27. August (Montag)
Als ich schon aus dem Haus bin, gehe ich noch mal in die Wohnung zurück: Blasenpflaster vergessen. Daran darf es nicht fehlen.
Die Abfahrt ist um sieben, aber nicht, wie letztes Jahr, per Glockenschlag. Das hat das Blasenpflaster verhindert.
Die Luft ist feucht und kühl. Und als ich in der Innenstadt bin, beginnt es zu regnen. Muss ausgerechnet jetzt der schöne Sommer enden? Ausgleichende Gerechtigkeit: Letztes Jahr hatte ich in einem schlechten Sommer schönes Wetter auf der Radtour, dieses Jahr scheint es umgekehrt zu werden.
Auf der anderen Moselseite geht es Richtung Konz. Letztes Jahr ging es in die umgekehrte Richtung, nach Koblenz. Da brauchte man einfach “nur” an der Mosel entlang. Diesmal ist es komplizierter. Es soll nach Aachen gehen. Wie genau, weiß ich nicht. Für den Anfang weiß ich nur, dass es heute Richtung Echternach geht. Ich habe einen Reisebericht aus dem Internet als Leitfaden, von einer Frau, die denselben Weg gefahren ist – in umgekehrter Richtung.
Der Regen wird immer stärker. Vor der Saarmündung weitet die Mosel sich aus, und der Wind hat so richtig Gelegenheit, sich auszutoben und mir das Leben schwer zu machen.
Der Regen lässt für einen Moment nach, als ich kurz vor Igel bin. Hinter einer Hecke auf einem Feld höre ich Vogelstimmen, alle durcheinander, klingt anders als sonst. Bald setzt der Regen wieder ein.
Nach einer Stunde habe ich erst zwölf Kilometer hinter mir. Nach sechzehn Kilometern bin ich an der Grenze zu Luxemburg, in Wasserbillig. Ich fahre aber nicht nach Wasserbillig rein, sondern durch Langsur durch, und erst dort über eine Fußgängerbrücke über die Grenze. Von jetzt an geht es die Sauer entlang.
Der Radweg ist schön, auch wenn er parallel zur N 10 verläuft. Aber von der ist er durch Mauern, Hecken, Grünflächen oder Leitplanken getrennt. Die Sauer ist ein natürlicher Fluss, mal breiter, mal enger, mal mit Stromschnellen, und mit dichtem Bewuchs an beiden Ufern. Vom Radweg aus sieht man auf den Fluss hinunter.
Der Regen lässt allmählich nach, und nach zwei Stunden Fahrt hat er komplett aufgehört.
Am Wegesrand sehe ich, wie jemand in einem alten Bauernhaus in die Luke zum Getreidespeicher die riesige, schwarz-weiße Skulptur einer Dogge eingestellt hat.
Es geht ständig leicht bergan, mal durch den Wald, mal durch Orte hindurch oder besser an denen entlang: Moersdorf, Born, Rosport. Die Beschilderung ist hervorragend.
Irgendwo komme ich an einem Fußballplatz für die Dorfjugend vorbei: verkleinerter Platz, Rasen, Tore und Netze. Das war unser Traum als Kind!
Dann komme ich an eine Kreuzung, von der aus es nach Echternach nur noch drei Kilometer sind. Ich mache es intuitiv richtig und fahre nicht nach Echternach rein, sondern in den Ort hinein. Der hat einen ganz besonderen Namen: Minden! Ich bin schon wieder über die Grenze gefahren. Hier geht es über eine weitgespannte Fußgängerbrücke, und von hier aus geht es an der Prüm entlang. Die kommt allerdings selten zum Vorschein, meist geht es mitten durch den Wald. Völlige Einsamkeit. Man sieht und hört nichts.
Dann komme ich nach Irrel. Zeit für eine Pause. Ich bin seit drei Stunden unterwegs. Ich lande in einer Bäckerei, an einem Kreisverkehr gelegen. Hier ist das halbe Dorf versammelt, obwohl es sich nicht um die klassische Dorfbäckerei handelt, sondern um die Filiale einer Kette. In meinem Aufzug, kurze Hose, Laufschuhe, verschwitzt, durchnässt, ist das vielleicht sogar besser. Ich verziehe mich unauffällig in eine Ecke und genieße meinen Kaffee und ein Stück Streuselkuchen.
Als ich die Bäckerei verlasse, spricht ein Mann mich an, was ich denn da für ein altes Fahrrad hätte. Ja, das hat schon bessere Zeiten gesehen. Er ist zum Rauchen vor die Bäckerei gegangen. Wenn er den Mund öffnet, und das tut er oft, sieht man vorne nur noch einen Zahn, ziemlich schief stehend. So ein Rad habe er früher auch mal gehabt, er weiß sogar die Marke noch (ich kenne noch nicht einmal die Marke meines jetzigen Rads). Dann habe er sich ein Rennrad gekauft, aber mit zu hoher Stange: “Schwer beim Absteigen”. Er macht die Bewegung nach, mit der er von dem Rennrad absteigen musste. Dann hätte er ein Mountainbike gehabt, jetzt aber ein E-Bike gekauft. Wunderbar wäre das. Wenn es den Berg rauf gehe, schalte man den Motor ein und alles gehe wie von selbst. Wäre besser so, schließlich sei er ja nicht mehr der Jüngste, 58. Versteht man, in dem Alter braucht man natürlich ein E-Bike.
