2. Juni (Donnerstag)
Der Christkindlesmarkt und die Reichsparteitage, Dürer und der Nürnberger Trichter, Söder und die Nürnberger Bratwurst, Faber-Kastell und Noris, die Nürnberger Lebkuchen und die Nürnberger Prozesse, das Nürnberger Ei und der einst glorreiche FCN – es kommt schon einiges zusammen, wenn man an Nürnberg denkt.
Der FCN spielte damals noch in dem alten Stadion mit dem Namen Zabo, der für uns Kinder einen magischen Klang hatte. Beim Stichwort FCN fällt mir außerdem Fabian Nürnberger ein, der Fußballspieler. Der spielt wirklich in Nürnberg.
Im Laufe des ersten Tages entdecken wir dann noch auf einem Plakat, dass auch Pachelbel, dessen Kanon eins der eingängigsten Musikstücke des Barocks ist, aus Nürnberg stammte. Und Sibylle Merian hat hier zumindest lange gelebt, wie man einer Plakette an einem historischen Haus entnehmen kann.
Nürnberg bedeutet ‚Felsberg‘. Im Mittelalter hieß die Stadt Norenberc, und das war abgeleitet von knorre, ‚hervorstehender Knochen‘, und dem davon abgeleiteten knur, ‚Fels‘, ‚Klippe‘.
Berg oder Burg? Über Nürnberg thront die Burg, und die Stadt könnte genauso gut Nürnburg heißen. Der tatsächliche Name belegt nur, dass historisch Burg und Berg praktisch ein und dasselbe waren. Schließlich befinden sich die meisten Burgen ja auf einem Berg. Dafür spricht auch die Verwandtschaft von Nürnberg und Nürburg (das ursprünglich nore mons hieß, also auch ‚Berg‘).
Wir kommen aus zwei unterschiedlichen Richtungen in Nürnberg an, kurz nacheinander. Beide pünktlich. Die Bahn hat sich als zuverlässig erwiesen.
An der Rezeption des einfachen Hotels direkt hinter dem Bahnhof werden wir von einem freundlichen Mann in Empfang genommen. Ob es in Ordnung sei, dass das Zimmer nur alle zwei Tage gemacht wird, will er wissen. Ja, damit sind wir einverstanden. Die Hotels, die es schwer genug haben, verschaffen sich damit ein bisschen Luft.
Da die Zimmer noch nicht beziehbar sind, machen wir uns gleich auf den Weg in die Altstadt, ohne zu ahnen, wie viele Meilen wir gleich am ersten Tag zurücklegen werden. Hermanita hat einen Stadtplan und einen guten Orientierungssinn.
Zuerst treffen wir auf St. Lorenz, mein besonderer Favorit aus der Zeit des ersten Besuchs in Nürnberg. Der ist jahrelang her, aber St. Lorenz mit all seinen Kuriositäten ist mir seitdem immer wieder in den Sinn gekommen. Heute begnügen wir uns erst einmal mit dem verrosteten Eisenstab, der in den nördlichen Pfeiler der Fassade eingelassen ist. Nur ein verrosteter Eisenstab, aber der hat es in sich: Er wurde, mit einer Länge von 1,67 Meter, vom Rat der Stadt zum Normmaß erklärt. Es wurde verfügt, dass auf dem Friedhof, der früher um die Lorenzkirche herum lag, aber in der Pestzeit aus hygienischen Gründen vor die Stadt verlagert wurde, kein liegender Grabstein die Länge von 1,67 überschreiten durfte. Später haben die Baumeister in Nürnberg das Normmaß noch mal geteilt und den sechsten Teil, 27,83 Zentimeter, zum Nürnberger Werkschuh erklärt, nach dem alles gebaut wurde. Eine kluge Form der Normierung Jahrhunderte vor der Einführung der DIN-Maße.
Überragend der Figurenschmuck an der Fassade. Da gibt es alle möglichen biblischen Szenen zu sehen, darunter ein jüngstes Gericht.
Eine Besonderheit der Fassade ist die Rosette. Sie kommt erst später so richtig zur Geltung, als wir aus der Ferne am Abend auf die Kirche zukommen.
Über eine Brücke kommen wir in den nördlichen Teil der Altstadt. Die Brücke überquert die Pegnitz (nicht Pregnitz, wie ich immer gesagt habe), und die teilt die Altstadt in einen nördlichen und einen südlichen Teil. Die beiden Viertel entwickelten sich rund um die Pfarreien St. Lorenz im Süden und St. Sebald im Norden.
Als erstes sehen wir Das Narrenschiff, eine Brunnenskulptur ohne Brunnen. Nach dem Willen des Künstlers hätte aus den Galionsfiguren der Skulptur Wasser sprudeln sollen, und das ganze Schiff hätte wie eine Brunnenschale mit Wasser überlaufen sollen. Das scheiterte aber an der Finanzierung. Der Name der Skulptur nimmt Bezug auf die berühmte Moralsatire von Sebastian Brandt, dem erfolgreichsten deutschen Buch vor der Reformation, und auf Dürers Holzschnitte zu Brandts Buch. Auf dem Schiff tummeln sich verschiedene Figuren, menschliche Gestalten, Tiergestalten und der Tod in Form eines Skeletts. Der hat den Mund zu einem höhnischen Lachen weit geöffnet.
Wir setzten uns hier in ein Eiscafé mit exorbitanten Preisen für überdimensionierte Eisbecher, begnügen uns aber mit einem einfachen Eis mit Sahne. Die Toiletten befinden sich unten in dem Café. Da steht auf einer Tür Qua se parla anca in Veneto.
Die ganze Zeit über begleitet uns ein Straßenmusiker, der sich gleich neben uns platziert hat, mit Katzenmusik und unangenehmer Stimme. Man muss laut sprechen, um sich verständigen zu können.
Danach kommen wir zu einem Platz mit einer Statue von Hans Sachs (noch einem Nürnberger!), mit langem, krausem Bart und auffällig abstehenden Ohren. Zu seinen Füßen liegen Bücher, und in der Hand hält er auch eins: „Verachtet mir die Meister nicht, und ehrt mir ihre Kunst“. Ein Plädoyer dafür, die Meinung vernünftiger, fachmännischer Menschen nicht in den Wind zu schlagen.
Dann kommen wir zur Frauenkirche, katholisch im Unterschied zu St. Lorenz und St. Sebald. Ihre ganz besondere Fassade, mit nichts vergleichbar, was ich kenne, ist ein echtes Schmuckstück. Die Fassade hat einen auffälligen Treppengiebel und einen nicht sehr hohen Turm in der Mitte. Vor die Fassade hat man einen Vorbau gesetzt, ebenfalls hochgotisch, mit zwei Eingangsportalen, einem Balkon und einem erkerartigen Überbau mit einer großen Uhr mit vergoldeten Zeigern und Zahlen. Darunter thront die goldene Figur des Kaisers. Um 12 Uhr mittags defilieren die sieben Kurfürsten, die Bischöfe von Mainz, Köln und Trier, der König von Böhmen, der Pfalzgraf vom Rhein, der Herzog von Sachsen und der Markgraf von Brandenburg, vor ihm her und erweisen ihm ihre Reverenz. Das ist das „Nürnberger Männleinlaufen“. Die Prozession erinnert an die Goldene Bulle, das Gesetz, das die Kaiserwahl regelte und das in Nürnberg erlassen wurde. Es regelte unter anderem, dass jeder neugewählte Kaiser seinen ersten Reichstag in Nürnberg abzuhalten habe.
Wir gehen kurz in die Kirche rein, und kaum hat man das Portal geöffnet, bleibt man mit offenem Mund stehen. Man steht in einem ganz kleinen Vorraum vor einem Tympanon mit einem unglaublich reichhaltigen Figurenensemble. Der Eindruck ist überwältigend. Genau diesen Eindruck habe ich all diese Jahre von der ersten Nürnberg-Reise in Erinnerung behalten, aber ich hatte keine Ahnung mehr, dass das in der Frauenkirche war. Man sieht eine Fülle von vollplastischen, vergoldeten Figuren: musizierende Engel, Propheten mit Spruchbändern, Heilige mit Büchern. Im Zentrum Szenen aus dem Neuen Testament: die Geburt, die Anbetung der Könige, die Darstellung Jesu‘ im Tempel (ein ungewöhnliches Motiv) und eine Szene, die wir nicht identifizieren können: eine liegende Frau mit geschlossenen Augen und daneben, wie in einem Korb liegend, ein auffallend kräftiges nacktes Kind. Der Anblick der Vorhalle ist so überwältigend, dass ich für den Innenraum der Kirche nicht mehr empfänglich bin.
Auf dem Platz vor der Kirche steht der Schöne Brunnen, ein weiterer Glanzpunkt Nürnbergs. Über der achteckigen Schale erhebt sich eine Kleinarchitektur, wie ein gotischer Turm. Der ist verziert mit gotischem Maßwerk und Fialen und Wimpergen und einem großen Aufgebot an Figuren. Leider kann man wegen des Gitters, das den Brunnen umschließt, nicht alle gut erkennen.
Das Figurenprogramm hat es in sich. Es sind insgesamt 40 Figuren, aus Sandstein, farbig gefasst. Unten stehen die sieben Kurfürsten und die Neun Guten Helden (Hektor, David, Karl der Große usw. also Antike, Judentum und Christentum), darüber Moses mit den Gesetzestafeln und die sieben Propheten. Auf der Brüstung des Beckens sitzen die vier Evangelisten, die vier Kirchenväter, die Philosophie und die Sieben Freien Künste. Das Bildprogramm ist politisch ausgerichtet. Nürnberg stellt sich als kaisertreue Reichsstadt dar. Die Kurfürsten verkörpern die Ordnung des Reichs, ihnen sind die Helden als Vorbilder guter und gerechter Ordnung als Mahnung zur Seite gestellt. Die Evangelisten und Kirchenväter verleihen dem Programm eine religiöse Dimension, die Vertreter des antiken Wissens eine universalgeschichtliche Dimension. Die meiste Aufmerksamt nimmt aber bei den Touristen ein drehbarer Messingring in Anspruch, der ganz glatt poliert ist vom vielen Berühren. Er gilt als Glücksbringer.
