1. Januar (Donnerstag)
Der erste Tag des Jahres ist gleich voll im Einsatz. Er trägt gleich mächtig dazu bei, dass die Statistik weiterhin stimmt, nach der der Januar der regenreichste Monat in Kreta ist. Dazu ist es kalt und windig. Die Fahrt von Chania nach Heraklion zieht sich drei Stunden hin und wird mir lang.
Glücklicherweise brauche ich nur bis nach Heraklion. Das neue Jahr soll gleich mit einem Paukenschlag beginnen, dem Archäologischen Museum von Heraklion, einem der „Höhepunkte jeder Kretareise“, laut Reiseführer. Und da die Hotelpreise günstiger sind als die Benzinpreise, ist ein Halt unterwegs angesagt.
Dann alleine im Dunkeln in einer fremden Stadt im Regen nach dem Hotel suchen. Da fehlt nur noch: viel Verkehr. Den gibt es aber glücklicherweise nicht. Ich lange auf gut Glück irgendwo im Zentrum. Eine freundliche junge Frau, die mein Griechisch aushält, sieht mich bedauernd an, als ich frage, ob ich von hier aus zum Hotel laufen kann. Also wieder ins Auto. Nach einigem Rumkurven finde ich am Hafen einen Parkplatz, mit Blick auf die großen Fährschiffe. Hier bin ich vor drei Monaten angekommen.
Ich atme einmal tief durch und rufe dann das Hotel an. Wieder ein sehr freundlicher Mann, wieder einer, der nicht gleich auf Englisch wechselt. Was ist denn hier los? Ich verstehe, dass ich von hier aus zu Fuß gehen kann. Das Hotel liegt aber etwas versteckt.
Ich packe meine Siebensachen und mache mich auf den Weg, vom Großen Hafen zum Alten Hafen. Übles Wetter, es fühlt sich wie an der Nordsee an. Erst als es in das Wohnviertel geht und man vom Wind geschützt ist, wird es besser. An einer Ecke stehe ich mit meinem Stadtplan und versuche im Schein der dämmerigen Laterne etwas zu sehen. Ein Auto hält an. Ich lege mir die Worte zurecht, um ihm zu sagen, dass ich hier fremd sei. Aber er will gar keine Auskunft von mir, er will helfen. Toll. Die grobe Richtung kann er anzeigen. Das hilft.
An der Rezeption ist der freundliche Mann vom Telefon. Er weist mich an, mit Fernbedienung für Fernseher – verzichtbar – und Fernbedienung für Klimaanlage – sehr willkommen. Zum ersten Mal seit Wochen kann ich mich mal wieder auf eine Nacht in einem warmen Zimmer freuen.
Die Gegend um das Hotel ist ausgestorben. Alles geschlossen. Der Magen hängt auf halb drei. Aber dann komme ich an einen Platz, und hier ist trotz des bescheidenen Wetters richtig Leben. Lauter junge Leute in Cafés und Tavernen. Also bekomme ich doch noch was zu essen.
2. Januar (Freitag)
Auch heute mache ich wieder die Erfahrung, dass hier in der Stadt, entgegen den Erwartungen, die Chancen besser sind, Griechisch zu sprechen. Am besten macht es ein parkender Autofahrer, den ich nach dem (schlecht ausgeschilderten) Archäologischen Museum frage. Er fragt erst: Auf Griechisch? Wartet die Antwort ab und antwortet dann auf Griechisch. Perfekt!
Völlig aus dem Häuschen bin ich von einer jungen Frau, die mir detaillierte Erklärungen gibt. Ich verstehe jede Silbe. Dann sagt sie, ihr Griechisch sei auch nicht so gut. Es ist eine Ausländerin! Wir Ausländer untereinander verstehen uns am besten.
Als ich dann endlich vor dem Museum stehe, sehe ich, dass ich an dem Gebäude vorher schon ein paarmal vorbeigekurvt bin.
Normalerweise kommt man in Museum immer, wenn sie gerade renoviert werden oder die Renovierung bevorsteht. Diesmal ist es umgekehrt: Die Renovierung ist gerade abgeschlossen. Abgeschlossen heißt in Griechenland natürlich nicht perfekt: Einige Exponate stehen ohne Beschreibung in der Gegend herum, das Schild mit den Öffnungszeiten am Eingang ist schon wieder überholt und notdürftig mit einem Zettel überklebt, das Museumsshop ist geschlossen, ohne Angabe von Öffnungszeiten, und der Ausgang ist da, wo steht: Kein Ausgang!
Aber das Museum entschädigt für alles. Es ist atemberaubend. Man verbeugt sich vor dem Gestaltungswillen und der Gestaltungskraft der Menschen. Und dann gehen sie hin und betrügen einander und schlagen sich die Köpfe ein. Eine merkwürdige Spezies.
Schon bei den ältesten Exponaten ist das zu sehen, so an zwei Schmuckdosen mit Deckel, deren Griffe als Hund gestaltet sind. Wer kommt auf so eine Idee? Die Datierung: 2600-2300 vor Christus! Doa legst di nieda. Dazu kommt noch, dass die beiden Dosen, fast identisch in der Gestaltung, an zwei verschiedenen Orten gefunden worden: Mochlos und Kato Zakros. Es muss also Beziehungen gegeben haben.
Aus der gleichen Zeit Figurinen in allen möglichen Abwandlungen, einige genau an die von den Kykladen erinnernd, wieder ein Beleg für Kontakt: flach, mit langer, schmaler Nase, ansonsten ohne Gesichtszüge. Picasso war begeistert. Kein Wunder. Insgesamt gehören die Figurinen, die vermutlich Grabbeigaben waren, zu drei verschiedenen Typen: naturalistisch, abstrakt, mit Betonung eines einzigen Körperteils. Wie eine Vorwegnahme verschiedener Ansätze der Kunst im Laufe der Geschichte. Die meisten Figuren sind klein, es gibt aber auch einige wenige, die vielleicht so lang wie ein ausgestreckter Arm sind. Und noch eine grundsätzliche Frage, die weit über diese Figurinen hinausweist: Was stellen sie dar? Den Toten? Einen Ahnen? Einen Gott?
Alle Exponate sind in Vitrinen ausgestellt, gut beleuchtet und meist gut beschriftet. Es gibt keine eigentlichen Säle, aber Abtrennungen durch querstehende Vitrinen. Man darf von den meisten Exponaten sogar Photos machen. Als ich einen Wärter danach frage, bestätigt er das und fragt mich: Deutscher? Ich sage ja und frage, ob man das am Akzent merke. Nein, sagt er, am Gesicht! Man weiß kaum, was schlimmer ist.
Ich frage mich gerade, ob es keine Tierdarstellungen gibt, da kommt mir gleich eine ganze Herde Kühe entgegen. Wir sind allerdings schon in einer späteren Zeit, im 2. Jahrtausend vor Christus, aber noch vor der Palastzeit. Es gibt auch Schweineköpfe und einen schlafenden Hund!
Auch kurios Tongefäße, Schalen und Tassen, auf deren Boden sich Tonfiguren befinden, einmal ein Hund, einmal ein Vogel, einmal Brote (sie sind klein und rund mit einem Loch in der Mitte, wie Donuts) und einmal ein Schäfer mit seiner Herde!
Dann, schon aus der alten Palastzeit, kommt einer der Höhepunkte des Museums. Ich kann mich sogar noch von der letzten Kretareise daran erinnern und von vielen Abbildungen. Es ist ein Pektoral, vergoldet, klein, ganz fein gearbeitet. Es zeigt zwei Bienen im Profil, die Köpfe aneinander, die einen Tropfen Honig in der Honigwabe deponieren! Unglaublich! Auf ihren Köpfen ein Käfig, in dem wiederum eine goldene Perle zu sehen ist. An ihren Flügeln und an der Stelle, wo ihre Schwänze zusammentreffen hängen Ketten, an denen wiederum Scheiben hängen. Da ist das Wort Hochkultur nicht zu hoch gegriffen.
Überhaupt nicht in Erinnerung hatte ich die Kamares-Keramik. Sie kommt aus Phaistos und aus Knossos. Es muss Luxusware gewesen sein, und sie wurde auch exportiert: nach Zypern, nach Ägypten, nach Palästina und in die Kykladen. Dabei sind sie so zierlich, dass man Angst hätte, sie auch nur anzufassen, besonders die halbkugeligen, polychromen Tassen mit Verzierung. Wenn man von der Seite hinsieht, hat man das Gefühl, dass sie durchsichtig sind. Man spricht auch von Eierschalenkeramik. Eine Tasse hat gewundene Ränder, so wie gefaltetes Papier.
Mitten im Raum in einer eigenen Vitrine dann der Diskos von Phaistos. 45 Charaktere, vielleicht Piktogramme, aber das weiß man eben nicht. Man glaubt, einen Fisch, ein Rad, einen Vogel, einen Baum, eine Blume erkennen zu können, aber auch ein Y ist vertreten und eine Art Kreuz und menschliche Köpfe und Figuren. Wegen der vielen Wiederholungen vermutet man, dass es sich um eine Hymne handelt oder eine Beschwörung.
Wohl parallel dazu wurde Linear A als Schriftsystem gebraucht. Die ältesten Belege stammen aus Archanes (1900), die meisten Funde aus Malia (1700). Es sind kleine Klötzchen oder Würfel. Selbst wenn man genau hinsieht, würde man als Laie kaum darauf kommen, dass es sich um eine Schrift handelt. Könnten genauso gut Verzierungen sein.
Dann kommt die neue Palastzeit. Hier gibt es ein klobiges Holzmodell eines Palastes, vielleicht Knossos. Man sieht, dass das herausragende Prinzip die Asymmetrie war. Das fängt schon damit an, dass der zentrale, länglischeInnenhof nicht in der Mitte ist. Um ihn herum wie zufällig, mal längs, mal quer stehende Gebäude, von ein- bis dreistöckig, mit Gängen und Treppen. Sehr verwirrend. Kein Wunder, dass man hier den Ursprung des Labyrinths vermutet. Es ist aber alles streng rechtwinklig, es gibt keine Rundungen.
Dann kommt das Häusermosaik, auch berühmt. Es sind Einzelteile, wie bemalte Legosteine, aber aus Holz. Jedes zeigt eine Häuserfassade, eine wunderbare Quelle für Informationen über die Zeit. Die Fenster sind klein, die Häuserdächer flach, die Wände sind aus quaderförmigem Naturstein, Werkstein, und oft gibt es keine Tür. Man muss wohl Zugang über Außentreppen oder über andere Häuser gehabt haben.
Dann fällt ein rätselhaftes Exponat ins Auge, ein großes Spielbrett, mit drei kegelförmigen Spielfiguren. Das Brett selbst, aus Bergkristall und Feldspat, mit Einlegearbeiten in Gold und Silber, ist auch wieder unregelmäßig, mit runden Feldern auf der einen Seite und allen möglichen Streifen und Stufen auf der anderen. Außerdem ist das Brett gewellt. Man weiß natürlich nicht, ob das die ursprüngliche Form war.
In einer Abteilung, wo es um Ernährung geht, fallen riesige, badewannenartige Bronzegefäße für die Essenszubereitung bei Banketten auf, so groß, dass man sich locker reinlegen könnte.