Ich muss mich auf die Muskelkraft verlassen. Es geht weiter Richtung Prümzurlay. Nach kurzer Suche finde ich den Weg, aber dann: Schreck in früher Morgenstunde: “Prümtalradweg gesperrt”. Und jetzt? Ich fahre kurz an der Sperre vorbei, um zu sehen, was los ist. Ergebnis: nix. Man kann ungehindert weiter fahren. Was ich auch tue, mit einem etwas unguten Gefühl. Eine entgegenkommende Familie gibt mir Auskunft: Ob ich zu den Irreler Wasserfällen wolle? Ja, aber noch weiter, nach Prümzurlay. Der Vater zückt sein Handy und beruhigt mich: Ja, da sind Sie richtig.
Kurz darauf geht es in den Wald und an den Irreler Wasserfällen vorbei. Die hört man, aber man sieht sie nicht. Es geht aus dem Wald heraus, und bald erscheinen auf der rechten Seite große Hopfenfelder, mit den typischen, hohen, schräg stehenden Stangen. Was machen die denn hier? Dann fällt der Groschen: Wir sind in der Nähe von Bitburg!
Immer wieder sieht man jetzt auch Apfelbäume, einzeln am Rand stehend, in Vorgärten, auf Plantagen. Einige frühreife sind schon geerntet und stehen in durchsichtigen Plastiksäcken an den Baumstämmen.
Jetzt komme ich in die Eifel. So richtig. Es wird ziemlich “hügelig.” Zwischendurch muss ich immer mal absteigen. Ich schiebe und denke an den Mann mit dem E-Bike.
Die Beschilderung ist gut, aber nicht an allen Stellen ganz uneindeutig. Oft hat man hier nur das kleine, quadratische Schild mit dem grünen Rad drauf, und nicht immer ist die Richtung klar. Ich fahre ein ganzes Stück durch Felder hindurch, ohne zu wissen, ob ich richtig bin, aber dann kommt “Peffingen”. Richtig. Zu früh gefreut. Im Ort angekommen, schiebe ich das Rad ein Stückchen die Straße links runter und dann rechts rauf, und in dem Moment fährt ein Lastwagen an mir vorbei. Sein Ziel: die Baustelle. Deshalb hieß es in Irrel: “Prümradweg gesperrt.” Ich sehe mich riesige Umwege über stark befahrene Bundesstraßen fahren, während ich mir das Geschehen auf der Baustelle ansehe. Der Lastwagen steht auf der rechten Spur, auf der linken ein breiter Schaufelbagger, die Straße ist aufgerissen. Dazwischen stehen Bauarbeiter und Ingenieure und beraten. Ich stehe etwas ratlos davor, dann nehme ich allen Mut zusammen, nehme das Rad unter den Arm und trage es am äußersten Straßenrand, durch den Matsch, an der Baustelle vorbei, den Blicken der Arbeiter weitgehend entzogen durch den Lastwagen. Nicht ganz, aber sie gucken nur einmal kurz rüber und sagen nichts. Noch mal gut gegangen.
Jetzt habe ich die Landstraße ganz für mich alleine. Schließlich ist sie ja gesperrt. Es geht bergauf, und zwar ordentlich. Wieder muss ich zwischendurch die Segel streichen und absteigen.
Dann kommt wieder ein Radweg, und zwar schon wieder ein neuer. Jetzt geht es an der Enz entlang. Schon der vierte Fluss nach Mosel, Sauer und Prüm. Die Enz entzieht sich aber immer wieder den Blicken, man überquert sie aber immer wieder.
Es geht auf Neuerburg zu. Die letzten drei, vier Kilometer vor dem Ort geht es über die kurvenreiche, viel befahrene Landstraße, mit Motorrädern und mit Autos, die in geringem Abstand überholen. Es geht an einer Gedenkstätte für Verkehrsopfer vorbei, mit frischen Blumen. Ich bin froh, als ich in den Ort komme.
Inzwischen hat wieder Regen eingesetzt, aber es nieselt nur. Ich fahre in die historische Altstadt hinein und halte meine Augen nach einem Hotel offen. Es ist zwar noch früh, aber ich habe auch schon eine gute Strecke hinter mir und will kein Risiko eingehen.
Es ist aber gar nicht so leicht, hier was zu finden. Am Marktplatz gibt es eine Kneipe und ein Café, aber kein Hotel. Ich gehe in das Café und trinke erst mal einen Kaffee. Der junge Mann, der mich bedient, kennt sich hier auch nicht gut aus und schickt mich auf die Hauptstraße. Da gäbe es in beiden Richtungen etwas.
Ermüdet mache ich mich auf den Weg, finde aber erst gar nichts und dann nur ein Tagungshotel, das mir überhaupt nicht gefällt. Ich fahre in die andere Richtung und frage einen Anstreicher nach einer Unterkunft. Der sagt mir, Privatzimmer habe es hier früher mal gegeben, aber die habe man in Mietwohnungen umgewandelt. Ich solle weiter fahren, nach Arzfeld. Das wären noch so zehn Kilometer. Er nennt mir sogar den Namen der Pension.
Widerwillig schwinge ich mich aufs Rad und fahre stadtauswärts weiter, aber da taucht unmittelbar vor dem Ortsausgang ein Hotel auf, an der Biegung der Straße. Da bekomme ich sofort ein Zimmer, und zwar für den unschlagbaren Preis von 35 €. Mit Frühstück! Und ohne Ausweis und vorherige Bezahlung. Schlüssel einfach so in die Hand gedrückt.
