar davon eingenommen (und hat wohl auch einen Teil ihrer Begeisterung auf die Gruppe übertragen, als sie die Einführung gab).

Salome wird von einem Mann gespielt, einem jungen, androgynen Schauspieler mit zierlichen Händen und weiblichen Gesichtszügen. Die Besetzung selbst wird nicht kritisiert. Uneinigkeit herrscht aber darüber, ob die Besetzung durch einen Mann oder eine Frau eine Rolle spiele. Einige haben gesagt: „It doesn’t matter“. Aber das wurde von anderen nicht geteilt.

Es werden kuriose Parallelen entdeckt bei Wilde: zu Yeats und zu Becket (beide ebenfalls Iren!), aber auch zu Monty Python’s Life of Brian. Die Diskussionsleiterin zitiert Becket: „I must kill that rat before it dies“.

Allgemeines Rätselraten über den historischen Herodes. Ist der Herodes des Johannes des Täufers identisch mit dem des Kindermords? Wohl nicht. Herodes der Große und Herodes Antipas stehen da zur Debatte.

Die Diskussionsleiterin fragt verzweifelt nach Dingen, die nicht so gut gefallen hätten. Schweigen. Dann wagt sich eine nach vorne: der Mond. Der habe so eine merkwürdige Form gehabt. Die Diskussionsleiterin machte geltend, auch das sei wohl gewollt gewesen und zitiert einen literarischen Dialog von Wilde, in dem jemand sage, man brauche doch keine Kunst, man habe doch die Natur. Worauf der andere antwortet: „Yes, but it is so lumpy“.

Der Mond spielt auch in anderer Sicht eine Rolle. Während des gesamten Stücks hängt er hinten, alle Charaktere, wenn sie von ihm sprechen, deuten aber mit den Fingern nach vorne: Der Mond da. Wunderbar. Da wird einem jeder Boden unter den Füßen entzogen.

Von Begierde ist die Rede, desire. Ja, wenn man seine Aktionen auf seine Begierden aufbaue, dann werde es gefährlich, sagt die Frau. Aber, setzt sie hinzu, wenn man die Begierden ignoriere, dann auch.

In der Pause haben wir zu viert ein kurzweiliges, anregendes Gespräch über Theater und Englisch, wunderbar. So wohl habe ich mich die ganze Zeit hier noch nicht gefühlt. Ein junger Mann, Englischlehrer und Leiter seiner eigenen Theatertruppe, erwähnt body bag als deutschen Pseudo-Anglizismus. Er hat solche in einem Schaufenster in Deutschland gesehen, Beutel, die schräg über die Brust verlaufen. Im Englischen sind das Leichentücher.

Dann kommt Stanley Wells, einer der ganz großen Shakespeare-Koryphäen. Er spricht über Shakespeare and the fun of sex. Endlich mal ein vernünftiges Thema.

Der Vortragsstil ist allerdings schlecht. Wells spricht oft leise, oft undeutlich, manchmal beides und spricht nach unten zu seinem Manuskript statt zum Publikum. Er ist nicht mehr der Jüngste, 87.

Wells unterscheidet zwischen sexuellen Anspielungen in Form von Wortspielen und sexuellen Anspielungen in der Dramaturgie der Stücke. Der Begriff Sex ist dafür aber fast zu kurz gegriffen. Es geht um mehr: Anziehung, Beziehung, Liebe.  Ein klassisches Beispiel ist Rosalind aus As You Like It und ihre Beziehung zu Orlando. Als Mann verkleidet, nähert sie sich als Diener dem geliebten Mann an. Der fühlt sich, je länger sie sich kennen, immer mehr zu diesem Diener hingezogen. Für wen empfindet er dies? Für den Diener, der überdies Ganymede heißt, für die Frau, die dahinter steckt, oder für den männlichen Schauspieler, der die Frau spielt, die sich als Mann verkleidet hat? Da beginnen eindeutige Liebesbeziehungen ins Wanken zu geraten.