Ganz für sich alleine ist ein Akrobat, eine schlanke Figur mit durchgedrücktem Rücken und gespannten Schultern, gerade in dem Moment, wo er einen Handstand oder einen Salto macht. Der Kopf ist unten, aber erhoben, die Gliedmaßen sind angewinkelt.
Den Minoern gefielen die gefährlichen Sportarten. Am bekanntesten natürlich das Stierspringen. In einem nur in Stücken erhaltenen, aber ergänzten Fresko sieht man den Springer kopfüber auf den Rücken des Stiers. Der mit weit nach hinten und vorne abstehenden Beinen, gesenktem Kopf und durchgedrücktem Rücken. Hinter und vor dem Stier ein Helfer, vermutlich. Der Körper des Springers ist braun, die der Helfer nicht. Ob der Springer nackt war?
Gleich daneben drei Exemplare der Doppelaxt, groß, an langen Stielen (die natürlich nicht original sind) angebracht. Man vermutet, dass die Doppelaxt auf das eigentliche Werkzeug für das Schlachten von Tieren zurückgeht und dann zum Symbol wurde, dem Symbol der minoischen Kultur überhaupt. Ich hatte von der Doppelaxt nur Abbildungen in Erinnerung und wusste gar nicht mehr, dass sie auch in Objekten vorkam. Von der Vermutung, dass es sprachhistorisch eine Verbindung zu dem Wort Labyrinth gibt, ist hier nicht die Rede.
Zum Komplex Religion gibt es eine ganze Reihe von feingliedrigen, kleinen Figuren aus Gournia, aus wohl aus Bronze, die mit nach hinten gebogenem Rücken dargestellt werden. Das soll wohl die Spannung des Moments des Kontakts mit der Gottheit ausdrücken. Auch die beiden anderen Gesten sind uns vertraut, wenn auch aus anderen Zusammenhängen: salutieren und Hand aufs Herz!
Zur Bestattung gibt es Funde aus zwei Stätten, Arkalochori und Archanes, dem neuen Star unter den Ausgrabungsstätten, da ist in den letzten Jahren schon einiges zum Vorschein gekommen, und man erwartet noch viel mehr. Die Grabbeigaben sind völlig verschieden. In Arkalochori gibt es nur Metallobjekte, in einer unglaublichen Fülle. Es sind Modelle von Schwertern, Degen und Doppeläxten, aber keine Figuren. Die Objekte, vor allem die Doppeläxte, gibt es in sehr unterschiedlicher Ausführung, grob aus Bronze oder Kupfer, fein aus Silber oder Gold.
Bei den Grabfunden aus Archanes erinnere ich mich an einen Vortrag über die Minoer, den ich mal vor Jahrzehnten gehört habe. Da wurde deren Kultur in höchsten Tönen gelobt. Das sei doch noch mal was: egalitär, friedlich, gewaltfrei. Ich habe damals schon innere Zweifel angemeldet, aber natürlich nicht gewagt, die zu äußern. Die Grabfunde aus Archanes bestätigen meine Skepsis. Hier wurden Figuren und Gefäße und Schmuck gefunden, das Übliche, und vier Skelette und nur ein Schwert. Offensichtlich rituelle Tötungen.
Aus der ganz späten Palastperiode eine doppelte Doppelaxt. Man wollte offensichtlich die Vergangenheit übertreffen. Die Doppelaxt hat an beiden Seiten zwei Klingen. Außerdem hat sie Dekoration in Form von einer Reihe von runden Löchern und von ziselierten Lilien.
Dann kommt, auch aus dieser Zeit und ganz zu recht ganz für sich alleine in einer Vitrine ausgestellt, der berühmte Stierkopf. Es handelt sich um ein Rhyton, also ein Gefäß für Trankopfer. Darauf würde man bei der Präsentation hier gar nicht kommen. Sieht eher wie eine Jägertrophäe aus. Man trank wohl aus der Schnauze, und der Trank wurde durch den Hals eingeführt. Der Stierkopf ist aus Stein, schwarz, die Hörner vergoldet, die Schnauze aus weißer Muschel, die Augen aus Bernstein, mit rotem Jasper für die Iris. Großartig auch das gekräuselte Haar auf dem Kopf und die faltige Haut am Hals. Der Erhaltungszustand ist superb.
Dann kommen die Schlangengöttinnen, auch sie zu den Klassikern zählend und in guter Erinnerung. Hocherotische Erscheinungen: Wespentaille, ausladenden Hüften, stramme, entblößte Brüste, durch die gespannten Arme noch hervorgehoben. Gleichzeitig sehen sie bedrohlich aus. Die Kleidung ist elegant, lange, bis auf den Boden reichende Rüschenröcke, oben eng, unten weit, davor eine dekorierte „Schürze“. Eine trägt in beiden Armen eine Schlange und auf dem Kopf ein katzenartiges Tier. Bei der anderen wickeln sich die Schlangen um die Arme und den Oberkörper. Die Brüste stehen für die weibliche Fruchtbarkeit, die Katze auf dem Kopf für die Beherrschung der Natur, die Schlangen für die chthonische Natur der Göttinnen.
Dann gibt es Exponate zur Linear B, der einzigen entzifferten Schrift. Die gehört schon der Zeit nach der Zerstörung der Paläste an. Es handelt sich um die frühesten Texte auf Griechisch. Es geht meistens um Verwaltung, Palastbeamte, militärische Ausrüstung, Opfergaben, alles wurde dokumentiert. Tausende von gebrannten Tontafeln sind erhalten. Es gibt längliche, stabähnliche und breite, hohe, offensichtlich für unterschiedliche Funktionen. Es handelt sich um eine Silbenschrift, 89 Silbenzeichen, ergänzt durch einige Logogramme. Die Namen geben Auskunft über die Palasthierarchie: Die Palastbeamten haben griechische Namen, die armen Schäfer nichtgriechische Namen!
Es gäbe noch eine ganze Menge mehr zu sehen, aber ich belasse es für heute dabei. Der Reiseführer empfiehlt zwei Besuche des Museums, einen am Anfang und einen am Ende der Reise. Und das sogar für eine normale Reise.
Dann laufe ich ein bisschen durch die Innenstadt, an einem zentralen Platz vorbei und über eine Marktgasse. Ich verstehe gar nicht, warum Heraklion so einen schlechten Ruf hat. Es ist keine Schönheit, aber mehr als vorzeigbar, sogar bei dem miesen Wetter.
Auf einem kleinen Platz steht ein seltsames Monument. Auf einem Pferd mit drei Köpfen und drei Schwänzen und multiplen Beinen sitzen zwei Reiter. Auf dem Boden steht eine Frau und streckt dem absteigenden Reiter die Hand entgegen. Das Pferd ist keine Missgeburt und auch keine mythologische Figur. Es ist der Versuch des Künstlers, Giannis Parmakelis, Bewegung darzustellen. Deshalb sind es auch nicht zwei Reiter, sondern ein und derselbe in zwei Momenten, dem Moment der Ankunft und dem Moment, wo er zu der Frau hinabsteigt. Oder ist es umgekehrt, der Moment des Abschieds? Der Name des Platzes, Kornaros, ist der Schlüssel zu der Szene. Kornaros, dessen seltsames Denkmal in Sitia ich noch in Erinnerung habe, in Sitia geboren aber in Heraklion aufgewachsen, ist der Dichter der griechischen Renaissance, Autor von Erotokritos und Aretusa, dem griechischen Gegenstück zu Romeo und Julia.
Auch hier haben die Venezianer ihre Spuren hinterlassen: eine Loggia, ein Brunnen, eine Kirche, man hat das Gefühl, in Italien zu sein.
Eine beeindruckende Geschichte hat die Kirche St. Titus, immer wieder zerstört und neu aufgebaut. Sie liegt an einem freien Platz und ist fast quadratisch, mit einer schönen Fassade. Als die Sarazenen Kreta eroberten, musste Titus, als Bischof von Paulus in Gortyn eingesetzt, nach Norden umsiedeln, hierher, nach Heraklion. Die dann entstandene frühe Kirche wurde nach der ersten Kirchenspaltung orthodox, dann, unter den Venezianers, katholisch, dann, unter den Osmanan, Moschee und am Ende wieder orthodox.
Ich lande auch noch in einer kleinen, einfachen katholischen Kirche. Aus Lautsprechern erklingt leise Vokalmusik, mit ganz hohen Stimmen. Lange kann ich nicht erkennen, ob es sich um weibliche Stimmen oder Kinderstimmen handelt und ob es eine oder mehrere sind, so sauber wird gesungen. Am Ende scheint es ein Knabenchor zu sein, der auf einen Solisten antwortet. Sehr schön.
In der Kirche ist eine Krippe mit Felslandschaft aufgestellt. Neben dem gewöhnlichen Personal auch gemeines Volk, eine Frau mit einer Gans auf dem Arm und einem Korb voll Eiern, ein Mann mit Dudelsack und einer, der unter einem Baum schläft und das Ereignis verpennt!
Zum Essen gehe ich ins Siga-Siga, was ‚Langsam-Langsam‘ bedeutet, also so was wie immer mit der Ruhe. Es ist eine kleine, ausgesprochen gemütlich Taverne, versteckt in einem Wohnviertel liegend. Auch hier wird Griechisch gesprochen. Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Es wird auf Kosten des Hauses zum Nachtisch Gebäck serviert und dazu Raki. Da kann ich nicht ablehnen. Der erste Alkohol seit fast genau drei Monaten. Schmeckt sehr gut zu dem Gebäck. Obwohl Raki ist eine echte kretische Spezialität ist, ist das Wort türkisch. Aber der türkische Raki, ein Anisschnaps, hat gar nichts mit dem kretischen Raki zu tun, einem Trester. Die Türken haben das Wort mitgebracht und auf den fremden Schnaps angewendet.
Ich habe die ganze Zeit weiter gesucht nach einem Wort, in dem Lambda, Alpha und Delta vorkommen. Jetzt stoße ich auf eine Kaffeesorte, Dandalin, schon nicht schlecht: ΔΑΝΔΑΛΗ. Ich mache ein Photo und gehe weiter. Und dann stehe ich vor einem Reisebüro und sehe das einfachste, naheliegendste und beste Beispiel, das es geben kann. Das Wort hat nur einen anderen Buchstaben und die drei alle in Folge: Es ist Griechenland: ΕΛΛΑΔΑ.
3. Januar (Samstag)
Wilde Olivenbäume müssen gepfropft werden, damit sie ordentlich Frucht tragen. Als Alternative kann auch ein Zweig nach unten gebogen und in einen Topf gesteckt werden. Wenn der Zweig dann Wurzel schlägt, wird er von der Mutterpflanze getrennt und gepflanzt. Um zu sichern, dass das Wasser nicht einfach abläuft, sondern dem Olivenbaum zugutekommt, gräbt man eine kleine Vertiefung um den Baum, in dem sich das Wasser sammeln kann.
Um zu verstehen, welche Bedeutung der Olivenbaum in südlichen Kulturen hat, muss man sich die Vielfalt von Funktionen vergegenwärtigen: Aus dem Holz machte man Werkzeuge, Möbel und Brennholz; die Oliven wurden gegessen; das Olivenöl wurde zum Kochen, zum Feuermachen, in der Kosmetik, für rituelle Zwecke und als Arzneimittel verwandt.
4. Januar (Sonntag)
Ein kälterer Tag mit viel Sonnenschein. Ab morgen wird es ernst. Angesagte Zahl der Sonnenstunden für morgen: null.
