25. August (Sonntag)
Nach einer umständlichen Zugfahrt von Minden nach Münden kann es endlich losgehen. Inzwischen ist es drei Uhr geworden.
Von der Quelle bis zur Mündung – das geht bei der Weser nicht. Sie hat keine Quelle, wie der Weserstein in Münden in einer etwas pathetisch-altmodischen Sprache verkündet: “Wo Werra sich und Fulda küssen/Sie ihre Namen büßen müssen/Und hier entsteht durch diesen Kuss/Deutsch bis zum Meer der Weserfluss.”
Da stellt sich eine sprachphilosophische Sprache: Wenn die Fulda als Nebenfluss der Werra (oder umgekehrt) angesehen und der Fluss unter einem dieser Namen weiterfließen würde, was dann? Wäre der Fluss dann länger? Hätte er einen anderen Platz in den Statistiken? Wäre die Wirklichkeit anders, weil die Sprache anders wäre?
Zum Weserstein geht es an vielen prächtigen Fachwerkbauten vorbei, ebenso wie am Rathaus, bekanntes Beispiel der Weserrenaissance, und am Haus des Doktor Eisenbart, aber ich habe nur Augen für das Schild Weserradweg am Weserstein. Aber die Richtung, die es anzeigt, ist unbestimmt. Es gibt vier oder fünf Möglichkeiten. Ich irre durch die Gegend und versuche, mich durchzufragen. Vergeblich: “Wir sind nicht von hier.” Dann kommt mir ein Radfahrer entgegen, und der gibt eine unschlagbare Antwort auf meine Frage, dass ich an der Weser entlang fahren will: “In welche Richtung?”
Irgendwann fahre ich auf Glück einem gut ausgerüsteten Ehepaar hinterher, und das scheint zu klappen. Es geht an einem dicht bewachsenen Weg, abseits des Verkehrs, direkt an der Weser entlang. Traumhaft. Genauso habe ich mir das vorgestellt. Nach 500 Metern ist der Weg zu Ende.
Jetzt geht es an einer Bundesstraße entlang. Die kommt mir so unpassend vor, dass ich nach ein paar Kilometern wieder zurück und über die Brücke in Münden auf die andere Weserseite fahre. Das ist besser, aber nicht viel besser. Und ich weiß nicht, ob ich richtig bin. Die Orte, die auf der Karte stehen, stehen nicht auf den Schildern, und die auf den Schildern stehen, stehen nicht auf der Karte. Aber dann ist Hemeln ausgeschildert. Endlich habe ich die Gewissheit, dass ich richtig bin.
Es geht bergauf – und ich hatte gedacht, dass es immer runter gehen würde. Ich muss in den ersten Gang, und an einer Stelle muss ich sogar schieben! Das Rad ist gewöhnungsbedürftig, die Räder zu klein, die Reifen zu breit.
Dann kommt Hemeln. Dort gibt es eine Fähre, und an der Fähre eine gemütliche Gartenwirtschaft. Aber die Bedienung ist – bei der Nachfrage keine Überraschung – überfordert, und ich fahre durstig weiter.
In Glashütte kommt links ein Holzlager in Sicht. Auch die Holzstämme werden, wegen der langen Trockenheit, mit Wasser gesprengt.
Dann kommt eine riesige (ehemalige) Benediktinerabtei, in Bursfelde. In der Klostermühle frage ich nach einem Zimmer, aber es ist keins frei. Draußen sind alle Plätze im Schatten besetzt, aber: Was soll’s? Flüssigkeit muss her. Für Wasser und Kaffee werden 8,90 € kassiert.
Hinter Bursfelde liegt links ein schöner Friedhof, hinter einer Steinmauer. Eine große Wiese, leicht aufsteigend, mit nur ganz vereinzelt eingelassenen Gräbern.
In Oedelsheim finde ich eine einfache Pension. Da nimmt mich ein freundlicher Wirt in Empfang. Natürlich hat er noch ein Zimmer. Das kostet 45 €. Frühstück inbegriffen!
Fazit am Ende des ersten Tages: mickrige 30 Kilometer, schlechte Beschilderung, drückende Hitze, öde Strecke, von der Weser keine Spur. Es kann nur besser werden!
26. August (Montag)
In dem kleinen Landhotel gibt es ein Fünf-Sterne-Frühstück. Die Wirtsleute sind Rentner und öffnen nur, wenn Bedarf ist. Das erste Haus am Platz wird von ihren Kindern betrieben, und die Enkelin steigt dort auch schon ein.
Sie kennen Trier und die Mosel gut und sind auch schon den Moselradweg gefahren.
Ich erfahre, dass wir hier in Hessen sind. Im Prinzip liegt hier, am Oberlauf der Weser, Hessen links von der Weser, Niedersachsen rechts davon. Aber Oedelsheim bildet, zusammen mit fünf anderen Gemeinden, eine hessische Enklave auf der falschen Seite.
Wie ich denn weiterfahren wolle. Ganz einfach, die Weser runter, immer Richtung Mündung. Ja, aber auf welcher Seite? Ich hätte, erklärt mir der Wirt, die Wahl zwischen der bequemeren linken Seite und der schöneren rechten. Er empfiehlt die schöne Seite. So mache ich es dann auch.
An der Häuserwand des Hotels eine Schwalbenkolonie, eine richtig große. Die Schwalben fliegen aufgeregt hin und her und haben entlang der Hauswand, oben unter dem Dach, ihre Nester angebracht, eins neben dem anderen.
Der Weg ist im Ort wieder schlecht ausgeschildert, aber als ich dann die Weserbrücke (und damit die bequemere Route) links liegen lasse, bin ich sicher, dass ich richtig bin. Mannshohe Maisfelder, abgeerntete Kornfelder, dann eine große Schafherde. Dicke, wollige, braune Schafe mit schwarzen Köpfen. Schön anzusehen.
Ich fahre kurz nach Bodenfelde rein, wegen der Kirche, ein Tipp des Gastwirts. Aber die Kirche, vom Radweg aus gut zu sehen, versteckt sich hinter den Häusern des Dorfes, und als ich sie finde, finde ich sie verschlossen vor. Ich bin einfach zu früh auf den Beinen. Der steinsichtige, kompakte Bau ist aber auch von außen sehenswert.
Unter den kuriosen Straßennamen des Ortes sticht Wüste hervor, direkt neben der Kirche.
