Mosel- Ruhrgebiet

29. August (Dienstag)

Früher Aufbruch, noch im Morgengrauen. Es ist kalt, kälter als in den letzten Jahren. Da hatte ich es mal mit Hitze, mal mit Wind, mal mit Regen zu tun, aber nie mit Kälte.

Nach zwei Kilometern steige ich zum ersten Mal ab: Licht an! Man sieht zwar gut, wird aber vielleicht nicht so gut gesehen.

Ich fahre nicht direkt zur Mosel runter, sondern auf  vertrauten Wegen nach Schweich. Das spart ein paar Kilometer, und Mosel gibt es während der Tour ja noch genug. Es geht durch Wohnviertel, durch ein Gewerbegebiet, durch Ruwer. Die letzten Kilometer vor Schweich geht es direkt an der Autobahn entlang. Aber ich werde durch den schönen Blick auf die Berge vor mir entschädigt, deren Kuppen im aufsteigenden Dunst liegen.

In Schweich geht es dann an die Mosel. Deren Oberfläche glänzt, sie scheint sich kaum zu bewegen.

Es ist einsam. Eine einzige Radfahrerin überholt mich, fährt an mir vorbei und verschwindet hinter der nächsten Kurve.

Ein Reiher hebt mit lautem Flügelschlag ab, ein paar Vögel zwitschern vereinzelt, irgendwo raschelt es im Gebüsch. Ansonsten ist es still.

Auf der anderen Moselseite Weinberge. Einer reiht sich an den anderen. In einen haben sie mit Kalk oder mit Steinen von oben nach unten den Namen Mehring eingeschrieben.

Es geht an Longuich vorbei, dessen schönen Ortskern ich vor ein paar Tagen erst entdeckt habe. Dann kommt der Campingplatz mit dem ungarischen Lokal, das ich schon immer mal ausprobieren wollte. Auf den Zeltplätzen bilden die Campingwagen mit den fest verbundenen, hohen Zelten eine Einheit. Es ist wie ein Haus. Worin der Reiz einer solchen Urlaubsgestaltung liegen soll, erschließt sich mir nicht.

Dann kommt der Alte Moselbahnhof, der inzwischen in einen Biergarten umgewandelt worden ist.

Dann kommen auch auf meiner Seite Weinberge. Die Trauben sind klein, aber hängen in dicken Trauben vom Rebstock hinab. Ein Winzer hat am Fuß seines Weinbergs Werbeprospekte ausgelegt.

Es geht durch Detzem. Der Ort verdankt seinen Namen den Römern. Er ist verwandt mit Dezimeter und benennt die Entfernung nach Trier: 10 römische Meilen.

Nach 25 Kilometern und gut anderthalb Stunden lege ich die erste Trinkpause ein.

Der Weg führt von der Mosel weg, es geht ein Stück steil bergauf. Hier stehen Weinfelder, ganz flach. Sie stehen zu beiden Seiten Spalier, auf der einen Seite gerade, auf der anderen schräg, als es wieder zurück zur Mosel nach Köwerich geht.

Dort geht es an der Bundesstraße entlang, aber auf einem abgetrennten Radweg. Hier gibt es ein paar Obstfelder, mit Apfelbäumen und einem Strauch mit dicken, knallgelben Zitronen.

Trittenheim mit seiner Kirche mit dem spitzen Turm liegt auf der anderen Seite. Zu beiden Seiten der Mosel steht ein Fährturm.  Zwischen diesen beiden Fährtürmen verkehrte früher eine Fähre, eine antriebslose Drahtseilfähre. Vor 100 Jahren gab es an der deutschen Mosel nur 14 Brücken, aber 45 solcher Fähren.

Um 9 Uhr habe ich die ersten 40 Kilometer hinter mir, kurz vor Neumagen. Hier steht mitten in einem Weinfeld eine kleine Kapelle, weiß, niedrig, fast quadratisch, mit einem spitzen Turm.

Der Name Neumagen erklärt sich, wie Dormagen und Remagen, aus dem alten keltischen Wort magos. Das bedeutete ‚Feld‘. Als die Kenntnis der keltischen Sprachen verloren gegangen war, konnten die Leute damit nichts mehr anfangen und formten den Namen im Laufe der Zeit um. Ein typisches Beispiel von Volksetymologie.