Das Waschmittel, das ich gekauft habe, hießt Ευρηκα – Evrika. Hört sich unschuldig an, aber die Schrift verrät die Anspielung: Heureka! Eine absurde klassische Anspielung auf ein schnödes Waschmittel. Dabei hat das heute Griechenland herzlich wenig mit der klassischen Antike zu tun. Da können sie noch so viele Festivals machen und noch so oft betonen, welch großartige Kultur das war.
5. Januar (Montag)
Giorgos, der Sohn der Besitzer des Mirtos, erklärt mir in seiner typischen Mischung aus unverständlichem Griechisch und schlechtem Englisch, dass es sich bei dem Hund nicht um ihren, sondern um seinen Hund handelt. Er heißt Ομηρος – Homer. Giogios wundert sich, dass ich das witzig finde und frage, ob der Nachbarhund Hesiod heißt. Zu seiner Rechtfertigung sagt er, der Name komme von Homer Simpson.
Seine Mutter hat derweil die Hände im Teich. Sie macht Vasilopita, die ‚Königspastete‘, benannt nach dem Dreikönigstag. Es ist eine große, süße, mit Puderzucker bestreute Pastete – wir würden wohl einfach Kuchen sagen – in der eine Münze versteckt wird, ein typischer, aber natürlich nicht exklusiv griechischer Brauch, der hier mit dem Dreikönigsfest verbunden ist.
6. Januar (Dienstag)
Am Abend sind die Lichter ausgegangen, und das hat sich auch bis zum Morgen nicht verändert. Kein Strom. Das heißt, meine letzten Waffen im Kampf gegen die Kälte werden stumpf. Ich erwische einen Nachbarn und erfahre, dass er auch keinen Strom hat. Scheint das ganze Dorf zu betreffen. Als ich weiterfrage, höre ich zum ersten Mal διακοπή. Das kann der Singular von Ferien sein oder, weil es wörtlich so wie ‚Unterbrechung‘ heißt, auch ‚Stromausfall‘ bedeuten. Wenn er Stromausfall meint, dann sagt er nur, was offensichtlich ist, wenn er ‚Feiertag‘ meint, könnte das bedeuten, dass sich heute nichts mehr tut. Was tun?
Nach Ierapetra fahren und den ganzen Tag im Kaffee verbringen? Keine einladende Idee. Ich entscheide mich für die „große“ Lösung: Heraklion. Im Auto ist es wenigstens warm. Ob das Museum geöffnet ist, kann ich auch nicht feststellen: kein Internet.
Erst ist es noch trocken, dann fängt es an zu schütten, dann Schnee, dann Hagel. Ich bin ziemlich bedient, als ich ankomme, ahne aber noch nicht, was mich auf dem Rückweg erwartet. Aquaplaning. Und das hat es wegen der schlechten Drainage hier wirklich in sich. Dazu platschen immer wieder Wasser von den entgegenkommenden Autos auf die Windschutzscheibe und macht einen für Sekunden blind. Als es dann weiter rauf geht, legt Schnee statt Wasser auf der Fahrbahn, und dann beginnt ein dichtes Schneetreiben. Es ist dunkel, obwohl es erst vier Uhr ist. Die Autos fahren mit provozierender Langsamkeit, und ich frage mich, ob ich jemals ankommen werde, aber zum Überholen ist mir auch nicht zumute. Überall liegen gebliebene Autos, Rettungsfahrzeuge, und spätestens, als mit ein Schneepflug entgegenkommt, frage ich mich, wo ich bin.
Im Radio werden Märchen vorgelesen, und zu den wenigen Fetzen, die ich verstehe, gehören: „Es ist Winter geworden“, „Ich friere schrecklich“ und „Ich habe Hunger“. Kann ich alles unterschreiben. Das Restaurant in Heraklion, das ich lange gesucht habe, Geronimos, existiert nicht mehr, und ich habe mich auf ohne Essen auf den Weg gemacht.
Dann kommt auch noch ein Gewitter, und ich frage mich, ob ich die Verbindung Schnee und Donner überhaupt schon mal erlebt hat. Auch in Agios Nikolaos, obwohl am Meer gelegen, liegt noch Schnee. Es ist 1°, 19° kälter als Weihnachten!
Als ich in die kalte, dunkle Wohnung komme und feststelle, dass mir zum Anzünden der Kerze die Streichhölzer fehlen, lasse ich den Tag Revue passieren und kann mich freuen, dass nichts passiert ist. Und dass das Museum offen war. Und ich ein paar schöne Dinge gesehen habe, die ich dieser Tage übersehen habe.
Zuerst, aus der Vorpalastzeit, ein Gefäß in Form eines Stiers, an dessen Hörner sich drei Männer klammern, zwei in Schrittrichtung, der andere entgegengesetzt.
Bei der Keramik finde ich diesmal die „Einkaufstasche“. Die hat ihren Namen wirklich verdient. Sie hat zwei Griffe, ist rechteckig, und die Flächen biegen sich nach innen. So als wenn die Künstler eine moderne, schicke Einkaufstasche vor Augen gehabt hätten. Verziert ist sie mit der Doppelaxt, in Schwarz, die sich in vier horizontalen Bahnen auf dem ockerfarbigen Grund um die Tasche winden.
Dann kommt die Schnittervase aus schwarzem Stein. Darauf ist gleich eine ganze Prozession von Bauern dargestellt, daher der Name. Sie stammt aus Agia Triada, aus der letzten Phase der neuen Palastzeit. Man kann die Details allerdings schlecht erkennen, denn es handelt sich um ein Flachrelief, das farblich nicht abgehoben ist. Aber die Details sind beeindruckend. 27 Männer, mit Sensen bewaffnet, folgen einem Anführer, vielleicht einem Priester, der einen langen Stab in der Hand und einen Ornamentumhang trägt, vermutlich ein Priester. Man denkt unwillkürlich an unsere Erntedankprozessionen.
Auch schlecht zu erkennen sind die Details auf dem sog. Ring des Minos. Das ist alles sehr gut gearbeitet, aber so klein, dass man hier eine Lupe bräuchte. Eine Göttin erscheint drei Mal, einmal in der Luft schwebend, einmal auf einem Baumstamm sitzend, einmal in einem Boot. Und all das und viel mehr auf einem Ring! Es ist die Darstellung der Epiphanie dieser Göttin, und die drei Darstellungen weisen ihr drei verschiedene Elemente zu, Luft, Wasser, Erde.
Sehr gut gefällt mir ein „Teeservice“, ein rundes Tablett mit sieben Auslassungen für die Tassen, sechs um eine zentrale herum gruppiert. In einer der Auslassung steht die eine erhaltene Tasse. Passt genau!
Ein Hingucker ist eine Schaukel. Entspricht genau der modernen Schaukel, und darauf sitzt eine Frau, ohne Kopf. Der ist verloren gegangen. Auf den Pfosten, an denen die Schaukel befestigt ist, sitzen Vögel. Als Laie sieht man das als Freizeitszene an, aber die schaukelnde Dame ist eine Göttin! Die Experten können das an verschiedenen Dingen ablesen, u.a. an den Vögeln, die traditionelle Begleiter der Göttinnen waren.
Das sieht man auch den vielen Göttinnen aus der Nachpalastzeit, merkwürdige, in vielen Exemplaren vorhandene Figuren, mit sehr männlichen Gesichtern ausgestattet, Doppelkinn und winzigen Knöpfen auf der Brust, die sich als weibliche Gottheiten ausweisen. Sie alle haben die Hände erhoben und erflehen damit Beistand für die Menschen. Auf dem Kopf tragen sie eine Art Krone, und auf der sind meist rundherum Vögel aufgereiht. Zusammen mit ihren anderen Insignien – Scheiben und Schlangen – stehen sie für Sonne, Luft und Erde.
Von den Exponaten der Nachpalastzeit heißt es, sie seien weniger kunstvoll und weniger wertvoll als die der Palastzeit. Das stimmt, aber man sieht es nur im direkten Vergleich. Edelmetalle fehlen ganz, und die Grabbeigaben sind meist aus Keramik. Woran liegt so etwas? War die Expertise nicht mehr da? Fehlten die Materialien? Hatte man andere Sorgen? War die Gesellschaft anders strukturiert, anders orientiert? Eine andere Besonderheit der Nachpalastzeit ist, dass man die Toten verbrannte. Vorher begrub man sie.
Ich sehe mir noch einmal die drei Schriftsysteme an, Hieroglyphen, Linear A und Linear B. Die Hieroglyphen gab es offensichtlich schon vor der Palastzeit. In der alten Palastzeit wurden sie weiter benutzt, und parallel dazu entstand Linear A, die die Hieroglyphen allmählich ersetzte. Linear B gab es offensichtlich erst nach Ende der neuen Palastzeit. Dann hätte Linear A eine ordentliche Lebensdauer gehabt, etwas vom Spätmittelalter bis heute. Leicht übersehen kann man eine Tasse, die an der Innenwand beschrieben ist. Wozu das wohl dient? Die Schrift wurde mit Tinte angebracht. Die stammt von einem Tier, das im Deutschen, und wohl nur im Deutschen, den geeigneten Namen dafür trägt: Tintenfisch!
Das letzte Exponat unten, das ich mir ansehe, ist der Steinsarkophag aus Agia Triada, ein Glücksfund für die Wissenschaftler, da er eine Beerdigungsprozession darstellt, in einem ziemlich gut erhaltenen Fresko. Bemerkenswerte Idee, auf einem Sarg eine Beerdigung darzustellen. Die Darstellung ist farbenfroh, und man könnte leicht an einen fröhlicheren Anlass denken. Man sieht einen Stier, der flach auf einer Trage liegend, als Opfer dargebracht wird, ein riesiges Tier. Dazu werden zwei Kälber und ein Schiff auf Händen getragen. Das sind die Grabbeigaben, für Nahrung und Transport ist also gesorgt. Man sieht einen Musiker, vielleicht einen Flötenspieler, eine Priesterin mit einer Art Standarte, ein Baumheiligtum und eine Priesterin, die sich die Hände wäscht.
Dagegen sind die Freskos, die oben in einem eigenen Saal ausgestellt sind (und fast alle aus Knossos stammen) eine Enttäuschung, die einzige Enttäuschung des Museums bisher. Von allen sind nur ein paar unzusammenhängende Brocken erhalten, die aber malerisch ergänzt sind zu kompletten Darstellungen. Ein Schweizer Architekt hat sich jahrelang dieser Aufgabe gewidmet, offensichtlich mit viel Studium und großer Akribie. Dennoch: Hier lässt sich der Skeptiker nicht so leicht überzeugen. Man weiß bei vielen Stücken noch nicht einmal, ob sie zum Arm oder zum Bein oder wo sonst hingehören, und wie soll man dann etwas über das Gesicht, die Körperhaltung, die Bewegung wissen? Das gilt auch für die berühmte „Pariserin“, bei der immerhin der auffällig stark geschminkte Mund erhalten ist und das Haar. Aber gerade diese Bezeichnung, „Pariserin“, zeigt, wie leicht man sich in die Irre führen lassen kann. Es handelt sich, und das wissen die Experten gerade aus der Haartracht, um eine Priesterin!
Am Abend sehe ich Fußballübertragungen aus Vigo und Mailand. Strahlender Sonnenschein, Zuschauer ohne Jacken und Mützen. Das kann doch wohl nicht heute sein?