Ebenfalls in der Nähe der Kirche das Wohnhaus der Familie Scheffer, eines Namensverwandten mit Rechtschreibschwierigkeiten.
Auf einem kleinen Platz ein Fußballtor mit Pfosten und Latte aus Holz. Aber mit Netz. Und Rasen auf dem Platz davor. Das wäre für uns als Kinder schon ein kleiner Luxus gewesen.
Dann geht die Fahrt weiter: Pferde und Strauße und dann Krähen, die vereinzelt auf Stromleitungen sitzen und die Gegend inspizieren. Dann kommen Apfelplantagen, Bäume mit dünnen Stämmen und knallroten Äpfeln.
Auf einer Weide steht unter einem Pflaumenbaum ein untersetztes Pferd. Der Schatten der Äste des Baumes spiegelt sich auf seinem Fell wider.
Die Prophezeiung des Wirts erfüllt sich ganz und gar: Es ist keine bequeme Route. Es geht ständig bergauf, meist sacht, aber manchmal auch so, dass ich absteigen muss. Absteigen ist dann auf jeden Fall angesagt, als es in den Wald geht und sich ein steiler Weg vor mir auftut. Oben erfährt man dann durch ein Schild, wie steil: 25%. Daneben steht eine Parkbank. Genau an der richtigen Stelle. Als ich da sitze, kommen Radfahrer den Weg rauf. Die schaffen es, die steigen nicht ab! Tolle Leistung, denke ich. Aber dann sehe ich: Die haben ein Pedelec. Dann kommen andere Fahrer mit normalen Rädern. Die erklären selbstbewusst, es hätte nur an einem Auto gelegen, das ihnen unten in die Quere kam. Mit Anlauf hätten sie es geschafft. Ich nicht.
Nach einem guten Stück durch den dichten Wald öffnet sich dann plötzlich der Blick nach unten auf die Weser und die parallel dazu verlaufende Bahnstrecke. Es geht rauf und runter, aber mehr runter als rauf, und man wird für die Anstrengungen des Aufstiegs belohnt durch die schöne, immer wechselnde Aussicht.
Am Ende geht es runter nach Karlshafen, auf der anderen Seite der Weser gelegen, ein größerer Ort mit einem großen, barocken Platz mit weißen, repräsentativen Gebäuden zu drei Seiten. Noch wichtiger ist für mich aber das Café an einem Ende des Platzes. Kaffee und Wasser und Schatten.
Wieder auf die andere Weserseite zurückgekehrt, geht es ein paar Kilometer weiter, aber hier endet irgendwann der Radweg und ich fahre, einem Tipp eines entgegenkommenden Radfahrers folgend, jetzt endgültig auf die andere Seite, nach Hessen.
Immer wieder, vor allem entlang der Bahntrasse, tauchen hohe, wild wachsende Sträucher auf, blass violett. Kann das Sauerampfer sein? Auch traurig aussehende Sonnenblumenfelder und völlig vertrocknete Sträucher sieht man.
Dann wird es aber wieder grün und der Weg überquert die Bever, den Namensgeber von Beverungen. Gleich hinter der kleinen Brücke ein Kneipp-Becken. Nix wie rein! Das Wasser ist eiskalt. Wunderbar! Auch andere Radfahrer machen Halt und genießen es.
Nach Beverungen ein breites Tal. Hier ist es windig. Aber der Wind ist eher lästig als erfrischend.
Obwohl man an bestimmten Stellen immer wieder auf Gruppen von Radfahrern trifft, ist es unterwegs erstaunlich einsam. Schließlich ist noch so was wie Hochsaison und der Weserradweg vielbefahren.
In Wehrden an einer Fährklause ist schon wieder ein Halt angesagt. Der Durst ist einfach übermächtig. Am Nebentisch eine Frau, die unentwegt spricht, laut und vernehmlich, meist über sich. Der Mann macht nur hin und wieder ein paar nonverbale Geräusche, die man mit gutem Willen als Zustimmung ansehen kann.
Es folgt eine flache, etwas nichtssagende Strecke mit der Weser im weiteren Blickfeld. Vor Höxter kommt ein Badesee mit Freizeitpark. Keiner ist im Wasser, und erst recht keiner auf dem Hockeyfeld.
Ich fahre nach Höxter rein, um in einem Supermarkt Wasser zu kaufen. Das erweist sich als schwer. In den Innenstädten scheint es keine Supermärkte mehr zu geben. Die liegen am Stadtrand, dort, wo es Raum für Parkplätze gibt. Nach langem Suchen ergibt sich eine Lösung. Eine Einheimische zeigt mir den Weg zu einem kleinen, von Türken betriebenen Laden. Die haben Konserven, ein bisschen Obst und Gemüse und reichlich Wasser.
Höxter war zunächst eine Dependance von Corvey, machte sich aber mehr und mehr unabhängig und erlebte dann nach der Reformation einen echten Boom. Von der Zeit zeugen noch die reichen Fachwerkhäuser der Altstadt, mehrstöckig, mit vorkragenden Konsolen, Inschriften in goldenen Lettern und Verzierungen, vor allem in Form eines Muschelornaments. In einem der prächtigsten Häuser am Markt ist heute Mäc Geiz untergebracht.
Was ist eine Scharre? Das erfahre ich durch ein Schild an der Fassade eines Fachwerkhauses an der Ecke zur Innenstadt, der Alten Schreiberei. In dem Vorgängerbau war oben das Stadtgericht untergebracht und unten gab es fünf Scharren. Das sind die mittelalterlichen, im Erdgeschoss untergebrachten Verkaufsstände, hier die der Bäcker und Metzger.
Im Zentrum des Marktplatzes steht ein moderner Brunnen mit Darstellungen, die auf die Geschichte der Stadt Bezug nehmen, darunter das Höxter Blutbad. Die (chronologisch) letzte Darstellung zeigt Flüchtlinge, die in die Stadt kommen, Vater, Mutter, Kind, direkt auf den Betrachter gerichtet, mit ausdruckslosen Gesichtern. Das ist nicht die Flüchtlingswelle unserer Zeit, sondern die der Nachkriegszeit. Da kamen unvergleichlich mehr Flüchtlinge hierher als heute.
Etwas abseits steht die Kilianskirche, benannt nach einem iroschottischen Missionar. Sie hat eine einfache Doppelturmfassade. Der eine Turm, etwas niedriger und mit einem Hahn bekrönt, gilt als der Gemeindeturm, der andere, mit einem Adler bekrönt, als Stadtturm.