Das andere sind sexuelle Wortspiele. Davon wimmelt es nur so in den Stücken.  Wells sagt, wir bekämen in den Römerdramen nicht so viel davon ab. Aber frei davon sind sie auch nicht. Mir kommt eine Szene aus Antony and Cleopatra in den Sinn. Einer der Charaktere fragt: „Can Cleopatra die?“ Schweigen. Auf der Bühne und im Publikum. Dann, nach langen Sekunden, bricht der Angesprochene auf der Bühne plötzlich in etwas vulgäres Lachen aus. Dann zieht das Publikum nach, einige, weil man einfach mitlacht, wenn andere lachen, andere, weil sie die Doppeldeutigkeit von die erkannt haben: Es bedeutet auch kommen im sexuellen Sinn.

Wells zitiert Passagen aus mehreren Stücken, wo eine mögliche Doppeldeutigkeit gleich eine ganze Reihe anderer Doppeldeutigkeiten nach sich zieht. In einem Dialog aus The Taming of the Shrew generiert eine zweite Bedeutung von bee eine ganze Reihe eindeutiger Zweideutigkeiten: bee – buzz – buzzard – wasp – sting – tail.

Diese Art von Wortspiel ändert sich im Laufe der Karriere von Shakespeare. Die sexuellen Anspielungen werden weniger und dunkler – dwindle and darken – und werden zynischer, bitterer. Wells sieht darin auch eine Veränderung der Persönlichkeit Shakespeares reflektiert. Im Alter wurde er ernster, nachdenklicher.

Eine eigentlich überflüssige Frage am Ende des Vortrags, bei der der Fragende glaubt, ein ganzes Sonett zitieren zu müssen, führt aber noch ein paar interessanten Ausführungen.  Auch in den Sonetten wimmelt es von Wortspielen. Wells nennt eins, im dem das Wort will dreizehn Mal vorkommt, mit fünf verschiedenen Bedeutungen.

Wells sagt, er persönlich glaube, Shakespeare sei bisexuell gewesen. Aber die der Frage zugrundeliegende Vermutung, man könne das aus den Sonetten herleiten, scheint er nicht zu bejahen.

Die Sonette seien kein Zyklus im eigentlichen Sinne, sondern eine Reihe von Gedichten, die, teils unverbunden, in verschiedenen Phasen entstanden seien. Die ersten 16-17 hingen zwar zusammen, aber sie seien vielleicht eine Auftragsarbeit gewesen, von einer Mutter, die ihren Sohn animieren wollte, endlich an Heirat zu denken. In diesem Sinne spreche zwar der Sprecher der Gedichte zu einem Mann, aber nicht notwendigerweise Shakespeare.

Am Nachmittag spricht eine große, kantige Frau, Catherine Alexander,  hinter der man keine Literaturexpertin vermutet, über Titus. Sie hat eine klare Diktion und spricht auffällig langsam. Man versteht jede Silbe.

Sie spricht erst über die Rezeption des Titus Andronicus und all des Schimpfs, der im Laufe der Jahrhunderte über das Stück ausgegossen worden ist, von namhaften Literaten und Kritikern, darunter Dr. Johnson, Coleridge und T.S. Eliot. Das Stück sei „barbarous“, „uninspired“, „a heap of rubbish“, sei nur etwas für „vulgar audiences“ und ohnehin unaufführbar. Das tollste Argument: Das Stück sei „too far removed from English life.“ Mit dem Kriterium kann man gleich alle Shakespeare-Stücke auf den Müllhaufen werfen.

Erst im 20. Jahrhundert sei das Stück wiederentdeckt worden, zuerst von Peter Brook hier in Stratford, der das Stück adelte, indem er es an die Stelle von Macbeth setzte, das er eigentlich inszenieren sollte.

Die meisten Regisseure entschieden sich, um das Stück ihrem Publikum überhaupt zumuten zu können, es entweder radikal zu kürzen oder es als Burleske auf die Bühne zu bringen.