Der Radweg führt direkt durch Neumagen durch. An Straußenwirtschaften  und Cafés mangelt es hier nicht. Haben aber noch alle geschlossen. Das verlockend aussehende Dorfcafé hätte schon auf, wenn heute nicht Dienstag wäre: Ruhetag. 

Hinter Neumagen mache ich an einem rauschenden Bach noch mal eine Trinkpause. Es ist nicht mehr ganz so kalt, aber immer noch dunstig. Allmählich kommen die Leute aus ihren Löchern. Zahlreiche Radfahrer kommen vorbei, meist Paare, lauter Rentner.

Nach 50 km kommt Piesport. Die neue Brücke spiegelt sich mit ihrem Gewölbe im Wasser. Ich bin nicht der einzige, der für ein Photo anhält. Auf der anderen Seite steht in den Weinbergen der Name der bekannten Lage: Piesporter Goldtröpfchen.  

Danach geht es ein Stück steil rauf, und dann ein Stück an der Bundesstraße entlang, dann über Feldwege. Gedankenverloren fahre ich weiter. Irgendwo lese ich an einem großen Gebäude kletterhalle. Es ist aber kelterhalle.

In Wintringen finde ich endlich ein geöffnetes Café. Man kann auf der Terrasse vor dem Haus sitzen. Es ist noch kein anderer Gast da. Die Kellnerin versteht meine Frage erst nicht richtig. Polin? Ukrainerin. Ich bestelle Kaffee und Apfelkuchen und sie lässt sich auf ein kurzes Gespräch auf Russisch ein. Sie ist seit drei Jahren hier, lernte Deutsch in einem Sprachkurs. Das Aufnehmen der Bestellung geht gut auf Deutsch, und die Zahlen kann sie perfekt: 6,50 €. Aber ansonsten geht es auf Russisch besser. Sie hat keine Kinder, auch keinen Mann. Geschieden. Sie zeigt auf eine Narbe an ihrem Hals und sagt etwas von Operation. Aber ich verstehe nur die Hälfte. Ich verstehe aber, dass sie in die Ukraine zurück will. Warum? Zuhause sei eben Zuhause, sagt sie lapidar. Den Krieg erwähnt sie nicht. Ich auch nicht.

Um 10.30 geht es weiter. Der Routenplaner weist mir den Weg. Das System kann in der Sprachansage nicht zwischen Weg und weg unterscheiden: Folgen Sie dem weg 200 Meter.

Der Weg führt von der Mosel weg. Es geht über Feldwege weiter. An einem Weinstand, der auch jetzt schon von einigen frequentiert wird, steht: Zutritt nur mit tagesaktuellem Durst. Auf dem Feld nebenan steht ein Strohballen mit der Figur eines Radfahrers, der in den Strohballen gefahren ist. Sein Kopf guckt am anderen Ende heraus.

Eine schöne Durchfahrt gibt es durch Brauneberg, die Mosel links, Schieferhäuser rechts. Die Straßenschilder sind blau, mit Frakturschrift: Engels Gaass, Schnaaps Gaas. An einem Haus lese ich Schiefer Traum, es ist aber Schiefertraum.

In Brauneberg gibt es eine wiederhergestellte römische Kelteranlage. Die Römer bauten hier blaue und weiße Trauben an, heute werden nur noch weiße angebaut. Hier werde seit 1800 Jahren Wein angebaut, heißt es. Ob das stimmt? Hat man immer, auch nach dem Abzug der Römer, auch im Mittelalter, durchgehend Wein angebaut?

Nach 66 Kilometern kommt Bernkastel. Die Uferpromenade, wie immer, voller Autos, man kann von hier aus kaum erahnen, was für ein schöner Ort das ist. Die Ruine des Kastells, von dem der Ort seinen Namen hat, thront ganz oben auf dem Fels. Der Namensteil Bern ist irreführend, hat nichts mit Bern oder Bernstein zu tun, sondern mit Prim. Gemeint ist also das ‚Erste Kastell‘, das bedeutendste.