Der Raumeindruck innen ist nicht berauschend, aber es gibt schöne Ausstattungsstücke, darunter eine Alabasterkanzel und eine alte Geldtruhe mit Eisenbeschlägen.
Ich genehmige mir ein Eis auf der Hand und treffe auf eine moderne Skulptur. Eine alte Frau mit Krückstock und krummer Nase winkt ein Mädchen und einen Jungen zu sich. Das sind Hänsel und Gretel! Wir befinden uns auf der Deutschen Märchenstraße. Der Finger, mit dem die Hexe die Kinder zu sich ruft, ist ganz abgegriffen.
Die Beschilderung im Ort ist die reinste Katastrophe. In meiner Not fahre ich den allgemeinen Verkehrsschildern nach Richtung Corvey, auf einer baumbestandenen Allee, schön, aber ohne Radweg. Nach Corvey, von dem ich nur die Begrenzungsmauern zu sehen bekomme, wird es richtig schlimm. Jetzt gibt es keine Bäume mehr und nicht einmal einen abgetrennten Randstreifen. Wohnmobile und Sattelschlepper fahren an mir vorbei, andere Autos habe ich im Nacken, weil sie nicht überholen können. Großes Aufatmen, als ein Radwegschild in Sicht kommt, auch wenn es einen auf einen schattenlosen, unschönen Weg schickt. Das Schild ist eins von den blöden Schildern mit einem grünen Rad, ohne Angabe von Zielorten oder Entfernungen. Wie anders war letztes Jahr die Beschilderung des Radwegs in Belgien!
Dann kommt kurz die Weser in Sicht. Jugendliche auf einem Paddelboot mit einem Schlauchboot als Beiboot winken mir übermütig zu und grölen vor Freude. Dann kommt ein Viererkajak. Mit wunderbar gleichmäßigen Bewegungen gleitet das Boot den Fluss entlang.
Am Wegesrand tauchen immer wieder Bienenkörbe auf. Sie sehen aus wie bunte, aufeinandergestapelte Schubladen mit Griffloch.
Es wird immer heißer, die Kräfte schwinden. Der in der Ferne auftauchende, spitz zulaufende Kirchturm von Holzminden dient mir als Ansporn, und als ich dort ankomme, nehme ich ein fernes Grummeln als Indiz für ein aufkommendes Gewitter und als Rechtfertigung für die Beendigung der Tagesstrecke.
Am Ortseingang sehe ich ein Plakat, das auf ein Schäfer- und Hute-Treffen im September hinweist und ein Schild, auf dem von einer Sperrung des Weserradwegs die Rede ist. Aber damit beschäftige ich mich morgen.
Im Touristenbüro vermittelt man mich an die Pension Weseraue. Sie selbst ist zwar voll besetzt, aber sie vermietet auch Zirkuswagen als Übernachtungsstätten. Einen davon buche ich.
Die Vermieterin ist Bolivianerin. Sie kennt Trier und den Austausch des Bistums mit Bolivien, vor allem aus Sucre, ihrem Studienort. Aber Trier sei in Bolivien überall vertreten, sagt sie.
Sie drückt mir einen Schlüssel in die Hand und beschreibt mit ein paar vagen Worten den Weg zum Zirkuswagen. Es wird eine lange Suche, immer wieder komme ich aus dem Viertel hinaus, ohne die Wagen gesehen zu haben. Wo immer ich frage, keiner weiß Bescheid. Aber dann kommt eine junge Frau mit Kind im Kinderwagen. Sie macht sich unendliche Mühe, und mit ihrer Hilfe finde ich endlich mein Ziel.
In einem etwas abseits der Straße gelegenen grünen Grundstück stehen drei baugleiche Zirkuswagen. Der Wagen hat alles, was man braucht, aber die Luft steht drin und die Sonne brennt weiterhin ungehindert auf das Dach.
Ich mache noch einen kleinen Spaziergang ins Zentrum, um Wasser zu kaufen, wieder in einem türkischen Laden. In der Fußgängerzone sehe ich einen Blumenladen, der Blattlaus heißt.
27. August (Dienstag)
Beim Frühstück gibt es angeregte Gespräche unter Radfahrern über Strecken, Pannen und Vorhaben. Der Aufenthalt in der Pension endet mit einem Misston, weil mir mehr abgeknöpft wird (50 €), als in der Touristeninformation angekündigt.
Jetzt gilt es, sich mit der Streckensperrung auseinanderzusetzen. Auf dem Sperrschild steht, man solle den Weg über Stahle nehmen, aber Stahle ist nirgendwo ausgeschildert. Ich nehme das Handy zur Hilfe und komme einigermaßen unbeschadet weiter. Holzminden verlässt man über die Weserbrücke mit dem Keiler auf der einen und dem Pferd auf der anderen Seite.
Dann geht es über die gewohnten landwirtschaftlichen Wege, dann an der Bundesstraße entlang. Wieder scheint es ständig bergauf zu gehen, und ich muss wieder von Zeit zu Zeit schieben. Der Glaube an die Existenz flacher Radstrecken ist mir abhanden gekommen.
Dann kommt Polle. Hier geht es mit der Fähre auf die andere Seite. Warum die ganze Strecke selbst fahren, wenn man sich fahren lassen kann? Zumal der freundliche Fährmann für die Überfahrt mit Fahrrad gerade mal einen Euro berechnet.
Rechts kommt ein still stehendes Gewässer in Sicht, ein toter Seitenarm der Weser vielleicht. Dort war früher ein Kieswerk, wie mir ein einheimischer Radfahrer flüsternd anvertraut, das man jetzt in ein Biotop, In den Eichen, verwandelt hat. Flüsternd, weil er die Enten nicht stören will, die um die knorrigen Bäume im Wasser herumschwimmen.
Die Weser gibt sich links kurz ein Stelldichein, um gleich wieder zu verschwinden. Gelegentlich erahnt man sie in der Ferne, vor den grauen, mächtigen, baumbestandenen Felsen, da muss sie wohl sein. Aber meist wird sie ohnehin von den Maisfeldern verdeckt.
Man hat fast immer Felsen oder Berge zu einer Seite, wenn auch in der Ferne, und auf der anderen Seite eine Ebene. Hin und wieder findet ein Seitenwechsel statt.
Endlich komme ich nach Bodenwerder, der Münchhausen-Stadt. Es ist 11 Uhr, und ich habe immerhin 30 Kilometer geschafft.