Alexander sieht das Stück unter dem Aspekt der Frage der Autorität. Und erzählt in dem Zusammenhang eine bemerkenswerte Episode aus der Zeit, die zeigt, dass Titus dem Elisabethanischen Publikum näher war als uns. Es war ein Pamphlet erschienen, in dem vor einer Verbindung der Königin mit einem französischen Prinzen gewarnt wurde. In dem Pamphlet wurde außerdem uncharmant auf das Alter der Königin verwiesen und den Umstand, dass sie keine Kinder mehr bekommen könne. Der Autor, der Herausgeber und der Drucker des Pamphlets wurden vor Gericht gestellt und verurteilt. Einer wurde am Ende begnadigt. Den beiden anderen wurde eine Hand abgehackt (ganz wie in Titus). Der erste Mann nahm nach dem Vollzug der Strafaktion mit der verbleibenden Hand seinen Hut ab und rief: „Long live Queen Elizabeth!“ Der andere tat es ihm nach und sagte über den ersten: „Here is a true Englishman.“

Am Abend dann die Aufführung, ganz anders als die beiden vorherigen. Dies ist ein Rom mit Pistolen, Mikrophonen, Krankenwagen und einem Auslieferer von Fast Food (Tauben!) auf einem Fahrrad. Das Konzept an sich ist stichhaltig, so kann man es machen, aber die billigen, effekthascherischen komischen Einlassungen gehen mir, je weiter das Stück voranschreitet, immer mehr auf die Nerven.

Es gibt ein paar bewegende Szenen, darunter die der verstümmelten Lavinia. Auch die Szene, in der Lavinia, ihrer Arme und ihrer Zunge beraubt, mit ihren Armstümpfen ein Buch öffnet, die Metamorphosen von Ovid, und damit auf eine Vergewaltigungsszene verweist, die ihre eigene Vergewaltigung erklärt, und dann die Namen der Vergewaltiger mit einem Griffel in den Sand schreibt. Oder die Szene, in der Titus, schon nicht mehr ganz bei Trost, seinen Bruder zur Schnecke macht, weil der eine Fliege getötet hat, dann aber umschwenkt, als Markus geltend macht, es sei eine schwarze Fliege gewesen.

Die absurde Klage über die tote Fliege und das Bedauern von deren Mutter und Vater steht im grotesken Kontrast zu allen Grausamkeiten, die das Stück zu bieten hat und die Titus teils selbst verübt hat: Vergewaltigung, Verstümmelung, Tötung des eigenen Sohns durch seinen Vater, Hinrichtung zweier Unschuldiger, ganz zu schweigen von der dramatischen Schlussszene, in der Titus bei einem Bankett Tamora eine Pastete serviert, in der das Fleisch ihrer eigenen Söhne verarbeitet ist.

Nach der Aufführung gehen wir noch ins Dirty Duck, dem Pub der Schauspieler. Sobald wir die Stufen hinaufgehen, weiß ich wieder: Das ist das Pub, in das wir auch damals nach den Aufführungen gegangen sind.

Ich bin wieder verblüfft, was die anderen alles wissen – vor allem über die Aufführungspraxis der Stücke und die Schauspieler – und was sie alles beobachtet haben, das mir durch die Lappen gegangen ist.

Es wird eine Episode zum Besten gegeben: Ein Pianist namens Tschaikowski (nicht verwandt mit dem Komponisten), der in England wohnte und oft die Aufführungen nach Stratford kam, fand keinen Gefallen an den Plastikschädeln, die im Hamlet verwendet wurden. Daraufhin vermachte er seinen Schädel dem RSC, mit der Auflage, den Schädel auf der Bühne zu verwenden. Was dann genau passierte, darüber gibt es unterschiedliche Versionen. Jedenfalls scheinen die Schauspieler sich mit dem echten Schädel schwer getan zu haben, bis einer ihn bei den Proben und dann auch bei den Aufführungen verwendete. Als das ans Licht der Öffentlichkeit kam, gab es Proteste und der echte Schädel wurde, das sagt jedenfalls die RSC, wieder gegen den künstlichen ausgetauscht. Persönlich hätte ich nichts gegen den echten Schädel.

Auf dem Heimweg sagt mir ein Mitreisender, er komme nicht mehr so gerne nach England wie früher, er sehe auch die Theateraufführungen kritischer als früher. An England betont er besonders das Auseinanderdriften der Gesellschaft. Das macht er am Gesundheitswesen fest und an den vielen schweren Autos, die man auch hier in Stratford sehe: immer mehr Mercedes und BMW. Das ist mir nicht aufgefallen. Jetzt, wo er es sagt, fallen mir allerdings zwei Kabrios mit offenem Verdeck auf, die ich heute auf der Brücke gesehen habe, beide von einzelnen Frauen gesteuert. In der Zeitung lese ich von einem Mann, dem der Zutritt zum Stadtzentrum von Stratford verwehrt wurde. Wegen Bettelns. Kann es sein, dass Betteln verboten ist?