Das Hotel ist alt und altmodisch, aber irgendwie liebenswert. Es gibt noch WCs auf den Zwischenetagen, wie früher bei unserer Oma. Das Zimmer ist aber aufgerüstet worden und hat auch WC und Dusche. Und ein Waschbecken mitten im Zimmer. Es ist dunkel und hoch, hat einen quietschenden Schrank und schwere Fenstervorhänge. Die Dekoration ist bunt gemischt.
Als ich wieder nach unten komme, sehe ich wieder vorzeigbar aus. Auf dem Weg in die Stadt komme ich an einem modernen Bronzedenkmal vorbei. Es zeigt oben auf Johannes den Täufer in der Wüste, mit einer Wasserschale in der Hand und einer Heuschrecke zu Füßen. Barmherzige Passanten haben ihm zwei Kastanien in die Schüssel gelegt, um die Nahrungspalette zu erweitern. Am Sockel gibt es Abbildungen von Johannesprozessionen in Neuerburg, aber worin die Verbindung zu Johannes steht, wird nicht klar.
Etwas weiter komme ich an einer rätselhaften Sandsteinfigur vorbei, vor einer Arztpraxis stehend. Ein Mann mit einem weiten, geöffneten Umhang und einer rundlichen Kappe auf dem Kopf streichelt mit einer Hand den Kopf des ihm zu Füßen sitzenden Hundes, der eine Art Tasche in der Schnauze hält. Durch den geöffneten Umhang kommen allerhand Gerätschaften in Sicht, u.a. eine Kneifzange, die der Mann am Körper trägt. Erst die Inschrift gibt eine Vorstellung davon, um was es sich handelt: Medicus MDLX.
Nach wenigen Minuten bin ich wieder im Zentrum. Der Marktplatz selbst ist ganz hübsch anzusehen, hat aber nichts Besonderes. Der einzige Hingucker ist ein modernes Bronzedenkmal an einem Brunnen. Auf dem Brunnenrand stehen drei Figuren: ein Tubaspieler, ein Funkemariechen, und ein Wanderer. Oben sitzt eine Figur mit Zopf und Kopftuch an einem Webstuhl, es ist ein Mann. Wahrscheinlich sind das alles Anspielungen auf die Vergangenheit von Neuerburg.
Ich steuere auf der anderen Seite der Hauptstraße die Stadtverwaltung an. Da bin ich vorher mit dem Fahrrad vorbeigekommen. In der Stadtverwaltung ist auch das Forstamt untergebracht, und davon muss ich dringend ein Photo machen. Nicht nur, weil das Gebäude ganz vorzeigbar ist.
Wieder auf der anderen Seite verliere ich mich ein bisschen in den Gassen, die hier Namen wie Op d’r Kehr haben.
Charakteristisch für den Ort ist die hohe, dunkle Wehrmauer, von der noch Reste bestehen, und das über dieser Wehrmauer befindliche Viertel, mit Burg und Kirche.
Ich gehe mit müden Beinen die paar Stufen zur Kirche rauf. Es ist die Pfarrkirche von Neuerburg, und das Patrozinium ist Nikolaus – nicht Johannes. Die Kirche ist ausgesprochen schön, spätgotisch, mit einem wunderbaren Sterngewölbe mit Streben aus dunkelrotem Stein und floralen gemalten Motiven in den Zwickeln. Auch die Empore, mit einer schönen, ziselierten Balustrade, und einige Ausstattungsstücke sind in Dunkelrot gehalten. Im Chor hinter einer Absperrung steht ein wohl auch originales Taufbecken, mehrfarbig gefasst, mit einem modernen Wasserbecken aus Kupfer, bekrönt von einer Arche Noah.
Die Kirche ist zweischiffig, und das scheint wohl von vornherein so beabsichtigt gewesen zu sein. Ungewöhnlich. Der Westen sieht ganz anders aus, mit niedrigen, fast auf Bodenniveau angebrachten Fenstern, teils Bullaugen. Warum, ist nicht zu erschließen. Einen Kirchenführer gibt es leider nicht.
Als ich die Kirche verlasse, hat es wieder angefangen zu regnen, und ich flüchte mich ein zweites Mal in das Café am Markt. Diesmal bestelle ich mir zum Kaffee einen Pflaumenkuchen, mit Sahne natürlich. Schließlich habe ich 74 km hinter mich gebracht – ohne Motor. Es hat aber auch siebeneinhalb Stunden gedauert.
Danach gehe ich nur noch in den Stadtpark mit den (etwas übertrieben so genannten) Neuerburger Wasserfällen. Auf die Burg verzichte ich und auch auf das Schwarzbildchen, einer in einen Baumstamm eingelassenen Madonnenstatue, die sich im Laufe der Jahre verdunkelt hat.
Am Abend gibt es Essen im Hotel. Der Wirt selbst kocht. Durchwachsen. Aber danach brauche ich nur noch die Treppe rauf!
28. August (Dienstag)
Der Tag beginnt mit einem Krankenbulletin. Ich bin beim Frühstück der erste (und einzige), und der Wirt setzt sich dazu und erzählt mit großer Detailfreude von seinem Herzinfarkt. Als die Kniescheibe dran ist, klingelt glücklicherweise das Telefon.
