9. September (Sonntag)
Graupa und Schmilka, Seifen und Schandau, Glashütte und Teufelskanzel – schon wegen der Ortsnamen muss man in den Wilden Osten fahren.
Unser Ziel ist Porschendorf, 666 Kilometer von Trier entfernt. Weiter als nach Lyon, Brüssel oder Bern. So weit wie nach Mailand.
Porschendorf ist nicht zu verwechseln mit Porschdorf, gerade mal zwanzig Minuten entfernt. Porschdorf gehört zu Bad Schandau, Porschendorf zu Dürrröhrsdorf-Dittersbach. Wir haben eine Woche, den Namen des Ortes zu lernen, in dem wir wohnen.
Die gemeinsame Autofahrt startet in Koblenz. La Cajera kommt von Westen, ich von Norden. Bis auf einen kleinen Ausrutscher gleich am Anfang und einen ganz am Ende verläuft die Streckensuche, dank generalstabsmäßiger Vorbereitung, völlig problemlos. Etwas Verwirrung stiftet die Lohmener Straße, die es auch in Pirna gibt, aber die nicht identisch ist mit der, an der sich unser Ziel befindet.
Fast die Hälfte der Strecke geht es die A4 entlang, davor geht es über verschiedene Autobahnen und ein Stück Landstraße.
Eine eigens mitgebrachte CD kommt nicht zum Einsatz, da es zu viele Gesprächsthemen abzuhandeln gilt, von der Zeitenfolge im Englischen über Verhaltensauffälligkeiten bei Kollegen bis zu Friedhöfen und Bestattungsformen. Einen großen Raum nimmt die Aufzählung der besonderen Eigenschaften von Lehrern ein.
Unsere geteilten geographischen Unkenntnisse lassen uns rätseln, wo wir denn da herfahren, als es auf Gießen zugeht: Odenwald? Spessart? Rhön? Taunus? Scheint alles irgendwie hier in der Ecke zu sein.
Die nächste Frage ist dann die der ehemaligen „Zonengrenze“. Ich behaupte ganz kategorisch, dass Bad Herzfeld noch auf dem Gebiet der BRD war, aber dann wird es wacklig. Irgendwann kommt dann ein Hinweisschild: „Ehemalige innerdeutsche Grenze“. Zu sehen ist von der nichts mehr.
Auf dem Weg lassen wir Nadelöhr, Lederhose und Wüstensand liegen und überqueren die Wilde Sau.
Zweimal machen wir Halt. Einmal gibt es Kaffee, einmal ein Eis, zu astronomischen Preisen.
Dann kommt, unstrittig, der Thüringer Wald. Von der Autobahn aus sieht man von Wald eher wenig, man fährt durch weite, leicht hügelige Landschaft.
Der Verkehr nimmt zwischendurch mächtig zu, bis die A7 Richtung Süden abzweigt. Dann wird es wieder ruhiger. Irgendwann überholen wir einen Trabbi, der sich mit vier Passagieren an Bord eine Steigung hinauf quält.
Dann kommt bald die Grenze zu Sachsen. Dem Freistaat Sachsen. In beiden Ländern gibt es viele Orte, die auf -a enden: Gotha, Gera, Jena, Pirna, Apolda, Grimma, Graupa, Borna. Slawischer Einfluss.
Wir passieren Köstritz und Radeberg, ich weiß aber nicht, ob es das Radeberg ist. Auch ein Stadtteil von Dresden heißt so.
Schon fast in Dresden angelangt, biegen wir ab Richtung Prag. Und kommen dann durch Pirna und Lohmen. Dort geht es an der Gaststätte Erbgericht vorbei. Es geht eine kurze Strecke über eine schöne Allee und dann ein Stück durch einen schönen Wald.
Bald danach sind wir am Ziel, an der „Hütte“, einem umgebauten, zweistöckigen, modern eingerichteten Bahnwärterhäuschen, gleich an einem schrankenlosen Bahnübergang, am Ende eines Schotterwegs gelegen.
Beim Kaffee hören wir zum ersten Mal den legendären Zug vorbeifahren, nur ein paar Meter von dem Haus entfernt. Er kündigt sein Kommen mit einem kurzen Signal an. Er verkehrt in regelmäßigen Intervallen, aber nur tagsüber.
Man fragt sich, was genau der Bahnwärter in früheren Zeiten hier gemacht hat. Vermutlich wurde der Bahnübergang viel mehr frequentiert. Heute verliert sich hier nurder eine oder andere Spaziergänger.
Wir machen einen Spaziergang durch den Ort. Der ist ganz ansehnlich, mit einer Reihe von Straßenzügen mit einer großen Palette unterschiedlicher Häuser. Mal kommt man sich wie in Westfalen, mal wie im Allgäu vor. Und mal wie in Sachsen. Vor allem angesichts der landestypischen grauen Schieferfassaden der Bauernhäuser mit weißen Eisblumen als Verzierungen.
Wir überqueren auf einer Brücke die Wesenitz, einen schönen, naturbelassenen Fluss mit einer Stromschnelle etwas weiter hinten. Vielleicht war hier die Stelle einer der beiden Mühlen, die früher von Bedeutung in Porschendorf waren.
Porschendorf hieß ursprünglich Borstendorf. Das Dorf wurde mehrmals verpfändet, verkauft und verschenkt, bis es zum Kurfürsten von Sachsen kam.
In dem Wappen Porschendorfs erscheint ein Baum, der aussieht wie die Bäume, die wir in der Volksschule malten und die unweigerlich die Frage des Lehrers hervorriefen: „Sieht so ein Baum aus?“
Irgendwo erscheint eine großer, rechteckiger Plattenbau mit einem frei stehenden Schlot, wie ein Campanile des Industriezeitalters.
An einer Ecke steht ein Auto mit dem Kennzeichen OB, und als wir an der Stelle ein zweites Mal vorbeikommen, hat sich ein zweites Auto aus OB dazugesellt. Dieses Detail wird von La Cajera bemerkt. Mir wäre es entgangen.
Unter einem steinernen Bogen neben einem schönen Gitter mit Alpha und Omega hindurch betreten wir den Kirchhof. Die Kirche, mit großem, rundem Dachreiter, ist offensichtlich protestantisch. Auf dem grauen Schindeldach sind Sonnenkollektoren angebracht.
Der Kirchhof hat eine ganze Reihe gepflegter, blumengeschmückter Gräber, darunter auch Urnengräber. Neben vielen „normalen“ Namen sind auch viele auf -tzsch vertreten.
Wieder in der Hütte angelangt, kommt ohne mein Zutun ein Abendessen auf dem Tisch, das sich sehen lassen kann. Im Laufe der Zeit kommen aus La Cajeras Warenkorb, der eher einer Wundertüte gleicht, Oliven, Parmesankäse, Wachteleier, Kürbiskerne, Thunfisch und andere Leckereien zum Vorschein.
Gleichzeitig kommen wir zum ersten Mal in den Genuss der Küche, in der einfach alles vorhanden ist, obwohl ein wichtiges Instrumentarium erst nach einigem Suchen zum Vorschein kommt: der Korkenzieher.
In dem Gästebuch stoßen wir auf die Eintragung eines Kindes, das „viele Krüse“ ausrichtet.
10. September (Montag)
Die Sonne geht hier, in Fernost, eine halbe Stunde früher auf als bei uns, um halb sieben. Eine halbe Stunde später hört man die Glocken der Dorfkirche. Vom Zug ist noch nichts zu hören.
Porschendorf liegt 200 Meter über dem Meeresspiegel (Trier 136). Im Wappen von Dürrröhrsdorf-Dittersbach, der Gemeinde, zu der es gehört, erscheint ein Landmann mit einer Sense zwischen zwei roten Blumen. Die Landwirtschaft scheint von Alters her die Gegend geprägt zu haben. Und das ist wohl auch heute noch so. Um das Dorf herum sieht man überall große, meist schon abgeerntete und teils wieder neu eingesäte Felder.
An der Fassade der Hütte wächst tatsächlich Wein, Wein mit reifen, essbaren Trauben. Bei der Gelegenheit lernen wir, dass Sachsen ein eigenes Weinanbaugebiet ist, eins von dreizehn in Deutschland.
Die Inneneinrichtung verfolgt einen sachlich-klaren Stil, mit vielen rechteckigen Formen und ohne Brimborium, absolut passend, mit ganz wenigen Ausnahmen und mit den Stühlen, dem Fußboden, der Arbeitsplatte, der Treppe als Highlights. An der Wand hängt, als ironisches Zitat und inszenierte Reminiszenz an alte Jagdhüttenzeiten, das Gehörn eines Rehbocks.
Pirna ist ein naheliegendes erstes Ausflugsziel. Es ist ein schöner, sonniger Morgen.
Schon die Außenbezirke von Pirna sind alles andere als hässlich, mit Alleen und Häusern aus der Gründerzeit. Wir parken am Bahnhof. Von dort geht es zu Fuß Richtung Altstadt. Die Straßen auf dem Weg sind nach Ernst Thälmann, Maxim Gorki und August Bebel benannt. Das ist gut so.
Auf dem Weg in die Altstadt kommen wir an der Tinte-Toner-Tankstation vorbei. Später sehen wir Witwe Bolte (Lokal), Starschnitt (Friseursalon), Spiegelbild (Kosmetiksalon) und Platzhirsch (Lokal am Marktplatz), ein Name, der wohl als Herausforderung an das Lokal gleich nebenan gedacht ist, dem eigentlichen Platzhirsch. Hinter der Kirche gibt es dann noch die Kulturkiste. Geschlossen.
Am Eingang zur Altstadt steht eine auffällige moderne Skulptur: ein Pferdewagen mit leerer Ladefläche, auf dem Boden daneben eine Truhe und Mehlsäcke. Die Skulptur verweist auf das Stapelrecht, das Pirna reich machte. Hier, an dem ehemaligen Stadttor, mussten alle Waren drei Tage lang zum Verkauf angeboten werden. Die Käufer hatten das Recht zum Weiterverkauf.
Wir gehen auf einer sehr schönen Straße Richtung Elbe. Von dieser Straße gehen perpendikular vier parallel verlaufende Straßen ab, die alle Richtung Markt führen. Dieses Karree ist die Altstadt von Pirna. Es gibt schöne Patrizierhäuser, alle sehr gepflegt. Alles ist fein herausgeputzt, aber wirkt trotzdem irgendwie echt, manchmal etwas wie aus der Welt gefallen.
Der gute Zustand der Bauten verdankt sich paradoxerweise den beiden Hochwassern und den darauf folgenden Sanierungen. An verschiedenen Stellen gibt es die obligaten Markierungen. Das Hochwasser ist hier besonders schlimm gewesen, weil nicht nur die Elbe, sondern auch noch zwei Gebirgsflüsse beteiligt waren. Wir hatten vorher auf dem Weg in die Innenstadt einen Fluss mit dem merkwürdigen Namen Gottleuba überquert.