18. August (Freitag)

Im Internet finde ich: „Franzosen wollen Brigitte Macron.“ Nach einem Klick erscheint die Schlagzeile komplett: „Franzosen wollen Brigitte Macron nicht bezahlen.“

Meine Verärgerung über zusätzliche vier Euro, die ich beim B&B bezahlen muss, um mit der Kreditkarte zu zahlen, habe ich wohl irgendwie zum Ausdruck gebracht. Als ich das Haus Richtung Zentrum verlasse, kommt die Vermieterin hinter mir her und drückt mir vier Euros in die Hand: Schließlich machen Sie morgen ja auch nicht mehr von Ihrem Frühstück Gebrauch.

Zu Titus gibt es allgemeine Zustimmung, auch zu den etwas klamaukhaften Einlagen.

Nach der Kaffeepause kommt der Schauspieler, den wir gestern als Saturninus, dieser Tage als Cassius gesehen haben. Er kommt mit 50 Minuten Verspätung. Und sagt nur: „Sorry I‘m late.“ Er ist aber verschwitzt und außer Atem.

Warum verliebt sich Titus in Tamora, wenn er Lavinia haben kann? Das ist die erste inhaltliche Frage zum Stück. Antwort: Er tut es nicht. Tamora ist eine Art Mutterersatz für ihn. Das mache der Text sogar explizit. Sie kümmert sich um alles, und er braucht sich nicht um die lästigen Regierungsgeschäfte zu kümmern, sondern kann sich seinem Gameboy widmen.

Vorher und nachher geht es eher um andere Aspekte, darunter den Applaus. Titus habe, im Gegensatz zu den anderen Stücken, einen Sonderapplaus erhalten. Bei allen anderen Stücken kommen die Schauspieler alle zusammen auf die Bühne, es gibt zwei Runden Applaus für alle und dann gehen die Lichter an. Es gibt auch keinen Applaus auf offener Bühne. Das sind englische Charakteristika. Die, die das kommentieren, scheinen das nicht zu schätzen. In Deutschland (und in der Schweiz) bekämen die Schauspieler ihren verdienten Applaus. Hier nicht so richtig. Ich persönlich finde das oft eher entweder störend oder peinlich.

Auch er wird nach dem Auswendiglernen gefragt. Er muss zwei Rollen parallel zueinander lernen und spielen. Das sei machbar. Es gebe Kollegen, die vier oder fünf Rollen parallel spielten.

Richtig schwer sei das Restoration-Drama, Shakespeares Verse zu lernen sei dagegen erstaunlich leicht, sagt er, das Versmaß helfe. Schwierig sei aber die Unterscheidung von thou und you und den gebeugten Formen. Das kann man verstehen, aber er selbst scheint zu denken, dass das alles ganz willkürlich ist.

Das Versmaß hilft, denn, wenn was fehlt, merkt man es. Wenn er mal das falsche Wort wählt, ist es immer eins, das metrisch passt. Automatisch. Allerdings hindert das einen nicht daran, mal eine ganze Folge von Zeilen auszulassen. Das kann ich gut verstehen. Er erzählt von einer Begebenheit, wo er vier Zeilen ausließ, woraufhin die Übertitel über der Bühne auf einmal anfingen, zu rasen.

Er teilt die Regisseure in zwei Klassen ein, visionaries und editors. Zu denen gehörten seine beiden Regisseure in dieser Spielzeit. Sie ließen sich mehr auf das ein, was Schauspieler sagen. Wobei die Regisseurin von Titus, das klingt jedenfalls zwischen den Zeilen durch, noch gesprächsbereiter sei als der Regisseur von Julius Caesar, der auch schon mal basta sage.

Er erlebt jetzt, seitdem er bei der RSC angefangen hat, auch den zweiten Produzenten. Der sei ein anderer Typ. Die Atmosphäre sei gut, aber nicht mehr so entspannt wie früher, aber die Zuschauerzahlen seien nach oben gegangen und es gebe jetzt auch mehr Inszenierungen, die ins West End kämen.