Um halb neun geht es los, anderthalb Stunden später als am Tag davor. Es ist kalt und bewölkt, aber es regnet nicht.
Nach ganz kurzer Verwirrung am Ortsausgang geht es auf den Radweg, einen gut asphaltierten Weg fern von der Straße. Ich lasse Zweifelscheid links liegen, passiere Jucken und fahre Richtung Bleialf. Was immer man der Eifel vorwerfen mag, Mangel an originellen Ortsnamen gehört nicht dazu.
Es geht stetig bergauf, ich fahre in niedrigen Gängen und muss mich ordentlich ins Zeug legen. Trotz der Kälte komme ich ins Schwitzen. Weit und breit ist niemand zu sehen außer einer Radfahrerin, die mich überholt. E-Bike.
Dann wird es plötzlich leichter, ich komme ins Rollen und nehme richtig Fahrt auf, eine kurze Strecke geht es mit 30 km/h weiter. Am Wegesrand erscheinen bunt bemalte Indianer-Totempfähle, zu gut, um von Kindern gemalt zu sein. Amateur-Künstler?
Dann kommen an einzelnen Bäumen angebrachte Holzschilder, offensichtlich per Hand gemacht, die den Namen des entsprechenden Baums benennen: Mispel, Quitte, Reneclaude, Nobilis, Speierling, Ohrweide!
Ich komme mit einem Ehepaar ins Gespräch, das sich in umgekehrter Richtung abstrampelt, um die Steigung zu bewältigen. Sie fahren dieselbe Strecke, in entgegengesetzter Richtung. Sie sagen, Aachen-Trier wäre leichter als Trier-Aachen. Bisher wären sie fast nur bergab gefahren. Das sind ja schöne Aussichten! Und sie bestätigen, was ich auch schon vorher gehört hatte: Es ist nicht so leicht mit der Unterkunft. Dies ist die Eifel, nicht die Mosel. Sie haben auch nichts reserviert, sind aber besser organisiert als ich und telefonieren unterwegs die in Frage kommenden Unterkünfte an.
Bei der Weiterfahrt geht mir die Behauptung nicht aus dem Kopf, Aachen-Trier wäre leichter als Trier-Aachen. Kann das überhaupt sein? Vorausgesetzt, beide liegen auf gleicher Höhe. Gesetzt den Fall, ich hätte einen steilen Anstieg von einem Kilometer und dann eine sanfte Abfahrt von drei Kilometern, ist das dann leichter oder schwerer als umgekehrt. Was die Höhe betrifft, haben sie allerdings recht: Trier liegt auf 136 Meter über dem Meeresspiegel, Aachen auf 173. Ich muss also wirklich ein ganz klein bisschen mehr Steigung überwinden.
Weiter geht’s, immer den einsamen Radweg entlang. Mal geht es durch den Wald, mal geht es am Waldesrand entlang. Es herrscht eine geradezu unheimliche Stille.
Dann geht es in einen Ort hinunter und es kommt die von dem Ehepaar bereits angekündigte Abfahrt mit 15% Gefälle. Radfahrer sollen absteigen. Was ich natürlich nicht tue. Nach hundert Metern ist das Vergnügen allerdings schon zu Ende.
An einem kleinen Fluss mache ich Halt und esse einen Apfel. Nach gut zwei Stunden habe ich gut dreißig Kilometer hinter mir.
Vor Bleialf kommt dann ein Stück verwüsteter Wald, wohl Resultat des Sturms. Abgeknickte Äste, schräg stehende und umgestürzte Bäume und kahle Baumstämme auf einem Boden mit vertrockneten Ästen und Nadeln.
In Bleialf fahre ich in eine Bäckerei und trinke einen Kaffee. Ein Kunde am Nebentisch spricht von einem Geistlichen, der es ihm angetan hat. Bei seinen Predigten würden immer sehr verschiedene Themen “durchgeholt”.
Punkt zwölf, zum Angelus-Läuten, geht es weiter. Kurz nach Bleialf geht es durch einen langen, schlecht beleuchteten Tunnel. Die Fußgänger machen mit “Huhu”-Rufen auf sich aufmerksam.
Ich bin inzwischen auf dem Eifel-Ardennen-Radweg angelangt und fahre Richtung St. Vith, an der Our entlang, einem traditionellen Grenzfluss im alten Reich, als das Gebiet zu verschiedenen kirchlichen und weltlichen Herrschaften gehörte. Die Eifel und die Gebiete um Malmedy und Eupen kamen beim Wiener Kongress zu Preußen und damit anschließend an das Deutsche Reich. Vorher hatte das Gebiet zu Frankreich gehört, nach dem 1. Weltkrieg kam es dann zu Belgien.
Und da komme ich jetzt auch hin. Nach einer Wegesbiegung steht das blaue Länderschild am Wegesrand: Belgien. Darunter Belgique. Das hat man versucht, auszukratzen.
Es ändert sich aber nichts außer den Hinweisschildern, die jetzt Weiß auf Blau sind. Die Beschilderung ist ausgezeichnet, auf Augenhöhe, übersichtlich, mit vielen Ortsangaben, alle zusammen auf einem Schild. Und häufigen Entfernungsangaben.