Dann kommen wir zu der dritten großen Kirche der Altstadt, St. Sebald, einer weiteren gotischen Kirche, wiederum mit einer reichen Ausstattung. An die kann ich mich nicht erinnern, Hermanita aber wohl von ihrem damaligen Kurzbesuch in Nürnberg. Im Chor steht ein vergoldeter Sarg. Ich mache ein Photo, ohne zu wissen, wen ich da vor mir habe, aber Hermanita weiß Bescheid: Es ist der Reliquienschein von St. Sebald, dem Patron der Kirche und dem Stadtheiligen von Nürnberg.
Nicht so richtig klar kommen wir mit dem Rathaus. Das Gebäude, das wir vor uns haben, sieht irgendwie nicht nach Rathaus aus. Es ist im Renaissance-Stil gebaut und unterscheidet sich von den anderen historischen Gebäuden der Altstadt. Es muss aber wohl das Rathaus sein, denn hier gibt es einen Hinweis, dass die unterirdischen Lochgefängnisse weiterhin geschlossen sind, und die sind im Rathaus.
Über die Bergstraße, der Namensgeberin unseres Ausflugs, kommen wir nach einiger Suche zum Dürerhaus. Das hat wie ein Wunder die Bombenangriffe des Kriegs, die Nürnberg, noch 1945, schwer getroffen haben, unbeschädigt überstanden. Hier wohnte Dürer, und hier war auch seine Werkstatt.
Dieses Haus stellt einen spätmittelalterlichen Haustyp dar, bei dem das Erdgeschoss aus Sandstein ist und die darüber befindlichen Stockwerke aus Fachwerk. Später, ab dem 16. Jahrhundert, setzte sich dann immer mehr der ganz aus Sandstein bestehende Typus durch. Auch davon hat die Nürnberger Altstadt verschiedene Exemplare.
Hermanita hat die gute Idee, ein Neun-Euro-Ticket zu kaufen. Mit dem können wir nicht nur in diesen Tagen in Nürnberg fahren, sondern auch sonstwohin den ganzen Monat lang. Wir bekommen das Ticket in der Touristeninformation. Da bekommen wir auch den Hinweis, wie wir zum Johannisfriedhof kommen können, nämlich mit der Straßenbahn. Die fährt außen an der alten Stadtmauer entlang. Und ist hochmodern. Nach zwei Stationen sind wir schon da.
Der Johannisfriedhof ist ein ganz besonderer Friedhof. Schon auf den ersten Blick unterscheidet er sich von anderen Friedhöfen. Alle Gräber haben die vom Rat vorgeschriebene Normgröße. Sie stammen aus fünf Jahrhunderten. Sie liegen so dicht beieinander, dass man nur mit Mühe an ihnen vorbeigehen kann. Alle bestehen aus einer schweren, flachen Steinplatte, und alle haben metallenen Schmuck mit Figuren oder Ornamente und dem Namen der Verstorbenen. Wir sehen die Gräber der Familien Frauenknecht, Nothaft, Puff und Langbein.
Eine weitere Besonderheit des Friedhofs ist der prächtige Blumenschmuck. Jedes Grab hat einen großen Blumentopf mit blühenden Blumen, in verschiedenen Farben. Das gibt dem Friedhof ein ganz besonderes Aussehen. Wir sind uns einig, dass das irgendwie zentral geregelt sein muss und der Friedhof sich um die Blumenpflege kümmert.
Wir fragen uns, wie hier heute die Bestattungen vor sich gehen. Werden die Steinplatten tatsächlich angehoben? Wie kann man das bei dem Gewicht und bei dem engen Raum überhaupt bewerkstelligen?
Mit der Hilfe zweier älterer Damen und Hermanitas Spürsinn finden wir die Gräber von Veit Stoß, von Albrecht Dürer, von Anselm Feuerbach. Auch Ludwig Feuerbach ist hier begraben. Das Grabmal von Dürer zeigt sein berühmtes Monogramm. Er war einer der ersten oder sogar der erste Künstler, der ein Monogramm benutzte. Das wird gedeutet als Zeichen des Übergangs vom mittelalterlichen Handwerker, als der sich ein Maler empfand, zum neuzeitlichen Künstler.
Eine ältere Dame erklärt uns, hier auf dem Friedhof lägen auch der (englische) Lokführer der ersten Eisenbahn Nürnberg-Führt begraben und der Entdecker der Quelle des Nils. Auf seinem Grabstein sei das Profil von Afrika zu sehen.
Der Hunger treibt uns zurück Richtung Altstadt. Diesmal steigen wir am Plärrer aus, aber das ist einfach ein größerer Umsteigeplatz außerhalb der Altstadt. Der Name hörte sich vielversprechender an.
Hermanita führt uns mit Stadtplan und Orientierungssinn zu einem Lokal, einer Weinstube, die wir irgendwann im Laufe des Tages gesehen haben.
Dabei passieren wir den Ehekarussellbrunnen, einen modernen Brunnen, angeregt von dem Gedicht „Das bittersüße eheliche Leben“ von Hans Sachs. Große Bronzefiguren stellen sechs Ehepaare dar, von denen drei für eine glückliche, drei für eine unglückliche Ehe stehen. Natürlich sind die unglücklichen die interessanteren, wie das Ehepaar, bei dem die Ehefrau mit grimmigem Gesicht den Mann bei der Gurgel packt und ihm keine Luft zum Atmen gibt. Wegen der drastischen Darstellungsweise war der Brunnen anfangs sehr umstritten, ist aber inzwischen zum Publikumsmagnet geworden.
Dann kommen wir zu dem Weinlokal. Man geht durch einen Torbogen und kann dann schön draußen sitzen, an ganz einfachen Tischen und auf etwas unbequemen Stühlen, vor der Treppe, über die man ins Lokal kommt. Sehr schönes Ambiente: frische Luft, Bäume und Beete, abgeschirmt von dem Leben draußen.
Es gibt Sauerbraten (ohne Rosinen) und Schäufele, eine fränkische Spezialität. Es ist ein Stück Schweineschulter, das mit einem oben darin steckenden scharfen Messer serviert wird. Aber das braucht man gar nicht. Das zarte Fleisch löst sich ganz von selbst vom Knochen, und sogar die wunderbar kross gebratene Schwarte lässt sich mit dem normalen Messer schneiden. Zu beiden Gerichten gibt es nicht sehr schmackhafte Knödel. Als Getränke gibt es Weinschorle auf der Basis von Frankenwein, der der Schorle einen kräftigeren Geschmack verleiht, und fränkisches Bier, erst ein helles, dann ein dunkles. Keine Offenbarung, aber das dunkle schmeckt besser als das helle. Es gibt auch rotes Bier, aber da traue ich mich nicht ran.
Auf dem Rückweg zum Hotel löst sich dann auch das Rätsel der Inseln auf. Wir hatten von Inseln in der Pegnitz gelesen, konnten aber von den Brücken aus keine entdecken. Jetzt, als wir die Heubrücke überqueren, sehen wir, dass die Pegnitz hier zwei Arme hat, und wir mitten auf der Insel stehen. Historische Bauten scheint es hier nicht zu geben, vielleicht war es ein Handwerkerviertel, dessen Häuser nicht überlebt haben. Einige der Straßennamen hier in der Gegend deuten jedenfalls auf Handwerker hin.
Am Abend lese ich, dass die Pegnitz auch durch Fürth und Bayreuth fließt und in den Main mündet. Der Name ist von Paginza abgeleitet und geht auf indogermanisch bhog zurück, was einfach ‚fließendes Wasser‘ heißt. Unsere Vorfahren machten das Naheliegendste: Sie nannten den Fluss einfach Fluss.
3. Juni (Freitag)
Das Hotel liegt etwas versteckt hinter dem Bahnhof. In dem spartanisch, aber praktisch eingerichteten Zimmer liegen Ohrenstöpsel bereit – nicht umsonst, denn die Zimmer gehen gleich auf eine viel befahrene Straße hinaus, über die in kurzen Intervallen die Straßenbahn fährt. Am Abend schließt man die Fenster, um den Krach auszuschließen, später öffnet man sie wieder, damit frische Luft hereinkommt und dann schließt man sie wieder, um den Krach draußen zu halten. Momentan findet in Nürnberg, wie immer an Pfingsten, das Festival Rock im Park statt. Aber glücklicherweise hat sich die Warnung des Manns an der Rezeption nicht bewahrheitet, das könne sich hier in der Gegend auch bemerkbar machen, und sei es durch spät heimkehrende Besucher. Aber die würden sowieso von der Straßenbahn übertönt.
Am Abend davor habe ich nach Rollladen gesucht und nach irgendeinem Schalter, mit dem man die runterlassen kann. Vergeblich. Beim Frühstück sagt Hermanita mir, dass es doch Vorhänge gebe. Die habe ich bei meiner Suche nach Rollladen einfach übersehen. Tunnelblick.
Beim Aufwachen erinnere ich mich an einen Hinweis gestern im Zug, der immer wieder eingeblendet wurde, wenn eine neue Station angefahren wurde: Haben Sie auch nichts vergessen? Ein ganz schwer zu erklärender Gebrauch von auch.
Beim Frühstück erzählt Hermanita, dass auch der Erfinder des Tempo-Taschentuchs aus Nürnberg kam. Jedenfalls war die Fabrik, in der die Tempotücher hergestellt wurde, in Nürnberg. Der Erfinder selbst, Oskar Rosenfeld, stammte aus Bamberg.
Und dann kommen zwei Namen ins Spiel, die mir noch aus dem Geschichtsunterricht in Erinnerung sind: Henlein und Behaim. Peter Henlein, ein Nürnberger Schlossermeister, der sich auch als Uhrmacher betätigte, gilt als Erfinder der Taschenuhr. Das wurde als Nürnberger Ei bekannt. Das Bild der ovalen, dosenförmigen Taschenuhr aus dem Geschichtsbuch habe ich noch heute vor Augen. Die Bezeichnung Ei, lese ich jetzt, hat wohl nichts mit der Form der Uhr zu tun, sondern leitet sich von Aeurlein ab, einer Verkleinerungsform von Uhr. Martin Behaim gestaltete den ältesten erhalten Globus der Welt. Es ist eins der letzten kartographischen Werke, die die Welt vor der Entdeckung Amerikas darstellt.