Nach der Mittagspause spricht dann Gil Day über Shakespeares klassische Bildung. Die sei auf jeden Fall vorhanden gewesen, auch wenn seine Zeitgenossen, allen voran Ben Jonson, daran ihren Zweifel gehabt hätten. Jonson sei aber selbst nur wenige Monate auf der Universität gewesen, habe aber auf seine akademische Ausbildung großen Wert gelegt und sich immer vor sich herumgetragen. Bei Milton wurde dann die Vorstellung vom Naturtalent, vom Genie, geprägt. Shakespeare habe nur eine schwache Grundlage gehabt, es sei ihm alles zugefallen.

Tatsächlich sei Shakespeare aber mit den Klassikern gut vertraut gewesen. In der Schule wurde sein Latein auf vierfache Weise geschult: Memorisieren, Analysieren, Imitieren, Kreieren. Keine schlechte Lernmethode. Es ging also nicht nur darum, stupide auswendig zu lernen, sondern auch aktuelle Ereignisse in der Fremdsprache mit den Mitteln der klassischen Rhetorik zu erfassen.

Diese Vertrautheit mit den klassischen Stoffen erweist sich in den Dramen. Bei Plautus machte er Anleihen für seine Komödien, unübersehbar vor allem in der Comedy of Errors. Das andere Vorbild sei Terenz gewesen, der vor allem sprachlich eine größere Bandbreite abgedeckt habe. Seneca galt zu Shakespeares Zeit als veraltet, aber Shakespeare machte dennoch Gebrauch davon. Gerade durch den Kontrast zu der altertümlichen Sprache wirke dann die „normale“ Sprache der Stücke besonders modern. Bei Hamlet gibt es sogar eine Passage, in der Hamlet in der Sprache Senecas zu deklamieren beginnt und sich dann selbst stoppt und in „Alltagssprache“ verfällt.

Der wichtigste Einfluss war Ovid, aber auch Plutarch war wichtig. Der war geborener Grieche und nahm den Namen Plutarch an, als er römischer Staatsbürger wurde. Er hielt den Römern den Spiegel vor, indem er seine Stücke in Griechenland spielen ließ, dabei aber über römische Verhältnisse sprach. Ähnlich verfuhr Shakespeare mit Rom.

Am Abend werden wir ein Stück sehen, das Anleihen beim miles gloriosus macht, ein modernes, burleskes Stück von einem Autor namens Phil Porter. Es wird viele landeskundliche Anspielungen geben, die erfordern, dass man sehr mit der britischen Alltagskultur vertraut ist. Ein Beispiel wird genannt: Ocado ist der Lieferservice einer britischen Supermarktkette. Mit dem Namen wird in dem Stück auch gespielt.

Am Nachmittag kommt ein wenig die Sonne raus, aber es ist ziemlich windig. Am Vormittag hat es ordentlich geregnet. Ich mache einen Spaziergang zum Bahnhof, um eine Vorstellung zu bekommen, wie lange man braucht. Auf jeden Fall kann ich das morgen bei der Abreise zu Fuß bewältigen. Ich passiere ein chinesisches Restaurant, an dem steht: „Half price for children under 1,40.“

Am Abend gibt es dann zum Abschluss der Woche Vice Versa, ein Gegengift gegen all die Gräuel der anderen Stücke: witzig, spritzig, unterhaltsam. Er kommt zwar auch zu zwei Szenen, in denen der Kopf schon auf dem Schafott liegt, aber die Hinrichtung bleibt dann aus.

Das ganze Stück ist auf Komik ausgerichtet, Wortspiele, teils weit hergeholte, und szenische Komik, Slapstick und Gesten, meist obszöne, gibt es in jeder Szene.

Die Komik basiert teils auf den stereotypen Charakteren – dem bramarbasierenden Soldaten, dem tumben Diener, der cleveren Drahtzieherin, einem Affen – und auf einer Doppelung: die begehrte schöne Frau, die aus den Fängen des Soldaten befreit werden soll, spielt gleichzeitig ihre Zwillingsschwester, die ihr natürlich zum Verwechseln ähnlich sieht. Shakespeare hätte seine Freude daran gehabt.

 

 

 

 

 

2 Responses to Stratford (2017)

  1. Super geschrieben.Vielen Dank.

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