Es wird wärmer und wärmer. Die letzten Kilometer vor St. Vith werden mir richtig sauer. Immer wieder geht es so steil bergauf, dass ich schieben muss. Ich bin aber auch einfach erschöpft. Es geht nur langsam voran. Erst sind es noch 5 Kilometer, dann immer noch 5, dann immer noch 5, dann 4, dann immer noch 4, dann immer noch 4, dann 3, dann immer noch 3, dann immer noch drei, dann 2,6, dann 2,3, dann 1,6. Die Kilometerangaben erfolgen wirklich in so kurzen Intervallen.
Hier wird Deutsch gesprochen, und auch die Beschilderung ist auf Deutsch, auch wenn ich unwillkürlich das erste Wort französisch lese, das vor dem Piktogramm eines Fahrrades erscheint: Ausser.
Zur Aufmunterung erscheint am Wegesrand in einem Vorgarten eine selbstgebastelte Skulptur aus übereinandergestapelten, alten Stühlen, bunt bemalt oder mit abblätternder Farbe.
Ich schleppe mich ins Zentrum hoch und finde einen Platz im Ratskeller, auf dessen überdachter Terrasse. Die Versuchung, ein Bier zu bestellen, ist erheblich, aber die Vernunft siegt und es wird Kaffee und Sprudel.
Eigentlich könnte ich hier nach einer Unterkunft suchen. Das wäre leicht, und der Ort macht einen lebendigen, angenehmen Eindruck. Aber es ist noch sehr früh. In der Touristeninformation sagt man mir, ich könne noch nach Waimes weiterfahren. Da würde ich auf jeden Fall was finden. Es sind noch 15 Kilometer.
Beim Verlassen der Touristeninformation fällt mein Blick auf ein Schild mit der Aufschrift: Das Leben ist ein ständiges Geben und Holen.
Jetzt, erst jetzt komme ich auf die Vennbahn. Das ist der Radweg, den ich mir ursprünglich ausgesucht hatte. Er führt von Aachen nach Troisvièrges in Luxemburg, aber von Trier nach Troisvièrges zu kommen, erwies sich als zu kompliziert.
Hier ist mehr Betrieb. Fast alle Radfahrer kommen mir entgegen, kaum einer fährt in meine Richtung. Das ist während der gesamten drei Tage so. Alle wollen nach Trier!
Die Landschaft ist hier offener, es gibt mehr Felder und Wiesen, vor allem Wiesen, mit wohlgenährten Kühen.
In Waimes (die deutsche Entsprechung ist Weismes) gestaltet sich die Suche nach einer Unterkunft schwierig. Die Touristeninformation hat montags und dienstags komplett geschlossen. Das finde ich merkwürdig, aber merkwürdig oder nicht, auf jeden Fall geschlossen. Nach einigem Hin und Her durch den Ort lande ich am Ende in einem Hotel, das ich gleich bei der Einfahrt gesehen hatte: Cyrano. Nicht die Art von Hotel, wo ich gerne übernachte. Und hier wird auch abkassiert: 73€. Plus Kurtaxe! Dass man in diesem unansehnlichen Ort auch noch Kurtaxe bezahlen muss, ist die Höhe. Der Ort hat kein richtiges Stadtbild, nur von schnellen Autos viel befahrene Straßen (ist hier nicht Spa in der Nähe?), eine homöopathische Apotheke, ein Bekleidungsgeschäft für Kinder und ein Geschäft für Hundefutter. Nicht einmal einen Supermarkt gibt es. Ich muss mein Wasser an der Tankstelle kaufen, für 2,60 €! Die Kirchenglocken läuten zwar später, aber die Kirche ist verschlossen.
Hier, in Waimes, gerade mal 15 Kilometer von St. Vith entfernt, wird Französisch gesprochen. Überall. Immerhin liegt es in Belgien, und da liegen zwei Dinge immer nahe: Pommes und Bier. Die Pommes, obwohl in einer Frittenbude serviert, die etwas schäbig aussieht und die sich nicht gerade auf Pommes spezialisiert hat, sind wirklich besser als unsere, dick, außen knusprig, innen weich. Ob es wirklich am zweifachen Frittieren liegt? Ich habe vor kurzem mal gelesen, dass man auch ein ganz besonderes Öl verwendet.
Das Bier bekomme ich auf einer Terrasse ganz nahe beim Hotel. Ich gönne mir das Leffe, erst une blonde, dann une brune. Göttlich! Schmeckt nach Karamell, ist aber nicht süß. Das Leffe kommt ursprünglich aus der Abtei von Leffe. Ob es die noch gibt? Ich genieße jedenfalls die Sonne und das Bier und trinke auf das Geburtstagskind: Auf Goethe!
29. August (Mittwoch)
Am Morgen gibt es nur ein Motto: nix wie weg! Dass es noch nicht einmal Frühstück gibt, macht die Sache noch einfacher. Schon um sieben bin ich wieder unterwegs. Und es lohnt sich: Es ist ein wunderbarer, sonniger Sommermorgen, mit klarem Licht und kühler Luft. Ich fahre direkt auf die ganz tief am Horizont stehende Sonne zu, hole tief Luft und fühle mich richtig gut.
Es geht an Faymonville vorbei, bekannt für seine Hecken, die ganze Häuserfassaden oder sogar ganze Häuser imitieren sollen. Davon bekomme ich aber so gut wie nichts zu sehen. Höchstens mal einen Eingang mit Rundbogen.