Der Name der Stadt geht auf slawisch na perna zurück, ‘auf dem Festen’, eine Bezeichnung, die auf den Gegensatz zu der sumpfigen Umgebung hinweist. Durch das sächsische Lautgesetz “Die Weichen besiechen die Hodden” assoziierte man Pirna mit Birne. Und folgerichtig erscheint im Wappen von Pirna ein Birnbaum! So am Turm des Rathauses, in der Nähe der Uhr. Die Uhr hat zu allen vier Seiten ein Zifferblatt. Auf einer Seite zeigt der große Zeiger die Stunde an und der kleine die Minuten, so wie es ursprünglich war und eigentlich auch logischer ist, auf den anderen Seiten ist es so, wie wir es gewohnt sind.
Pirna gehörte zu Meißen, wurde aber zwischenzeitlich aus Geldmangel an Böhmen verscherbelt. Das böhmische Erbe ist noch an einigen Stellen erkennbar, unter anderem daran, dass das Rathaus nicht in eine Häuserzeile eingebunden ist, sondern mittig steht.
Gegenüber dem Rathaus steht das “Canalettohaus”, ein spätgotisches Haus, das mit Canaletto nur sehr indirekt was zu tun hat. Canaletto wurde vom Kurfürsten, August III., beauftragt, Stadtansichten von Pirna zu schaffen, so wie er es vorher von Dresden gemacht hatte, und in dem Canalettohaus befinden sich verschiedene kleinere und ein größere Kopie dieser Stadtansichten. Die größere, im Originalformat, zeigt den Marktplatz. So viel hat sich gar nicht verändert, man erkennt den Marktplatz auf den ersten Blick. Die Brunnen befinden sich auch an der gleichen Stelle, aber damals waren sie aus Holz. Vor dem Brunnen steht ein Brunnenmeister, der das Wasser schöpft und verkauft, für einen Pfennig. Man erfährt aber nicht, wie viel Wasser man dafür bekam, vielleicht einen Eimer.
An einem der Brunnen steht eine moderne, rätselhafte Skulptur, die Bezug nimmt auf das Pirnaer Marktschiff, wohl eine literarische Vorlage. Dicht gedrängt stehen die Figuren auf dem engen Schiff, ein Trompeter, ein Bischof, ein Spieler, ein Ablassprediger (vermutlich Tetzel, der in einer der Straßen der Altstadt wohnte) und andere. Der Schiffer zieht die Leiter ein. An deren unterem Ende versucht eine Maus, raufzuklettern und noch mitzukommen. Im Zentrum steht eine Frau, die eine Münze in eine Birne drückt, um sie den am Ufer wartenden Jungens zuzuwerfen. Am Rande versucht ein Mann mit einem Sack auf dem Rücken, halb im Wasser liegend, sich an dem Schiff festzuhalten. Es ist ein Pestkranker. In dem Sack befinden sich Fieber und Pest.
Wir machen einen Spaziergang zum Schloss Sonnenstein, hoch über der Stadt gelegen. Man hat eine schöne Aussicht über die roten Dächer der Stadt und ihre Umgebung. Das Schloss oder was davon übrig blieb ist inzwischen in einem Verwaltungsgebäude aufgegangen. Vorher war hier eine Festung, aber die wurde nach einem verlorenen Krieg geschleift. Später befand sich hier eine der ersten Anstalten für Geisteskranke, die bis dahin zusammen mit Straftätern in Gefängnissen eingesperrt wurden. In der Nazizeit wurde daraus eine Euthanasieanstalt, eine Pervertierung des ursprünglichen Gedankens. An die vielen Toten, die die Anstalt forderte, erinnern kleine bunte Kreuze, mit Kreide gemalt, am Rande der Bürgersteige der Altstadt. Sie werden von Freiwilligen immer wieder erneuert.
Wir trinken oben auf dem Schlossberg einen Kaffee und essen dann am Marktplatz ein Eis. Es gibt Holunder und Zimt und andere extravagante Sorten. Eine Kugel kostet
1,20 € (Vanille ist teurer!). Wir erinnern uns, dass eine Kugel in unserer Kindheit 10 Pfennig kostete. Der Preis heute ist also 24 mal so hoch wie damals, wie mir vorgerechnet wird. Das, finden wir, ist ein unverhältnismäßiger Preisanstieg: Hosen, Kladden oder Bananen sind heute nicht 24 mal so teuer, und die Gehälter sind auch nicht 24 mal so hoch. Oder doch?
Hinter dem Canalettohaus liegt die Marienkirche, spätgotisch, was im Osten gut erkennbar ist, im Westen nicht. Der hat eine merkwürdige Fassade, eine fast schmucklose Giebelfront, mit einem auffälligen, mächtigen Turm daneben. Der stammt aus dem Vorgängerbau und wurde für seine Schönheit gerühmt. Die Statik konnte da nicht mithalten. Der Turm war ursprünglich zwanzig Meter höher, stürzte aber ein.
Der Eindruck, wenn man hineinkommt, ist überwältigend. Hinter der schmucklosen Fassade erwartet man nichts dergleichen. Man betritt eine hohe, gotische Hallenkirche, mit zwölf Pfeilern und einem außergewöhnlich schönen Gewölbe. Es gibt drei verschiedene Gewölbearten: ein Netzgewölbe im Mittelschiff, ein Sterngewölbe in den Seitenschiffen und ein Fischgewölbe im Chor. Die Flächen dazwischen sind ausgemalt, mit Figuren und mit floralen Motiven.
Im Chor, schwer zu erkennen, in einem zentralen Rhombus, hängt eine Kugel, aus den Schwedenkriegen, wie man immer glaubte. Bei der Sanierung der Kirche stellte sich aber heraus, dass die Kugel aus Ton ist.
Der ursprüngliche Holzaltar wurde verscherbelt und ersetzt durch einen schönen, späteren Sandsteinaltar, der auf verschiedenen Ebenen biblische Geschichten erzählt. Allein mit dem könnte man sich stundenlang beschäftigen.
Die Fenster stammen erkennbar von der Restaurierung des 19. Jahrhunderts. Die ging aber ansonsten sehr behutsam vor. Die Empore im Süden stammt aus dieser Zeit und ist 400 Jahre jünger als die im Norden. Sehen aber gleich alt aus!
Ein besonderes Ausstattungsstück ist der Taufstein. Vor dem hat schon Goethe gelegen, um ihn abzuzeichnen, besonders das ungewöhnliche Motiv am Sockel: 24 Kinder. Jedes steht für eine Stunde des Tages. Man sieht sie bei verschiedenen Verrichtungen. Einige tragen eine Art Zipfelmütze mit Kreuz, ein Verweis auf die hohe Kindersterblichkeit der Zeit.
Die Kirche entstand noch gerade vor der Reformation. Der Kurfürst von Sachsen war beteiligt, aber nicht als Geldgeber. Pirna war aufgrund seines Reichtums privilegiert und aufgrund seiner Lage. Über die Elbe konnte das Baumaterial aus nahegelegenen Steinbrüchen hierher gebracht werden. Der Kurfürst stellte aber Personal zur Verfügung, vor allem den ersten Baumeister der Kirche.
Auf dem Platz an der Marienkirche befindet sich ein auffälliges, zweistöckiges Haus, die Mägdleinschule. Sie wurde nach der Reformation errichtet. Lesekompetenz lag dem Protestantismus am Herzen. Die Menschen sollten die Bibel selbst lesen können. Die Mägdleinschule hatte auch Mädchen aus ärmeren Schichten, aber die wurden getrennt von den Reichen unterrichtet. Daher die zwei Stockwerke.
Viel der Patrizierhäuser der Altstadt haben Dachluken, durch die Waren in die Lager oben in den Häusern gehievt wurden. Unten gibt es Toreinfahrten, die breit genug für Pferdefuhrwerke waren. In einigen Häusern konnte man durchfahren und brauchte nicht zu wenden. Am Rande der Tore befinden sich an einigen Häusern Sitznischen, auf die man sich niederlassen und ein Schwätzchen halten konnte. An einigen Geschäften sieht man noch alte Handwerkszeichen: eine Brezel an der Bäckerei, eine Rasierschüssel am Friseurladen. Viele Häuser haben Erker, darunter eins mit dem Engelserker, eins mit dem Teufelserker.
In einem Haus ist das Friedrich-Schiller-Gymnasium untergebracht, ein zweisprachiges Gymnasium. Hier wird auf Deutsch und Tschechisch unterrichtet!
Etwas versteckt liegt ehemalige Dominikanerkirche, nahe der alten Stadtmauer. Sie wurde bei der Säkularisierung entweiht und hatte im Laufe der Zeit alle möglichen Funktionen. Nach dem Krieg war sie Auffangstation für Flüchtlinge aus dem Osten, von wo viele Katholiken hierher kamen. Was uns ganz entgeht, ist das ungewöhnliche Patrozinium der Kirche. Aber da helfen die erfahrenen Porschendorffahrer nach: St. Heinrich!
Am Marktplatz befindet sich ein Haus, das abgerissen werden und einem Supermarkt weichen sollte. Dann kam ein alternativer Vorschlag. Ein sächsischer Schauspieler, Tom Pauls, kaufte das Haus auf und verwandelte es in ein Theater. Hier werden Stücke im sächsischen Dialekt aufgeführt. Er selbst tritt hier auch auf, selbstverständlich sächselnd.
Bei strahlender Sonne trinken wir zum Abschluss auf dem Marktplatz noch ein Bier, ausgerechnet Feldschlösschen, aus dem nahen, ungeliebten Dresden. Am Nebentisch sitzt ein junger Mann, alleine. Er trägt dicke Kopfhörer und bewegt rhythmisch den Kopf, während er seinen Braten verspeist. Zwischendurch schaut er immer wieder mal auf das Display seines Handys.
Unmittelbar daneben befindet sich das Haus, in dem Napoleon übernachtete, 1813. Da muss er sich auf dem Rückzug von Russland hier befunden haben. Schließlich ist Leipzig nicht weit.
Beim Verlassen der Stadt kommen wir an einem Geschäft vorbei, das noch eine Inschrift hat, die an die frühere Funktion des Hauses als Buchbinderei erinnert, in Frakturschrift: Was die Gelehrten erforschet und erfunden, wird hier gekleistert, geschnitten und gebunden. Mich interessiert in erster Linie das Wort und, das als u mit Tilde unter dem Buchstaben geschrieben ist, eine der vielen alten Methoden, aus Platzspargründen oder Gründen der Effizienz Schrift zu vereinfachen. Das gab es lange vor dem Handyzeitalter.
Am Abend gibt es ein Essen, das aus Resten besteht, aber doch wie neu ist. Zum Nachtisch gibt es Obstsalat mit Weintrauben vom Grundstück!
11. September (Dienstag)
Es gibt Wachteleier zum Frühstück, erworben von einem 13-jährigen Jungen, dem Sohn einer Kollegin La Cajeras, der entschieden hat, eine Karriere als Landwirt einzuschlagen und seine Eltern veranlasst hat, ihm Wachteln statt Kaninchen zu schenken. Er sorgt auch, mit der Unterstützung der Eltern, für den Vertrieb der Eier. Die Eier sind winzig klein und scheckig.
Anruf bei Jana, dem guten Geist vor Ort. Auf die Frage, ob wir irgendetwas beachten müssten, sagt sie: „Ich würde sagen, einfach die Tage genießen.“ Ob man für Tschechien eine Plakette fürs Auto braucht, weiß sie nicht. Aber die Reisenotizen der Familie lassen es vermuten.