Das Reichsparteitaggelände hat geschlossen, gerade jetzt während der Tage, wo wir hier sind. Es gibt aber eine gute Alternative: Raum 600. Das ist der Gerichtssaal, in dem die Nürnberger Prozesse abgehalten wurden. Bis vor kurzem war der Saal noch Gerichtssaal, aber das ist er jetzt nicht mehr. Das bedeutet, dass es keine Einschränkungen für die Besichtigung mehr gibt.
Mit der Straßenbahn geht es zu dem Gerichtsgebäude. Die ganze Gegend sieht völlig anders aus als die Altstadt, mit einer breiten Straße, modernen Geschäftsgebäuden und dem großen, hinter einer Mauer gelegenen Gerichtsgebäude, ein ganzer Gebäudekomplex, wohl aus der Gründerzeit stammend. An der Fassade sehen wir die Figuren von Adam und Eva. Ich bin überrascht, aber Hermanita sieht den Zusammenhang: Sie haben als erste das Gesetz gebrochen.
Es geht direkt in den Saal 600. Von einer Zuschauertribüne blickt man in den Saal hinunter. Links das Eingangsportal mit dem Haupt der Medusa und einer Figur mit Schwert und einer Figur mit Köcher. Die stehen für das germanische bzw. für das römische Recht. Auch hier tauchen wieder Adam und Eva auf.
Auf den Bänken hinten im Saal und rechts saßen die Richter der vier Alliierten, die Ankläger, die Protokollführer usw., insgesamt so viele, dass die Zuschauerempore, auf der wir sitzen, abgebaut und der Saal nach hinten verlängert wurde, um Platz für die Prozessbeobachter zu schaffen. Zu denen gehörten Erich Kästner, Erika Mann, John Dos Passos, Alfred Döblin, Ilja Ehrenburg, John Steinbeck.
Links im Saal befindet sich die Bank der Angeklagten. Es gab 24 Angeklagte, aber nur 21 waren tatsächlich anwesend. Einer hatte sich selbst getötet, Hess war vernehmungsunfähig, und Bormanns Aufenthalt war unbekannt. Gleich hinter der Bank die Tür, durch die die Angeklagten den Gerichtssaal betraten. Ein Aufzug führte in ihre Zellen. Es gab höchste Sicherheitsvorkehrungen. Sogar die Fenster waren verhüllt, damit niemand von außen hineinsehen konnten. Auch die Kronleuchter wurden entfernt.
In dem Raum hinter dem Saal 600 gibt es eine Ausstellung zu dem Prozess, sehr informativ. Großer Wert wurde auf ein rechtmäßiges und einigermaßen faires Verfahren gelegt. Die Angeklagten wurden gehört und hatten Verteidiger zur Seite. Die Verteidiger verfolgten unterschiedliche Strategien: das Gericht sei nicht zuständig, das Verfahren sei unfair, die Alliierten hätten auch Kriegsverbrechen begangen, Hitler trage die Verantwortung. Außerdem berief man sich auf den Grundsatz Nullum crimen, nulla poena sin lege – ohne Gesetz könne es kein Verbrechen und keine Strafe geben. Ein Angriffskrieg sei deshalb nicht strafbar. Auch einige der Angeklagten luden die Verantwortung bei Hitler ab. Einige sagten, sie seien an den Gräueltaten nicht beteiligt gewesen, einer sagte, er habe nichts zu bereuen, er habe seinem Volk und Vaterland gedient. Ein halbes Schuldeingeständnis machte Speer. Das zahlte sich aus. Er bekam eine mildere Strafe: 20 Jahre Haft.
Die Urteilsverkündigung dauerte zwei Tage. Es wurden folgende Urteile verkündet: drei Freisprüche, zwölf Todesurteile (gegen Bormann in Abwesenheit), drei lebenslange und vier langjährige Freiheitsstrafen. Die Freigesprochenen wurden danach von der deutschen Polizei gefangengenommen und zu langjährigen Strafen in Arbeitslagern verurteilt.
Die Vollstreckung der Todesurteile erfolgte nicht in Nürnberg, sondern in Berlin. Göring entzog sich der Vollstreckung im letzten Moment, indem er eine Zyankalikapsel nahm. Wie andere hatte er gefordert, dass das Todesurteil durch Erschießen vollstreckt werden solle. Der Tod durch den Strang erschien ihm eines Soldaten unwürdig.
Der Nürnberger Prozess gilt als die Geburtsstunde der Simultanübersetzung. Bis dahin war das konsekutive Übersetzen die Regel gewesen, bei dem Reden abschnittsweise übersetzt wurden. Die Simultanübersetzung sparte Zeit, gab aber auch den Angeklagten weniger Zeit, sich eine Verteidigungsstrategie zurechtzulegen. Die Simultanübersetzer waren großem Druck ausgesetzt. Übersetzungsfehler blieben nicht aus. Zur Sicherheit wurden alle Verhöre zur späteren Kontrolle auf Tonband mitgeschnitten.
Insgesamt erforderte die Vorbereitung und Durchführung des Prozesses große Sorgfalt bei der Aufbereitung von Dokumenten, Protokollen, Eingaben und Aussagen. Der Sprachendienst umfasste alleine 350 Mitarbeiter!
Nach dem Abschluss des Prozesses gab es noch eine Reihe von Folgeprozessen: den Ärzteprozess, den Krupp-Prozess, den Flick-Prozess, den IG-Farben-Prozess usw. Zum ersten Mal höre ich von dem Tokio-Prozess, dem japanischen Pendant zu Nürnberg. Hier traten nur die USA als Ankläger auf. Hirohito wurde nicht angeklagt. Auch im Verlauf scheint sich dieser Prozess in verschiedener Hinsicht von Nürnberg unterschieden zu haben.
Am Ende der Ausstellung wird noch der Weg von Nürnberg nach Den Haag dokumentiert, vom Internationalen Militärgerichtshof zum Internationalen Strafgerichtshof. Verblüfft stellt man fest, in wie vielen Ländern es seitdem Menschenrechtsverletzungen gegeben hat, von Griechenland, Jugoslawien und Spanien über Kolumbien, Chile und Argentinien bis zu Ruanda und China. Einige, aber längst nicht alle, kamen in Den Haag zur Verhandlung.
Der Besuch hat sich gelohnt. Wir haben viel erfahren. Nach der Rückkehr in die Altstadt setzen wir uns direkt an die Pegnitz, um einen Kaffee zu trinken, in sicherem Abstand zu den Straßenmusikern.
Dann wenden wir uns St. Lorenz zu, der ersten Sehenswürdigkeit, auf die wir gestern beim Gang in die Altstadt gestoßen sind. Überragend der Figurenschmuck am Hauptportal, mit einer Fülle von dicht aneinandergereihten Szenen und Figuren, sehr packend, teils etwas naiv dargestellt. Man sieht den Judaskuss, den Kindermord (das von dem Soldaten mit dem Schwert getötete Kind scheint in der Luft zu schweben, so als ob der Soldat es in die Höhe geworfen hätte) und das Jüngste Gericht mit dem Höllenschlund, in dem alle, ob Bauer oder Bischof, verschwinden. Beim Jüngsten Gericht scheint der Weltenrichter die Faust in die Höhe zu recken. Aber das sieht nur so aus. Es sind einfach die drei Finger verloren gegangen, die er einst in die Höhe streckte. Beim Jüngsten Gericht öffnen sich alle Särge bis auf einen. Der wird vom Tod persönlich bewacht. Es ist der Sarg der Juden, durch einen Judenhut gekennzeichnet. Die werden am Jüngsten Tag nicht zum Leben erweckt.
Unter den Figuren besonders interessant ist Laurentius, der Patron der Kirche, dargestellt mit dem Rost, auf dem er gebraten wurde. Insgesamt ist er 27mal in der Kirche und um die Kirche herum dargestellt.
Die Kirche hat eine unglaubliche Ausstattung mit unendlich vielen Details, die der Aufmerksamkeit wert sind. Alle sehen wir nicht, teils, weil wir sie nicht finden, teils, weil sie sich hinter den Gerüsten verschwinden, die für die Sanierung der Kirche überall aufgestellt sind. Deshalb sehen wir u.a. nicht die Darstellung der Hl. Martha, eine Darstellung, die das Interesse der Feministen geweckt hat und in vielen Publikationen abgedruckt ist. Martha hat nämlich den Drachen gefangen, nicht getötet, wie es die männlichen Heiligen wie Georg tun. Allerdings kann man in dem gefangenen Drachen auch den von der Frau gebändigten Mann sehen.
Wenn man in der Kirche ist, lohnt sich ein Blick zurück, auf die Westfront, mit der Rosette. Die ist ungewöhnlich, denn die Fenster, die die Rosette formen, sind diagonal angeordnet und zeigen im Wechsel nach innen und nach außen. Daher sieht es so aus, als würde die Rosette anfangen zu rotieren.
Die Kirche, lesen wir, ist breiter als hoch. Das sollte man nicht glauben. Das schmale Mittelschiff und die schlanken Fenster des Chors täuschen.
Die ersten Figuren, die uns auffallen, sind die Heiligen Drei Könige, ungewöhnlich an den Pfeilern des Langhauses angebracht. Kaspar, der neben Melchior steht, trägt einen Rosengürtel. Das war damals der letzte modische Schrei für junge Männer. Am nächsten Pfeiler kniet Balthasar nieder und bietet sein Geschenk dar. Vor ihm die Madonna mit Kind, eine bemerkenswerte Madonna. Sie lächelt dem Kind in ihren Armen zu und richtet ein Auge auf das Kind und eins auf den Betrachter. Sie trägt den Apfel des verlorenen Paradieses in der anderen Hand und reicht ihn ihrem Sohn. Der wird dafür sorgen, dass der Sündenfall des Paradieses überwunden wird.
Dann kommen, an zwei sich gegenüberstehenden Pfeilern, Laurentius und Sebastian. Die gehören irgendwie zusammen. In Rom sollen sie in einem gemeinsamen Sarg bestattet sein. Beide sind ganz schlicht gekleidet, ein Verweis darauf, dass sie Diakone waren, keine hohen Würdenträger. Heute würde man von Sozialarbeitern sprechen.