Die Einwohner von Faymonville werden von den Einwohnern der Nachbargemeinden als “Türken” bezeichnet. Und auch sie selbst bezeichnen sich so. Seit Jahrhunderten. Die Gründe dafür liegen in der Geschichte verborgen. Eine Vermutung besagt, dass sich die Einwohner von Faymonville sich im 16. und 17. Jahrhundert weigerten, der Reichsabtei Malmedy Steuern zu entrichten, da sie zum Herzogtum Luxemburg gehörten. Dieses Verhalten sei als unchristlich angesehen worden. Typisch türkisch eben.
Dann geht es durch Weiwertz. Der Name soll ‘Weiberhaus’ bedeuten und von Wiverhus abgeleitet sein.
Aus der Distanz sehe ich einen Raubvogel auf einer alten Ruine sitzen. Als ich näher komme, sucht er natürlich das Weite. Die Ruine das Relikt eines alten Wachgebäudes für das Personal der Eisenbahn. Es ist gleichzeitig ein Mahnmal für einen belgischen Offizier, dem Korporal Charles Devisser. Das Gebäude wurde im Krieg von dem belgischen Radfahrer-Bataillon benutzt. Devisser soll seinen Kameraden die Flucht ermöglicht haben und selbst schwer verletzt hier liegen geblieben sein. Er starb dann später im Krankenhaus. Da stellen sich doch einige Fragen angesichts der Heldengeschichte. Wenn er schwer verwundet am Boden lag, wie konnte er dann seinen Kameraden die Flucht ermöglichen? Ist er vielleicht selbst nicht geflüchtet, weil er verletzt war? Warum sind die Kameraden einfach abgehauen? Und wer hat ihn ins Krankenhaus gebracht?
Weiter geht es durch sehr schöne Landschaft. Auf einer Weide sehe ich überdimensionierte Schafe, die sich als Kühe erweisen. Sie haben einen Pelz wie Schafe.
Dann kommt noch ein Ort mit einem merkwürdigen Namen: Kalterherberg. Hier befand sich das erste Bahnhofsgebäude auf der Vennbahn. Ein Gemeindevertreter hatte sich gegen einen Gutsbesitzer durchgesetzt. Die Vennbahn wurde von Aachen aus in einzelnen Streckenabschnitten gebaut. Sie sollte die Kohlereviere um Aachen mit den Hüttenbetrieben in Luxemburg verbinden. Als die Sache einmal Schwung aufgenommen hatte, war hier so viel Betrieb, dass Güterwagen an Personenwagen angekoppelt werden mussten. Nach der Stilllegung der Bahn verwandelte man die Trasse in den heutigen Radweg.
Ohne es zu merken, bin ich dann plötzlich wieder in Deutschland. Es geht auf Monschau zu, und es ist gerade mal neun Uhr. Ich brauche aber eine geschlagene halbe Stunde, um nach Monschau reinzukommen, teils über einen abschüssigen Schotterweg, auf dem ich mehr Tempo drauf bekomme, als mir lieb ist. Dann kommt eine Umgehungsstraße, dann Kopfsteinpflaster. Und dann endlich die äußersten Punkte der Altstadt. Dann schiebe ich das Fahrrad ins Zentrum und dann wieder raus, weil man hier nirgendwo das Fahrrad abstellen kann.
An einem alten Turm sind ein paar Handwerkerzeichen angebracht und zwei Spinnen. Warum, bleibt ein Rätsel.
Der Ort ist noch wie verschlafen, aber das ändert sich bald. Die Senfmühle, erfahre ich in der Touristeninformation, befindet sich 25 Minuten außerhalb. Vorher bin ich lediglich an einem Laden vorbeigekommen, der den dort produzierten Senf verkauft: Senfonie.
Auf dem Weg in die Innenstadt liegt das Restaurant Montjoie. Das ist wohl der alte Name des Ortes, aus dem sich das verballhornte deutsche Monschau ableitet.
Monschau ist ein wirklich schöner Ort, geradezu ein Vorzeigeort mit Fachwerk und Schiefer, mit einem Gewirr schmaler Gassen, ganz unten tief im Tal an der Rur gelegen.
Die Rur fließt auch am Rande des Marktplatzes entlang, da, wo ich die obligatorische Pause in einem Café einlege.
Der Reichtum Monschaus verdankt sich den Tuchmachern, protestantischen Tuchmachern, die aus dem katholischen Aachen ausgewiesen worden waren und dann im Fürstentum Jülich Zuflucht fanden. Hier, in Monschau, fanden sie ideale Bedingungen vor: das Wasser der Rur, die Schafherden des Venn und den Torf der Eifel als natürliche Bedingungen und eine verarmte Bevölkerung als billige Arbeitskräfte. Die Bürgerhäuser des Ortes lassen den ehemaligen Reichtum noch erkennen. Heute lebt der Ort eindimensional vom Tourismus, und das gibt ihm auch ein ganz klein bisschen etwas Unechtes.
Ich gehe noch kurz in die Evangelische Stadtkirche, sehr protestantisch, ganz in Weiß, mit schmucklosen Fenstern und der Kanzel in exponierter Position: direkt hinter dem Altar. Die Kirche liegt direkt an der Rur, ein paar Schritte vom Marktplatz entfernt. Die Kirche ist bekrönt von einem goldenen Schwan. Das hat folgende Bewandtnis: Als Jan Hus in Konstanz verurteilt wurde, sagte er, in Anspielung auf seinen tschechischen Nachnamen: “Heute bratet ihr eine Gans. Aber aus der kann ein Schwan werden.” Der Schwan stammt aus einer Kirche in Köln, die durch einen Eisgang zerstört wurde. Die Monschauer kauften den unzerstört gebliebenen Schwan.