7. Januar (Mittwoch)
In Ierapetra bestelle ich in dem Buchladen mit der netten alten Dame einen neuen Roman, immer noch nicht den von ihr empfohlenen, obwohl der am interessantesten klingt. Ist noch zu schwer. Stattdessen eine Liebesgeschichte um ein blindes Mädchen. Außerdem einen Band mit griechischen Mythen, der von einem Lehrbuchverlag herausgegeben wird. Vorrätig haben sie ein Märchenbuch für Kinder mit CD: Σταχτοπούτα und Ο λύκος και τα επτά κατσικάκια – Aschenputtel und Der Wolf und die Sieben Geißlein.
Auf einer deutschen Speisekarte gibt es Salaten und Getränken. Eine Kategorie heißt Versiedene. Im Salat sind Gurken, Tomaten, Schinken und Kopf. Wessen Kopf da wohl geopfert wird? Dazu gibt es Houas-Wein.
8. Januar (Donnerstag)
Nachdem ich am Morgen tapfer mit eiskaltem Wasser geduscht habe, begegne ich am Vormittag einem der Albaner. Ob sie warmes Wasser hätten, will ich wissen. Nein, er habe seit drei Tagen nicht mehr geduscht. Dafür habe ich größtes Verständnis. Am Mittag erscheint die Tochter des Vermieters, ganz aus dem Blauen, wie vom Himmel geschickt. Sie sorgt dafür, dass die Klimaanlage angestellt und irgendein Mechanismus getätigt wird, der für warmes Wasser sorgt. In der Familie ist Nachwuchs angekommen, und die demente Oma und die Feiertage lenkten weiter von allem ab. Und meine Mails sind offensichtlich bei dem falschen Mann gelandet. Jetzt läuft die Klimaanlage volle Pulle. Warm ist es nicht, aber jetzt kann man es aushalten.
Am Nachmittag sehe ich auf dem Weg nach Ierapetra schneebedeckte Berge. In Ierapetra sind es +3°, gefühlte -3°. Vor allem der eisige Wind macht zu schaffen.
9. Januar (Freitag)
Heute gibt es wieder richtig viel Sonnenschein, aber es ist immer noch kalt. Am Wochenende soll es dann endgültig – oder vorläufig? – wieder wärmer werden.
Als ich dieser Tage in Chania mich vor dem Regen unterstellte, vor der Gemäldegalerie, kam ein Ehepaar angelaufen, das auch vor dem Regen flüchtete. Der Mann sprach mich an. Ob dies der Ort sei, an dem die El-Greco-Ausstellung läuft. Ich konnte ihm sogar Bescheid geben. Ich hatte zufällig das Plakat gesehen und photographiert. Die Greco-Ausstellung ist längst nach Athen gewandert und dauert nur noch bis morgen. El Greco ist 1614 gestorben. Das war wohl der Anlass für die Ausstellung. Der Mann sprach mich auf Englisch an, und sein erstes Wort war: “Please”. Da wusste man sofort, dass es kein Engländer sein konnte. Es war ein Franzose.
10. Januar (Samstag)
Die Wettervorhersage hat recht behalten, Gott sei Dank: Die schlimmste Kälte ist vorbei. Am Vormittag in Ierapetra, als einen Moment die Sonne rauskam, saßen sogar schon wieder ein paar Leute draußen vor dem Café am Meeresufer: Engländer!
Bei einer Bestellung in einer Bäckerei die Wörter λαχανικό und λουκάνικο verwechselt und statt einer Pita mit Gemüse eine mit Wurst bekommen. Dürfte einem Vegetarier nicht passieren.
Noch zwei Wochen bis zu den Parlamentswahlen. In Griechenland besteht, wie ich auf Anfrage jetzt erfahren habe, Wahlpflicht. Der kommen aber nicht alle nach, und niemand kennt jemanden, der schon einmal deshalb belangt worden wäre. Man wählt in einem Wahllokal, genauso wie bei uns, und oft sind das, auch wie bei uns, Schulen. Auch in Myrtos wird es ein Wahllokal geben, die Bewohner von Myrtos brauchen nicht nach Ierapetra fahren. Briefwahl gibt es nicht. Im Wahllokal gibt es einen Rechtsanwalt und eine Sekretärin. Die werden für ihre Arbeit bezahlt. Daneben gibt es noch gratis arbeitende Wahlhelfer.
In einem Kommentar zu einem Zeitungsartikel im Internet liest man, dass etwas „im Nahmen der griechischen Souveränität“, und in einem anderen, „das viel auch nicht weiter auf“.
Gute Nachricht für bevorstehenden Besuch aus dem Mirtos: Es darf geraucht werden! An zwei, drei Tischen wird geraucht, und in einer Pause steckt sich auf Jana eine Zigarette an und später Despina. Das war mir bis dahin noch nie aufgefallen!
Am Nebentisch sitzt eine füllige Holländerin. Sie fragt mich, ob ich Holländer sei. Dann wechselt sie sofort zu Deutsch, das sie fließend spricht, besser als Englisch. Sie ist wohl regelmäßig im Winter in Myrtos und bleibt bis Mai. Während sie vernünftigerweise Tee trinkt, erlaube ich mir zum ersten Mal ein Glas Wein, und gleich danach ein zweites.
11. Januar (Sonntag)
Auf dem Bildschirm am PC erscheint immer wieder Werbung für Syriza, die neue Partei, um die sich bei den bevorstehenden Wahlen alles dreht. Die Sache ist gut gemacht, modern und ansprechend. Die Seite, in großen, bunt straffierten Buchstaben, blättert sich langsam auf. Zuerst erscheint der Name der Partei, dann das Motto: Die Hoffnung kommt. Darunter der Zusatz: Griechenland schreitet voran. Europa ändert sich. Das ist natürlich alles völlig nichtssagend, aber man kann sich vorstellen, dass das ankommt. Dass Griechenland voranschreitet und Europa sich ändert, wünscht sich vermutlich die NA genauso, und die CDU vermutlich auch.
Der Name Syriza ist ein Kurzwort, basierend auf Συνασπισμός της Ριζοσπαστικής Αριστεράς, ‚Koalition der Radikalen Linken‘. Syriza ist erst seit letztem Jahr eine Partei. Vorher war sie ein Bündnis aus verschiedenen Bewegungen und Interessensgruppen. Das zeigt sich auch in dem Emblem der Partei: drei stilisierte Fahnen scheinen sich hintereinander im Wind zu bewegen: eine rot, eine grün, eine violett. Darüber ein goldener Stern. Auf der Internetseite ist von Euro-Austritt oder von Austritt aus der EU nicht die Rede. Es wird auch gegen keinen der Verhandlungspartner polemisiert. Gefordert wird ein Schuldenschnitt (50%) und eine Kopplung der Rückzahlung an die wirtschaftliche Entwicklung. Verschmitzt erinnert man die „deutschen Freunde“ daran, dass das auch Westdeutschland nach dem Krieg gewährt wurde, und dass Griechenland dem zugestimmt habe. Polemisiert wird aber gegen die „Neoliberalen“, genauso wie das bei uns die Grünen oder die Linke machen würden, aber auch Teile der SPD. Und es wird eher vorsichtig eine Neuordnung des Verteidigungspakts gefordert. Es ist zwar nicht von der Auflösung der NATO die Rede, aber es wird so etwas wie deren Überwindung gefordert. Mehr Kooperation mit den Balkanstaaten und dem Nahen Osten. Die Probleme sind Griechenland natürlich „näher“ als uns.
12. Januar (Montag)
Heute geht es nach Heraklion, auf Privatbesuch, sozusagen. Die Eltern unserer Griechischlehrerin haben, nachdem ich endlich den Anruf gewagt habe, keinen Moment gezögert und mich eingeladen. Vorher geht es aber noch ins Museum.
In den Dörfern am Wegesrand stehen überall Männer in kleineren Gruppen herum, Erntehelfer, die darauf warten, abgeholt zu werden. Das Wetter wird Richtung Heraklion immer besser, entgegen dem normalen Trend.
Das Naturhistorische Museum liegt auch am Alten Hafen, aber noch ein bisschen weiter stadtauswärts. Es fällt durch sein grünes Dach auf, und das hilft mir auch bei der Lokalisierung und der Parkplatzsuche. Dass das Museum montags geöffnet ist, scheint sich nicht herumgesprochen zu haben. Ich bin den ganzen Vormittag für mich alleine. Alle sind hier ausgesprochen freundlich, ganz anders als sonst in den griechischen Museen.
Im Untergeschoss kann man eine Erdbebensimulation miterleben. Man sitzt in einem Klassenzimmer – das Angebot wird sonst meist von Schulklassen angenommen – und bekommt ein Erdbeben mittlerer Stärke vorgeführt. Der Globus fängt an zu wackeln, die Landkarte rutscht hin und her, an den Tischen wird gerüttelt. Dann bekommt man das gleiche nochmal, aber diesmal so, als wäre man im dritten Stock und nicht im Untergeschoss. Der Unterschied ist deutlich spürbar, vor allem in der Seitwärtsbewegung. Man kann sich ausmalen, wie das im zehnten oder im vierzigsten Stock aussieht. Interessant ist die Wahrnehmung der Zeit. Ich habe zwar nicht genau drauf geachtet, aber es war vermutlich weniger als eine halbe Minute, und die zog sich ordentlich in die Länge.
Dann kommt die Simulation von einem Erdbeben in Taiwan und einem anderen in Japan, in Kobe. Die sind noch etwas stärker. Aber hier wird etwas anderes illustriert: Das Erdbeben in Taiwan war stärker und länger, aber die Auswirkungen geringer als in Kobe. Das hat wohl etwas mit dem „Einfallswinkel“ zu tun. Tatsächlich empfindet man das schwächere Beben als stärker. Man wird zwar nicht gerade aus der Bank geworfen, aber Eindruck macht die Sache schon. Wenn einen das unerwartet und ohne die Gewissheit eines guten Ausgangs trifft, kann einem schon ganz anders werden.
Nach der Simulation, bei der eine junge Angestellte in charmantem Englisch Erklärungen abgibt, sehe ich mir noch ein paar Schautafeln an. Man sieht, dass Kreta in einer gefährdeten Zone liegt und dass das östliche Mittelmeer viel stärker betroffen ist als das westliche. Und man erfährt, dass die Auswirkungen ein und desselben Erdbebens in Afrika immer stärker sind als in der Ägäis.
Und schließlich ist auch noch von horizontalen Verschiebungen die Rede. Der Westen Kretas wurde 365 durch ein Erdbeben um neun Meter angehoben! Das soll man heute dort noch an dem Küstenprofil erkennen können. Der Hafen von Phalassarna verlor dabei seinen Hafen. Die Landmasse wurde angehoben und der Hafen trocken gelegt!
Im nächsten Stock gibt es etwas über Bäume. Interessant, aber davon hatte ich mir ein bisschen mehr erhofft. Das Museum, von der Universität betrieben, befindet sich noch im Ausbau. Man kann fünf verschiedene Baumstämme berühren und dann raten, zu welchen fünf Bäumen sie gehören. Das schaffe ich nur beim Olivenbaum. Der hat die härteste und knorrigste Rinde. Das Gegenstück dazu ist ein Baum mit einer ganz glatten, pechschwarzen Rinde, wie ich sie noch nie gesehen habe, auch hier nicht. Die Kiefer ist der Baum, aus dem Retsina gewonnen wird, und die Platane der häufigste Baum überhaupt, immer in der Nähe von Wasser stehend.