Eine besondere Kuriosität ist eine Abendmahlgruppe in Ton, aus dem ausgehenden Mittelalter stammend. Die Apostel sitzen in zwei Reihen an einem Holztisch, die erste Reihe wendet uns den Rücken zu. Sie sitzen auf einer einfachen Holzbank. Die hat keine Stützen, scheint irgendwie in der Luft zu schweben und vom Boden abzuheben. Die eigentliche Besonderheit der Darstellung ist aber die Zahl der Apostel: 13. Das liegt am doppelten Judas. Judas sitzt einmal Jesus gegenüber. Das ist der ursprüngliche Judas. Bei der Restauration im 19. Jahrhundert, als nicht mehr alle Figuren vollständig erhalten waren, kam der zweite Judas hinzu. Damals setzte man Judas immer an den Rand, und da man sich nicht vorstellen konnte, dass Judas Jesus gegenüber saß, fügte man diesen zweiten Judas hinzu!
Eins der wichtigsten Ausstattungsstücke ist der Englische Gruß von Veit Stoß, einem der bekanntesten Künstler der Dürerzeit. Ungewöhnlich ist die Platzierung der Skulpturengruppe, denn sie hängt scheinbar freischwebend vom Gewölbe herab. Ungewöhnlich ist auch ihre „Einbettung“ in einen Rosenkranz, was auf den ausdrücklichen Wunsch des Stifters hin geschah, Anton Tucher, einem der höchsten Repräsentanten der Stadt und bedeutendem Kunstmäzen. Die Verkündigungsszene wird eingerahmt von 50 Rosenblättern – eine Anspielung auf die 50 „Ave Maria“ des Rosenkranzgebetes, das sich in der damaligen Zeit großer Beliebtheit erfreute. Das „Ave Maria“ stellt wiederum die Verbindung zu der Verkündigungsszene dar, denn mit diesen Worten grüßt der Engel die Jungfrau. Und der Engel hält Maria auch wirklich das Spruchband mit dem kompletten „Ave Maria“ entgegen. Von Bedeutung sind die Gesten der Beteiligten: Der Engel hält eine Hand wie zum Schwur erhoben, Maria fasst sich mit einer Hand ans Herz (Wie? Ich bin gemeint?), aus der anderen Hand gleitet ihr das Buch, das sie gerade liest. Das fällt zu Boden. Es enthält die alten Riten und Gesetze und Dogmen. Die gelten nicht mehr. Eine neue Zeit ist angebrochen. Die Figur der Maria mit Taube ist etwas größer als die des Engels mit Kreuz. Vielleicht hat auch das seine Bedeutung.
Die Umstände des Zustandekommens des Kunstwerks sind auch bemerkenswert, denn Veit Stoß war zu dieser Zeit wegen Urkundenfälschung verurteilt und seiner Bürgerrechte beraubt, galt aber trotzdem weiterhin als virtuoser Künstler, einer der größten seiner Zeit.
Das gilt auch für Adam Kraft, auf den das zweite wichtige Stück der Ausstattung zurückgeht, das Sakramentshaus. Das enthält ein Motiv, das eins der bekanntesten der Kirche und von ganz Nürnberg ist, die Figur des Meisters selbst: lebensgroß, in hockender Stellung, mit Werkstattkappe und Bildhauerwerkzeug, trägt er, zusammen mit zwei seiner Gesellen, die gesamte Struktur. Es ist eins der berühmtesten Selbstporträts der Zeit und zeigt das neu erwachte Selbstbewusstsein der Künstler, basierend auf ihrem Können und ihre sich verändernde gesellschaftliche Stellung.
Das Sakramentshaus ist ein unglaubliches Gebilde, turmartig, 20 Meter hoch, bis ins Gewölbe reichend, äußerst filigran, mit Rippen, Maßwerk, Fialen, Wimpergen, Reliefs und Skulpturen. Aber: Was ist überhaupt ein Sakramentshaus? Die Antwort: ein Aufbewahrungsort für die Hostien, eine Art Tabernakel im Großformat. Hier steht natürlich nicht die Funktion, sondern die Zurschaustellung der Kunstfertigkeit und des Reichtums im Vordergrund. Der Auftraggeber, Imhoff, ein weiterer bedeutender Mäzen der Zeit, hatte vertraglich seine Vorstellung von dem Sakramentshaus festgelegt und darauf bestanden, dass Adam Kraft das Werk persönlich ausführte und nicht an andere delegierte. Für uns ist vor allem bemerkenswert, dass sich so ein Sakramentshaus in einer evangelischen Kirche überhaupt bewahrt hat.
Es gäbe noch mehr zu sehen, aber wir müssen weiter. Draußen an der Fassade sehen wir uns noch die Figur eines Affen an, ziemlich weit oben. Der Affe liest in der Bibel. Und steht für die Menschen, die die Bibel (und Texte überhaupt) ohne Verstand lesen. Auf der anderen Seite gibt es noch eine ganz Reihe von ungewöhnlichen Figuren, unter anderem die Skulptur eines Mannes, der auf das Volk da unten hinunterpinkelt. Nicht unbedingt ein Motiv, das man an einer Kirche erwarten würde. Allerdings hängt er so hoch, dass er mit bloßem Auge kaum zu erkennen ist.
An einem Kiosk kaufen wir Wasser für die Stadtführung. Wir fragen den Mann, ob es dort rauf zum Hauptmarkt gehe. Er sagt „Neeeeein!“ Dann kommt eine Pause. Und dann kommt „Und jetzt?“ Also fragen wir: „Und woher geht es zum Hauptmarkt?“ Und er zeigt in die umgekehrte Richtung.
Am Hauptmarkt beginnt die Stadtführung. Unsere Führerin hat eine Frisur, die an Hässlichkeit nur noch von ihrer Brille übertroffen wird. Die Führung ist gut, hat aber große Defizite: Man bekommt kaum einen Einblick in die Struktur der Stadt oder in ihre Geschichte. Von dem Namen der Stadt ist überhaupt nicht die Rede, von den vielen Brücken kaum. Und gar keine Erwähnung findet die Stadtmauer mit ihren vielen Türmen und Toren. Dabei ist sie, wenn auch, wie so vieles in Nürnberg, wiederaufgebaut, eine vollständig erhaltene mittelalterliche Stadtmauer, dem Reiseführer zufolge sogar die größte in Mitteleuropa.
Unsere Führerin ist eine große Lokalpatriotin und hält alles, was mit Nürnberg zu tun hat, für „weltbekannt“, auch die Bratwurst. Wie viele Menschen in Griechenland oder Frankreich haben wohl schon mal von der Nürnberger Bratwurst gehört?
Trotzdem lohnt sich die Führung, weil wir in Viertel der Altstadt kommen, in denen wir noch gar nicht gewesen sind und weil wir ein paar Details verstehen, die wir bisher noch nicht verstanden haben.
Sehr interessant ist der Hinweis auf den Draht als eine der Quelle des Reichtums von Nürnberg. Hier wurde das Drahtziehen erfunden oder zumindest erfolgreich praktiziert. Das hatte die Produktion von Nadeln und Nägeln, von Sieben und Fingerhüten zur Folge und zieht sich hin bis zu Nürnberg als Waffenschmiede der Nazis, was der wichtigste Grund für die Angriffe auf die Stadt am Ende des Krieges war.
Wir gehen auf die Terrasse eines Cafés am Marktplatz, eine gute Idee, denn von hier hat man aus etwas erhöhter Sicht einen guten Blick auf den Hauptmarkt. Es folgt eine interessante Erklärung zu der wirklich ungewöhnlichen Gestalt der Frauenkirche. Sie war gar nicht als Kirche geplant, sondern sollte der Darstellung der Reichsinsignien dienen. Deshalb hat die Kirche auch einen Balkon. Der Bau wurde als eine Art kaiserlicher Kapelle von Kaiser Karl IV. gebaut, und das ist auch derjenige, der oben an der Fassade thront und um 12 Uhr mittags bei dem „Männleinlaufen“ die Reverenz der sieben Kurfürsten entgegennimmt.
Die Ausstattung der Frauenkirche hatte man während des Kriegs rechtzeitig in Sicherheit gebracht, und zwar in einen Bierkeller. Der Schöne Brunnen, den man ja nicht so einfach abtransportieren konnte, wurde von einem Betonmantel umhüllt und überstand den Krieg unbeschadet.
Wir kommen zur Fleischbrücke. Ihr Name rührt von den offenen Bänken für den Fleischverkauf her, die hier im Mittelalter standen. Später wurde stattdessen ein Fleischhaus errichtet. In dem durften aber nur Nürnberger Metzger arbeiten. Die auswärtigen standen am Ufer der Pegnitz und entsorgten Gedärme und andere Abfälle in den Fluss. Das sorgte für ständige Reibereien, denn die Abfälle setzten sich in den Rädern der Mühle an der Pegnitz fest.
Das Fleischhaus wurde komplett zerstört, mit der Ausnahme eines Ochsenportals im Renaissancestil, das jetzt den Zugang zu dem schmalen Uferweg an der Pegnitz ziert. Das Portal hat einen Ochsenkopf und eine lateinische Inschrift, die keiner so richtig versteht. Es heißt, der Ochse sei nie Kalb gewesen.
Die Fleischbrücke stellt eine architektonische Besonderheit dar. Es gab immer wieder Überschwemmungen, bei denen die Strömung die Pfeiler der Brücke beschädigen und sie sogar zerstören konnte. Man brauchte also eine Lösung, eine Brücke ohne Pfeiler. Das alleine wäre noch nicht so schwer gewesen, aber die Brücke musste auch noch oben eine flache Kurve haben, damit die Pferdefuhrwerke sie passieren konnte. Es wurden tatsächlich eigens Baumeister aus Venedig (mit dem sich Nürnberg immer wieder austauschte, auch bei der Ausbildung von Lehrlingen) rekrutiert, und die bauten eine solche Brücke nach dem Vorbild der Rialto-Brücke in Venedig. Bei dem Bau wurden über 2.000 Holzpfähle in den Flussboden gerammt.
Wir gehen an der Pegnitz entlang zur Museumsbrücke. Der Anblick, den man von hier auf die Pegnitz und das Heilig-Geist-Spital hat, gehört zu den schönsten von Nürnberg. Wir haben hier gestern schon Photos gemacht, ohne zu wissen, wo wir waren.
Der Bau des Heilig-Geist-Spitals war eine architektonische Notlösung, aber die hat einen besonderen ästhetischen Reiz. Weil der Baugrund an der Pegnitz zu sumpfig war, überbrückte der Baumeister den Fluss mit einem Bogen, so dass das Gebäude mit einem Fuß am Ufer, mit dem anderen aber auf der Insel steht, wo der Grund fester ist.