Wir fahren in die Böhmische Schweiz statt in die Sächsische Schweiz. Das ist ein Tipp des Hausherrn. Angeblich, weil es auf der anderen Seite nicht so voll ist. Der wahre Grund ist ein anderer: das Bier. Das tschechische Bier ist besser und billiger. Ob sich hinter der Vorliebe des Hausherrn für Tschechien noch andere Gründe verbergen ist nicht bekannt.
Von Porschendorf geht es erst mal Richtung Porschdorf und dann Richtung tschechische Grenze. Da muss man eine Plakette kaufen, frühe Rache der Tschechischen Republik an den populistischen Plänen der CSU vermutlich. Wir wollen die Plakette für einen Tag. „Zänn Tagge Minimum.“ Immerhin 17 €.
Eigentlich wollen wir nach Prebischtor, aber am Ende kommen wir da gar nicht hin. Macht nichts. Das andere ist auch schön. Hauptsache Schweiz. Also Tschechien. Die Bezeichnungen Sächsische Schweiz und Böhmische Schweiz werden nur von der Tourismusindustrie gepflegt (erfunden wurden sie von Schweizer Bergsteigern); in Atlanten steht Elbsandsteingebirge.
Irgendwo biegen wir links ab und kommen an einer langen Reihe von Ständen vorbei, an denen der typische touristische Ramsch angeboten wird. Aber bald erreicht uns die Waldeinsamkeit. Hohe Bäume zu beiden Seiten, links Mischwald, rechts Nadelwald. Irgendwann kommt dann ein Parkplatz, und wir nehmen ihn einfach, den ersten besten. Der junge Parkplatzwächter weist uns ein und nimmt uns vier Euro ab. Woher wir denn kämen, will er wissen. Aus dem Westen Deutschlands. Ja, Westdeutschland sei anders als Ostdeutschland meint er, nicht nur geographisch. Als er Dresden und Chemnitz erwähnt, weiß ich, was er meint.
Wir sind etwas desorientiert, weil es eine ganze Reihe von Wanderwegen gibt, wir aber die Zielorte nicht kennen. Egal. Rein in den Wald! Und es lohnt sich: Farne, Moos, Felsen, hohe Bäume, ebener Waldweg, Sonnenstrahlen, die ihren Weg zwischen den Bäumen suchen und Licht und Schatten auf dem Waldboden produzieren.
Der Weg wird bald steiniger und unebener und die Landschaft immer beeindruckender. La Cajera sieht, wie ein Baum, der ohnehin artistisch auf einem Felsvorsprung steht, seine Wurzel um den Felsen herum und an der Seite vorbei leitet. Felsen gibt es in allen Formen, dicke Blöcke, die wie abgemessen und ausgeschnitten aussehen, flache, in Scheiben servierte, hervorstehende und zurückspringende. Dann kommt ein Bach und dann eine Brücke, an der der Bach in einen Fluss mündet. Jetzt haben wir zu dem schönen Weg noch das rauschende Wasser.
Auf der Brücke steht eine Frau, die sich von einer anderen photographieren lässt. Vertraute Sprache. Es sind Ecuadorianerinnen, Schwestern, die in Europa hängen geblieben sind, die eine in Salzburg, die andere in Tschechien. Sie unterhalten sich angeregt mit La Cajera über Bolivien. Ihr Urteil fällt eher gemischt aus. Die jüngere will wissen, aus welchem Ort in Deutschland wir kämen. Wir tasten uns langsam ran. Westen, nicht weit von Belgien und Frankreich. Köln? Nee, aber nicht weit. Trier. Trier? Meine Lieblingsstadt! Sie hat auf Ausflugsschiffen auf den Flüssen in der Gegend gearbeitet und manchmal zwischen den Reisen ganze Wochen frei gehabt. Die habe sie immer in Trier verbracht.
Irgendwann verlieren wir sie aus den Augen, aber vorher sagen sie noch, La Cajeras Spanisch klinge ja wohl besser als meins: „Ceceo, eh?“, sagen sie mit leicht angesäuertem Gesicht. Zu allem Übel sagt La Cajera auch noch, sie habe die beiden besser verstanden als mich.
Dann geht es irgendwann mit einem Boot weiter, vielleicht einen Kilometer die Klamm entlang. Wir sind circa zwei Dutzend Passagiere. Als ich schon nach dem Anlasser für den Motor Ausschau halte, nimmt unser Fährmann eine alte Stange in die Hand und bewegt uns damit fort wie ein Gondoliere aus der guten alten Zeit. Dazu hält er, mit sonorer, wohlklingender Stimme einen zweisprachigen Vortrag über die Klamm. Eigentlich ist es eher eine Rezitation. Klingt alles sehr feierlich, aber was er sagt, ist wunderbar banal. Die wichtigste Aussage ist, dass man, um die Felsformationen als Schildkröte oder Steinpilz zu erkennen, ordentlich einen Intus haben muss. Dafür eignen sich u.a. Glühwein und Sliwowitz. Von dem deutschen Vortrag versteht man gerade mal so viel wie von dem tschechischen, meist Maße oder Eigennamen.
Sehr angeregt gehen wir weiter. Bald geht es steil bergauf, über unregelmäßige, hohe Stufen. Schweißtreibend. Oben angekommen bietet sich uns ein Lokal mit Außenterrasse dar. Und Sonnenschirmen, auf denen Budweiser steht. Da kann die schönste Wanderung locken … Wir setzen uns und bekommen für wenige Euro leckeres, süffiges Bier.
Auf einem Bierdeckel wird die Geschichte des Bieres erzählt – auf Tschechisch. Man ist überrascht, wie wenig man ableiten kann.
Anschließend müssen wir uns noch mal auf den Weg machen, die Landstraße entlang, eine kaum befahrene, schöne Allee.
Dann geht es zurück nach Deutschland. Wir machen Halt direkt hinter der Grenze, in Bad Schandau, das La Cajera persistent Schand-au ausspricht (was vermutlich der ursprünglichen Worttrennung nahe kommt).
Bad Schandau verdankt seinen Ruf wohl eher seiner Lage. Es geriert sich als „Tor zur Sächsischen Schweiz“. Nicht hässlich, aber auch kein Hingucker. Allerdings verpassen wir eine der Attraktionen Bad Schandaus, einen Aufzug, der in einen höher gelegenen Stadtteil führt.
Bad Schandau liegt an der Elbe. Die fließt am Rande der Innenstadt entlang, nur wenige Meter vom Marktplatz entfernt. Auf dem steht in der Mitte eine moderne Skulptur, die eine Szene aus der Mythologie darstellt, eine Nymphe, die einen entlaufenen Knaben in den Armen hält und dem erschrockenen Knaben mit einer Muschel Wasser ins Gesicht träufelt. Zu der Szene gehören ein Satyr und ein Frosch, aber wir finden beide nicht – trotz längerer Suche. Der heutige Brunnen ersetzt einen, der aus ungeklärten Gründen in den Kriegswirren verschwand.
Die Stadtkirche hat den für die Gegend typischen Turm, mächtig, mit barocker Haube. Drinnen fragen wir uns, obwohl die Kirche evangelisch aussieht, woran man das eigentlich festmachen kann. La Cajera hat die Antwort: kein Tabernakel.
Auf dem Altar sind die römischen Zahlen von I bis X angebracht, eine offensichtliche Anspielung auf die Zehn Gebote. Aber hier haben wir vier Zahlen links, sechs rechts. Man stellt sich die Entstehungsgeschichte so vor: Voller Euphorie fängt man mit den Zahlen an, schön groß, so, dass alle sie sehen können, und dann stellt man fest, dass der Platz nicht reicht und muss in die rechte Spalte mehr reinquetschen als vorgesehen. Kennt man aus der Schule und von Postkarten.
War Jesus eigentlich Vegetarier? Wenn es nach dem Abendmahl auf dem Altar in Bad Spandau geht, nicht. Auf dem Teller im Zentrum des Tisches liegt etwas, was nur eine Deutung zulässt: ein Spanferkel.
Bei einem Spaziergang durch die Stadt entdeckt La Cajera wilden Hopfen. Die Blüten fühlen sich wirklich sehr trocken an, wie Papier. In der Nähe sehen wir an einem Haus eine Gedenktafel an einen Sohn der Stadt, der Turner und Förderer der Turnbewegung war und einen klangvollen Namen trägt: Woldemar Bier.
Wir fahren nach Lohmen, zum Erbgericht, einem Lokal, das auf der Liste der empfohlenen Lokale stand. Aber ein Schild am Eingang bringt die Enttäuschung: Pächter gesucht. Das Erbgericht war früher Ausgangspunkt für Wanderungen ins Elbsandsteingebirge. Hier nahmen die Bergsteiger ihre Gäste in Empfang.
Wir besichtigen die Kirche, die Johanniskirche, auch eine Empfehlung. Was man von außen nicht vermutet: Die Kirche ist innen ganz und gar in klassizistischem Weiß und Gold gehalten, mit sehr feinen goldenen Linien, die die Formen der weißen Flächen unterstreichen. Die drei Sitzreihen und die drei Emporen sind alle in Weiß gehalten. Die Kirche ist breiter als lang oder wirkt zumindest so und fasst 830 Besucher! Eine Kirche wie auf einem Guss, mit einem ganz anderen Raumeindruck als dem einer katholischen Kirche.
Es gibt so gut wir keine Ausstattung, und in der ganzen Kirche gibt es nicht ein einziges Bild, kein Schmuck, kein Gewölbe, kein Buntglasfenster, kein Krimskrams. Das Gegenprogramm zur Marienkirche in Pirna, und ebenso wirkungsvoll. Die von dem kürzlichen Erntedankfest herumstehenden Überbleibsel stören nur. Die Wirkung der Kirche beruht auf Zurückhaltung, der Grundlage von Kultur.
Die Kanzel ist über dem Altar angebracht, Ausdruck der protestantischen Betonung des Wortes. Über der Kanzel ein angedeuteter Vorhang, der sich öffnet. The show can begin. Altar, Kanzel und Orgel sind alle in einer vertikalen Linie angebracht, im Zentrum.
Leider nicht zu sehen ist das wichtigste Ausstattungsstück der Kirche, ein Kreuz aus Meißner Porzellan. Das ist wohl einfach zu wertvoll, um es hier in der offenen Kirche einfach rumstehen zu lassen. Statt des Porzellankreuzes steht auf dem Altar ein ziemlich unpassendes, in einen Stein eingefügtes Holzkreuz.
Ein anderes wichtiges Ausstattungsstück, noch aus der alten Kirche stammend, hat man nach oben auf eine der Emporen verfrachtet. Es würde auch wirklich nicht passen. Es ist ein mittelalterliches Kreuz aus einem einzigen Stück Lindenholz geschnitzt, mit einem Christus mit blutendem Körper. Hier oben, in der Empore, hat man noch mehr den Eindruck, in einem Theater zu sein, nicht in einer Kirche.
Wir fahren angesichts des geschlossenen Erbgerichts weiter nach Doberzeit, dem Nachbarort, in ein ebenfalls empfohlenes Lokal, das aber keinen Pächter sucht. Es hat geöffnet, aber nur bis um acht! Glück gehabt! Man sitzt sehr schön im Garten hinter der Kneipe. Es gibt leckere Soljanka und ein einfaches Hauptgericht, dazu Sternquell, „das Bier fürs Vogtland“.