Dann gibt es Fossilienfunde, u.a. von dem größten Tier, das je auf Kreta gelebt hat, ein Saurier, der aber mehr wie ein Elefant aussieht. Seine Stoßzähne richten sich nach hinten und nach unten. Das sieht sehr unpraktisch aus. Was sich die Evolution wohl dabei gedacht hat? Das Tier war 4-5 Meter groß, lebte in Wäldern in der Nähe von Sitia und ernährte sich von Laubwerk. Es lebte vor 8-9 Millionen Jahren.
Der Hauptteil des Museums sind Dioramen, aber ich finde die etwas unscheinbare Abteilung mit lebenden Tieren in Terrarien interessanter. Es gibt viel Kriechtier. Aber zu allen etwas Interessantes. Eine giftgrüne Eidechse hängt wie leblos an einem Ast. Trotz des Eindrucks, den sie momentan hinterlässt, ist sie ein schneller Läufer und kann auch schwimmen.
Dann gibt es eine weitere Echse, von der Gattung Uromastyx. Sie ernährt sich von Pflanzen, lebt aber in der Wüste. Ein Lebenskünstler. Sie hat sich so sehr an die Bedingungen angepasst, dass sie ein Jahr lang ohne Nahrung auskommen kann!
Dann kommen Schlangen, die sich alle um sich selbst gekräuselt haben und sich weiterbewegen, ohne dass man die Bewegung sieht. Sie haben verschiedene Farben, grau, schwarz, gescheckt, und diejenige, die am ungefährlichsten ist, sieht am gefährlichsten aus. Sie hat auch Gift, benutzt es aber nur zur eigenen Verdauung! Von einer grauen Natter heißt es, sie lege Eier, im Gegensatz zu den anderen. Und ich dachte immer, die würden alle Eier legen. Dann gibt es noch die putzige kretische Stachelmaus, kugelrund, mit stacheligen Haaren um das Hinterteil herum. Sie gräbt nicht nach Futter und lebt deshalb in Felsen.
In den Dioramen werden Tiere ausgestellt, die aber nicht sonderlich spektakulär sind. Bei den Pflanzen gibt es Phrygana, Ginster, Wacholder und Gamander, alle sehr typisch für Kreta, aber es gibt nicht genug Anschauungsmaterial, um eine klare Vorstellung zu entwickeln. Lediglich die Gamander kann ich in Verbindung bringen mit etwas, das ich in der Natur gesehen habe.
Nichts zu sehen ist leider von dem Mechanismus von Antikythera, einem erstaunlichen Gerät, mit Zahnrädern und Ziffernblätter ausgestatteten Gerät aus der Antike, das man auch den „ersten Computer“ nennt. Das muss wohl das rätselhafte Ding sein, das ich, als Nachbildung, in Sitia am Strand hinter einer Glaswand gesehen habe. Es soll einen Rechner, einen Sonnen- und Mondkalender, genaue Angaben über Sonnen- und Mondfinsternis und die Angaben zu den Austragungsorten der Panhellenischen Spiele enthalten. Es wurde vor gut hundert Jahren von Tauchern vor Antikythera gefunden. Eigentlich soll das Gerät hier ausgestellt sein, aber vielleicht wird es restauriert oder ist woandershin gewandert.
Als ich aus dem Museum komme, ist es sonnig und warm. In dem Café, wo ich für 2 € Kaffee und eine leckere, warme Bugatsa bekomme – in Ierapetra hat dieser Tage nur für einen lauwarmen Kaffee 3 € bezahlt – sitzen Kunden mit Sonnenbrille! Und noch vor knapp einer Woche bis ich dem Schneepflug begegnet. Das griechische Wort dafür – εκχιονιστήρας – habe ich als Erinnerung wenigstens mal nachgeschlagen. Wäre schön, es in Erinnerung zu behalten, als Erinnerung sozusagen.
Ich mache dann wieder Photos vom Morosini-Brunnen, von der Loggia und von St. Titus, diesmal bei besserem Wetter. Das zahlt sich vor allem bei St. Titus innen aus. Die Kirche, fast quadratisch und mit einer flachen Kuppel an die osmanische Zeit erinnernd, hat moderne Glasfenster, die zwar nicht gerade mystisch wirken, aber bei dem Licht gut zur Geltung kommen. Vor allem eine geschnitzte Sitzbank, auf die das gebrochene Licht fällt, hat es mir angetan. Die Kirche hat einen sehr schönen, dreistöckigen, flachen, geschnitzten Leuchter und auch eine geschnitzte Kanzel. Wusste gar nicht, dass es die bei den Orthodoxen gab. Ganz oben unter den Fenstern großformatige Gemälde mit Szenen aus dem Leben Titus. Schön vor allem die Szene, in der er den Paulausbrief erhält. Kein Brief in unserem Sinne, sondern eine Schriftrolle, die er unter den ungläubigen Augen der Umstehenden entrollt. In einer kleinen Kapelle in der Vorhalle der Kirche wird in einem vergoldeten Gefäß der Schädel von Titus aufbewahrt. Man sieht durch die Öffnung oben einen Teil der braunen Schädeldecke.
Verabredungsgemäß rufe ich dann bei dem Ehepaar an, merke aber gleich, dass ich da in eine kulturelle Falle getappt bin. Ich sollte „am Mittag“ anrufen und habe gefolgert, dass das um zwölf Uhr sein müsste. Man merkt aber sofort, dass ich zu früh da bin. Was soll’s? Die beiden sind Rentner und werden es verkraften. Der Mann, Giorgos, kündigt an, er werde zu Fuß vorbeikommen und mich abholen. Als er mich fragt, woran er mich erkennen kann, sage ich, an meinem deutschen Gesicht. Damit gibt er sich zufrieden. Das Haus liegt gerade ein Stückchen außerhalb der Stadtmauern, wuchtige Mauern aus der venezianischen Zeit. Heraklion war die am besten befestigte Stadt Kretas und die letzte, die von den Osmanen, nach einer langen Belagerung, erobert wurde.
Trotzdem dauert es, bis wir ankommen. Unterwegs trinken wir an dem Brunnen einen Kaffee, vermutlich um Zeit zu gewinnen. Er erzählt von den Reisen nach Trier, mit Ausflügen nach Mainz und Luxemburg – das ihm weniger gefällt, überall Männer mit Anzug und Schlips – und von der Kälte und einer Odyssee bei einer Busfahrt zum Frankfurter Flughafen. Er selbst stammt aus Heraklion, seine Frau ist ein Nordlicht, und ich erinnere mich jetzt, dass Angeliki manchmal von einer sprachlichen Besonderheit erzählt, so was wie der Gebrauch des Dativ für den Akkusativ bei den Personalpronomina.
Auf Schritt und Tritt begegnen wir jemandem, den er kennt. Lauter Männer, alle klein, untersetzt, unrasiert und schnauzbärtig, genauso wie er selbst. Das hält sie nicht davon ab, sich mit Küsschen auf die Backe zu begrüßen. Das steht auch mir noch bevor. Es sind zwei, und man beginnt, entgegen meiner Intuition, mit der linken Backe des Empfängers.
Einer der Männer, auf die wir stoßen, ist sein Bruder. Der betreibt ein kleines Kafeneion auf der langgestreckten Marktstraße, wo ich schon öfter entlang gekommen bin. Den Raki, der hier angeboten wird, kann ich so gerade noch abwehren, mit Hinblick auf die Rückfahrt: „Beim nächsten Mal.“ Damit ist er dann zufrieden. Mir fällt der Name des Kafeneion auf: Το καφενείο του Καλόγερου – ein Wortspiel mit der vollen Form des Nachnamens, der das typisch kretische Diminutiv träg: Das Café des Mönchs.
Auf dem Weg kommen wir an einem Kinderspielplatz vorbei, der Kindheitserinnerungen an Angeliki weckt. Dahinter sieht man, in einiger Distanz, ganz oben auf dem Mauerwerk, das Grabmal von Kazantzakis. Mit der Besichtigung wird es heute nichts mehr. Das Mittagessen ist zu lange und zu üppig. Danach kann ich nur noch den Rückzug antreten.
Die Wohnung ist wie die byzantinischen Kirchen – voll. Überall steht und hängt was rum, viel Kitsch, aber nicht hässlich. Überall Teppiche, und man braucht trotzdem die Schuhe nicht auszuziehen. Das sei eine deutsche Sitte, sagt man mir. Da staune ich aber.
Beide sind sehr freundlich und sehr aufmerksam. Mein Griechisch wird mit jedem Schluck Wein schlechter und ist am Ende, nachdem auch noch ein Raki dazukommt, kaum noch vorhanden. Aber immerhin, sie bleiben bei Griechisch und helfen mir aus der Patsche, wenn ich steckenbleibe.
Ich habe seit Wochen nicht mehr so viel und erst recht nicht so gut gegessen. Es gibt Salat, (σταμναγκάθι), kleine geröstete Brote mit Käse und Tomaten (ντάκος), Frischkäse, der in einem Block auf dem Tisch steht (μυζήθρα), eine Art Schwartemagen (πητχή), Spanferkel (γουρουνόπουλο) und Wurst (λουκάνικο), dazu Kartoffeln. Ich werde ständig aufgefordert, zuzugreifen, auch wenn der Teller voll ist. Es gibt eine wunderbare Interferenz Griechisch-Spanisch, aber das wir mir erst auf dem Rückweg klar: Der Salat sieht ganz anders aus als gängige Salate, und immer wieder wird in dem Zusammenhang von der Nachbarin gesprochen. Der Salat sei άγριος. Also ‚bitter‘, denke ich mir, und das ist er auch. Aber was hat das mit der Nachbarin zu tun? Dann fällt der Groschen: άγριος heißt nicht ‚bitter‘, sondern ‚wild‘. Es ist ein wild wachsendes Kraut, und das besorgt die Nachbarin. Von weit her. Aus der Nähe von Rethymnon. Ich wundere mich auch über die kleinen Stücke und Beeren, die in dem Salat sind: Es sind ganz klein geschnittene Artischokenstücke und die winzigen Früchte aus dem Granatapfel.
Als wenn ich nicht ohnehin schon für eine halbe Woche gegessen hätte, bekomme ich dann auch noch für eine halbe Woche Reste mit. Und noch ein paar Sachen für „unterwegs“. Unter anderem selbstgebrannten Raki, abgefüllt in einer Literflasche Coca-Cola. Na dann gute Fahrt!
Am Ende muss der Sohn des Hauses, der gerade eingetroffen ist, mich auch noch zum Parkhaus fahren. Es nutzt nichts, dass ich mich mit Händen und Füßen dagegen wehre. Er erzählt mir, dass er diese Saison bei einer seiner Eskapaden nach Deutschland schon ein Spiel des FC gesehen hat. Da geht er am liebsten hin, weil die die besten Anhänger hätten. Aber eigentlich sei er selbst Anhänger der Fortuna. Da muss ich doch ein bisschen schmunzeln, angesichts des unvoreingenommenen Ausländers, der Dinge vereinbart, die für Einheimische nicht vereinbar sind.