Das Spital war die Gründung eines der reichsten Bürgers Nürnbergs aus der Zeit. Er war Schultheiß und Bankier und glaubte, etwas für sein Seelenheil tun zu müssen. Daher die Stiftung. Die kümmerte sich um Alte, Bedürftige und Kranke. Mit Stolz wird darauf hingewiesen, dass das Spital bis heute in Betrieb ist, nicht mehr als Spital, sondern als Altersheim.
Wir kommen zum Trödelmarkt, einem Wohnviertel ohne große Besonderheiten. Unsere Führerin weist aber darauf hin, dass die alten Häuser hier, wie überall in Nürnberg, traufständig stehen. Das diente dem Feuerschutz. Bei giebelständigen Häusern ist die Gefahr größer, dass das Feuer auf die Nachbarhäuser übergreift. So besteht die Hoffnung, dass die brennenden Teile einfach auf die Straße fallen.
Wir kommen zum Henkerturm, ursprünglich ein Teil der Stadtmauer, der aber mit einer Stadterweiterung seine Schutzfunktion verlor und dann zum Wohnhaus des Henkers wurde. Heute ist dort ein Museum zur Kriminalgeschichte der Stadt untergebracht.
Über den Henkerssteg geht es auf die andere Seite. Dort steht das Unschlitthaus. Unschlitt ist ein anderes Wort für Talg. Hier mussten die Metzger ihren Talg abgeben, der ein wichtiger Werkstoff war zur Herstellung von Wagenschmiere. Und Bedarf daran gab es sicher reichlich.
Wir kommen in die Weißgerbergasse, einem der gut erhaltenen alten Handwerkerviertel Nürnbergs, mit schönen Fachwerkhäusern. Die Häuser sind schmal, drei- bis viergeschossig, und geben noch einen Eindruck von dem Wohlstand der Weißgerber. Die waren, im Gegensatz zu den Rotgerbern, die „feineren“ Gerber. Während die Rotgerber Sättel, Ranzen und Stiefel fertigten, machten die Weißgerber Handschuhe, Buchdeckel und Etuibezüge.
Wir kommen noch an einem Haus vorbei, das uns schon gestern aufgefallen ist. Es gilt als das älteste Bürgerhaus Nürnbergs, aber wegen der modernen Einbauten, vor allem den völlig unpassenden Fenstern, hat es keinen Charme. An der Fassade eine Inschrift, die verrät, wer hier alles übernachtet hat: Kaiser Leopold II., König Ludwig I., König Maximilian II., Metternich und natürlich Goethe.
Unvermittelt stehen wir dann auf dem Platz vor St. Sebald. Die Führerin erklärt die vielen Seitenportale der Kirche damit, dass so die Pilgerströme kanalisiert wurden.
Im Pflaster des Platzes vor St. Sebald ist der Grundriss einer ehemaligen Kapelle eingezeichnet, die hier wiederaufgebaut wurde, nachdem sie woanders abgebaut worden war. Um den Besuch der Kapelle attraktiver zu machen, baute man in einer Nische eine Bratwurstbude ein. Die war dem Vernehmen nach jahrhundertelang in Betrieb.
Zeit für eine Pause. Beim Kaffee lassen wir die Führung Revue passieren und machen uns dann noch einmal auf den Weg. Wir nehmen die Straßenbahn, in dieselbe Richtung wie gestern zum Johannisfriedhof. Unsere Straßenbahn ist ganz mit den Motiven des FCN geschmückt und, natürlich, in Schwarz und Rot gehalten.
Unser Ziel sind zwei Barockgärten, die sich hier, in einer ganz normalen Wohngegend, hinter den Eingängen verbergen. Vor allem beim ersten trauen wir uns kaum, das breite Eingangsportal zu öffnen. Man hat das Gefühl, ein Privatgrundstück zu betreten. Aber weit gefehlt, wir befinden uns wirklich in einem Barockgarten, ganz alleine, von der Außenwelt durch das Tor abgeschnitten.
Die Gärten haben ihren Ursprung in der Zeit, als der Platz innerhalb der Stadt enger wurde und wohlhabende Kaufleute sich hier vor den Toren der Stadt ihre Gärten anlegten, prachtvolle Ziergärten nach italienischem Vorbild, mit Blumenbeeten, Hecken, Brunnen und Skulpturen, alles sehr symmetrisch angelegt. Hier sind entlang der Beete die antiker Götter aufgestellt aufgestellt, jeweils im Doppelpack, links und rechts der Beete. Merkur, Athene und Venus kann man ganz gut identifizieren, bei den anderen müsste man raten. Auf halben Weg gibt es einen kleinen Brunnen mit einer Amor-Statue. Besonders gespannt bin ich auf die Darstellung der vier Jahreszeiten, aber die scheinen auf Heimaturlaub zu sein.
In einer Ecke des Gartens hört man leise Stimmen, obwohl kein Mensch zu sehen ist. Die Stimmen kommen von der Terrasse einer Wohnung im ersten Stock. Von dort sieht man gleich auf den Garten hinunter.
Etwas offener ist der Eingang zu dem zweiten Barockgarten, dem Hesperidengarten, ein paar Häuserblöcke weiter. Das hat seinen Grund: Hier gibt es einen Biergarten.
In diesem Garten gibt es auch Götterstatuen, aber auch Putten und allerlei komische Figuren wie einen kleinen Mann, dessen Wams sich angesichts seines Bierbauchs spannt (ein Knopf ist schon aus dem Knopfloch gerutscht) oder einen Musikanten mit dicker Nase und verzogenem Mund. Dann klärt sich auch der Name Hesperidengarten. Der kommt von den Zitronen, besonders den Pomeranzen, die hier in Nürnberg angebaut wurden. Die wurden wegen ihrer glänzenden Farbe mit den goldenen Äpfeln der Hesperiden aus der griechischen Mythologie gleichgesetzt.
Jetzt gilt unser ganzes Interesse aber dem Biergarten. Leider sind draußen alle Plätze besetzt, aber drinnen ist es auch gemütlich, man sitzt in einem schmalen Raum mit niedriger Decke und allen möglichen Dekorationen, einem Raum, dem man ansieht, dass er einst ein ganz normaler Wohnraum war. Als wir bezahlen, fragt die Chefin: „Miteinander?“ Das ist wohl die fränkische Version von „Zusammen?“.
Wir fahren zurück in die Altstadt und suchen die Straße der Menschenrechte. Die Suche erweist sich als etwas schwierig. Wir sehen unterwegs die etwas zu groß geratene Oper, ein Bau des Historismus, und kommen durch eins der großen Stadttore. Dann sind wir endlich auf der Straße der Menschenrechte, einer schmalen Straße ohne Autoverkehr, die an der Front des Nationalmuseums entlangführt. Hier sind 27 hohe, weiße Säulen aufgestellt, eine nach der anderen, in Reihe und Glied. In jede Säule ist ein Artikel aus den Menschenrechten der Vereinten Nationen eingeschrieben, in Deutsch und in einer weiteren Sprache, von Schwedisch und Portugiesisch bis zu Ketschua und Paschtu. Wir machen uns einen Spaß daraus, die Sprachen zu erkennen, stoßen aber dabei bald auf unsere Grenzen, zumal viele von ihnen unbekannte Schriften verwenden. Da weiß man manchmal nicht einmal, ob die von links nach rechts oder von rechts nach links gelesen werden oder sogar von unten nach oben oder von oben nach unten. Eine Zahl an einer der Säulen, mit arabischen Ziffern geschrieben, erinnert mich an etwas, was ich im Iran gelernt habe: Auch wenn von rechts nach links gelesen wird, wird die Zahl von links nach rechts gelesen, also wie bei uns. 15 ist hier also nicht 51, sondern 15.
Wir kommen am „falschen Ende“ raus, bei der ersten Säule, die Jiddisch als Sprache hat, aber mit hebräischen Buchstaben geschrieben (der Künstler ist Israeli) und kommen dann auf eine größere Straße, wo Jugendliche auf dem Bürgersteig mit dem Skateboard spielen. Der Himmel zieht sich zu, es wird Zeit, dass wir irgendwo Unterschlupf finden, aber hier in der Gegend finden wir kein passendes Lokal. Höchstens eins mit einem interessanten Namen: Einfach so.
Dann kommen wir noch an zwei Kirchen vorbei, die es Hermanita besonders angetan haben und die sie später auf eigene Faust noch besuchen wird, St. Klara und St. Martha. Die wurde, nachdem sie alle Unbill der letzten Jahrhunderte überstanden hatte, 2014 stark durch einen Brand zerstört. Nach der Reformation wurde die Kirche geschlossen und für die Proben und Aufführungen der Meistersänger genutzt. Die hießen so, erfährt man hier, weil die meisten Sänger und Dichter aus dem Handwerkerstand stammten. Wir gucken kurz rein, aber hier ist gerade ein Gottesdienst zugange.
Von der anderen Kirche, St. Klara, sehen wir nur eine Plakette, die darauf hinweist, dass Caritas Pirckheimer, die Schwester von Dürers Freund, eine wehrhafte Frau, diesem Kloster vorstand und es mit viel Mut gegen die aufkommende Reformation verteidigte.
Vor dem Regen flüchten wir uns unter die Schirme des ersten besten Gasthauses. Es stellt sich heraus, dass es ein türkisches Lokal ist, Bosporus, wo es Döner in allen Variationen gibt. Wir bekommen beide einen großen Dönerteller mit Reis. Hermanita das gewohnte Weißbier, ich ein türkisches Efes.
Am Nebentisch trinken junge Männer ein weißes Getränk mit einer Schaumkrone oben drauf. Wir fragen nach. Es ist Ayran. Dieses Lokal hat die Besonderheit, dass das Getränk hier aufgeschäumt wird.
5. Juni (Samstag)
Beim Frühstück ist es heute viel leerer als gestern. Sind am Wochenende nicht so viele Gäste hier, oder stehen Gäste, die am Wochenende im Hotel sind, einfach später auf?
Wir fahren mit der Straßenbahn Richtung Altstadt, durch Außenviertel hindurch. Hermanita glaubt, der Straßenbahnfahrer fahre in die falsche Richtung. Ich kann sie gerade noch davon abhalten, nach vorne zu gehen und dem Fahrer zu sagen, er solle umdrehen.