Weiter geht es, an der Sonnenuhr im Weinberg vorbei. Die Oberschenkel machen sich langsam bemerkbar, aber Kraft zum Weiterfahren habe ich noch. Nur das Sitzen wird immer ungemütlicher. Dann stellt sich heraus, dass die Strecke heute länger ist als erwartet, und zu allem Übel fängt es auch noch an zu regnen. Weiterfahren? Unterstellen? Einkehren? Ich bin unschlüssig, fahre erst mal weiter, kehre dann aber in die Kaffeemühle bei Zeltingen ein. Hier sitzt man geschützt unter großen Sonnenschirmen. Große Kuchenauswahl, darunter Rotkäppchen und Sekttorte, aber ich belasse es bei Kaffee und Wasser. Hier hat man eine gute Lösung gefunden für „Nichtgäste“ (komisches Wort), die die Toilette benutzen. Sie zahlen 50 Cent, und die gehen an die Villa Kunterbunt in Trier.

Die freundliche Wirtin macht mir Mut, das mit dem Regen werde schon nicht so schlimm werden, aber ihre Prophezeiung  bewahrheitet sich erst mal nicht. Im Gegenteil. Der Regen wird stärker. Während sich die anderen Radfahren dick eingemummt haben, ziehe ich meinen Pullover aus. So wird der wenigstens schon mal nicht nass.

Ein tapferer Jogger kommt mir entgegen. Auf seinem T-Shirt steht be what you are. Warum schreiben die Leute so was auf ihr T-Shirt? Was bedeutet das? Wer ist der Adressat dieser Botschaft? Wie soll ich mein Verhalten, mein Leben verändern, um dem gerecht zu werden. Und kann ich überhaupt was anderes sein als ich selbst?

Kurz darauf kommt ein Wohnwagen mit der Aufforderung Lebe deinen Traum. Leuchtet mir genauso wenig ein.

Über eine große Brücke geht es über die Mosel, Richtung Traben-Trarbach. Hier ist nur noch Trarbach ausgeschildert. Liegen die beiden Ortsteile auf verschiedenen Seiten der Mosel, wie Bernkastel und Kues?

Ich fahre an stattlichen Häusern aus der Gründerzeit vorbei, heute fast ausschließlich mit gastronomischen Geschäften bestückt, vermutlich gehobene Gastronomie.

Hier fängt mein Routenplaner an, verrückt zu spielen. Wo auch immer ich hinfahre, ist es falsch. Ich steige ab und verfolge die Instruktionen ganz genau. Dann bin ich nur noch sieben Meter von der Route entfernt. Die führt direkt auf einen Ausflugsdampfer.

Erinnert mich an eine Szene in Holland, wo ich im Rheindelta direkt ins Wasser geführt wurde. Da hat sich aber herausgestellt, dass ich eine Fähre nehmen musste. Aber der Ausflugsdampfer kann ja wohl nicht ernsthaft gemeint sein.  

Ich fahre auf gut Glück weiter, Richtung Ortsausgang. Eine ortskundige ältere Dame gibt mir freundlich Auskunft. Ihre Auskunft erweist sich als richtig, aber zuerst etwas irreführend. Sie hat mir als Anhaltspunkt ein Dachdeckerunternehmen genannt. Aber hier geht es nur zur Jugendherberge. Ich soll aber zur Fähre.

Dann kommt ein Radwegschild, aber das ist so verblichen, dass man den grünen Pfeil nicht mehr erkennen kann. Das wiederholt sich im Laufe der Tour noch zweimal. Ich biege auf gut Glück links ab. Es geht steil bergauf, von der Mosel weg, und dann eine Landstraße entlang, parallel zur weit unten liegenden Mosel. Die Kräfte schwinden. Dann sehe ich zu meiner Erleichterung Enkirch in den Weinbergen eingeschrieben. Enkirch ist mein Ziel. Aber es ist auf der anderen Seite. Und ich bin von der Mosel durch ein breites abgesperrtes Stück Land getrennt. Hier gibt es eine Schleuse, aber keine Brücke. Eine Fähre auch nicht, und wenn es die gibt, kann ich nicht hinkommen.