13. Januar (Dienstag)
Kreta ist größer als das Saarland, aber kleiner als alle anderen deutschen Bundesländer, die Stadtstaaten ausgenommen. Das hätte ich nicht gedacht.
14. Januar (Mittwoch)
Wieder ein Regentag. Die Albaner beklagen ihr Schicksal: Seit zehn Tagen sind sie beschäftigungslos und warten auf besseres Wetter. Und langweilen sich. Wenn sie mit der Ernte hier fertig sind, machen sie in Malles, bei einem anderen Bauern weiter. Ich wusste nicht, dass die Ernte sich so weit in den Februar hineinzieht.
An einer Tankstelle hängt an beiden Zapfsäulen ein handgeschriebenes Blatt. Ich kann auf die Schnelle nur ein paar vereinzelte Wörter erkennen und die Überschrift: Πίστωση. Ich frage den Tankwart. Der erklärt auf Englisch. Versteh nix. Dann erklärt er auf Griechisch. Verstehe. Kredit. Hier wird nicht auf Pump getankt, sondern gleich bezahlt. Jetzt weiß ich auch, warum mir das Wort vertraut vorkam. Kommt von πίστη ‚Glaube‘, ‚Vertrauen‘. Genauso, wie Kredit mit Credo zusammenhängt.
15. Januar (Donnerstag)
In den Dorfkneipen bekommt man oft nur eine handgeschriebene Rechnung und oft noch nicht einmal die. Da wird mit einem Blick abgeschätzt, was man da so aufgetischt hat und damit hat es sich. Da wandert vermutlich einiges in die schwarzen Kassen. Das sind aber die Ausnahmen. In den meisten Lokalen und in allen Geschäften bekommt man immer unaufgefordert sofort eine Quittung. Das war nicht immer so. In einem Museum stand einmal über der Kasse: Bitte verlanden Sie Ihre Eintrittskarte. Da ist in der Vergangenheit so manches Eintrittsgeld gleich in die Tasche des Angestellten geflossen.
In der griechischen Version von Der Wolf und die 7 Geißlein – Ο λύκος και τα 7 κατσικάκια – frisst der griechische Wolf Honig, um seine Stimme zu versüßen (der deutsche frisst Kreide) und macht seine Pfoten mit Jogurt weiß (der deutsche nimmt Mehl). Schöner kultureller Unterschied.
16. Januar (Freitag)
Die griechischen Wörter für ‚Literatur‘ und ‚Technologie‘ legen einen Zusammenhang zwischen beiden nahe. Sie haben die gleichen Bestandteilen, nur umgekehrt angeordnet: λογοτεχνία und τεχνολογία. Wir nehmen sie sonst eher als Gegensätze wahr.
Die Griechen verpassen keine Gelegenheit, einen daran zu erinnern, wie viele griechische Wörter wir haben. Stimmt. Viele davon sind in unseren Sprachen so einheimisch geworden, dass man sie kaum als fremd wahrnimmt: Theater, Politik, Apotheke, ganz zu schweigen von Bischof, Engel oder Mönch. Was die Griechen seltener betonen, ist, dass fast alle diese Wörter durch die Vermittlung des Lateinischen zu uns gekommen sind. Es gibt eine wichtige Ausnahme: Kirche. Es ist von κυρίαρκος [kyriakos] abgeleitet, hat also etwas mit Kyrie zu tun. Das Wort gibt es im Lateinischen nicht. Wie es in die germanischen Sprachen kam (Kirche, church, kirk, kyrka) ist nicht klar. Auf jeden Fall ist die Assimilation hier so stark, dass auch das geschulte Ohr die griechische Herkunft kaum vernehmen wird.
17. Januar (Samstag)
Bei der Lektüre immer wieder auf die Donauzivilisation gestoßen, ein Begriff, der mir nur ganz vage bekannt war. Die Donauzivilisation (auf Englisch eher Old Europe genannt) erstreckte sich ungefähr auf das Gebiet des heutigen Serbien, Rumänien, Bulgarien und der Ukraine. Der gängigen Theorie zufolge kamen sie aus Anatolien über eine Landbrücke, die es heute nicht mehr gibt. Da ist jetzt der Bosporus. Die Entstehung des Bosporus wäre demnach die Grundlage für die Entstehung des Mythos von der Sintflut. Wenn es stimmt, was die Verfechter der Donauzivilisation sagen, dann handelt es sich um die erste Hochkultur der Welt, noch vor Mesopotamien oder Ägypten, eine Sensation. Sie hatten Ackerbau, Viehzucht, Großsiedlungen, Töpferscheibe, Metallverarbeitung, Keramiköfen, Weinanbau und vielleicht, vielleicht auch ein Schriftsystem. Ihre Verfechter sprechen ohne Zögern von einer Schrift, aber es gibt wenige Abbildungen der Funde, und was man dann sieht, Einkerbungen auf Krügen und anderen Gegenständen, lässt doch auch Zweifel aufkommen. Sind das vielleicht Verzierungen? Oder Symbole? Ist das wirklich ein ausgewachsenes Schriftsystem wie in Ägypten oder Mesopotamien?
Einiges davon erinnert mich an die Minoer: keine Prestige- und Prachtbauten, kein zentraler Staat, relativ hohe Stellung der Frau, keine betonte Hierarchie. Ob es da einen Zusammenhang gibt? Kreta ist nicht weit vom Balkan.
Bei der Recherche nach Literatur zur Donauzivilisation auf ein Buch gestoßen, dass von dem Autorenduo Hartmut Günter und Otto Ludwig verfasst wurde. Oder, in anderer Darstellungsweise: Günter, Harmut und Ludwig, Otto. Da weiß man kaum, wo der Vorname ist und wo der Nachname.
Sie sind auch Herausgeber eines internationalen, interdisziplinären Doppelbands zur Schrift. Da wird alles abgedeckt, was man sich denken kann: Schreibmaterialien, Funktion von Schriftlichkeit, Geschichte des Schreibens, Geschichte des Lesens, Geschichte des Buches, Blindenschrift, Abkürzungen, Interpunktion, Arabisch, Japanisch, Spanisch, Leseunterricht, Aufsatzunterricht, Schreiben am Computer, Blickverhalten beim Lesen, Handschrift, mentale Prozesse beim Schreiben, Graphologie, forensische Handschriftenuntersuchung, Typologie von Schriftsystemen … Sagenhaft! Jeder Band hat mehr als 800 Seiten!
Durch den Rückzug in die eigenen vier Wände in den letzten Tagen überhaupt kein Geld ausgegeben, nicht einen Cent. Das kommt in Trier so gut wie nie vor. Selbst an Tagen, wo man das glaubt, merkt man dann, dass irgendwo eine Zeitung, ein Kaffee, ein Brot oder Parkplatzgebühren fällig gewesen sind.
Beim Laufen am Vormittag tiefblauer Himmel und strahlender Sonnenschein, bei ca. 14°. Und trotzdem fühlt es sich kälter an als im Herbst, viel kälter.
18. Januar (Sonntag)
Seitdem ich wieder Wein trinke, werde ich wieder an die witzige griechische Gewohnheit erinnert, dessen Mengen in Kilos anzugeben: „Wie viel möchten Sie? Halbes Kilo?“
Im Mirtos bekomme ich, sozusagen als Zugabe zu dem Wein, zartes Rindfleisch. Aber der eigentliche Hit sind die Zwiebeln in der Soße. Die hätten es zusammen mit Brot und Wein auch getan. Ein vollständige Mahlzeit. Alles andere ist eigentlich überflüssig.
Während ich genüsslich esse, wird auch die Familie versorgt. Sie fangen später als ich an und sind eher fertig. Das Essen ist eher ein Tagesordnungspunkt der abgehakt werden muss. Man isst mit weit über die Teller gebeugten Köpfen. Jana hat nicht nur gekocht, sondern deckt auch den Tisch und räumt ab. Unglaublich. Der Sohn hilft hin und wieder, Tochter und Vater tun keinen Handschlag, und der Mann sowieso nicht. Er beschränkt sich darauf, hin und wieder durch die Gegend zu brüllen.
Ein Drittel der griechischen Muttersprachler lebt im Ausland, außerhalb Griechenlands und Zyperns, davon alleine mehr als zwei Millionen in den USA. Das ist ein großer Anteil, ungefähr so, als würden 25 Millionen Deutsche außerhalb von Deutschland leben.
Im Internet auf ein schönes Zitat von Polgar gestoßen: „Ich beherrsche die deutsche Sprache, aber sie gehorcht mir nicht immer.“ Das wird hier als Illustration der griechischen Syntax im Vergleich zum Deutschen benutzt:
Κατέχω τη γερμανική γλώσσα αλλά αυτή δε με υπακούει πάντα.
Beherrsche die deutsche Sprache, aber sie nicht mich gehorcht immer.
Verstehen kann man das, auch wenn das Deutsche der griechischen Syntax folgt, ganz gut. Am schwierigsten ist vielleicht das Wegfallen des Pronomens: Der Hauptsatz könnte ein Imperativ sein. Dass er das nicht ist, merkt man erst, wenn man beim Nebensatz ankommt. Wäre mal interessant zu wissen, ob die Griechen den Satz verstehen, wenn er der deutschen Syntax folgt.
Im Bewusstsein des Lerners sind Wörter, die auf –ος enden, Maskulinum, und das stimmt auch oft: άνθρωπος, λύκος, καιρός, ‚Mensch‘, ‚Wolf‘, ‚Wetter‘, sind alle Maskulinum. Aber es gibt mehr Ausnahmen, als man meint: δάσος, γεγονός, κράτος, ‚Wald‘, ‚Tatsache‘, ‚Staat’ und viele andere sind Neutrum, und Femininum sind u.a alle von οδός, ‚Straße‘, abgeleiteten Wörter: είσοδος, έξοδος, περίοδος, πάροδος, ‚Eingang‘, Ausgang‘, ‘Periode’, ‚Nebenstraße‘. Das ist auch deshalb verwirrend, weil δρόμος, mit der gleichen Bedeutung wie οδός, Maskulinum ist.
19. Januar (Montag)
Gestern ein klassisches griechisches Drama, Die Vögel von Aristophanes, als E-Book bestellt. Heute kam die Rechnung: $ 0.00. Inzwischen ist so viel Literatur frei und legal im Internet verfügbar, dass die Verlage einige Bücher aus Werbezwecken gratis anbieten.
Am Morgen Sommer, am Nachmittag Herbst, am Abend Winter. Die Berge der Umgebung sind immer noch schneebedeckt.
Einen kleinen Einkauf gemacht und über 30 € bezahlt: Batterien, Shampoo, Honig und Kartoffeln kosten jeweils um die 5 €. Das ist der Rest schnell zusammen. Auch in der Buchhandlung 25 € bezahlt, für einen Roman und ein kleines Heft mit griechischen Mythen. Auch das ist teuer.
In den eigenen Notizen ein schönes Zitat gefunden: „Eltern bringen ihren Kindern nicht die Sprache, sondern das Sprechen bei.“
20. Januar (Dienstag)
Nach einiger Zeit mal wieder bei Giannis in Tertsa einen Kaffee getrunken. Freundliche Begrüßung. Seine Sprache ist aber immer wieder eine Herausforderung. Solange es um alltägliche Dinge geht, komme ich mich – schlecht und recht. Aber wenn es dann um Anekdoten geht, bin ich völlig verloren. Er merkt natürlich, dass ich es nicht verstehe und fragt sich vermutlich, warum. In einer Anekdote geht es um einen Ausländer, der Altgriechisch kann und dann vier Wörter so aneinanderreiht, dass dabei irgendwas Nettes auf Neugriechisch herauskommt.