Vor dem Lokal, auf der anderen Straßenseite, steht ein Plakat, auf dem gegen einen geplanten Steinbruch und für die Bewahrung der Natur geworben wird.
Das Plakat steht vor großen, weiten, nur leicht gewellten Feldern. La Cajera beneidet die sächsischen Bauern und bedauert die der Eifel mit ihren kleinen Parzellen auf hartem Boden und großem Gefälle.
Aus dem Autokennzeichen von Pirna kann man schön PIR-OL und PIR-AT machen, und beide haben wir auch schon gesehen. Nicht aufgetaucht ist bisher PIR-NA.
Am Abend, in der Hütte, hört man plötzlich Musik, so als ob jemand versehentlich das Radio eingeschaltet hätte. Es ist aber nicht das Radio, es ist der Flaschenöffner. Der lässt, wenn er betätigt wird, das Vereinslied eines Bundesligisten ertönen. Für die Wahl des Vereins gibt es in der Familie keinen Verdächtigen.
12. September (Mittwoch)
Beim Frühstück erfahre ich, was es mit den Hausnamen im ursprünglichen Sinne und mit dem Satz „Ich tue mir noch was an“ in der Eifel auf sich hat.
In meinem Reiseführer finde ich eine Eintrittskarte für die Albrechtsburg in Meißen, von der damaligen Reise: 6 DM. Das war 1991.
Wir bekommen zu unserer Freude Mitteilung über den Temperaturstand zuhause: 17°. Hier sind es 29°, und wir kehren am Nachmittag mit sonnengeröteten Gesichtern zurück.
Da die Lindenstraße gesperrt ist und wir einfach mal einen anderen Weg ausprobieren wollen, lassen wir es drauf ankommen. Mit Erfolg. Eine sehr schöne Strecke, erst weite Felder, dann eine Allee, dann eine enge, kurvenreiche Straße, an deren Rand es schon wie im Elbsandsteingebirge aussieht, und das alles auf wenige Kilometer Distanz. Dann sind wir plötzlich schon in Pirna, wenn auch nur in einem Stadtteil von Pirna, und dann plötzlich in Graupa, wo wir eigentlich noch nicht hinwollten, aber da wir schon mal da sind, machen wir gleich Halt hier.
Die Einwohner sind so freundlich, als ob sie auf uns gewartet hätten. Wir bekommen sofort Auskunft, ohne auch nur gefragt zu haben, und im Museum lässt man uns rein, obwohl es noch gar nicht geöffnet hat. Aber wir machen alles in der kanonischen Reihenfolge und fangen mit dem Park an.
Am Eingang des Parks steht am Ende einer kleines Weges eine Wagner-Büste, hoch auf einem Sockel, mit den typischen Gesichtszügen, der großen Nase und dem vorspringenden Kinn. Dieses Denkmal wurde im Jahre des Herrn 1933 eingeweiht!
Der Park ist eine gelungene Kombination von Informationen über Wagner und Bäume. Man ist überrascht über die Vielzahl von Wagners Stationen: Würzburg, Magdeburg, Königsberg, Riga, Paris, Dresden, Zürich, Venedig, Wiesbaden, St. Petersburg, Wien, Stuttgart, München. In Graupa war er nur einen Sommer lang, und hier vollendete er den Lohengrin. Daraus wird an der Informationstafel ein wichtiger Satz zitiert: „Mein lieber Schwan!“ Aus einem frühen, in Magdeburg entstandenen Werk wird dieser Satz zitiert: „Reißt alle Trauerhäuser ein, für Lust und Freude lebt allein!“
Der Park ist hinter dem Eingang wie ein Stadtpark, später wirkt er wie ein Wald. Bei der Sonne kommt alles bestens zur Geltung.
Ganz am Anfang sehen wir den Gingko, der Baum, dem Goethe sein berühmtes Gedicht gewidmet hat, ein Gedicht über die Einheit in der Zweiheit. Die Blätter des Gingko geben da her: Sie sind stark eingekerbt, so als handele es sich um zwei Blätter, haben aber eine gemeinsame Basis. Zwei, die eins und doppelt sind, in Goethe als Allegorie auf liebende Paare verstanden, aber auch auf Freundschaften übertragbar. Hier wird es als Symbol der Städtepartnerschaft von Pirna und Baienfurt verstanden.
Etwas weiter sehen wir Vogelbeeren, an einer Eberesche. Die war, wie man hier erfährt, 1997 der erste Baum des Jahres. Als Kinder dachten wir, die Vogelbeeren wären giftig. Das hatte fast etwas Geheimnisvolles. Ist aber eine Legende. Man macht aus den Vogelbeeren sogar Marmelade und einen Likör, Sechsämtertropfen. Die Vogelbeeren gelten als gutes Mittel gegen Skorbut.
Eine massive Steineiche hat solche Ausmaße erreicht, dass sie durch Eisenstangen gestützt werden muss. Sie ist das Gegenstück zur Traubeneiche. Aus den verbrannten Bestandteilen der Eiche machte man in Notzeiten Seife. La Cajeras Mutter kann darüber noch aus eigener Erfahrung berichten.
Dann kommt die Rotbuche, der häufigste Baum in Deutschland. Aus den Bucheckern machte man in Notzeiten Öl, sowohl Speiseöl als auch Öl für Lampen.
Das Gegenstück dazu ist die Hainbuche. Sehr hartes Holz, früher für die Stellmacher von Bedeutung, heute weniger. Von ihr soll das Wort hanebüchen abgeleitet sein. Der Duden bestätigt das: Die frühere Form war habebüchen, und das war abgeleitet von der Hagebuche (anderes Wort für Hainbuche), und wegen des knorrigen Holzes entwickelten sich die ursprünglichen Bedeutungen ‘grob’, ‘derb’. Wer hätte das gedacht?
Dann geht es in die Ausstellung. Wenn man die Tür zur Rezeption betritt, erklingt eine Fanfare aus einer Wagner-Oper.
Alles ist sehr gut präsentiert, modern, nicht überladen mit Informationen. Die verschiedenen Räume sind thematisch angeordnet: Leben, Orchester, Nachwirkung usw. Gerne hätten wir noch ein bisschen mehr über die Herkunft erfahren: Kindheit, Familie, Startchancen usw., aber das ist nur ein kleines Manko.
Ein Anliegen von Wagner war die Schaffung eines “demokratischen Theaters”, ohne Logen, Ränge, repräsentative Foyers. Semper war einer seiner Mitstreiter, und beide mussten nach der Revolution aus Sachsen fliehen.
Ein Titel einer alten Ausgabe eines dünnen Bandes verwirrt uns: Die Wibelungen. Druckfehler? Falsch gelesen? Weder noch. Heißt wirklich so. Autor: Wagner. Untertitel: Weltgeschichte einer Sage. Da hat er wohl die Handlungen der späteren Opern um die Nibelungen skizziert.
Der Fliegende Holländer entstand nach dem Erlebnis einer stürmischen Schiffsreise von Riga nach London. Als La Cajera die Arie des Steuermanns aus dem Fliegenden Holländer erwähnt, erklingt sie wie auf Verlangen im Nebenraum. NSA? Werden wir hier abgehört?
Dort, im Nebenraum, wird die Arie, während sie gespielt wird, visualisiert, mit wogenden Wellen und Blitzen. An der Wand läuft der Text. Ist auch nötig, man versteht kaum ein Wort. In einer Passage heißt es, mit Bezug auf die Segel des Schiffs: “Satan hat sie uns gefeit/Reißen nicht in Ewigkeit.” Was ist das für ein Wort, gefeit? Es gibt tatsächlich, informiert uns der Duden, das Verb feien, ‚schützen‘, ‚vor etwas bewahren‘, von dem auch die heute noch gängigere Form vor etwas gefeit sein abgeleitet ist. Auch wenn es hier der Satan ist, in der Etymologie des Wortes steckt etwas anderes: die Feen. Wenn man durch Feen beschützt war, war man gefeit.
Wagner schrieb bekanntlich seine Texte selbst. aber nicht nur das, er entwarf auch Bühnenbilder und schrieb ausführliche Bühnenanweisungen. Er schrieb die Texte zuerst, aber wenn sie auf dem Papier standen, hatte er die Melodie schon im Kopf, heißt es. Der Glückliche!
Musikalisch orientierte er sich zuerst an der französischen und italienischen Tradition, entfernte sich dann aber immer weiter von ihr. Er führte neue Instrumente ein und änderte die Besetzung. Er brachte, heißt es hier, das “Orchester zum Sprechen”. Es wurde vom Melodie- zum Handlungsträger. Mir fällt auf, dass die meisten Opern drei Akte haben. Auch das dürfte eine Neuerung gewesen sein.
Wie das Museum funktioniert, sieht man sehr gut an einer Installation im Raum “Orchester”. Man hört eine Wagner-Melodie, dazu wird ein elektronischer Zeiger über die Stelle der Partitur gelenkt, die gerade gespielt wird, und dazu sieht man auf einem Bildschirm, welche Instrumente gerade am Werk sind.
Unter den vielen Zitaten über Wagner, die am Ende präsentiert werden, befinden sich: “Genie des Widerspruchs” und “umstrittenster Künstler der Kunstgeschichte”.
Nach der Ausstellung geht es in das ehemalige Jagdschloss, nur ein paar Meter weiter auf der anderen Straßenseite gelegen. In diesem Haus verbrachte Wagner einen Sommer. Man hat mittels der Schilderung eines Besuchers die zwei Zimmer oben rekonstruiert, in denen er wohnte, zusammen mit Minna, seiner ersten Frau. Nicht gerade opulent, aber doch komfortabel, keine Armenbehausung. Das Bett im Schlafzimmer erscheint La Cajera ungewöhnlich klein. War Wagner ungewöhnlich klein? Und seine Frau auch? Oder liegt es eher an Schlafgewohnheiten früherer Zeiten, als man eher sitzend als liegend schlief?
Im Wohnzimmer steht ein Spinett oder ein Klavier im Miniaturformat, und an der Wand sind Zitate eines Besuchers angebracht, der seinen Aufenthalt hier detailliert beschrieben hat. Er zeigt sich verwundert, dass sich Wagner, dem der Ruf des Hangs zum Luxus nachhing, hier so wohl gefühlt hat. Wagner selbst hat den Aufenthalt genossen. Er fühlte sich nach dem grässlichen Winter in der Stadt hier wie neugeboren. Seine Lebensgeister wurden geweckt, und er fühlte sich durch die Natur inspiriert. Da war er nicht alleine. Zu den anderen Künstlern, die durch die pittoreske Umgebung dieser Region angeregt wurden, zählen C.D. Friedrich, Turner, Kleist, Weber.
Ganz oben ist ein moderner Konzertsaal eingerichtet, von dem aus man einen Blick auf den Weiher hinter dem Haus und seine drei Schwäne hat. Ich lasse mich in die Irre führen und merke erst, als wir wieder unten sind, dass es keine lebendigen Schwäne sind.