Auf dem Weg zum Dürerhaus kommen uns zwei junge Frauen mit Kinderwagen entgegen. Sie sehen, dass wir etwas unentschlossen an der Ecke stehen und sagen uns, da oben gebe es schöne Gärten, gleich unter der Burg. Eine von ihnen hat in Limerick studiert, und wir tauschen uns kurz darüber aus. Jetzt zeigen sie uns erst einmal den Weg zum Dürerhaus.
Das steht fast direkt unter der Burg, an der Ecke eines größeren, abschüssigen Platzes mit Kopfsteinpflaster. An einem Ende des Platzes steht oben an der Ecke eines historischen Hauses die Figur des Hl. Georg, mit voller Rüstung und dem Drachen unter seinen Füßen. Der Hl. Georg war der Patron der Harnischmacher, und einem solchen gehörte wohl früher das Haus.
Davor auf dem Boden eine ganz merkwürdige, dickliche Skulptur. Erst beim Näherkommen identifiziert man Dürers Hase, aus der Ferne denkt man an ein viel größeres Tier. Wenn man vor der Skulptur steht, sieht man, dass es eine Häsin ist und diese Häsin unzählige Junge geworfen hat. Die Skulptur ist abgrundtief hässlich, die Häsin ist dicklich, mit einem unförmigen Körper und geschwollenen Augen. Das hat vielleicht seinen Sinn, vielleicht ist es eine Anspielung auf die übertriebene Verehrung Dürers oder auf die überbordende Präsenz des Hasen in der populären Kunst.
Dann öffnet das Dürerhaus. Es hat den Krieg und die Jahrhunderte wie ein Wunder überstanden. Bürgerhäuser aus der Zeit findet man nur ganz selten.
Unten hat man etwas umgebaut, aber oben ist der Bau mehr oder weniger original erhalten, mit dunklen Holzdielen und Holzdecken. Originale Ausstattung ist aber überhaupt keine mehr erhalten.
Dürers Vater war Goldschmied, und Dürer ging auch erst bei ihm in die Lehre, wollte dann aber lieber Maler werden. Der Vater stimmte zu – begeistert war er wahrscheinlich nicht – und schickte ihn in die Werkstatt von Wohlgemut, der besten der Zeit.
Dürers Vater war das Musterbeispiel für gelungene Integration. Er war aus Ungarn eingewandert und wurde in Nürnberg zu einem renommierten Goldschmied. Allerdings stammt er vielleicht aus einer deutschen Minderheit in Ungarn. Das würde die Integration erleichtert haben und erklären, dass sein Deutsch so gut war. Er stammte aus einem ungarischen Dorf mit dem Namen Atjos. Das bedeutet ‚Tür‘. Als er nach Nürnberg kam, war er der, der aus Atjos, also aus Tür kam – der Türer. Da die Franken es nicht so mit den stimmlosen Konsonanten haben, wurde daraus Dürer!
Das Haus ist riesig, viel zu groß für ein kinderloses Ehepaar. Dürers Mutter lebte zwar nach dem Tod des Vaters hier, und das Haus war nicht nur Wohnhaus, sondern auch Werkstatt, aber selbst dafür ist das Haus sehr groß geraten. Dürer beschäftigte wohl auch Gesellen, aber er bildete keine Malerschule im engeren Sinne aus.
Die Kinderlosigkeit des Ehepaars Dürers ist ein unaufgeklärtes Geheimnis. Sie sei sicher nicht gewollt gewesen, heißt es hier. Damals war es einfach die Regel, dass man Kinder hatte. Dürers Mutter hatte 18 Schwangerschaften!
Oben ist eine Druckerpresse ausgestellt, original nachgebaut. Sie steht dafür, dass in Dürers Werk der Kupferstich und der Holzdruck mindestens so wichtig sind wie das Gemälde. Das war auch wirtschaftlich von Bedeutung. Während man von einer Vorlage viele Drucke machen konnte, gab es das Bild immer nur einmal.
In einer Ausstellung ist zu sehen, wie aufwändig und wie schwierig die Herstellung von Farben war. Es sind Substanzen ausgestellt, meist biologische, aus denen Farben gewonnen wurden: Saffran, Waid, Brasilholz, Insektenschalen, Aloe, Walnussschalen, Krappwurzel, Goldrute, Schildlaus. Es war nicht damit getan, die Substanzen einfach zu haben, sie mussten erst zu Farben gemacht werden, und dafür gab es echt geniale Lösungen. Der Waid zum Beispiel, der Färberwaid, musste erst aus Thüringen importiert werden. Er wurde dann in Urin gelegt und monatelang darin aufbewahrt. Wenn diese Menge dann mit Sonnenlicht in Berührung kam, wurde daraus blauer Farbstoff!
Beim Durchgang durch das Haus fragen wir uns, wie die Räume wohl beheizt wurden. In der Küche ist ein großer Ofen, darüber hinaus in einem weiteren Raum, wohl dem Wohnzimmer, ein Kachelofen, aber wir sind uns nicht sicher, ob es damals schon Kachelöfen gab. Wurde das ganze Haus von der Küche aus beheizt? Musste man in der Werkstatt in der Kälte arbeiten?
Eine Besonderheit des Hauses ist ein Schacht. Hier befand sich früher der Abort, von Dürer gegen Ende seines Lebens, als er schon nicht mehr gut zu Fuß war, hier rechtswidrig eingebaut, damit er nicht runter in den Hof musste. Die Stadt duldete stillschweigend das Vergehen seines großen Sohns.
Nach der Besichtigung machen wir uns auf die Suche nach dem Dürer-Denkmal. Als wir es finden, sehen wir St. Sebald vor uns. Das Denkmal steht nur wenige Meter die Straße aufwärts von der Stelle, wo gestern die Stadtführung endete. Wir fragen uns, warum es der Stadtführerin keine Erwähnung wert war. Das Denkmal wurde anlässlich des 300. Geburtstags Dürers 1828 gegossen, wurde aber nach langen Querelen erst Jahre später aufgestellt. Zu dem Zeitpunkt konnte man in Nürnberg bereits in den Konditoreien Torten mit dem Dürer-Denkmal aus Zuckerguss kaufen.
Das Standbild ist das erste in Deutschland für einen bildenden Künstler. Dürer steht auf einem Podest, mit langem Haar und Bart und ist älter, als man ihn sich vorstellt. Er sieht eher wie ein Herrscher als wie ein Künstler, eher so, wie er selbst Karl den Großen dargestellt hat. Das Podest ist etwas zu hoch, was er in der Hand hält, ist kaum zu erkennen, vielleicht Pinsel.
Dann geht es noch zur Gänsemännchenskulptur, einer kleinen, unscheinbaren Skulptur, die man leicht übersehen kann, hinter einem Gitter. Sie zeigt einen modisch gekleideten Bauern mit zwei Gänsen auf dem Arm. Aus den Schnäbeln der Gänse läuft das Wasser in den Brunnen. Die Skulptur ist älter, als man glauben sollte. Sie stammt aus dem 16. Jahrhundert. Was bedeutend ist: Anstelle der damals üblichen Heiligen, Helden und Herrscher wird eine weltliche Figur dargestellt, und nicht etwa ein Ratsherr oder ein Kaufmann, sondern ein Bauer!
Unser Durst nach Brunnen ist noch nicht gestillt, und von denen gibt es in Nürnberg eine ganze Menge. Als nächstes ist der Tugendbrunnen dran, gleich neben St. Lorenz. Hier sind in der unteren Reihe allegorische Figuren aufgestellt, darüber Putten mit Musikinstrumenten. Das Wasser fließt durch die Brüste der Figuren in das Becken sowie durch die Posaunen der Musikanten. An der Schulter einer der Figuren hängt eine Putte, die der Figur auf die Brust drückt, damit ordentlich Wasser herauskommt.
Die Figuren stehen für die Tugenden, drei christliche, drei weltliche, und sind mit ihren jeweiligen Attributen dargestellt: die Hoffnung mit dem Anker, der Glaube mit Kreuz und Kelch, die Liebe mit zwei Kindern, die Mäßigung mit dem Krug (in dem Wein und Wasser gemischt wurden), die Stärke mit dem Löwen und die Geduld (die hier die Klugheit vertritt) mit dem Lamm. Irgendetwas stimmt hier nicht. Es gibt zwar drei christliche, aber vier weltliche Tugenden. Wo ist die vierte geblieben? Die Antwort liegt in der Figur, die den Brunnen bekrönt, ganz oben: die Gerechtigkeit. Sie ist mit Schwert, Waage und Augenbinde dargestellt, und mit einem Kranich. Der steht für die Wachsamkeit.
Wir machen eine Kaffeepause und trennen uns dann, Hermanita Richtung Turm der Sinne, ich Richtung Germanisches Nationalmuseum. Sie hat das schlechtere Los gezogen und kommt später enttäuscht und auch verärgert zurück. Sie hat lange suchen und immer wieder die breite Straße außerhalb der Stadtmauern überqueren müssen. Nach langwieriger Suche kam sie dann vor verschlossene Türen, und am Telefon hieß es, sie rufe außerhalb der Öffnungszeiten an. Was nicht stimmte. Dann öffnete sich plötzlich die Tür. Eine Frau mit Kind kam heraus. Sie hatten den Turm besichtigt. Als Hermanita es jetzt versucht, fragt man sie, ob sie reserviert habe. Nein. Dann könne sie den Turm nicht besichtigen. Von einer Reservierung war aber auf der Website nirgendwo die Rede.
Ich mache mich auf den Weg Richtung südliche Altstadt. Dabei besorge ich mir „Drei im Weckla“, den klassischen Nürnberger Imbiss, drei Bratwürste in einem Weck, also einem Brötchen. Die Bratwürste sind so klein, dass sie komplett in dem Brötchen verschwinden. Die gängige Erklärung dafür lautet, dass man das Fastengebot in der Fastenzeit umging, indem man die Würste im Weckla verschwinden ließ.