Seine Frau gibt ihm etwas, was mit der Post gekommen ist. Er zerreißt es bedeutungsvoll. Wahlpropaganda. Νέα Δημοκρατεία. Die Regierungspartei, Nea Demokratia. Die ND gefällt ihm nicht. Da er mir schon die Steilvorlage gibt, frage ich, was ihm denn gefalle. Etwas ausweichend sagt er: Αριστερά – Links.
Am Nachmittag darf ich mit ins Mirtos ins Hotel setzen, in den Empfang, und das Internet nutzen. Zuhause funktioniert es nicht. Auch im Mirtos in der Kneipe haben sie Probleme. Seit zwei Monaten haben sie dort keinen Empfang. Das wäre natürlich die einfachste Lösung.
21. Januar (Mittwoch)
Als es schon dunkel ist, wird es lebendig im Haus. Man hört Stimmen unten und oben, und dann klopft es an meiner Tür. Ein französisches Ehepaar, das Unterkunft sucht. Wir klären das notdürftig auf Englisch, obwohl sie auch ein paar Brocken Griechisch können. Ich gebe ihnen die Telefonnummer, aber nach ein paar Minuten kommen sie zurück. Sie konnten niemanden erreichen. Daraufhin rufe ich an. Zoe nimmt ab und sagt, in fünf Minuten sei jemand da. Dann klopft es wieder bei mir. Es ist Apostolos. Er sucht die Mieter. Die stehen draußen am Auto. Diesmal sprechen sie gleich Französisch mit mir, und ich mache den Dolmetscher Französisch-Griechisch. Gott sei Dank geht es nur um ein paar einfache Informationen. Sie kommen aus Südfrankreich, aus einer Stadt, die eine Städtepartnerschaft mit Ingolstadt hat. Sie kennen sogar Trier. Dann überlasse ich ihnen Apostolos.
Der kommt dann wieder bei mir vorbei, um sich zu bedanken. Er sagt, er sei froh, mich zu sehen. Sie hätten nichts von mir gewusst und nur von Jana erfahren, dass ich unterwegs gewesen bin. Er lädt mich ins Mirtos ein.
Da ist es heute rappelvoll, und es geht hoch her. Eine Diskussion zwischen zwei Männern, einem stattlichen, eher urbanen aussehenden Mann mittleren Alters und einem kleinen Wurzelmännchen an entgegengesetzten Seiten der Kneipe verwandelt sich in einen ausgemachten Streit. Beide schreien sich gegenseitig an. Ich verstehe kein Wort, vermute aber, dass es um Politik geht. Nur noch ein paar Tage bis zu den Wahlen. Apostolos aber korrigiert mich. Er deutet mit dem Finger nach oben: Gott. Der eine sei „dafür“, der andere „dagegen“. Die Rollenverteilung ist anders, als man glauben könnte: Das Wurzelmännchen ist „dagegen“. Ich wüsste nicht, dass ich irgendwo mal eine so offenen Streit über Religion, besser gesagt, über Gott miterlebt habe. Religion ist in unserer Gesellschaft eine Privatsache und beinahe ein Tabu.
Apostolos lässt Wein und leckere μεζέδες kommen. Wir trinken auf den Enkel und das Ende der Olivenernte. Gestern war der letzte Tag. Jetzt geht es darum, die Bäume zu beschneiden. Das macht er alleine. Die Albaner ziehen weiter zu einem Bauern in Males, wo sie auch wohnen werden. Die Oliven seien gut dieses Jahr. Daraus entwickelt sich ein ordentliches Missverständnis. Er ist dabei, die Geduld mit mir zu verlieren. Ich will wissen, woran er das festmacht, dass die Oliven gut sind. Am Geschmack? Nein, am Geschmack nicht. Der ist jedes Jahr gleich. Woran denn dann? Wir drehen uns im Kreis, und endlich verstehe ich: der Preis. Die Olivenernte in Spanien und Italien ist dieses Jahr nicht gut, und davon profitieren die Kreter.
Er kündigt an, in ein paar Monaten Raki zu brennen. Auch hier gibt es Kommunikationsschwierigkeiten. Er sagt, Wein gebe es in allen Teilen Kretas, ich sage, ich hätte hier in der Gegend noch keinen Wein gesehen. Er meint, wie sich dann herausstellt, dass überall in Kreta Wein bzw. Raki hergestellt wird. Die Trauben holen sie sich von weiter her, aus der Gegend, wo ich selbst auch schon Weinfelder gesehen habe, auf dem Weg nach Heraklion durchs Inland.
Es scheint ihm wirtschaftlich sehr gut zu gehen. Als ich das vorsichtig andeute, sagt er nicht nein, sondern nickt zufrieden. Allerdings geht die Fabrik nicht gut. Keine Nachfrage. Da zeigt sich die Krise. Die Arbeiter, die er in der Fabrik hat, stellt er aber nur nach Bedarf ein.
Ich frage mich, was er mit dem Geld macht und frage bei passender Gelegenheit, ob er selbst denn auch reise. Nein, keine Zeit: die Oliven, die Fabrik, der Garten, die Pension, der Kiosk, die Familie, vor allem die Oma. Deren Zustand ist so schlimm, dass sie nur noch von seiner Frau einigermaßen betreut werden kann. Als die wegen der Geburt des Enkels nicht da war, ist Zoe fast verrückt geworden.
Was die Wahlen angeht, kann ich ihm nur entlocken, dass er skeptisch ist. Das ist vielleicht eine ziemlich repräsentative Empfindung. Dass alles besser wird, glaubt keiner.
Hoffnung gibt es aber: Kreta hat Öl. Nicht nur Olivenöl, auch Erdöl. Es ist im Norden Kretas, vor der gesamten Küste. Griechische Unternehmen, die die Technologie und das Kapital hätten, gibt es nicht. Die Bewerber stehen aber schon Schlange: Schweden, Japan, die USA.
22. Januar (Donnerstag)
Die griechischen Kinder freuen sich über die Wahl: Der Tag davor und der Tag danach sind schulfrei. So lange braucht man, um die Wahlkabinen auf- und abzubauen. Erstaunlich, zumal am Sonntag – das ist immer von der Jahreszeit abhängig – schon um sechs Uhr Wahlschluss ist.
Im Radio einen Wahlspot der Nea Demokratia gehört: „Am Sonntag entscheiden wir, in welchem Griechenland wir leben wollen.“ Das ist so unverbindlich, dass jeder es unterschreiben könnte.
Es deutet immer mehr auf einen Sieg von Syriza hin. Dabei zählt vor allem, dass es etwas Neues ist. Das alte System ist vermutlich endgültig am Ende. Jahrzehntelang ging es immer nur um ND oder PASOK. Nachdem sich der PASOK inzwischen selbst zugrunde gerichtet hat – liegt bei 5% – ist jetzt vermutlich auch die ND schlachtreif, einfach, weil sie mit dem alten System assoziiert wird. Das kann man sogar verstehen. Es könnte aber sein, dass Syriza mit Potami koalieren muss, einer weiteren neuen Partei, liberal, leicht links, eurofreundlich. Dann werden einige der großen Ankündigungen sowieso weichgekocht. Aber auch alleine wird Syriza nicht alles ändern können und auch nicht ändern wollen. Auf jeden Fall ist für Sonntag stürmisches Wetter angesagt. Deutet sich jetzt schon an.
23. Januar (Freitag)
Beim Laufen landeinwärts zum ersten Mal den „Fluss“ gesehen. Er ist nicht groß genug für das breite Flussbett, aber mehr als ein Rinnsal. Dass er es nicht bis nach Myrtos, bis ans Meer schafft, sagt vermutlich viel über die Bodenbeschaffenheit. Hier versackt sofort alles. Ob es mit der Schneeschmelze oder dem Regen im Frühjahr noch zu einem richtigen Fluss reicht?
Unterwegs knistert es überall. Das abgeschnittene Astwerk der Olivenbäume wird verbrannt. Angst vor Bränden scheint es hier nicht zu geben.
Statistik über Tabakkonsum in 20 europäischen Ländern. Ganz unten: Schweden. Ganz oben: Griechenland. Bestätigt den persönlichen Eindruck hinsichtlich des Rauchens, bestätigt aber auch das Gefühl, dass Schweden und Griechenland sehr unterschiedliche Länder sind. In Griechenland gibt es keine Kampagnen gegen das Rauchen wie in Schweden, der Tabak ist einheimisch und die Tabakwaren billig.
Insgesamt geht der Tabakkonsum in den Industrieländern jedes Jahr um 1% zurück, in den Entwicklungsländern steigt er. Da tritt in der Werbung ein weißer Amerikaner auf, der raucht. Wenn ich rauche, werde ich so wie der Amerikaner, ist die Botschaft.
Insgesamt rauchen immer noch mehr Männer als Frauen. Außerdem rauchen untere Gesellschaftsklassen mehr als höhere und Erwachsene jungen und mittleren Alters mehr als andere.
24. Januar (Samstag)
Tagesausflug zum Kloster Kapsa. Unterwegs sehe ich zum ersten Mal Wahlplakate. Nicht viele und nur welche von Syriza. Die moderne Gestaltung hat kommt offensichtlich an: Der Vorsprung von Syriza bei den jungen Wählern ist noch größer als bei anderen. Typisch auch eine sehr erfolgreiche Aktion von Tsipras, die über Twitter lief. Da sieht man das Gefälle zu den Politikern der alten Parteien. Erinnert auch ein wenig an Obama und seine Wahlkampfstrategie, auch wenn die noch viel ausgeklügelter war.
Die Nea Dimokratia ist dagegen fast ausschließlich eine Partie der Alten. Typisch ein Wahlspot: Ein paar Jungen auf dem Bolzplatz, Samaras kommt dazu, einer der Jungen sagt, sein Vater sage, Griechenland sei in einer schweren Situation. Samaras sagt den Jungen, sie sollen sich setzen und hält ihnen einen Vortrag. Die Jungs hören brav zu. Samaras sagt, der Vater habe recht, aber jetzt gebe es Licht am Ende des Tunnels. Man müsse manchmal in einer schwierigen Situation unangenehme Dinge tun, damit es nachher wieder aufwärts geht, aber man müsse wissen, wohin die Reise gehe. Das wüssten sie, sie würden ein gutes Griechenland für die Jungen schaffen.
Hinter Ierapetra kann man links landeinwärts abbiegen und über Serpentinen in einsamer Gegend eine landschaftlich schöne Strecke fahren. Imposant. Auf dem Weg stehen plötzlich Ziegen auf der Straße, eine ganze Herde. Sie sind die ersten, die sich durch Autos oder Menschen nicht aus der Ruhe bringen lassen.
Zwei Dörfer, die wie an die Felswand geklebt aussehen. Im zweiten, Shinokapsala, mache ich in einem Kafeneion Halt. Es sieht drinnen aus wie in einer Bauernstube. Die Frau lässt sich durch meine Gegenwart nicht aus der Ruhe bringen und fegt erstmal die Stube. Dann bringt sie mir den Kaffee. Auch sie erkennt sofort, dass ich Deutscher bin. An der Wand ein Photo der Hagia Sofia. Ich frage, ob sie schon mal da gewesen sei. Ja, ihr Mann stamme daher. Doch wohl kein Türke? Aber das wage ich nicht zu fragen. Vermutlich einer der übriggebliebenen Griechen. Sie spricht jedenfalls nicht von Istanbul, sondern von Konstantinopel.