Unten gibt es Informationen zu Lohengrin und seiner Entstehung, aber auch zu seiner Rezeption. Es wird eine Arie aus Lohengrin gespielt, und man sieht an einem Fernsehschirm, wie eine Choreographin einer Sängerin zeigt, wie sie sich bei dieser Melodie bewegen soll, sich ganz leicht wiegend, wie ein Halm im Wind. Die Musik ist wirklich bewegend, und es stimmt, was La Cajera in dem Moment sagt: „Das hat auch etwas Sakrales“. Was wir vorher gehört haben, in der Ausstellung, hatte immer in erster Linie etwas Dramatisches.
Was die Aufführungspraxis des Lohengrin angeht, wurde nach dem Krieg die alte, historisierende, sich an Wagner anlehnende Interpretation durch neue, sachliche, reduzierte Interpretationen ersetzt, und dann durch immer extravagantere. Aus dem strahlenden Schwanenritter wird ein Häuslebauer, und Elsa wurde zu einer hübschen Architektin. Später gibt es Elsa im Klassenzimmer mit einem Chor pubertierender Kinder. Oder die beiden Liebenden in einem Rattenversuchslabor. In dem Begleittext heißt es lakonisch: „Was Wagner zu den heutigen Inszenierungen sagen würde, ist nicht zu beantworten.“
Eine eigene Ecke gibt es zu Wagners Verhältnis zu Liszt: ganz unterschiedliche Charaktere, der impulsive, zu Wutausbrüchen neigende Wagner, der verbindliche, immer hilfsbereite Liszt, aber in musikalischen Dingen waren sie sich ganz und gar einig. Der Beginn der Freundschaft war etwas holprig, da Wagner, noch unbekannt, dem schon längst umschwärmten Dirigenten Liszt nichts entgegenzusetzen hatte. Er war schlichtweg eifersüchtig. Liszt wurde aber zu einem wichtigen Förderer seiner Werke, machte Werbung dafür, suchte Sponsoren und brachte selbst mehrere Opern in Weimar zur Aufführung.
Nach der Besichtigung gibt es in der Bäckerei, auf deren Terrasse wir ein Schattenplätzchen erwischen, Kaffee und Kuchen, darunter die berühmte lokale Spezialität, die Eierschecke, ein Blechkuchen mit viel Quark und Eiern. Es gibt viele Variationen, aber das verbindende Merkmal ist, dass der Kuchen drei Lagen hat. Das ist auch der Grund für den Namen: Die Schecke war ursprünglich ein Kleidungsstück, eine Männerkleidung, die aus drei Teilen bestand!
Wir bedauern es, noch Brot zuhause zu haben, denn hier wäre der richtige Ort, für Nachschub zu sorgen. Alles riecht gut und sieht gut aus und scheint aus eigener Herstellung zu sein.
Schloss Pillnitz, ganz in der Nähe gelegen, verbinde ich in erster Linie mit der Gräfin Cosel und dem Konzept der morganatischen Ehe, von dem ich im Zusammenhang mit der Gräfin Cosel zum ersten Mal gehört habe.
Der Parkplatz ist so gut wie voll, es ist viel Volks unterwegs. Aber wir verzichten angesichts des Wetters auf die Innenbesichtigung und gehen durch den Park, und der ist so groß, dass sich hier die Massen schnell verlieren.
Schon der eigentliche Schlossplatz, mit mehreren Palais und Wärterhäusern, um einen quadratischen Platz angeordnet, hat es in sich. Pure Größe, schöne, elegante Anlage. Hinter dem zentralen Platz befindet sich ein Französische Garten und daran anschließend ein Englischer Garten. An dessen Ende steht eine Kopie von Bramantes Tiempetto, das wir in Rom so lange gesucht haben. Hätten wir einfacher haben können. Hier kann man aber nicht rein. dabei gäbe es hier was zu sehen. Nicht wie beim Tiempetto in Rom. Der ist einfach leer.
Der Französische Garten hat einen haha und eine Maille. Auf der Maille, ein gerades Stück Rasen, wurde eine Art Boccia gespielt. Das Wort ist dasselbe wie das, das der Pall Mall im Londoner Westend zugrunde liegt.
Das haha ist mir aus früheren Besuchen in England ein Begriff, aber hier ist es etwas anders. Auf einer aus der Ferne gerade verlaufenden Rasenfläche gibt es einen plötzlichen Abgrund. Wenn man davor steht, ruft das Laute der Verwunderung hervor. Daher der Name. Hier ist es ein regelrechter Graben. Der ist aber auf beiden Seiten durch ein Gitter abgetrennt. Das entspricht natürlich nicht der ursprünglichen Idee. Die war, Gästen eine kleine Überraschung zu bieten. Oder unliebsame Gäste zu entsorgen.
Es gibt eine Fortsetzung der Schulung in Sachen heimischer Bäume. Wir sehen eine Lärche, der einzige Nadelbaum, der seine Nadeln abwirft und einen Ahorn, der seine Blüten rundherum verstreut und so neue Triebe entstehen lässt. Später, an der Elbe, sehen wir eine Weide, auch sie besitzergreifend. Sie bietet ein tolles Spektakel, und breitet sich in alle Richtungen aus, auch horizontal, auf ihre eigenen abgeknickten Ästen ruhend.
Am Palais an der Elbe sind rückwärtig Hochwassermarken angebracht. Man sieht, dass es auch im 19. Jahrhundert schon hohe Hochwasser gab, wenn auch die von 2002 und 2013 zu den höchsten zählen. Ein Mann, der davor stand, erinnert sich an das letzte Hochwasser hier in Pillnitz und an den Schaden, den es angerichtet hat. Man kann es auch anders sehen. Die kluge Voraussicht der Baumeister sorgte dafür, dass auch das höchste Hochwasser die höher gelegene erste Etage nicht erreichen konnte. Schlimmstenfalls geriet das Wasser in das Kellergeschoss.
Dann geht es, weiterhin bei strahlendem Sonnenschein, Richtung Hütte. Am Dach des Supermarkts, an dem wir den Einkauf für den Abend erledigen, ist ein Warnhinweis angebracht: Vorsicht Lawinengefahr! Kann man sich an so einem heißen Sommertag kaum vorstellen.
13. September (Donnerstag)
In der Nacht hört man ganz zart, von weit her, immer wieder einen einzelnen Glockenschlag, im Viertelstundentakt.
Beim Frühstück fallen die ersten Tropfen. Regen. Und ein Temperatursturz, der es in sich hat. Sommer war gestern, heute ist Herbst. Die gerechte Strafe für unsere Freude über die Temperaturen in der Heimat.
Wir fahren nach Stolpen, wegen der Burg und wegen der Stadt. Die hat bei einem Brand 1723 alle ihre 107 Häuser verloren. Die sind dann, unter Beibehaltung der Stadtansicht und des Straßenverlaufs, wiederaufgebaut worden. Auch ein Denkanstoß für die aktuelle Debatte um das Wiederaufbauen.
Auf dem Weg zur Burg gibt es ein Hinweisschild, das auf die Bedeutung Stolpens in den Napoleonischen Kriegen hinweist. Stolpen hatte in den Jahren von 1813-1815 insgesamt 80.000 Einquartierungen. Napoleon hielt die Stadt für strategisch wichtig, musste dann aber, nach einem Ausweichmanöver der Alliierten, kampflos abziehen. Vorher zerstörte er noch mal eben ein paar Teile der Burg.
Auf halbem Weg hoch zur Burg kommt man an der Kirche vorbei. Die ist geschlossen, auf dem Hinweg und auf dem Rückweg. Sie wurde nach dem Brand neu errichtet, und bei einer späteren Renovierung wurde der Turm nach Westen verschoben. Kuriose Entscheidung. Von der alten Kirche ist noch der gotische Chor erhalten. Wir fragen uns, wie so massive Steinbauten abbrennen können. Es wird wohl eher die Hitze sein als die Flammen, die die Bauten zum Einstürzen bringen.
Auf dem weiteren Weg zur Burg begegnen wir den ersten Stelen. La Cajera kennt sie vom Giant’s Causeway, aber ich bin regelrecht aus dem Häuschen. Es handelt sich um Basaltstelen, eine dicht neben der anderen aus der Erde zu wachsen scheinend, in schöner, wie zugeschnitten aussehender sechseckiger Form. Das ist keineswegs Menschenwerk. Das hat die Natur so gewollt! Die Stelen sind Resultat eines Vulkanausbruchs vor 25 Millionen Jahren.
Die Burg ist groß, langgestreckt, und trotz der Zerstörungen ist noch einiges da: Türme, Kornspeicher, Wachhäuser usw. Unten in einem Turm ein kleiner Warteraum mit einer Sitzbank und schmalem Fenster. Hier wartete man, um zugelassen zu werden. In der Wand ist ein kleiner Schacht. Wozu diente der wohl? Er diente zum Abhören der Besucher! Es gibt nichts Neues unter der Sonne.
Der Johannisturm enthält auf drei Etagen Informationen zum Leben der Gräfin Cosel. Die war hier, auf der Burg, gefangen, wenn auch die meiste Zeit nicht in diesem Turm. Sie starb hier mit 85 und war da fast 50 Jahre hier, die ersten Jahrzehnte gezwungenermaßen, danach freiwillig. Merkwürdig. Sollte da nicht der Freiheitsdrang so groß sein, dass man um alles in der Welt raus will? Die Gefangenschaft war natürlich eine Gefangenschaft de luxe, mit Bediensteten und fast allen Bequemlichkeiten.
Die Gräfin Cosel, das wird in der Ausstellung deutlich, war eine extravagante Frau, ambitioniert, mit einem Hang zum Narzismus, nicht klug, aber schlau. Sie erreichte das, was sie sich vorgenommen hatte, überreizte dann aber ihre Karten, als sie Kurfürstin werden wollte, an der Seite von August. Der hatte sie ausgerechnet bei einem Brand kennengelernt, ein symbolisch vielsagender Beginn der Beziehung. Er war auf der Stelle von ihr gefangen und machte sie zu seiner Geliebten, dann zu seiner Mätresse. Ganz offiziell. Mit Wissen der Kurfürstin. Am Ende machte er sie dann zu seiner Frau – aber auf eine ganz besondere Art und Weise. Durch eine Ehe “zur linken Hand”. Das bedeutete Ehefrau ohne Anspruch auf Erbe und ohne Anspruch auf Thronnachfolge für etwaige Kinder. Die Ehe wurde aber, wenn ich das richtig verstehe, erst rechtskräftig, wenn die eigentliche Ehefrau starb. Das hatte ich anders in Erinnerung. Die morganatische Ehe scheint dasselbe zu bedeuten, mit der Besonderheit, dass dabei der zweite Ehepartner immer niedrigeren Standes war.
Die Gräfin hatte sich erst langsam hochgearbeitet, durch eine Ehe mit einem Mann, der sie in höfische Kreise einführte – sie dann aber schnell wieder loswerden wollte. Davor hatte sie schon ein Kind aus einer nichtehelichen Beziehung. Das versuchte sie geheimzuhalten, aber am Ende wurde es dann doch bekannt und diente ihren Gegnern am Hof als Munition gegen sie.