Es geht an einem großen Zementwerk vorbei. In einem Supermarkt vor der Stadt versorge ich mich mit reichlich Wasser und fahre weiter Richtung Hameln, erst an der Landstraße entlang, dann durch den Wald, dann auf einem Radweg, tatsächlich an der Weser entlang. Auf der rechten Seite steht an einem Rastplatz eine Skulptur, mannshohe weiße Figuren von Männern, die ein Tau über die Schulter gespannt haben. Sie tragen Stiefel oder Holzschuhe und haben entblößte Oberkörper. Es sind offensichtlich Treidler, im lokalen Jargon Hüossen. Aber warum haben sie eine Katze im Schlepptau, und warum sind ihre Gesichter so verzerrt? Das erklärt die Geschichte, die hinter der Skulptur steht. Ein paar Treidler stahlen einem Wirt einen Hasen aus dem Backofen. Beim nächsten Mal setzte er ihnen aus Rache eine Katze vor. Sie ziehen jetzt durch die Gegend und miauen wie eine Katze. Der Ort heißt Kattenhagen.
Kurz vor Hameln kommt eine verlockend aussehende Gartenwirtschaft: Dienstag Ruhetag. Just my luck.
Ich fahre nach Hameln rein. Vor dem Rattenfängerhaus steht eine Menschenmenge mit gezückten Kameras. Es läuft gerade ein Figurenspiel, das die Geschichte des Rattenfängers nachspielt. Alle sehen gebannt hoch. Später, als das Spiel vorbei ist, ist der Platz wie leergefegt, als ob es hier nichts mehr zu sehen gäbe.
An einem Stand gibt es ein Stück Pizza auf die Hand, kein kulinarisches Highlight, aber immerhin, groß genug ist sie. Und kostet 2,50 €. Eine kleine Flasche Wasser kostet 2 €. Ich finde das völlig unverhältnismäßig. Ich weigere mich und finde in einem Billigladen Getränke. Das Wasser ist zwar ausgegangen, aber es gibt warmen Eistee mit Pfirsichgeschmack. Göttlich!
Um aus Hameln hinauszukommen, wieder das alte Dilemma, eine völlig undurchsichtige Beschilderung. Einmal ist Rinteln ausgeschildert, dann gibt es keine Schilder, dann Hessisch-Oldendorf, dann andere Orte, aber nicht Rinteln. Von Bremen oder Cuxhaven ganz zu schweigen. An einer Häuserwand fährt ein rotes Rad geradeaus, ein anderes biegt rechts ab. Was soll man damit anfangen? Inzwischen bin ich einmal ganz um die Stadt herumgefahren und komme wieder da aus, wo ich vorher mein Fahrrad abgestellt habe.
Hinter Hameln kommt eine Bundesstraße, dann eine Landstraße. Kein Radweg mehr. Von der Weser keine Spur. Habe mir vorgenommen, es bis Hessisch-Oldendorf zu schaffen, aber es zieht sich.
In welchem Bundesland liegt Hessisch Oldendorf? Wenn man die Frage so stellt, liefert man schon einen Teil der Antwort mit: nicht in Hessen. Es liegt tatsächlich in Niedersachsen. Auch Hameln und Rinteln liegen in Niedersachsen, nicht, wie ich dachte, in Nordrhein-Westfalen. Hessisch Oldendorf war früher ein Teil von Hessisch-Nassau. Daher der Namenszusatz. Der hat den Zweck, es von den vielen anderen Oldendorfs zu unterscheiden. Davon gibt es eine ganze Menge. Fast alle liegen in Norddeutschland.
Da sich in Hessisch Oldendorf keine Unterkunft anbietet, fahre ich weiter, durch eine wenig abwechslungsreiche, flache Landschaft. An einem Rastplatz sind Schilder mit Erklärungen zur Landschaftsformation aufgestellt. Die Hügel, die man hier sieht, stammen aus vorgeschichtlichen Zeiten, als die Weser breiter und wasserreicher war. Die Hügel formierten sich, als die Weser sich ins Tal zurückzog. Auf dem Schild daneben die Frage aller Fragen: “Wo ist die Weser?” Die Frage stelle ich mir schon seit drei Tagen.
Immer weiter geht es durch die einsame Landschaft. Der Mund trocknet ständig aus. An einem abgelegenen Bauernhaus ein unbemannter Stand unter einem Sonnenschirm. Hier kann man sich bedienen. In einer Kasse kann man seinen Obolus hinterlassen. Eine tolle Geste, und gerne kommt man der Aufforderung nach, sich ins Gästebuch einzutragen. Es gibt alles von Kaffee bis Energy-Drinks. Ich trinke trotz der Hitze einen Kaffee. Der tut gut.
Als die Kilometerangaben nach Rinteln einstellig werden, steht mein Entschluss fest. Das schaffst du noch. Am Wegesrand ein großes Plakat mit der Telefonnummer eines Hotels im Zentrum der Stadt, das für Radfahrer geeignet ist. Besser reservieren. Ich rufe an. Das Handy sagt: “Diese Nummer ist uns leider nicht bekannt.” Just my luck.
Dann kommen die Außenbezirke von Rinteln: Fabriken, Tankstellen, Werkstätten, Einkaufszentren. Und dann Aufatmen, als es in die historische Altstadt geht. Das besagte Hotel hat tatsächlich noch ein Zimmer frei, die Lage ist perfekt. Und sie haben einen eigenen Unterstand für das Fahrrad hinter dem Haus. Es ist die teuerste Unterkunft auf meinem Weg, 72 €, aber für die Lage und den Komfort absolut in Ordnung.
An der Rezeption eine Radfahrerin, die aussieht wie aus dem Ei gepellt. Ja, sie wären schon im Freibad gewesen. Sie hätten all das mit in der Planung. Klarer Pluspunkt. Sie spricht mir aus der Seele, als sie sagt: “Unglaublich, wie viel man trinken kann, ohne zur Toilette zu gehen.” Sie zeigt sich sehr angetan von der Landschaft des Weserradwegs. Wie die meisten.
Als ich kurz nach 5, frisch geduscht, aus dem Hotel gehe, ist es immer noch 32° warm. Apotheke, türkischer Laden, Kaffee auf dem Marktplatz. Die reinste Erholung.
Wieder grummelt es in der Ferne und der Himmel ist gescheckt, aber wieder tut sich nichts, bis auf ein paar Tropfen später am Abend.