Auf dem Weg zum Nationalmuseum passiere ich die Handelskammer, an deren Fassade der Nürnberger Kaufmannszug darstellt ist, ein Fresko, das zeigt, wie in früheren Zeiten Handelswaren auf Pferdefuhrwerken nach Nürnberg kamen. Das Fresko geht um die Ecke und findet auf der anderen Seite seine Fortsetzung. Nürnbergs Reichtum lag im Handel begründet. Der zweite Pfeiler, auf dem Nürnbergs Reichtum beruhte, war das Handwerk, und das Handwerk profitierte wiederum vom Handel. Mit der Landwirtschaft, heißt es, war es dagegen nicht weit her. Der Boden der Umgebung sei trocken, sandig und unfruchtbar. Dem scheint aber das Angebot auf dem Markt zu widersprechen, wo es frische Erdbeeren und frischen Spargel in großen Mengen gibt. Die stammen, wie man überall lesen kann, aus dem „Knoblauchsland“. Der ungewöhnliche Name bezieht sich wohl auf die Zwiebelzucht, die hier Tradition hat.
Dann passiere ich noch das Nassauer Haus, den ältesten Wohnturm Nürnbergs, mit späteren Veränderungen oben an der Fassade. Dort tritt aus der glatten Fassade ein Erker heraus, das „Chörlein“, so genannt, weil hier die Patrizierfamilien ihre privaten Kapellen hatten. Ungewöhnlich für die Zeit: Das gesamte Gebäude ist aus Stein, nicht aus Fachwerk.
Dann komme ich bei der Suche nach dem Nationalmuseum noch an der Mauthalle vorbei. Dort war das Zollamt der Reichsstadt untergebracht. Hier sieht man in aller Deutlichkeit das Wappen Nürnbergs, auf das wir in diesen Tagen so oft stoßen, ein ungewöhnliches Wappen, das aus zwei abgeschnittenen Hälften zu bestehen scheint, einem halben Adler und sechs halben Streifen, der Adler in Schwarz, die Streifen in Rot und Weiß. Dieses Wappen bleibt mir ein Rätsel.
Dann kommt das Nationalmuseum, mit dem Eingang an einer modernen Front, in der Straße der Menschenrechte, wo wir gestern schon waren. Das Germanische Nationalmuseum ist das größte Museum deutscher Kunst und Kultur, von vorgeschichtlicher Zeit bis zur Gegenwart. So ein Museum mit seinen unzähligen Räumen und Exponaten ist natürlich überwältigend, aber auch einschüchternd. Da hilft nur eins: Mut zur Lücke. Ich suche mir ein paar Highlights aus.
Es geht gleich mit einem Paukenschlag los, dem Goldhut von Ezelsborg-Buch. Er stammt aus dem 10. Jahrhundert vor Christus! Man würde als Laie nicht erkennen, dass es ein Hut ist, und es ist auch kein normaler Hut, sondern ein Zeremonienhut, vermutlich dem obersten Priester vorbehalten. Er hat die Form eines Kegels und ist ungefähr 90 Zentimeter hoch. Der Hut ist – unglaublich – aus einem Stück Gold getrieben und feinstens verziert, mit Sonnensymbolen und achtspeichigen Rädern und quergestreiften Kegeln, die wie Miniaturen des Huts aussehen. Der gesamte Hut weist keine glatte Stelle auf. Sprachlos steht man vor der Kunstfertigkeit der Menschen dieser fernen Zeit und ihrem Ehrgeiz, solche Kunstwerke zu produzieren. In ihre Vorstellungswelt eindringen können wir nicht, aber wir können erahnen, welch magische Kraft die Sonne für sie gehabt haben muss.
Auf dem Weg zum nächsten Highlight überspringe ich gleich mehrere Jahrhunderte und komme in die frühe Neuzeit, zu Martin Behaims „Erdapfel“. Es ist der älteste erhaltene Globus der Welt! Er wurde kurz vor Kolumbus‘ erster Entdeckungsfahrt gefertigt und hat also nur drei Kontinente. Amerika fehlt. Europa ist ziemlich korrekt dargestellt, obwohl das Mittelmeer zu groß geraten sind. Ein komplettes Netz aus Längengraden und Breitengraden fehlt noch, aber der Äquator ist gekennzeichnet, und der Wendekreis des Krebses und der Wendekreis des Steinbocks sind es auch, mit gelben Linien. Die Arktis ist reine Imagination, die Antarktis, damals noch unbekannt, fehlt. Stattdessen erscheinen hier das Wappen von Nürnberg und die Wappen von vier Patrizierfamilien. Die Meere und Ozeane erscheinen in tiefem Blau, außer dem Roten Meer, das in Rot erscheint, die Landmassen in Braun, die Wälder in Grün, die Berge in rötlichem Blau, das Eis in Weiß.
Neben der Darstellung der Meere und der Landmassen gibt es eine Vielzahl von Illustrationen: gekrönter Könige, exotische Herrscher in Zelten, Heilige und Missionare, Marco Polo, zusammen mit seinem Vater und Onkel in der Bergen Armeniens, echte und erdachte Tiere.
Behaim, der lange in Portugal gelebt hatte, ist nicht der Schöpfer, sondern der Auftraggeber des Globus. Er war ein wohlhabender Tuchhändler. Vielleicht wollte er mit dem Globus Seereisen jenseits der bekannten Inseln initiieren. Der Handel mit Asien war durch die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen schwer beeinträchtigt.
Dann kommt Dürer an die Reihe. Endlich mal ein Original von Dürer in Nürnberg! Es ist ein Porträt, das Porträt seines früheren Meisters, Michael Wohlgemut. Nach Wohlgemuts Tod kehrte das Bild in Dürers Besitz zurück.
Dürer hat seinen Meister so dargestellt, wie er ihn wohl aus der Werkstatt kannte, mit einer turbanartigen Kopfbedeckung, die beim Malen wohl die Haare beschützen sollte. Es ist ein wohlgesinntes und dennoch realistisches Porträt. Die Zeichen des Alters, vor allem die Falten am Hals und die tief eingefallenen Augen, sind nicht zu übersehen. Aber der Blick ist wach, lebendig, man spürt, dass trotz des Alters die Schaffenskraft noch nicht nachgelassen hat.
Rechts oben ist eine Inschrift Dürers angebracht, die verrät, um wen es sich handelt und wann das Bild entstanden ist, 1516. Auch das Alter Wohlgemuts wird genannt, 82. Aber man weiß nicht, ob er 82 war, als das Porträt entstand oder 82, als er verstarb. Die Inschrift benutzt keine lateinischen Buchstaben, sondern Fraktur. Das wird als Hinweis darauf verstanden, dass es sich um eine private Inschrift handelt.
Auch aus dieser Epoche, von 1503, stammt das Schlüsselfelder Schiff. Es ist ein Tafelaufsatz, ein wahres Wunderwerk der Goldschmiedearbeit, mit dem der Eigentümer seinen Status und Reichtum repräsentierte. Das Schiff ist ein dreimastiges Hochseeschiff von dem damals verbreitetsten Typus. Der gesamte obere Teil ist abnehmbar, und das dann zum Vorschein kommende untere Teil kann als Karaffe verwendet werden. Immerhin zweieinhalb Liter passen hinein.
Mit allergrößter Detailtreue wird das Schiff geradezu modellhaft dargestellt: das Bug mit einem Drachen als Galionsfigur, das Heck mit einem beweglichen Steuerruder, das Wappen der Familie Schlüsselfelder am Vordermast, Flaggen, Kanonen, Anker, Strickleitern, Einstiegsluken, drei Krähennester. Aber das ist noch nicht alles. Auf dem Schiff sind auch Figuren zu sehen, insgesamt 72, winzige, alle individuell gestaltete Figuren. Die meisten sind Seeleute, aber es gibt auch einen Koch, zwei Mönche, eine Waschfrau, zwei Kartenspieler und ein Liebespaar! Wahnsinn!
Der architektonische Kernteil des Museums ist ein ehemaliges Kartäuserkloster. Um dessen Kreuzgang herum gruppieren sich die weiteren Teile des Museums. Der Kreuzgang selbst ist auch sehenswert, hat eine besondere Atmosphäre, mit einem schönen Gewölbe, schönen Maßwerkfenstern zum Innenhof hinaus und schönen Schlusssteinen. Die Kartäuserklöster hatten eine besondere Anordnung, die erklärt, warum der Kreuzgang so groß ist. Die Mönche lebten nicht in Zellen, sondern in Häusern. Jeder Mönch hatte sein eigenes kleines Gebäude mit Wohn- und Arbeitsraum, Vorraum und Nebenkammer und einem dahinter liegenden kleinen Garten mit Abort. Die Mönchszellen waren durch eine Tür mit dem Kreuzgang, aber nicht untereinander verbunden. Die Räume waren mit Arbeitstisch, Bett, Betnische, Kleiderschrank, Ofen und Esstisch ausgestattet.
In diesem Teil des Museums sind mittelalterliche Exponate ausgestellt, darunter ein Abguss der Bronzetür des Doms von Hildesheim, der Prunkdeckel eines Evangeliars aus Echternach, von Kaiserin Theophanu gestiftet, und drei sehr schön nebeneinander auf einer kahlen Wand präsentierte Kruzifixe. Sie repräsentieren drei verschiede Formen der Darstellung des Kreuzestods, denn Kruzifix ist nicht gleich Kruzifix, es gibt viele Variationen: Ist der Oberkörper aufrecht oder gebeugt, ist der Mund geschlossen oder geöffnet, wie deutlich sind die Wunden zu sehen, sind drei oder vier Nägel in das Kreuz geschlagen, ist Christus mit oder ohne Dornenkrone dargestellt? Hier ist jedes der drei Kreuze auf seine Art beeindruckend.
Dann geht es zurück in die Stadt. Wir treffen uns in St. Sebald, genau rechtzeitig, um an einer kleinen Führung teilzunehmen. Eine kleine, ältere Dame zeigt uns ein paar der Besonderheiten der Kirche. Keine systematische Führung, aber sie macht das gut.
Es beginnt mit einem Blick zurück, von der ersten Bank des Langhauses aus. Das lohnt sich. Erstens ist der Blick nach hinten schön, zweitens verrät er etwas von der Baugeschichte der Kirche. Hier ist alles romanisch, mit runden Fenstern. Ursprünglich endete die Kirche da, wo wir sitzen. Dann, als der Pilgerstrom immer mehr zunahm, verlängerte man die Kirche nach Osten hin und baute den hochgotischen Chor.