Wenn der Weg nach Monschau rein umständlich war, der Weg aus Monschau raus wird schweißtreibend. Jetzt geht es drei Kilometer ständig steil bergan, bis ich wieder auf der Vennbahn bin.
Um elf Uhr geht’s weiter. Statt der laut Radwanderführer ausgewiesenen 45 km sind es noch 49 km nach Aachen (jeder Kilometer zählt), und es geht bergauf und nicht bergab, wie es nach dem Profilbild in dem Radwanderführer ausgesehen hatte. Ich lege mich aber ins Zeug und fahre zwischen Nadelbäumen auf beiden Seiten her, und bald sind es nur noch 40 km.
Es wird jetzt deutlich lebendiger. Immer wieder kreuzt eine Straße den Radweg, und am Rande des Weges tauchen kleine Siedlungen auf, meist aus Einfamilienhäusern bestehend. Dann geht es bergab, fast unmerklich, aber ich komme richtig in Schwung, und auch das Trampeln im siebten Gang (meinem höchsten) fällt nicht schwer.
In dem Moment, wo mir nach einer Pause zumute ist, taucht rechts die Wanderbar auf, direkt am Radweg. Sie hat einen kleinen Garten mit Bänken unter Sonnenschirmen. Am Eingang eine Tafel mit der Aufschrift: “Gemeinsam gegen die Massenbierhaltung. Befreien Sie das Bier aus den Flaschen!”
Ich tanke auf mit Wasser und Kaffee. Ohne Bier. Und breche pünktlich mit dem Angelus-Läuten aus der Kirche von Roetgen auf.
Danach lasse ich es ganz gemächlich gehen. Ich fahre in einem mittleren Gang, ohne mich sonderlich anzustrengen. Das Ziel ist nahe, und es ist noch genug Zeit übrig.
Am Rande des Weges sieht man jetzt häufiger Relikte der alten Bahnlinie: Signale, Hinweisschilder, Schienen, Wartehäuschen.
In einem alten Bahnhofsgebäude hat sich ein Geschäft niedergelassen, das den Namen Bahnhofsvision trägt.
Plötzlich ist man wieder in Belgien, in Raeren, ohne es zu merken. Streng genommen ist man die ganze Zeit in Belgien, denn die gesamte Trasse gehört, auch wenn sie durch Deutschland verläuft, zu Belgien.
Es schwirrt jetzt allerhand Fliegenzeug im Kleinformat durch die Luft, und man muss versuchen, dass möglichst wenig davon in Mund, Nase und Augen landet. Gar nicht so einfach.
Dann verschwindet die Sonne, der Himmel zieht sich zu, und Wind kommt auf. Anzeichen des angekündigten Gewitters? Dann müsste ich sofort abbrechen. Dann fallen auch schon die ersten Tropfen.
Bei der Überquerung einer Straße tauchen Schilder in zwei Richtungen auf: Aachen 25 km, Aachen 20 km. Ich bleibe auf der Vennbahn, auch wenn es die längere Distanz ist.
Ich lege mich noch einmal ins Zeug, und bald sind es nur noch 14,6, dann wieder 15,1 km. Es geht über die Autobahn und durch ein wenig ansehnliches Viertel, aber dann wird es wieder schön. Der Weg führt durch eine parkähnliche Anlage, ein bisschen wie die Promenade in Münster. Die Bäume auf beiden Seiten berühren sich oben und bilden ein Dach.
Dann wird es einstellig: 7 km. Bei Kilometer 3 ist man dann plötzlich mitten in einer Großstadt. Ich folge den Schildern Richtung Bahnhof. Das erste Ladenzeichen, das ich sehe ist: Sarg Werner. Willkommen in Aachen!
Das nächste Schild ist verheißungsvoller: Hotel. In unmittelbarer Nähe zum Bahnhof und ein paar Gehminuten von der Innenstadt entfernt. Optimal.
Die freundliche Dame an der Rezeption bewahrt trotz meines Aussehens die Contenance und weist mir einen Platz in der Garage zu, wo ich das Fahrrad abstellen kann. Geschafft! Nach 238 Kilometern bin ich am Ziel. Und es ist gerade mal zwei Uhr.
Mein erster Weg danach führt mich zum Bahnhof, wo ich die Fahrkarte für die Rückfahrt am nächsten Tag löse. Dann geht es in die Innenstadt, die Theaterstraße zum Theater hinunter. Auf dem Vorplatz vor dem Theater steht auf einem Sockel ein Pferd, der “Fröhliche Hengst”, wie ich später in der Touristeninformation erfahre. Was aber das Pferd mit dem Theater zu tun hat, kann man mir dort auch nicht sagen, nur, dass Aachen eine “Pferdestadt” sei. Auch vor dem Bahnhof steht eine Skulptur mit Pferden.
Die Inschrift am Giebelfeld des Theaters gibt mir ein Rätsel auf: Musagetae Heliconiadumque Choro. Da muss das Internet her: ‘Dem Musenführer und dem Chor der Helikoniaden’.