Der langgestreckte Marktplatz ist ein Schmuckstück, mit sehr schönen Häusern. Vor dem Bürgerhaus an der Stirnseite des Platzes steht ein Nachtwächter, mit Schlapphut und Laterne. Welche Bedeutung er für Rinteln hat, bleibt unklar.
Die Stadtkirche, romanisch-gotisch, mit barockem Turmhelm, steht merkwürdig versetzt ein bisschen abseits des Platzes. Davor, aber auf dem Platz, der Ratskeller, das bedeutendste zivile Gebäude der Stadt, ein steinsichtiges Haus mit Treppengiebel. Die anderen Häuser sind meist Fachwerkhäuser, einige schlicht, einige so prächtig wie in Hameln oder Höxter. Alles sehr schön, auch die Inschriften sind schön. Man sollte sie aber nicht lesen.
Auch auf dem Marktplatz eine Wirtschaft mit dem Namen Marktwirtschaft, und in der Fußgängerzone ein Bioladen mit dem Namen Querbeet.
Einige der Schriftzüge in den Geschäftsnamen wecken Erinnerungen an die Kindheit, wie Afga oder Pelikan. Am Marktplatz haben noch zwei Geschäfte solche altmodischen Schriftzüge mit den Namen der Inhaber. Diese Geschäfte stehen leer.
30. August (Mittwoch)
Im Hotel gibt es ein frühes Frühstück. Sofort danach mache ich mich auf den Weg, um die kühlen Morgenstunden auszunutzen.
Um aus Rinteln hinauszukommen, nehme ich das Handy zu Hilfe. Das Problem: Die Karte auf dem Display stimmt nicht mit der Ansage überein, und keine von beiden mit meinem tatsächlichen Standort und den Straßennamen. Ich versuche, irgendwie aus der Innenstadt hinauszukommen und fahre der Beschilderung nach. Aber das ist nicht so einfach: Mal ist Minden, mal Bückeburg, mal Oeynhausen, mal Porta Westfalica ausgeschildert.
Irgendwie klappt es, die grobe Richtung stimmt. Es geht mal wieder über eine Bundesstraße, dann über eine Landstraße, ohne Seitenstreifen, aber nicht viel befahren. Ich komme durch Eisberge. Dort ist es 21° warm. Morgens um acht!
Immer weiter geht es, meist mühsam bergauf. Statt der Weser überquert man die Autobahn. In einem kleinen Ort biegt der Radweg dann unvermittelt ab, ohne Angabe des Ziels. Ich irre durch den Ort, nehme dann das Handy zur Hilfe. Das schickt mich ein paar mal um die Ecke und dann eine ganz steile Straße hinunter. Sie endet in einer Sackgasse. Um wieder zurückzukommen, muss ich schieben.
Dann fahre ich der Beschilderung für die Autos nach. Es folgt eine gloriose Abfahrt, mehrere Kilometer mit mehr als 30 km/h, ohne einmal in die Pedale zu treten. Anfangs habe ich einen Bus hinter mir. Das ist mir nicht ganz geheuer, aber dann gibt es eine Spur für Fahrräder und ich kann die Fahrt einfach genießen.
Es geht runter bis an die Weser. Auf der anderen Seite des Flusses, am Berghang, ein Denkmal, und ich weiß, wo ich bin: Porta Westfalica.
Zum dritten Mal heute sehe ich die Weser, immer unter einer Brücke. Bis Minden geht es über einen schönen, baumbestandenen Radweg, der in Minden am Glacis weitergeführt wird, das ich von früheren Besuche kenne, genauso wie die Schiffsmühle. Es ist eine der schönsten Passagen des Radwegs. Leider ist das Lokal gegenüber der Schiffsmühle, das auch Schiffsmühle heißt, noch geschlossen.
Am anderen Ende von Minden führt der Weg an der Schachtschleuse vorbei, und dann folgt eine flache Strecke direkt an der Weser entlang. Genauso, wie man es sich vorstellt, wenn von Weserradweg die Rede ist.
Der Weg führt nach Petershagen, einer gemütlichen Kleinstadt. Es ist erst zehn Uhr, als ich hier ankomme. Ein Café lädt Radfahrer zur Rast ein. Die jungen Frauen hinter der Theke sind eine freundlicher als die andere. Ich kann mich nach draußen in den Schatten setzen und bekomme auf Kosten des Hauses ein Glas Wasser mit einem Spritzer Zitrone drin, und am Ende noch eins.
Überall in dem Ort sieht man moderne Skulpturen, darunter ein Storchennest inmitten eines Kreisverkehrs.
Gleich nebenan ist ein riesiger Supermarkt. Ich rüste mich mit Eiscafé, Ayran und Wasser aus. Am Ende ist Wasser immer das Beste.
Hinter Petershagen verschwindet die Weser wieder. Der Weg ist schön, aber man muss höllisch aufpassen, um nicht eins der vielen kleinen Schilder zu übersehen, die einem den Weg weisen, wie das zwei Frauen vor mir tun, die fröhlich plaudernd geradeaus fahren.
Auf einer Weide Schafe, die trotz der Hitze mitten in der Sonne stehen. Nur zwei haben sich in eine schattige Ecke unter einen Baum zurückgezogen, aber sie kuscheln sich eng aneinander, damit ihnen nicht kalt wird.
Ich komme nach Buchholz und mache eine Trinkpause an einem wunderbaren, lauschigen Platz auf einer Bank direkt vor der Kirche, unter einer riesigen Eiche. Man möchte am liebsten gar nicht mehr aufstehen.
Es geht an einem Baggersee vorbei. Am Ufer steht ein Transporter des Kanuverleihs Bootswana.
Weiter geht es, durch die pralle Sonne, bis Stolzenau. Dort gibt es einen prächtigen Biergarten. Große Sonnenschirme spenden Schatten. Es ist voll, hier scheinen alle Gäste Radfahrer zu sein. Die Bedienung ist sehr freundlich. Es gibt Wasser und einen riesigen Salat mit einer Rekordzahl an Zutaten: Möhren, Paprika, Radieschen, Eier, Thunfisch, Hähnchen, Zucchini, Pilze, Johannisbeeren, Käse.
Dann kommt wieder Ödnis. Landstraße. Zum x-ten Mal überquere ich die Weser. Jeder Aufstieg zur Brücke ist eine zusätzliche Anstrengung, belohnt wird man durch den frischen Seitenwind oben auf der Brücke. Auch eine weitere Schleuse kommt in Sicht. Man sieht das Schiff, aber man sieht die Weser nicht.