August gab ihr das Taschenbergpalais in Dresden und dann, als er sie nicht mehr in der Nähe haben wollte, ein Palais in Pillnitz. Das durfte sie nicht ohne Erlaubnis verlassen. Tat es aber dennoch, um sich die Heiratsurkunde zu beschaffen, die August hatte verschwinden lassen oder die auf anderem Wege nach Berlin gelangt war. Die Reise nach Berlin hatte dann ihre Gefangenschaft hier in Stolpen zur Folge.
Mit August hatte sie drei Kinder. Die wurden zunächst weggeben, in ihre norddeutsche Heimat. Aber August holte sie zurück und sorgte für eine standesgemäße Erziehung und für standesgemäße Ehepartner. Er scheint sich in der ganzen Affäre eher klug verhalten zu haben, sie war die Zicke.
Zu unserer Überraschung lesen wir dann noch, dass sie am Ende ihres Lebens nach den Gesetzen des jüdischen Glaubens lebte. Hier auf Stolpen! Leider gibt es keine Ausstellungsstücke, die das belegen.
Dafür gibt es zahlreiche Porträts von ihr, zu verschiedenen Zeiten ihres Lebens, das alleine auch schon ein Beleg für ihre Wichtigkeit beim Hof.
In einer Etage werden Gebrauchsgegenstände der Zeit ausgestellt: ein Bettwärmer, der frühe Vorläufer der Wärmeflasche, ein mit glühenden Holzkohle bestückten Bettpfanne, eine Läusefalle, eine Glasscheibe mit dem Sündenfall, mit Adam und Eva in modischer Kleidung des 19. Jahrhunderts, mit prächtigen Hüten, im Garten Eden! Eva präsentiert Adam, statt einem Apfel, einen Krug Wein!
In einer Vitrine finden sich Auflistungen über damalige Preise: ein Krug Bier (knapp ein Liter) kostete 6 Pfennig, ein Krug Wein 6 Groschen. Darüber gab es noch als größere Einheit den Taler.
In einem Verlies im hinteren Teil der Burg gibt es eine kleine Ausstellung zum Basalt und der Geschichte seiner Erforschung. Das Wort Basalt, von Agricola geprägt, ging von Stolpen aus in die Welt, heißt es stolz.
Der Basalt ist immer polygonal. Er hat zwischen drei und sieben Ecken, meistens aber fünf oder sechs. Wie kommt das zustande? Die Frage ist nicht richtig gelöst, aber man hat beobachtet, dass das Sechseck eine besonders nützliche Form ist und in der Natur immer wieder vorkommt, in Bienenwaben, Eiskristallen und Pfützenritzen etwa.
Beim Verlassen der Burg lesen wir noch, dass hier auch der erste Schuss des Siebenjährigen Kriegs fiel. Es war eher eine Farce. Die Burg war von Bauern aus der Umgebung bewacht, die keinen Angriff erwarteten und in dem Moment unbewaffnet waren. Ein feindlicher Offizier kam auf die Burg, und löste „aus Versehen“ einen Schuss aus, der einen der Soldaten der Burg verletzte. Weiter geschah nichts.
August der Starke war selbst dreimal zu Besuch. Bei seinem dritten Besuch wurde ein Versuch durchgeführt: Schüsse auf Sandstein wurden abgegeben und Schüsse auf Basalt. Die Kugel durchstieß den Sandstein, prallte am Basalt ab.
Wir gehen in die Innenstadt hinunter, wieder an der geschlossenen Kirche vorbei. Die Innenstadt, unter Denkmalschutz, ist fein herausgeputzt, aber es gibt viel Leerstand. Überall werden Wohnungen angeboten, und ehemalige Einzelhandelsgeschäfte sind aufgegeben worden: Elektrogeschäft, Metzgerei (die hier Fleischerei heißt), Lederwarengeschäft, Geschenkeartikelgeschäft usw. Wir finden nicht einmal ein Café, das geöffnet ist. Je länger man da ist, umso unheimlicher wird es. Wir fragen uns, ob es vielleicht an den hohen Auflagen denkmalgeschützter Häuser liegt, dass die Leute nicht in der Altstadt wohnen.
Der Marktplatz ist quadratisch – das gilt als typisch sächsisch – und hat ein großes Gefälle. Er ist praktisch die Verlängerung des Wegs von der Burg herunter.
Eine alte Apotheke ist noch in Betrieb, auch eine Bäckerei am Tor und ein Lokal an der Ecke des Marktplatzes. Neben der Apotheke steht das Rathaus, mit Stadtwappen: Büste des Bischofs zwischen zwei Stadttoren. Das ist der Bischof von Meißen, der große Konkurrent des Fürsten von Meißen. Der Wettbewerb zwischen kirchlicher und weltlicher Macht prägte jahrhundertelang die Geschichte der Region. Dem Bischof gehörte Stolpen. Es war für ihn die wichtigste Residenz.
Im Zentrum des Marktplatzes steht eine Postmeilensäule. Sie verzeichnet in vier Richtungen die Entfernungen zu anderen Orten – angegeben in Stunden, die Zahl der Stunden, die die Postkutsche bis zu diesen Orten brauchte.
Die Postmeilensäule ist von größter historischer Bedeutung. Sie steht am Anfang der Vermessung der Welt, oder zumindest der Vermessung Sachsens. Wir können es uns heute kaum vorstellen, dass man nicht weiß, wie weit es zu den Orten in der Umgebung ist. Aber das war bis dahin der Normalfall. Der Mann, der hinter dem Projekt steht, ein gewisser Zürner, reiste “dreimal um die Erde”, um Sachsen zu vermessen. Ein Zählwerk am Rad seines “geometrischen Wagens” registrierte die Umdrehungen der Räder. Eine Umdrehung betrug 0,72 Meter, das war eine halbe Rute, und 1000 Ruten waren eine Postmeile, 4,5 Kilometer. Seine Ergebnisse hielt er auf Landkarten fest. 1718 gab er eine Kursächsische Postkarte heraus, begleitet von einem sechzehnseitigen Text mit Hinweisen zu Routen und Stationen. Der erste Reiseführer Sachsens. Er kostete einen Taler.
Wieder landen wir in einer Bäckerei, wieder gibt es leckeren, selbst gebackenen Kuchen und guten Kaffee. Man sitzt in der alten Backstube. An die erinnern noch zwei in die Wand eingelassene Backöfen. Gebacken wird hier aber trotzdem vor Ort. Im Haus nebenan. Platz ist ja genug da.
Wegen des Wetters fahren wir statt zum Ungermassiv nach Hohnstein, einem Bergdorf mit einem schönen Marktplatz, auch der mit großem Gefälle, und der unvermeidlichen Burg, aber genauso tot wie Stolpen. Bei der Ankunft in Hohnstein sagt das Handy: “Du hast dein Ziel erreicht.” Es hat Vertrauen gefasst und ist auf Du umgestiegen. Aber dann besinnt es sich wieder eines Besseren und steigt wieder auf Sie um: “Biegen Sie links ab.”
Erinnerungswürdig ist der Besuch eines ganz merkwürdigen Ladens gleich am Marktplatz, winzig klein, vollgestopft mit Ware und mit einem intensiven Geruch nach exotischen Teesorten. Die werden hier in großer Zahl angeboten.
Die Burg, heute Jugendherberge, ist tatsächlich auf Felsen gebaut. Der unbearbeitete Felsen ist der Boden des Innenhofs, und der ist entsprechend unregelmäßig. Die Burg ist im 19. Jahrhundert abgebrannt und wurde neu errichtet, obwohl kaum noch militärisch interessant. Schon die “Neue Burg”, die aus der frühen Neuzeit stammte, diente keinen Verteidigungszwecken mehr, sondern der Jagd und Zerstreuung.
In einem ziemlich verstaubten kleinen Museum gibt es ein Schaubild von der Umgebung, das uns später noch zunutze kommen sollte.
Wir fahren zurück und machen den Versuch, nach Dürrröhrsdorf-Dittersbach zu kommen, einfach, um einmal in diesem Ort mit dem klangvollen Namen gewesen zu sein. Aber da die Durchfahrt in Porschendorf gesperrt ist, kurven wir eine ganze Zeitlang durch die Gegend, bevor wir ans Ziel kommen. Der Umweg lohnt sich nicht. Dürrröhrdorf ist ein Straßendorf, Dittersbach ebenfalls, nur liegt Dittersbach an einer schier unendlichen Sackgasse. In Dürrröhrsdorf ist etwas mehr Betrieb, Dittersbach scheint ein reiner Wohnort zu sein.
Auf dem Weg sehen wir zufällig einen Hinweis auf das Wagner-Denkmal, und da wir schon einmal in der Nähe sind, lassen wir uns die Gelegenheit nicht entgehen.
Der Parkplatz liegt am Rande einer leicht welligen Landschaft mit großen Feldern. Vom Parkplatz führt ein kurzer Pfad in das Tal der Wesenitz hinunter. Es ist ein abrupter Wechsel der Landschaft, genau das, was uns das Schaubild in dem Museum in Hohnstein zeigen wollte: die Auswirkungen der Lausitzer Störung. Was ist damit gemeint? Vor 70 Millionen Jahren entstand eine streng ausgeprägte Grenze zwischen dem Granit der Lausitz und dem Sandstein der Sächsischen Schweiz: ausgedehnte Felder, breite Täler, waldreiche Kuppen gegenüber Zerklüftungen, engen Tälern, steilen Tafelbergen. Die Gesteinsform prägt die Landschaft. Wir befinden uns genau an einer dieser Nahtstellen.
Steil bergab geht es in das wild-romantisches Tal der Wesenitz. Hier verbirgt sich das riesige Wagner-Denkmal in einer natürlichen Nische, die der Wald bildet. Man sieht es erst, wenn man davor steht, trotz seiner riesigen Ausmaße. Es soll das größte Wagner-Denkmal der Welt sein. Wagner erscheint in langer Robe, überlebensgroß, als Gralshüter, mit Schale und Harfe, umgeben von fünf Gestalten, die Elemente seiner Musik verkörpern, aber auch in jede Nazi-Inszenierung passen würden. Das Denkmal wurde zum 100. Geburtstag entworfen, ursprünglich sollte es aus weißem Marmor sein, errichtet wurde es dann aber erst zum 50. Todestag – 1933! Es ist ein Denkmal, dass in die faschistische Epoche passt. Dennoch: Man kann sich der Wirkung kaum entziehen: der wilde tosende Gebirgsbach, die üppige Vegetation, die hohen Bäume, die schroffen Felsen hinter dem monumentalen Denkmal, der Blick zurück zur verfallenen Mühle mit grasbewachsenem, löchrigen Schieferdach und ausgehöhlten Fenstern, dazu auf Knopfdruck das “Prelude” aus Lohengrin von oben her – das ist nicht gerade alltäglich.
14. September (Freitag)
Es ist mehr als 25 Jahre her, dass ich zum letzten Mal in Dresden war. Die Frauenkirche lag noch in Trümmern. Es gab erste Pläne zu ihrer Wiedererrichtung. So lange ist das her. Entsprechend lückenhaft ist mein Gedächtnis. Eigentlich ist nichts so, wie ich es in Erinnerung habe.