Es geht weiter, und dann erscheint plötzlich die von der Dame angekündigte Fähre von Kövenig. Der Fährmann wartet auf Passagiere. Ich gehe auf die winzige Fähre und zahle 1,50 für mich und 1,50 fürs Fahrrad. Der Fährmann legt ab, mit unbewegtem Gesicht und mechanischen Handbewegungen setzt er die Fähre in Gang. Aber es geht nicht zielstrebig ans andere Ufer. Wir scheinen uns eher im Kreis zu bewegen. Dann sehe ich, dass er noch einen weiteren Passagier auf dem Landesteg entdeckt hat und noch mal zurückkehrt. Wir laden den anderen ein, und rüber geht’s.

Auf der anderen Seite stehen auf einem Campingplatz lastwagenartige Wohnwagen, wie ich sie noch nie gesehen habe. Aber hier scheinen sie alle zusammenzukommen. Auf einem steht Wechfahrhaus.

Ich schiebe mein Rad den Hügel rauf auf den hübschen, menschenleeren Brunnenplatz, und dann die Dorfstraße rauf, mit Kopfsteinpflaster, einer alten Apotheke, einem Fachwerkhaus mit schiefer Fassade, Straßen mit originellen Namen  und dem Backhaus, einem Café.

Für meinen Routenplaner bin ich immer noch außerhalb meiner Route, aber dann hat er mich wieder und sagt: „Du bist wieder auf deiner Route. Die Navigation wird fortgesetzt. Du hast dein Ziel erreicht.“ Ich stehe vor dem Gasthof „Zur Sonne“. Habe aber die Rechnung ohne meine eigenen Reservierung gemacht, auf der ausdrücklich steht: Zimmerbelegung ab 14.30. Die fehlende halbe Stunde verbringe ich im Backhaus gleich gegenüber.

Dann geht alles schnell und unkompliziert in dem Gasthaus. Und ich kann die Füße ausstrecken. Und die Speisekarte studieren. Im gleichen Haus, nur die Treppe runter, befindet sich nämlich das Lokal. Die Unterkunft ist so gut wie perfekt.  

Als ich am frühen Abend runter gehe, ist die Wirtsstube schon voll besetzt, und man muss sich wohl oder übel nach draußen setzen, obwohl es etwas kalt ist. Aber auch hier sitzen welche, eine Gruppe von Männern und zwei Paare. Vermutlich lauter Radfahrer. Man sitzt geschützt unter großen Schirmen. Auf denen steht Benediktiner Weissbier. Ich bin überrascht über die Schreibweise, aber das Benediktiner schreibt sich wirklich mit ss, wie Rot Weiss Ahlen und Rot-Weiss Essen, aber anders als Rot-Weiß Oberhausen und Rot-Weiß Erfurt.

Von meinem Platz aus blickt man auf das schöne Eingangsschild des Gasthauses Zur Sonne, mit einer dicken, gelben Sonne, das ich vorher bei der Suche erst übersehen habe. Der Name des Gasthauses folgt dem der Besitzer, Sonnen.

Auch hier auf der Terrasse wachsen Zitronen, an einem Strauch gleich neben mir.

Die Männer sind fröhlich, sprechen laut, lachen. Und bestellen immer wieder: „Noch sieben Pils!“ Als das Essen kommt, werden sie ruhiger. Danach fängt einer an, von seiner Scheidung zu sprechen. Seine Frau habe vertraglich zugesagt, auf ihre Rentenpunkte zu verzichten, weil er ihr das gemeinsame Haus vermacht habe. Dann habe sie sich aber einfach geweigert, das einzulösen. Er habe zwölf Jahre lang jeden Monat 400 € Unterhalt gezahlt. Seine Frau habe kein bisschen nachgegeben.

Dann kommt mein Essen. Es gibt den Enkircher Zwiebelteller und einen Enkircher Weißwein. Aber nur ein Glas. Morgen steht eine weitere anstrengende Etappe an. 

30. August (Mittwoch)

Frühstück gibt es erst um 8.00, also verzögert sich die Abfahrt bis 8.30.

1) Trier – Enkirch (Dienstag): 99 km, 6.30-14.00

2) Enkirch – Kobern-Gondorf (Mittwoch): 92 km, 8.30-15.00

3) Kobern-Gondorf – Remagen (Donnerstag):

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