In Estdorf hängt an einem Rastplatz eine Karte der Umgebung. Da ist die Weser gar nicht drauf! Die kennen die hier gar nicht.
Ich schaffe es nur bis Nienburg. In der Touristeninformation empfiehlt man mir eine Privatunterkunft. Um dahin zu kommen, muss ich mal wieder die Weser überqueren. Dabei sehe ich, dass es hinter Nienburg wieder eine Streckensperrung gibt. Das kommt morgen auf mich zu.
Die Tür der Unterkunft wird geöffnet von einem älteren Mann. Der sieht mich unverwandt an, bewegt sich nicht, und reagiert nicht auf das, was ich sage. Dann kommt plötzlich: “Wie kann man nur bei dem Wetter Radfahren?” Er hat einen etwas bizarren Sinn für Humor.
WLAN gibt es nicht: “Ging früher auch ohne.” Na ja, ging früher auch ohne Kanalisation. Aber dieser Kommentar gefällt ihm wohl nicht.
Es grummelt, aber er ist sich in seiner Wetterprognose ganz sicher: “Das zieht alles vorbei. Wir kriegen mal wieder nichts mit.” So ganz Recht behalten sollte er da nicht. Es regnet am Abend, es regnet in der Nacht, es regnet am Morgen.
Vorher habe ich aber noch Zeit, mir die hübsche Altstadt anzusehen. An einem Ende der zentralen Straße eine Skulpturengruppe, in der es um Spargel geht. Verschiedene Phasen des Verarbeitungsprozesses werden dargestellt. Nienburg ist offensichtlich eine Spargel-Hochburg.
An einem der Fachwerkhäuser lese ich eine interessante Erklärung: Eine glückliche Serie guter Erntejahre in der frühen Neuzeit hatte der Stadt Wohlstand gebracht, daher die prächtig aussehenden Fachwerkhäuser der Altstadt. Bei diesem speziellen Haus, heißt es, ließen Größe und Ausstattung darauf schließen, dass es sich um ein Patrizierhaus handelt, ein Haus von Kaufleuten oder Handwerkern, die hier sowohl lebten als auch arbeiteten. Und die Fassade lässt gleichzeitig auf die Gesinnung des Eigentümers schließen. Die kommt in der schlichten Buchstabenfolge VDMIE zum Ausdruck, die gleich hinter der Jahreszahl, 1541, erscheint. Das steht für Verbum Domini Manet In Eternum. Das war die Losung von Philipp dem Großmütigen und des von ihm gegründeten Schmalkaldischen Bundes. Der Hausherr outet sich also als Protestant!
In einer Seitenstraße findet sich ein ebenfalls schönes, aber schlichteres Fachwerkhaus. Das war nicht das Haus eines Kaufmanns oder eines Handwerkers, sondern das eines Ackerbürgers. Die besonders breite Pforte ist hier das wichtigste Indiz: Durch diese Pforte verließ das Vieh das Haus. Und kehrte wieder zurück. Dieses Haus stand nahe des Stadtwalls, wie die anderen Häuser der Ackerbürger auch, damit das Vieh morgens aus der Stadt getrieben werden konnte, ohne den allgemeinen Verkehr zu behindern.
Zufällig stoße ich in dieser Seitenstraße auch auf das mexikanische Lokal, das mir der Vermieter empfohlen hat. Nix wie rein! Die junge Kellnerin versteht kein Spanisch. Sie ist kurdische Syrerin. Oder syrische Kurdin. Auch Koch und Betreiber sind Syrer und noch nie in Mexiko gewesen. Vermutlich hat noch nie ein Mexikaner das Lokal betreten. Und wenn, dann dürfte er überrascht sein, dass so was als mexikanische Kost durchgeht. Nicht, weil es nicht schmackhaft wäre, sondern einfach deshalb, weil es nicht scharf genug ist.
29. August (Donnerstag)
Ich habe extra auf das Frühstück verzichtet, um früh aufbrechen zu können, aber es schüttet nur so und so sitze ich auf gepackten Koffern in meinem Zimmer und sehe dem Regen zu, wie er runterfällt. Der Vermieter ist sich ganz sicher: “Das bleibt den ganzen Tag so. Kein Wind.” Sein Vertrauen in seine eigenen Wetterprognosen ist ungebrochen.
Da Warten auch keine Lösung ist, stürze ich mich einfach ins Vergnügen. Trotz bizarr falscher Beschilderung – der Pfeil für die Umleitung zeigt auf die andere Seite der Brücke, dort, wo die Strecke gesperrt ist – finde ich gut aus Nienburg heraus.
Der Weg ist schöner als in den letzten Tagen, vor allem das satte Grün der Wiesen tun dem Auge gut. Es geht durch Dörfer mit großen Gehöften, Bauten aus rotem Backstein mit breiten Pforten und Verzierungen an der Fassade. In einem Neubaugebiet hat jemand vor dem Haus ein Autowrack hochgebockt, ein anderer hat einen Basketballkorb an der Hauswand angebracht in den französischen Nationalfarben.
Am Rande einer größeren Straße werde ich Zeuge eines “unbemannten” Müllfahrzeugs. Das Fahrzeug hält, fährt seine seitlich angebrachten Fühler aus, hebt die Mülltonne, leert sie und stellt sie wieder an ihren Platz. Ohne, dass jemand einen Muskel bewegt hat.
Hier hört plötzlich die Beschilderung auf. Scheint mir jedenfalls. Dann entdecke ich auf dem Straßenpflaster einen verblassten Pfeil. Der schickt mich über die Landstraße. Ich folge den Pfeilen um mehrere Ecken und gerate in einen dichten Wald, mit Schotterwegen, sacht, aber beständig ansteigend.
Die Kleidung klebt inzwischen am Körper, und die Luft fühlt sich kalt an.
Am Ausgang des Waldes kommen dann wieder Schilder. Hoya, mein Ziel, ist verloren gegangen. Dafür erscheint Scheringen, in kurzer Distanz. Da war ich vor einer Stunde schon mal.
Dort in der Bäckerei werde ich trotz meiner Erscheinung freundlich empfangen. Die Bäckersfrau empfiehlt mir, einfach der Landstraße nach zu fahren. Die führt schnurstracks geradeaus und hat einen abgetrennten Streifen für Radfahrer. Der Regen hält unvermindert an.