Dresden zeigt sich an diesem Vormittag nicht von seiner schönsten Seite. Es ist ein unschöner, grauer Tag, ohne einen Sonnenstrahl; die Fassaden der historischen Bauten sind rußgeschwärzt; überall gibt es Absperrungen, Baustellen, Baukräne, Gerüste; die Elbe hat Niedrigwasser und sieht wie ein Tümpel aus.
Dazu kommt die schwierige Orientierung. Die Beschilderung ist nicht gut, und der unregelmäßige Grundriss des Schlosses stiftet Verwirrung.
Angekommen sind wir am Bahnhof, mit dem Zug von Pirna kommend. Der sanierte Bahnhof hat eine gläserne Kuppel, wie der Reichstag, aber kleiner und flacher. Die Hallen erinnern mit ihrem lichtdurchlässigen Dach an Köln, wenn das Dach auch nicht ganz so gewaltig ist.
Vom Bahnhof geht es über die schnurgerade Prager Straße Richtung Altstadt. Es ist DDR-Architektur mit westlicher Gesichtskosmetik und westlichen Ersatzteilen (darunter das Schnellrestaurant Burgerlich und das Kleidungsgeschäft Olymp und Hades). Die Prager Straße, im Krieg fast komplett zerstört, wurde nach dem Krieg auf sozialistische Maße erweitert und völlig neugestaltet. Sie war die Prachtstraße Dresdens in der Weimarer Republik gewesen. Ihren Namen hat sie von dem Bahnhof, der früher Böhmischer Bahnhof hieß.
Am Ende der Prager Straße steht der Kulturpalast der DDR. Hier spielen die Dresdner Philharmoniker. An der Seite zur Straße hin ist eine Wandmalerei angebracht, die den „Weg der Roten Fahne“ erzählt: geballte Fäuste, rote Sterne, Pflastersteine. Unter den Prominenten erkennt man Ulbricht und, auf den zweiten Blick, Stalin.
Die Kuppel der Frauenkirche ist das erste, was man aus der Distanz von der Altstadt aus sieht. Wir kommen aber zuerst zum Schloss und sehen uns den Fürstenzug an der Außenmauer an. Ich hatte ihn als Sgraffito in Erinnerung, aber es sind Kacheln, fugenlos aneinandergefügt, so dass es wie ein großes, längliches Bild wirkt, genauer gesagt wie ein Wandteppich. Das wird betont durch eine Aufhängung oben und Quasten unten. In den Friesen sind Vögel, Schmetterlinge und Girlanden abgebildet.
Der Fürstenzug stellt die Genealogie der Wettiner dar, alle zu Ross, in chronologischer Reihenfolge, angeführt von Konrad dem Großen. Viele haben hübsche Beinamen: Albrecht der Entartete, Friedrich der Großmütige, Heinrich der Fromme, Johann der Beständige, Friedrich der Streitbare, Georg der Bärtige und Friedrich der Gebissene. Ihn soll seine Mutter nach Geburt ins Hinterteil gebissen haben, damit das Baby nicht gegen ein anderes ausgetauscht werden konnte.
Auffällig ist, dass alle außer einem hübschen Beinamen auch Bärte haben – außer ein paar Vertretern aus der frühen Neuzeit. Da waren die Bärte wohl außer Mode. Viele kommunizieren miteinander, aber mit geschlossenem Mund, nur mittels Gestik und Haltung. Angeführt wird der Zug von Spielleuten und Herolden, abgeschlossen von Personen des öffentlichen Lebens des 19. Jahrhunderts, anonymen und bekannten, aber die können wir nicht gut erkennen wegen des Gerüsts, das davor steht. Ein Rätsel gibt eine Rose auf, die von dem Pferd Augusts des Starken unter dem Huf zertreten wird. Was soll sie darstellen?
Der Fürstenzug überlebte den Bombenangriff fast unbeschädigt, obwohl die unmittelbare Umgebung fast völlig zerstört war. Die Fliesen konnten Hitze vertragen! Von den 24.000 Fliesen waren nur gut zweihundert zerstört, und ein paar hundert mehr ersetzte man, weil sie nicht mehr in einem guten Zustand waren. Heute sieht man nicht mehr, welche ersetzt worden sind.
Es ist Zeit für die von den erfahrenen Porschendorf-Fahrern empfohlene Veranstaltung in der Frauenkirche, immer freitags um 12. Meine Befürchtung, man bekomme keinen Platz oder müsse sich anmelden, ist grundlos: Die Frauenkirche fasst 5.000 Besucher, und so viele kommen nicht. Der Eintritt ist umsonst. In der Reihe hinter uns sitzt ein Bayer, der ohne Unterbrechung mit lauter Stimme Witze erzählt. Er scheint sich von der Atmosphäre und dem Ort nicht beeinflussen zu lassen. Wohl aber von einem warnenden Blick La Cajeras, als er um 12, als es losgeht, immer noch nicht die Klappe hält.
Ich suche derweil nach einem Madonnenbild. Schließlich ist dies die Liebfrauenkirche. In der Kuppel kann ich nichts finden, am Altar auch nicht, und sonstige Ausstattungsstücke hat die Kirche keine, außer dem verkohlten Eisenkreuz, das bis zur Bombardierung auf der Kuppel stand. Es stellt sich später heraus: Es gibt keine Madonnen-Darstellung, keine einzige, in der ganzen Kirche.
Zuerst wird das Versöhnungsgebet von Coventry gesprochen, gleichzeitig an 200 Orten der Erde. Dann gibt es eine kurze Ansprache (sie nimmt die sieben Türen der Kirche, von denen keine herausgehoben ist, als Motiv), und zwischendurch Orgelmusik. Alles ist sehr bewegend.
Danach gehen viele Besucher raus, u.a. zwei junge Asiatinnen vor uns, die vermutlich kein Deutsch können. Von der Erklärung, die jetzt an der Reihe ist, hätten sie wirklich nichts.
In der Kuppel sind die vier Apostel mit ihren Symbolen dargestellt, dazwischen die drei christlichen Tugenden. Drei? Und was ist mit der vierten Kappe? Da hat man einfach eine weitere christliche Tugend hinzuerfunden: die Barmherzigkeit.
Der Altar zeigt die Darstellung am Ölberg. Der Altar selbst ist, wenn ich das richtig verstehe, der aus der zerstörten Kirche, so wie er den Bombenangriff überlebt hat.
Auffällig sind die vielen Emporen, darunter im ersten Obergeschoss geschlossene Emporen, die an reiche Familien verkauft wurden, um den Bau der Kirche zu finanzieren. Die Scheiben lassen sich mittels eines Mechanismus nach unten versenken, wenn man dem Gottesdienst folgen oder die Kirche sehen will. Wenn nicht, dann nicht.
Die Frauenkirche ist das Gegenstück zur Hofkirche nicht nur deshalb, weil sie protestantisch ist, sondern auch, weil sie von den Bürgern, von der Stadt finanziert und von dem Zimmermann Bär gebaut wurde, der kein ausgebildeter Architekt war und keinen Gesamtplan für die Kirche hatte. Er verließ sich bei vielen Berechnungen auf seine Erfahrung als Handwerker. Angestellt war er beim Rat der Stadt, als Ratszimmermann.
Die Frauenkirche stürzte nicht gleich in der Bombennacht zusammen, sondern erst zwei Tage später, nicht durch die Flammen, sondern durch die Glut zerstört. Dem Wiederaufbau der Kirche ging ein Spendenaufruf voran, der in aller Welt gehört wurde, auch in den Ländern, die an der Bombardierung Dresdens beteiligt waren. Ein britischer Kriegspilot widmete viele Jahre seines Lebens der Schaffung des neuen Kreuzes für die Kuppel. Die Außenmauern bestehen aus Originalsteinen, rußgeschwärzt, und Ersatz, in hellem Sandstein. Im Osten und Westen sind noch viele Originalsteine erhalten. Diese beiden Wände blieben nach dem Angriff geisterhaft in der zerstörten Stadt stehen.
Anschließend gehen wir durch die Altstadt, machen aber keine weitere Besichtigung. Wir sehen das Cosel-Palais, Albertinum, Schloss, Hofkirche, Semper-Oper. Die wurde zwar von Semper geplant, aber nicht in dem Sinne erbaut, dass er die Bauarbeiten überwachte. Das überließ er seinem Sohn. Es selbst wollte nicht in die Stadt zurückkehren, die ihn nach der Revolution ausgewiesen hatte.
Auf der Kuppel der Hofkirche suchen wir vergeblich nach der polnische Krone, die sie angeblich bekrönen soll. Vielleicht ist die Krone gemeint, die man im Zwinger sieht, gleich mehrfach. Eine Besonderheit der Hofkirche ist ein Prozessionsgang innen. Man wollte den protestantischen Bürgern, die die Kirche finanzieren mussten, die Ansicht einer katholischen Prozession ersparen!
Das Cosel-Palais hat nichts mit der Gräfin zu tun, sondern mit ihrem Sohn. Ihr Palais hier in Dresden ist das Taschenbergpalais, heute Sitz eines Luxushotels.
Eine moderne Glaskuppel mit Rippen, von einer goldenen Fama bekrönt, steht auf der Kunstakademie. Im Volksmund heißt sie Zitronenpresse. Sieht wirklich so aus, ist aber sehr wirkungsvoll, von unterschiedlichen Seiten her.
An der Flussseite des Albertinums sind die Namen großer Künstler der Kunstgeschichte eingelassen, von Praxiteles bis Leonardo. Dazwischen der Name eines obskuren deutschen Künstlers, den wir schon wieder vergessen haben, als wir das Albertinum hinter uns gelassen haben.
Auf den Brühlschen Terrassen gibt es Bauarbeiten. Genug Platz zum Flanieren ist immer noch, aber ganz zur Wirkung kommen sie nicht. Der Herr Brühl wäre heute vermutlich überrascht, wenn er wüsste, dass die Terrassen öffentlich zugänglich sind. Dies war sein Privatgrundstück, das er durch immer neue Aufkäufe ständig erweiterte. Seine Zeitgenossen wären vermutlich über seinen Nachruhm überrascht. Er hatte einen schlechten Ruf, als Egomane und Verschwender.
Der Zwinger ist der Bau, an den ich mich am besten erinnern kann. Wir gehen innen einmal ganz herum und sehen ihn von oben und von unten. Von oben wirkt er viel größer. La Cajera findet, dass, wenn das Barock ist, Barock gar nicht mal so schlimm sei.
Wir gehen über die Albertbrücke – auch hier wird kräftig saniert – in die etwas irreführend so genannte Neustadt. Gleich im Zentrum des Platzes auf der anderen Seite steht die ganz und gar mit Blattgold überzogene Reiterstatue Augusts des Starken. Ein echter Hingucker. Wann man auf die Idee mit dem Blattgold gekommen ist, wissen wir nicht. August erscheint als römischer Imperator. Auf dem Sockel kann man sehen, dass er zwei verschiedene Namen hatte: Friedrich August I. als Kurfürst, August II. als König in Polen.