Ein paar Schritte weiter befindet sich der Elisenbrunnen, der wichtigsten Reminiszenz an Aachen als traditionellem Kurort. An Tafeln sind die Berühmtheiten aufgelistet, die hier das schwefelhaltige Wasser getrunken haben. Aachen ist auch heute noch Kurort, und bei der Touristeninformation bestätigt man mir, dass man auf den Namen Bad Aachen nur deshalb verzichte, weil man dann im Alphabet nach hinten rücken würde. Allerdings ist es gar nicht klar, wie lange Aachen überhaupt noch Kurort bleibt. Wer darüber befindet, weiß man dort auch nicht. Wohl aber, dass die Nachfrage in den letzten Jahren stark rückläufig ist.
Auf dem Platz vor dem Elisenbrunnen steht eine moderne Skulptur aus schräg stehenden Streben. Ich dachte erst, sie würde die runde Form des Elisenbrunnens aufgreifen, aber sie ist oval und ist der Rahmen für einen kurzen Spaziergang durch Aachens Vorgeschichte.
Für mich wichtiger ist das Café Elisenbrunnen, gleich daneben, ein Café der klassischen Art, mit Bedienung und Geschirr aus Porzellan. Man kann trotz des Regens draußen sitzen. Trotz der Wespen bestelle ich einen Blechkuchen mit Sahne. Erste Klasse!
Nicht weit entfernt vom Elisenbrunnen befindet sich das Klenkes-Denkmal. Drei schlanke Figuren, im Kreis angeordnet, eine weibliche, zwei männliche, erheben den kleinen Finger, den Klenkes, zum Aachener Gruß. Der Gruß stammt aus der Zeit, als Aachen eine wichtige Tuchfabrikation besaß. Das schloss auch die Herstellung von Nadeln ein. Die Arbeiter, die dort beschäftigt waren, sortierten mit einer Bewegung des kleinen Fingers die Mängelexemplare aus. Daher kommt der Aachener Gruß, heute noch verwendet, wenn sich Aachener Autofahrer begegnen.
Dann geht es zum Dom. Der Innenraum ist, wie immer, eindrucksvoll, obwohl es heute noch dunkler als sonst ist. Nicht immer ist einfach zu entscheiden, welche Teile original sind und welche aus der Restaurierung des 19. Jahrhunderts stammen.
Original sind auf jeden Fall die 32 antiken Säulen des Zentralraums, Säulen, die von Karl aus Italien nach Aachen gebracht wurden. Es sind 32, weil sie im Doppelpack auftreten und sich auf zwei Geschosse verteilen. Die Grundzahl ist also die 8, und die tritt hier immer wieder auf, in den 8 Segmenten des Mosaiks der Kuppel, in den 8 Toren des Barbarossa-Leuchters, die die Tore der himmlischen Stadt darstellen, und auch in der später angebauten, achteckigen Ungarn-Kapelle. Auch ein schöner Leuchter, der im Narthex hängt, ist achteckig. Das Vorbild für das Achteck, aber auch das Vorbild ganz allgemein ist Ravenna.
Der Chorumgang und damit die Strahlenkranzmadonna, vor allem aber der Karlsschrein, ist abgesperrt und kann nur im Rahmen einer Besichtigung betreten werden. Also belasse ich es bei dem kurzen Besuch und gehe wieder nach draußen. Inzwischen hat es aufgehört zu regnen. Und es kommt sogar einen Moment die Sonne raus.
Ein italienisches Lokal heißt Al Triangolo. Und das ist kein Zufall. Denn das Dreieck ist das wichtigste Charakteristikum des Stadtplans von Aachen. Mehrere Plätze sind dreieckig und laufen an einem Ende spitz zu. Das kommt aus der Vermischung zweier Prinzipien bei der Stadtplanung, die quer zueinander verlaufen, der römischen Nord-Süd-Ausrichtung und der karolingischen Ost-West-Ausrichtung.
Unter dem merkwürdigen Namen Plum’s Kaffee fungiert der Inschrift zufolge “Deutschlands älteste Kaffeerösterei”. Plum ist der Name des ursprünglichen Besitzers. Dass Aachen beim Kaffee (wie auch beim Kakao) in Deutschland ganz vorne mit dabei war, ist durchaus einleuchtend, einmal durch die Nähe der Niederlande, einmal durch den Prinzen Eugen, den “Türkenbezwinger”.
Etwas weiter komme ich an einem kleinen Laden mit dem Namen Schlips und Kragen vorbei. Origineller Name, aber kaum zeitgemäße Ware. Folgerichtig wird die baldige Geschäftsaufgabe angekündigt. Schade eigentlich.
Ich sehe mir noch das Rathaus und die umliegenden Gebäude an, und dann komme ich noch an einem runden Brunnen vorbei, um den herum sich verschiedene Gestalten reihen. Was das soll, erschließt der Name: Der Kreislauf des Geldes. In den Kreislauf des Geldes sind ein raffinierter Zwischenhändler, ein geldgieriger Kapitalist, ein Kind, das zu einem Erwachsenen aufsieht, eine Frau mit einem Bündel unter dem Arm eingebunden und, am anderen Ende des Brunnens, ein Bettler, der flehend die Hände ausstreckt in Richtung auf die unerreichbaren Figuren am anderen Ende des Brunnens.
Aachen hätte natürlich noch viel mehr zu bieten, aber dies ist schließlich eine Radtour. Und die geht am Abend im Brauhaus zu Ende, mit einem sehr schmackhaften lokalen, untergärigem Bier: Öcher Lager. Und damit stoße ich auf das Geburtstagskind an: Auf Ottilie aus den Wahlverwandtschaften!