Im Allgemeinen ist der Weserradweg gut asphaltiert. Es gibt nur kleinere Abschnitte mit Schotter, Waldboden oder Kopfsteinpflaster. Da ist bei diesem Wetter allerdings Vorsicht geboten. Ich fahre aber mit kindlichem Vergnügen durch die Pfützen, die sich hier und da gebildet haben.
Als ich nach Hoya komme, hört es auf zu regnen. Nachdem mein Handy entschieden hat, welchem der beiden identischen Räder auf den Schildern ich folgen soll, schiebe ich mein Rad durch die Innenstadt. Hier ist Markt. Am Rande sehe ich eine Buchhandlung mit dem Namen Leserei.
Das Handy kalkuliert eine Stunde für die gut zwanzig Kilometer bis Verden. Das ist zu optimistisch. Einen Schnitt von 20 km/h habe ich in all den Tagen noch nicht erreicht. Zu viele Steigungen, zu viele Unklarheiten, zu viele Abbiegungen, zu viele Trinkpausen.
Kurz hinter Hoya fahre ich an zwei jungen Frauen vorbei, die sich angeregt unterhalten. Die eine sagt zur anderen: “Das war eine bodenlose …”. Das nächste Wort bekomme ich schon nicht mehr mit, aber ich weiß, was es ist. Es gibt nur eine Möglichkeit. Erstaunlich, über welches Wissen man als Muttersprachler verfügt. Und das steht in keiner Grammatik, keinem Lehrbuch.
Dann sehe ich die ersten Radfahrer des Tages, eine Viererbande, zwei Frauen, zwei Männer. Sie sind schneller als ich, machen aber öfter Pause, so dass wir uns immer wieder überholen. Als ich auf einer Parkbank mit Blick auf die Weser Halt mache, kommen sie von hinten. Eine der Frauen ruft aus: “Die Weser!” Sie ist genauso überrascht wie ich.
Die Landschaft ist inzwischen dezidiert norddeutsch geworden, flach und grün mit Deichen. Auf einem Deich liegen Kühe und widmen sich dem Wiederkäuen.
Vor dem Ortseingang nach Verden überquert man eine Brücke. Aber das ist nicht die Weser. Das ist die Aller. Verden hatte schon im Mittelalter eine Brücke, die erste schriftliche Erwähnung stammt von 1220. Die Brücke wurde durch Eisgang, Hochwasser und Kriege immer wieder zerstört.
Verden hat nichts mit Werder zu tun und erst recht nicht mit Pferden, sondern mit Furt. Die befand sich hier, an einer Stelle des Handelswegs von Skandinavien nach Mitteleuropa.
Verden bestand lange Zeit aus zwei Herrschaftsgebieten, der Norderstadt und dem Süderende, einem weltlichen und einem kirchlichen Herrschaftsgebiet. Die lagen ständig im Clinch miteinander. Sie wurden dann unter der schwedischen Regentschaft vereinigt, 1667.
Die verbleibende Strecke nach Bremen ist zu weit und ich vertage den Abschluss. Außerdem wird es guttun, aus den nassen Klamotten rauszukommen. Wieder gibt es eine Privatunterkunft, wiederum bei einem Witwer. Dessen Grundstück liegt auf dem Gelände einer ehemaligen Gärtnerei. Das erklärt, warum es so groß ist. Auch hier ist der Preis mit 45 € moderat, Frühstück und WLAN inbegriffen.
Es bleibt reichlich Zeit für die Stadt. Deren Struktur spiegelt die Geschichte wider, mit dem Rathaus an dem einem und dem Dom an dem anderen Ende einer ungewöhnlich breiten, ungewöhnlich langen Straße. Das ist die Straße, die die beiden ehemaligen Städte miteinander verband.
Auch wenn Verden nichts mit Pferden zu tun hat, sind die hier überall präsent, auf den Koppeln vor der Stadt, als Figurengruppe in der Fußgängerzone, oben am Giebel der Häuser, in Form des Pferdemuseums (mit einem Exemplar des katzengroßen Urpferds) und in den Konditoreien als Verdener Pferdeäpfel.
Das Rathaus hat eine schöne Fassade und einen dahinter aufragenden, klobigen Turm aus späterer Zeit, der nicht zu der Fassade passt. Der sollte irgendwann mal abgerissen werden. Aber das ließen die Verdener nicht mit sich machen. Dieselben Leute hätten damals vermutlich auch gegen den Bau des Turm protestiert.
Die Stadtkirche, ein roter Backsteinbau, verschiedene Bauphasen, aber im Prinzip gotisch, hat einen schönen Turm, eine schönes, tief heruntergezogenes Dach und schöne Verzierungen um Türen und Fenster herum, ganz einfach, mit abwechselnd roten und schwarzen Steinen.
Die Kirche ist für ihre Breite nicht hoch und nicht lang genug. Das merkt man aber erst, wenn man reingeht. Die Ausstattung ist reich und reichlich heterodox. Auffällig ein Stuckrelief an der Chorwand, ein Jüngstes Gericht.
Draußen auf dem Kirchhof die aufrecht stehende Steinplatte des Grabmals eines Mannes (“gebohren 1658”), der als Wandschneider bezeichnet wird.Wand steht hier für Gewand. Die Verwandtschaft der beiden Wörter ist mir noch nie aufgefallen. Hat vermutlich was mit winden zu tun.
Am entgegengesetzten Ende der großen Straße, die tatsächlich Große Straße heißt, befindet sich der Dom. Auf dem Weg dorthin komme ich am Zugvogel vorbei, einem Laden für Outdoor Kleidung und an einem Geschäft für Kinderkleidung mit dem Namen Deerns und Butjer. Später sehe ich in einer Seitenstraße einen Fahrradladen mit dem Namen Räderei.
In das Innere des Doms gelangt man nicht direkt, sondern an einem Kreuzgang vorbei. An der Stirnwand des Ganges, der in die Kirche führt, sind (nicht ganz komplett erhaltene) Figuren der vier weltlichen und der drei christlichen Tugenden angebracht. Die gehören streng genommen nicht zum Dom, sondern zu der ihm angeschlossenen Domschule. Das dürfte Terrakotta sein. Spes ist mit einem Anker dargestellt, Caritas mit Kindern. Fides sieht aus wie ein schwangerer Mann mit einer großen, vertikal verlaufenen Narbe über den ganzen Oberkörper. Da gehörte ursprünglich mal das Kreuz hin.