Wir trinken in dem ersten besten Café, einer Riesenangelegenheit aus DDR-Zeiten, einen Kaffee und machen uns dann auf die Suche nach dem Kästner-Denkmal. Gar nicht so leicht zu finden. Es befindet sich am Rande des Albertplatzes, versteckt, und kleiner als erwartet. Wir müssen erst im Kästner-Museum nachfragen, wo es ist. Eine Figur auf der Mauer der Villa, in der das Museum untergebracht ist, dem Grundstück seines Onkels, bei dem er oft zu Besuch war, zeigt ihn als Junge, wie er lässig auf der Mauer sitzt und das Treiben auf dem Albertplatz beobachtet.
Das eigentliche Denkmal, wenn auch unscheinbar, ist gut gemacht: Auf einem niedrigen Sockel steht ein Stapel Bücher, mit Buchrücken, die die Titel erkennen lassen, und oben auf dem Stapel Kästners charakteristischer Hut. Um die Bücher herum gruppiert sich sein Handwerkszeug: Stift, Notizblock, Kaffeetasse, Aschenbecher, zusammengerollte Zeitung. Unter den Büchern, die den Stapel bilden, finden sich Bücher, die er gelesen und solche, die er verfasst hat: Münchhausen, Der gestiefelte Kater, Quijote einerseits, Fabian, Der tägliche Kram, Doktor Erich Kästners lyrische Hausapotheke andererseits Unter den Nazis waren seine Bücher verbannt, außer einem: Emil und die Detektive.
Dann geht es in den Zwinger, in den Wallpavillon, zu einem Konzert. Der Ort und das Orchester sind kleiner, als wir uns sie vorgestellt haben. Die Besetzung ist ungewöhnlich: vier Streicher, Querflöte, Klavier. Lauter Frauen. Eine Europäerin, sonst Asiatinnen. Dann kommt noch eine stimmgewaltige Sopranisten dazu, die vier Arien singt.
Es gibt im Wesentlichen, vor allem nach der Pause, kurze, populäre Stücke, Walzer, Polkas, Märsche, meist aus dem 19. Jahrhundert, leichte Kost. Am besten gefällt mir der “Schwan” aus dem Karneval der Tiere von Saint-Saëns.
Nach dem Konzert wollen wir den Zwinger durch den bekannten Ausgang verlassen, aber der ist gesperrt und wir müssen zurück. Zu unserem Glück. Inzwischen hat sich der Himmel aufgeklärt, und die Abendsonne bescheint in wunderbaren, warmen Farben die Silhouette der Altstadt vor uns. Die Ansicht ändert sich alle paar Minuten mit der sinkenden Sonne. Wir stehen ganz gebannt vor diesem Panorama und fragen uns, ob das wirklich dieselbe Stadt ist, in die wir am Vormittag gekommen sind.
15. September (Samstag)
Auf dem Weg nach Königstein sehen wir kurz bei Jana, dem guten Geist von Porschendorf, vorbei. Alles klar. Kümmert sich um alles.
Auf den Weg nach Königstein kommt immer mal wieder ein bizarr gestalteter Felsen in den Blick, der isoliert in der Gegend herumzustehen scheint, ein Tafelberg. Das muss der Lilienstein sein. Später, von der Festung aus, ist er gut zu sehen. Der Name hat nichts mit Lilie zu tun, sondern mit Ägidius.
Wir fahren nach Königstein rein, in den Ort, besser gesagt runter. Ein hübscher Ort, direkt an der Elbe gelegen. Die Hauptstraße verläuft aufsteigend von der Elbe weg.
Die freundliche Wirtin des Amtshofs, die den Bürgersteig fegt, gibt uns Auskunft. Der Amtshof hat einen schönen, kleinen Innenhof und eine gute Speisekarte, ist aber, als wir von der Festung zurückkommen, geschlossen. Fürs nächste Mal merken.
Die Kirche hat die gleichen Ingredienzien wie alle Kirchen hier in der Gegend und riecht auch, wie alle anderen, protestantisch. Sie besitzt eine prächtige Orgel, im Westen, über der Empore. Es ist bereits die fünfte Orgel der Kirche. Die Geschichte dieser Orgeln wird an der hinteren Wand der Kirche dokumentiert.
In der Vorhalle gibt es eine Stellwand über Pflanzen der Bibel, mit Photos und Zitaten aus der Bibel, in denen sie vorkommen: Granatapfel, Maulbeerbaum, Lein, Rizinus usw.
Wir gehen noch bis zu dem gelb gefassten, an der Spitze zweier aufeinander zulaufender Straßen befindliche Rathaus. Dort findet eine Traufe statt, ein Wort, das ich bei der Gelegenheit lerne, eine Trauung mit Taufe.
Dann trennen sich unsere Wege. Ich gehe zu Fuß, La Cajera nimmt das Auto. Sie kommt im Ort noch an einer Initiative vorbei, die Künstler aus der Region fördert und sie und Kunstinteressierte in den Ort locken soll. Ist auch nötig, auch hier regiert der Leerstand.
Bei mir führt der Weg auf bequemem Waldboden, an hohen Bäumen und Felsen vorbei, nach oben, nur ein kurzes Stück lang sehr steil. Man hört Eicheln auf die Äste oder auf den Waldboden fallen. Oder sind es Kastanien? Oder Walnüsse?
Ein kleiner Junge, mit Bruder und Eltern unterwegs, zeigt mir stolz vierblättrige Kleeblätter, die er in einer Höhle gefunden hat. In Plastikfolie eingeschweißt. Ich beglückwünsche ihn, und er erzählt begeistert von den Umständen des Fundes. Beide Eltern sprechen mit prononciert sächsischem Akzent, beide Kinder nicht. Scheint sich erst im Laufe des Lebens herauszubilden.
Oben warte ich vor der mächtigen, senkrecht nach oben gehenden, hohen Mauer der Festung, Felsen unten, Mauerwerk oben. Als La Cajera eintrifft, geht es statt, wie erwartet, mit dem Panoramaaufzug mit einem Lastenaufzug nach oben. Von dort hat man einen weiten Blick in die Landschaft, der immer dann schön ist, wenn auch nur für einen Moment die Sonne herauskommt. So wechselhaft wie heute ist es noch nie gewesen.
Wenn Stolpen groß ist, ist Königstein riesig: Torhaus, Garnisonenhaus, Zeughaus, Schatzhaus, Hungerturm (Ursprung des Namens ungeklärt)und verschiedene eigenständige „Burgen“ verteilen sich auf dem weitläufigen Gelände. Über das gesamte Plateau verläuft an seinem Rande eine Brustwehr, auf der man die Burg einmal komplett umrunden kann. Es ergeben sich immer neue Blicke, besonders schön auf der Seite, auf der man auf die Elbe herabsieht, die hier eine Schleife macht.
Man fragt sich, wozu dieser ganze Aufwand, welche Zwecke diese Festung erfüllen konnte. Sie sieht von allen Seiten uneinnehmbar aus. Und es wurde wohl auch nie ein Versuch gemacht, sie einzunehmen. Im 19. Jahrhundert glaubte man, sie würde modernen Anforderungen nicht genügen und zog Kriegsgefangene dazu heran, zusätzliche Verteidigungswälle auf den Festungsmauern zu errichten.
Zu den Kuriositäten der Festung gehören die Pestkasematten und das Blitzeichenplateau. Auf dem steht eine Eiche, 1972 gepflanzt, nachdem die Vorgängerin endgültig die Segel gestrichen hatte, nach einem Wirbelsturm. Unter dieser alten Eiche kamen bei einem Blitzeinschlag 1925 fünf Menschen ums Leben. Der “Eiche – weiche” Teil des alten volkstümlichen Ratschlags scheint auf jeden Fall zu stimmen.
Die Pestkasematten sind das Resultat einer Pestepidemie von 1680. Die Pestkranken der Festung wurden notdürftig in Hütten außerhalb der Festung untergebracht. Nach dieser Erfahrung baute man die Kasematten. Man nutzte einen natürlichen Spalt in dem Felsen, um eine Kammer in acht Metern Tiefe zu schaffen, die durch einen Schacht mit der Außenwelt verbunden war und eine Öffnung zum Herunterreichen von Speisen hatte.
Im Provianthaus steht (oder stand) ein von Pöppelmann entworfenes Weinfass mit einem (unfassbaren) Fassungsvermögen von 250.000 Litern! Da hat sich der Architekt aber wirklich verdient gemacht.
Was aus der Festung nach den Kriegen wurde, ist nicht zu erfahren. Während der Kriege diente sie als Gefangenenlager. Schon früher hatte sie lange als Gefängnis gedient. Und mehrere bekannte Gefangene gehabt: Böttger, Bakunin, Bebel, Wedekind.
Am Ende gehen wir noch in eine der Ausstellungen, einer Sonderausstellung, die sich dem Erbe C.D. Friedrichs widmet. Moderne Künstler stellen aus. Bei den meisten fragt man sich, was das mit der Tradition Friedrichs zu tun haben soll. Wir sind genauso schnell wieder draußen wie wir reingekommen sind. Beim Hinausgehen fällt unser Blick auf ein leeres, hölzernes Dreieck, auf dessen unterem Balken Nichts steht.
Im Ort steht ein Denkmal für einen gewissen Julius Otto, hier im Ort geboren. Wir fragen uns, wer das ist. Der mit dem Otto-Motor? Und fällt partout sein Vorname nicht ein. Es ist Nikolaus August. Dieser Otto, Julius, ist ein Männergesangskomponist und Musikpädagoge. Meilenweit vom Otto-Motor entfernt.
Da der Amtshof seine Dienste verweigert, gehen wir in ein Café und probieren bei der Gelegenheit noch eine sächsische Spezialität, Kleckselkuchen. War uns schon dieser Tage in einem der Cafés aufgefallen. Müsste man schon des Namens wegen bestellen. Er ist aus Mohn, Quark und Marmelade gemacht.
Auf dem Rückweg sehen wir entlang der Straße lange Plantagen, auf denen Äpfel angebaut werden. Hat mit den Apfelbäumen unserer Kindheit nichts mehr zu tun. Sie stehen in Reih und Glied und sich gerade mal mannshoch. Die Früchte in unmittelbarer Reichweite.
In der Hütte entdecken wir dann einen DDR-Reiseführer von Rowohlt, noch zu Zeiten der DDR herausgegeben. Sehr schön geschrieben, kritisch und ironisch, aber alles andere als feindselig. La Cajera ist so begeistert, dass sie gleich einen Band bestellt. Für 76 Cent. Die Kapitel haben Namen wie „Sachsologie“, „Fachwerk und Flickwerk“, „Aktives Nichtanschauen“, „Marx im Walde“. Wir stoßen auf eine Passage über Karl May. Der war in der DDR verpönt. Als „Nationalchauvinist“, „Krimineller“, „sentimentaler, unrealistischer Schreiberling“. Als Beleg galt die Tatsache, dass Hitler noch in seiner Zeit als Diktator die gesammelten Werke Karl Mays ein zweites Mal gelesen haben soll. Dann, wie aus dem Nichts, erlebte Karl May eine Renaissance. In Radebeul wurde ein Karl-May-Museum eingeweiht, und aus der Hölderlin-Straße wurde die Karl-May-Straße. An der lag die Villa Shatterhand.
Am Abend gibt es im Dorf ein Feuerwerk, das man von der Hütte aus gut sehen kann, offensichtlich eigens für uns, zur Verabschiedung. Danke, Porschendorf!