Man sieht hier auch, dass der Chor etwas verzogen ist, nicht ganz gerade verläuft. Unsere Führerin bietet hierfür eine abenteuerliche Erklärung an. Es sei den Baumeistern darum gegangen, dass man von hinten eins der Glasfenster des Chors nicht so gut sehen konnte, weil das ein ungeliebtes Motiv aufwies. Das kann ich mir im Leben nicht vorstellen. Es war vermutlich ganz einfach ein Fehler in der Bauplanung oder in der Ausführung. Ich stoße nicht zum ersten Mal darauf, kann mich unter anderem an die Pfarrkirche in Stratford erinnern, wo das auch so ist.
Die Ausstattung der Kirche ist gut erhalten. Das liegt auch daran, dass, wie unsere Führerin erklärt, es schon 1938 die ersten Verordnungen gegeben hat, man solle Kunstschätze in Sicherheit bringen. 1938? Wenn das stimmt, dann wusste man in bestimmten Kreisen schon früh, dass es Krieg geben würde.
Die Dame führt uns zu einer Steinfigur im nördlichen Seitenschiff. Das ist der Fürst der Welt. Von vorne blickt er der Welt mit einem jugendlichen, etwas selbstzufriedenen Lächeln entgegen. Die Besonderheit der Skulptur erweist sich aber erst, wenn man sie von hinten ansieht: Die Haut ist abgezogen, und in dem zerfressenen Körper wimmelt es von allerhand Getier: Kröten und Schlangen und Käfer. Ein wirkmächtiges Bild für den menschlichen Charakter, für den Kontrast von Innen und Außen, von Schein und Sein.
Wir gehen wieder ins Mittelschiff. An den beiden Pfeilern am Eingang zum Chor stehen sich zwei Madonnenstatuen gegenüber, beide mit Kind. Eine Strahlenkranzmadonna und die (etwas ältere) Madonna der Familie Schatz. Bei der hat das Christuskind die Beine gekreuzt. Das wird als Verweis auf den späteren Tod am Kreuz gedeutet. Bei der Strahlenkranzmadonna wird Maria, von himmlischen Strahlen umgeben, von Engeln auf der Mondsichel getragen. Die ist ein Hinweis auf die unbefleckte Empfängnis. Eine der Madonnen hält einen Granatapfel in der Hand, ein traditionelles Symbol für Fruchtbarkeit, die andere, der Führerin zufolge, eine Birne! Noch nie gesehen. Ist es nicht eher ein Apfel? Hermanita meint auf jeden Fall, dass es wie eine Birne aussieht.
An der Schnittstelle zwischen Langhaus und Chor hängt ein Hochkreuz, ein Kruzifix von Veit Stoß, flankiert von den etwas jüngeren Figuren von Maria und Johannes. Johannes sieht so aus, als würde er sich mit dem Zipfel seines Gewands die Tränen abtrocknen. Die beiden Hände von Maria sind ganz unterschiedlich gestaltet: Die eine Hand ist verkrampft, die andere gelöst. Das spiegelt ihren Seelenzustand wider, die Zerrissenheit zwischen Trauer und Verzweiflung einerseits und Hoffnung auf Erlösung andererseits.
Bei dem Kruzifix verzichtet Stoß auf die drastische Darstellung des Leidens und zeigt stattdessen einen schönen, anatomisch korrekt erfassten Körper. Das kunstvoll geschlungene Lendentuch ist eins seiner Markenzeichen.
Dann kommen wir zum Sebaldschrein, einem Hauptwerk der deutschen Skulptur der Zeit des Übergangs zwischen Gotik und Renaissance, dem kleinen Bruder des Dreikönigschreins in Köln. Aber hier gibt es keine Schranken. Man kann so nah an den Schrein rangehen, wie man will und alle Details erkennen. Das lohnt sich.
In dem Schrein liegen die Gebeine des Hl. Sebald, dem Patron der Kirche (und der Stadt). Der ist ein sehr seltener Kirchenpatron. Er und seine Reliquien kamen den Nürnbergern damals aber sehr zupass. Die Reliquien brachten Pilger nach Nürnberg, und die Pilger brachten Leben und Geld in die Stadt.
Die Gebeine ruhen in einem silbernen, gepunzten Schrein, auf dem man das Wappen Nürnbergs sieht, ein Hinweis darauf, dass Sebald der Stadt „gehört“. Zum Schutz des Schreins ließ der Rat der Stadt ein architektonisches Gehäuse aus Bronze anfertigen, das dem Schrein umschließt, aber durch das man auf den Schrein blicken kann. Dieses Gehäuse ist Meisterwerk der Gießkunst, von Peter Fischer geschaffen.
Erst bei näherem Hinsehen bemerkt man die zwölf Schnecken, jede anders als die andere, auf denen das Gehäuse ruht. Sie stehen für die zwölf Apostel. Die selbst sind auch als vollplastische Figuren dargestellt, ebenso wie der Hl. Sebald sowie Propheten, Putten und musizierende Engel. Daneben sind auch – erstaunlich bei einem Heiligengrab – nackte Männergestalten vertreten, die Helden der klassischen Antike wie Herkules darstellen. Außerdem gibt es antike Götter und weibliche Tugendgestalten. Das ist wahrlich ein humanistisches Programm, ganz dem Geist der Renaissance verpflichtet. Und am Ende entdeckt man, an der Schmalseite, das vollplastische Porträt des Künstlers selbst, ein untrügliches Kennzeichen für das wachsende Selbstverständnis des Künstlers am Beginn der Neuzeit.
Auch hinten im Chorumgang gibt es noch was zu entdecken. Dort ist eine schön verzierte Tür in die Wand eingelassen. Die war mir dieser Tag bei unserem Blitzbesuch schon aufgefallen. Es ist die Tür eines Sakramentshäuschens. Dass das überhaupt die Reformation überstanden hat, ist ein Zeichen für den äußerst pfleglichen Umgang der Stadt Nürnberg mit den Schätzen aus der Zeit vor der Reformation.
Rechts davon befindet sich ein dreiteiliges Sandsteinrelief, von Veit Stoß. Jedes Relief ist aus einem Block herausgearbeitet, ganz tief in die Wand eingearbeitet. Auch dieses Relief war mir dieser Tage aufgefallen. Man erkennt rechts die Gefangennahme und im Zentrum die Ölbergszene, aber dass die Szene links auch biblisch ist, das würde man nicht meinen. Man glaubt eher, eine Wirthausszene aus Nürnberg vor sich zu haben und kein Abendmahl. Anstelle von Aposteln glaubt man Nürnberger Patrizier vor sich zu haben. Auch die Humpen, aus denen sie trinken, sehen nicht nach Altertum und nach Palästina aus. Auffallend sind in allen drei Reliefs die dicht aneinandergedrängten Figuren, lebensnah dargestellt, mit ausdrucksvoller Mimik und Gestik.
Wir sind froh, die Führung mitgemacht zu haben, aber durstig und erschöpft. Wir peilen die nächstgelegene Gaststätte an, das Goldene Posthorn. In der Sonne genießen wir Weißbier und Rotbier. Das ist ein typisch fränkisches Bier, obergärig. Es ist von den Bieren, die ich bisher hier probiert habe, das schmackhafteste.
Vor dem Abendessen führt mich Hermanita noch mit sicherem Instinkt zu einem Platz in der Nähe des Unschlitthauses. Hier gibt es nämlich eine Stelle, die ich noch unbedingt sehen wollte, die Stelle, wo im Mai 1828 Kaspar Hauser zum ersten Mal gesehen und von einem Nürnberger Bürger angesprochen wurde. Der ruhige Platz abseits der Touristenströme lässt noch ein bisschen die Atmosphäre der Zeit erahnen.
Dann kommen wir noch an der Katharinenkirche vorbei. Auf dem Weg dahin passieren wir eine Straße mit dem Namen Wespennest.
Die Katharinenkirche ist Relikt eines ehemaligen, längst aufgelösten Klosters. Man hat sie nach dem Krieg als Ruine stehen lassen. Die Kirche wurde früher als Versammlungsraum von den Meistersingern genutzt. Heute dient sie als Ort für Open-Air-Konzerte. Vorne im Chor ist eine Bühne aufgebaut. Die beeinträchtigt ein bisschen den Anblick. Sehr schön die schlanken, gotischen Fenster und der blaue Himmel dahinter. Es ist sommerlich warm, und es fühlt sich immer noch nach Mittag an. Aber der Abend ist schon angebrochen.
Es soll ohne weitere Umwege zum Abendessen gehen, aber ein Umweg bleibt uns nicht erspart. Wir suchen nach einem im Reiseführer empfohlenen Lokal, nur um herauszufinden, dass das samstags geschlossen ist. Wir gehen zurück Richtung Bahnhof und finden, noch innerhalb der Stadtmauern, den Paulaner Hof. Dort gibt es Platz unter Sonnenschirmen und eine sehr freundliche Bedienung. Die ist auch ziemlich hübsch, so sehr, dass sie von einem Holländer am Nebentisch in Gegenwart seiner Freundin gefragt wird, ob sie nicht nach der Arbeit mit ihnen ausgehen wolle. Aber sie arbeitet bis Mitternacht und fängt um 7.30 am nächsten Tag wieder an. Hermanita und ich diskutieren noch, ob sie, blond, mit Dirndl, hochgestecktem Haar, etwas füllig, schöner ist als ihre Kollegin, dunkel gekleidet, schlanker, mit luftigem, wie frisch geföhnt wirkendem Haar, aber wir können uns nicht einigen.
Dann wenden wir uns aber schnell dem Essen zu. Diesmal tue ich es nicht unter drei Gängen, und die Kasse von Hermanita wird noch mehr geschröpft als in den Tagen zuvor. Sie bekommt ein ordentliches Schnitzel, das aber kein Leckerbissen ist, und dazu warmen Kartoffelsalat, aber der bleibt hinter dem Standard des von der Schwiegermutter gemachten Kartoffelsalats zurück. Ich nehme ein Gericht, das anders heißt, aber letztlich eine Variation des Schäufele von vorgestern ist. Es ist ein einziger Genuss, das beste Essen dieser Tage. Dazu gibt es Frankenwein, in zwei Varianten. Der schmeckt gut, ist leicht, nicht so trocken, wie man ihn sich vorstellt. Frankenwein – Krankenwein trifft hier nicht zu.
Gut gesättigt geht es ins Hotel zurück. Als es am nächsten Tag, genau in dem Moment, wo wir in den Zug sitzen, zu regnen anfängt, haben wir endgültig das Gefühl, alles richtig gemacht zu haben mit unserer Fahrt nach Nürnberg.