Der Dom war bis zur Reformation Bischofssitz, danach Residenz protestantischer Fürstbischöfe.
Von Ferne hört man Musik aus der Kirche. Kaum vorstellbar, dass jetzt Gottesdienst ist. Vorsichtig öffne ich die Tür. Kein Problem. Es wird geprobt für ein Konzert. Orgel und Posaunenquartett. Triumphale Musik, die immer wieder auch von leiseren Passagen unterbrochen wird. Ich setze mich in eine Bank, genieße und denke an nichts.
Als die Probe zu Ende ist, sehe ich mich ein bisschen um. Kein Kirchenraum, der einen gefangen nimmt. Aber ein ganz besonderes Ausstattungsstück fällt mir auf: ein Levitenstuhl. Was mag das sein? Offensichtlich der Sitz dessen, der der Gemeinde “die Leviten liest”, des Priesters, mit Platz für seine beiden Konzelebranten an seiner Seite, ein Dreiersitz. Der Sitz ist aus Eiche und hat einen Aufbau mit spätgotischem Schnitzwerk – an den Seiten, an der Rückwand, unter der Bedachung. Zwischen Maßwerk und Blattkapitellen eine Fülle von Figuren, die man oft erst auf den zweiten Blick sieht, auf der einen Seite biblische Figuren im Doppelpack, auf der anderen Figuren der mittelalterlichen Gesellschaft im Doppelpack. Und dann entdeckt man allmählich Tiere: Lamm, Phönix, Frosch, Pelikan, alle von symbolischer Bedeutung.
Genug der Besichtigung. Zeit fürs Essen. In einem italienischen Lokal gibt es, von einem blasierten Kellner serviert, einen guten Primitivo und Pasta, die die Schärfe haben, die den Tacos gestern fehlte.
Am Nebentisch sitzt ein Radfahrertrio. In dem Gespräch fallen in kurzem Abstand die Wörter Radtour und langweilig, aber auch Main und reizvoll.
30. August (Freitag)
Ich bin früh auf den Beinen, so früh, dass mir Kinder auf dem Weg zur Schule entgegenkommen. Sie sehen eher gut bürgerlich aus, vermutlich Schüler der Domschule.
Als ich stehenbleibe, um von der Stadtsilhouette in Morgensonne und Morgendunst ein Photo zu machen, lässt mir ein Lastwagenfahrer, der mich bemerkt hat, extra eine Lücke zum Photographieren. Danke! Es wird das stimmungsvollste Photo der Fahrt.
Der Gastwirt hat mir gesagt, ich solle einfach den Wall entlang bis zum Kreisverkehr fahren. Da sei dann alles ausgezeichnet beschildert. Wie zu erwarten war, gibt es am Kreisverkehr kein einziges Schild, jedenfalls nicht für Radfahrer. Ich konsultiere das Handy, und das schickt mich zurück über die Aller. Kilometerweit geht es Richtung Hoya, dahin, wo ich gestern war, aber dann kommt die Abbiegung und ich fahre weiter geradeaus, mit nicht ganz klarem Ziel.
Es geht mal wieder eine Landstraße entlang. Als ich an einer Kreuzung absteige, um mich zu orientieren – das Handy hat inzwischen seinen Geist aufgegeben – hält ein freundlicher Radfahrer mit Hund neben mir und bietet seine Hilfe an. Er identifiziert unseren Standort auf der Karte. Ich kann abbiegen oder geradeaus fahren, beides führt zum Ziel. Ich sage ihm, ich wolle an der Weser entlang fahren. Weser? Nee, die ist hier nicht, auf keinem der beiden Wege.
Ich biege ab, Richtung Instetten, weil die Straße etwas gemütlicher aussieht. Dort angekommen, scheint mir Daverden die beste Lösung zu sein, aber derselbe Weg führt auch nach Verden – wo ich herkomme. Als ich an eine Kreuzung komme, bin ich nur noch zehn Kilometer von Verden entfernt, obwohl ich schon achtzehn gefahren bin.
Jetzt ist die Beschilderung aber klar. Es geht über Feldwege, immer geradeaus. Heute scheint überhaupt niemand unterwegs zu sein auf dem Rad. Es ist kühl, 17°, aber gut zum Radfahren.
Auf einer Weide grasen Kühe, katholische (die schwarz-weißen) und evangelische (die braun-weißen) friedlich zusammen.
Dann kommt lautes Vogelgezwitscher. Aber wo sind die Vögel? Kein Baum zu sehen. Dann entdecke ich sie auf einem Strommast. Stare. Sie sitzen auf allen Verstrebungen, zu Hunderten. Dann kommt eine ganze Kohorte angeflogen und setzt sich, und im gleichen Moment lassen sich andere im Tiefflug von den Masten fallen, als wenn sie nicht fliegen könnten.
Die Kräfte schwinden, die Motivation auch. Immer wieder muss ich aus dem Sattel steigen, weil ich nicht mehr sitzen kann. Jede Steigung ist mühsam, und selbst auf flacher Strecke steige ich manchmal ab und schiebe. Ich bin platt, geschlaucht, gerädert.
Ein Kaffee ist mir nicht vergönnt, der Bollener Dorfkrug (“Gasthaus seit 1928”) ist noch geschlossen, und die weiteren auf der Strecke auch.
Dann kommt der gloriose Moment: Das erste Schild nach Bremen, nach 5 Tagen und 369 Kilometern, 18 Kilometer vor dem Ziel.
Ein als Kaffeetüte getarnter Silo einer Kaffeefabrik kündigt das Bremer Industrieviertel an: Lastwagen, Bauschutt, Schrottlager, Sattelschlepper, Schlote, Lagerhallen.
Dann wird es besser: Es geht auf einem Radweg, entlang einer mehrspurigen Straße, ins Stadtzentrum. Der Weg führt am Weserstadion vorbei (von dem Namen sollte man sich nicht irreführen lassen) und dann durch ein Studentenviertel zum Bahnhof. Dort endet der Radweg um zwölf Uhr Mittag, nach 387 Kilometern, mit dem festen Vorsatz, im nächsten Jahr wieder mit dem eigenen Rad vor der eigenen Haustür loszufahren.
Unter den drei Radtouren, die ich in den letzten drei Jahren unternommen habe, belegt der Weserradweg einen guten dritten Platz.