Dann fahre ich in eine falsche Straße und komme zu einer Olivenfabrik. Säckeweise wird die neue Ernte hineingetragen. Die Arbeiter sehen mich staunend an, aber keiner kommt auf die Idee, mir zu zeigen, dass ich in einer Sackgasse gelandet bin.
Man kommt dann wieder auf die Hauptstraße nach Sitia zurück, von der es kurz danach abgeht zum Kloster, diesmal auf einer streckenweise schönen Straße am Meeresufer entlang.
Das Kloster, hoch oben, ist eine festungsartige Ansammlung verschiedener Gebäude. Als ich den steilen Fußweg raufgehe, kommen mir zwei Engländer im Auto entgegen. Sie haben keinen Erfolg gehabt. Das Tor, an dem die Öffnungszeiten stehen, ist verschlossen, obwohl jetzt offen sein sollte. Sie haben auch in Toplou schon dieselbe Erfahrung gemacht. Jetzt wollen sie durch die Schlucht gleich hier nebenan. Der Eingang zur Schlucht, von der Straße aus zu sehen, sieht eindrucksvoll aus.
Ich gehe trotzdem rauf. Durch eine Luke in der Pforte kann man in den schönen Innenhof sehen. An der Pforte steht in verschiedenen Sprachen in sehr freier Übersetzung etwas zu der Kleiderordnung (auf Französisch soll man de cent gekleidet sein). Die griechischen Regeln sind strenger als die der anderen. Ihnen zufolge werden Frauen in „Männerkleidung“ nicht eingelassen.
Dann geht es wieder zurück zur Hauptstraße und rauf nach Pefki. Dort soll es ein schönes Folkloremuseum geben. Es liegt vor dem Ort, oben am Ende eines Feldwegs und ist natürlich geschlossen. Da oben mache ich dann das schwierigste und gefährlichste Wendemanöver seit meiner Ankunft, das ich erfolgreich, aber schweißgebadet beende. Dann gehe ich noch ein bisschen durch den verlassen wirkenden Ort.
Auf der Rückfahrt am Rand der eher unansehnlichen Straße immer wieder helle, leuchtende gelbe Blumen, unseren Butterblumen ähnlich. Je weiter von der Stadt entfernt, umso dichter die Reihen.
Am Abend sitzt im Mirtos ein Waliser am Nebentisch. Wir bestellen genau das gleiche, im gleichen Moment. Nach dem Essen wird er gesprächig. Er kommt schon seit 13 Jahren hierher. Dies ist der schlechteste Winter bisher.
Er hat ein Haus zu Dauermiete. Er hängt meistens noch ein paar Wochen dran, wenn Frau und Tochter schon wieder nach Hause müssen. Er selbst ist im Ruhestand, auch wenn er jünger aussieht. Er ist ohne Auto hier und wischt meinen Einwand, das sei doch ziemlich kompliziert, vom Tisch. Es gebe ja schließlich Busse. Ja, aber der letzte fährt um fünf. Er erzählt dann selbst, wie er dieser Tage, mit Einkaufstüten beladen, in Gra Lygia, wo die ganzen Schüler aussteigen, rausgeworfen wurde. Er solle den nächsten Bus nehmen. Der kam aber nicht.
Er belehrt mich, dass Walisisch eine der ältesten Sprachen der Welt sei, zusammen mit Aramäisch und Griechisch und einer vierten Sprache, auf die er im Moment nicht kommt. Wo stammt so ein Unsinn her? Wie können die Leute das glauben? Wird dieselbe Geschichte in anderen Ländern mit anderen Sprachen erzählt? Irgendwie kommt mir das bekannt vor. Vielleicht im Baskenland mit Baskisch.
25. Januar (Sonntag)
Wahltag. Das griechische Wort für ‚Wahlen‘, εκλογές, das fällt mir jetzt erst auf, ist der Plural von εκλογή, und das ist eben auch die Ekloge. Was hat eine Gedichtform, und dann auch noch die Hirtendichtung, mit der Politik zu tun? Resultiert aus einem Irrtum. Ursprünglich waren Eklogen ausgewählte Auszüge aus jeder Art von Text, ob Prosa oder Dichtung. Das Wort wurde dann aber immer mehr für die Eklogen des Vergil benutzt, für Auszüge aus seiner Hirtendichtung, und spätere römische Dichter benutzten den Begriff für ihre eigene Hirtendichtung. Am Ende wurde im ein Gattungsbegriff daraus.
Der griechischen Verfassung zufolge muss die Regierungsbildung innerhalb von drei Tagen geschehen. Das stammt noch aus der Zeit der absoluten Mehrheiten. Eine Koalition innerhalb von drei Tagen zu bilden, ist so gut wie unmöglich, zumal der Koalitionspartner noch nicht feststeht, sollte Syriza die Wahlen gewinnen – wonach es schwer aussieht. Der Auftrag zur Regierungsbildung würde nach drei Tagen an den Führer der zweistärksten Partei gehen. Auch der hätte nur drei Tage Zeit. Angesichts der Schwierigkeiten könnte es Neuwahlen geben oder eine Minderheitsregierung.
Auch mit einer absoluten Mehrheit würde Tsipras es schwer haben, die Wahlversprechen einzulösen: Wiedereinstellung der entlassenen Staatsangestellten, Erhöhung von Mindestlohn und Renten usw. Woher soll er das Geld nehmen? Und was will er in den Verhandlungen mit der Troika erreichen? Griechenland zahlt ohnehin niedrige Zinsen, niedrigere als Portugal oder Irland zum Beispiel, und die Fristen sind sehr großzügig. Griechenland hat 32 Jahre Zeit und noch gar nicht angefangen, das Geld zurückzuzahlen. Selbst wenn es einen kompletten Schuldenschnitt gäbe, würden sie kein Geld haben.
Die Korruption soll bekämpft werden, die Steuerflucht und die Vetternwirtschaft der alten Parteien. Das ist gut. Die haben ihre Leute, wenn sie abgewählt wurden, immer großzügig versorgt, bis hin zu denen auf niedrigen Posten. Das Abzuschaffen ist gut, bringt aber kein Geld. Bei der Korruption und der Steuerflucht braucht man nicht nur den politischen Willen, sondern auch Zeit und Methoden. Ob das so schnell geht? Es geht nicht nur um die Korruption im Großen – der ist ohnehin schwer beizukommen – sondern auch der alltäglichen Korruption. Aber die bekämpfen dauert, einem Politiker zufolge, eine ganze Generation. Kann ich mir vorstellen. Und der Prozess hat längst begonnen. Beispiel: Eine in Deutschland aufgewachsene Griechin macht in Griechenland die Fahrprüfung. Vor der Prüfung fragt der Fahrlehrer, wo denn der φακελάκι sei, das Umschlägchen. Die Kandidatin sagt, sie habe keinen. Sie sei gut vorbereitet und zuversichtlich, dass sie bestehen werde. Bei der Prüfung wird sie schikaniert und fällt durch. Beim zweiten Versuch bringt sie den Umschlag mit – 300 Euro – und besteht. So weit, so normal. Aber jetzt kommt das Neue: Sie bringt die Sache zur Anzeige. Und das geschieht jetzt immer häufiger. Die Leute sind es leid.
26. Januar (Montag)
Klarer Wahlsieg von Syriza, aber knapp an der absoluten Mehrheit vorbei. Insgesamt sind sieben Parteien im Parlament, davon fünf, die fast gleich stark sind, mit jeweils ungefähr 15 Abgeordneten. In den einzelnen Wahlkreisen gibt es eine ganze Menge, in denen die ND gewonnen hat, aber meistens nur knapp, während da, wo Syriza gewonnen hat, der Vorsprung meist groß ist. Die ND ist vor allem im Norden und im Peloponnes erfolgreich. Syriza ist hier besonders stark, auf Kreta. Da haben sie fast überall 40% und mehr. Die Gesamtzahl der Stimmen beträgt gerade mal über sechs Millionen. Es muss doch wohl mehr Wahlberechtigte geben.
Irgendwo gelesen, dass Englisch sich in den letzten 600 Jahren stärker verändert habe als Griechisch in den letzten 2400. Kann das sein? Verstehen heutige Griechen Plato besser als heutige Engländer Chaucer? Man müsste mal die alte und die moderne Version gegenüberstellen, für beide.
27. Januar (Dienstag)
In den USA nennt man es Mexican Car Wash, wenn man das Auto zum Waschen einfach in den Regen stellt. Das klappt hier relativ gut, das Auto ist nachher zwar nicht sauber, aber sauberer. Zu Hause wird es eher noch schmutziger.
Bei Jannis in Tertsa auch dem Mann von Sofia begegnet, der alten Dame. Sie sind beide wirklich schon 85. Das sieht man ihnen nicht an. Sie haben sogar schon eine Tochter, die im Ruhestand ist. Sie lebt in Heraklion.
Jetzt auch die Auflösung für den Witz mit dem Ausländer bekommen, der Altgriechisch spricht: Er reiht die Wörter μυς + οτα + σεληνα + δας aneinander, und daraus ergibt sich so etwas wie Μισώ τας Ελληνίδας – Ich hasse die Griechinnen. Es ist ziemlich an den Haaren herbeigezogen, und selbst als ich anderswo nachfrage, kommen die Griechen nicht sofort darauf.
Die kretischen Wörter für Ziegen und Hühner, αίγες und όρνιθες, kontrastieren mit den Standardwörtern κατσίκες und κότες. Dabei ist όρνιθες der interessantere Fall. Das sind ja eigentlich Vögel im Allgemeinen (vgl. Ornithologie), aber hier ist der Bedeutungsspielraum enger.
Am Nachmittag in Ierapetra im Kleinen Café – das heißt wirklich so – dessen freundlicher Besitzer mich auch im Vorbeigehen grüßt, einen Kaffee getrunken. Er heißt Manolis. Diesmal drinnen gesessen. Da hängen und stehen, zu einem Dreieck angeordnet, Medaillen und Pokale. Ich frage danach, und es stellt sich heraus: Er ist ein Läufer! Und was für einer! Marathons zuhauf, darunter die von Rom, Enschede, Wien. Und den Marathon von Marathon, ihm selbst zufolge der schwerste von allen, ist er schon dreizehn Mal gelaufen! Ich zolle ihm meinen Respekt. Er spricht noch von weiteren Marathons in Griechenland, u.a. auf Rhodos und in Nauplion. Die hat er selbst aber noch nicht in Angriff genommen. Er selbst organisiert auch Läufe hier in der Gegend. Gleich am 1. März findet einer statt, ausgerechnet in Mithi, wo ich dieser Tage mal hergelaufen bin. Ein anderer findet Ende März in der Nähe von Heraklion statt. Die Läufe haben es aber in sich: 1.300 Höhenmeter Unterschied der eine (12 oder 26 Kilometer), 700 der andere (22 Kilometer). Da werde ich sicher die kürzere Strecke laufen. Er fragt auch nach Schuhen für die Berge. Wir machen aus, dass ich beim nächsten Mal meine Schuhe mitbringe und er sie begutachtet und ggf. beim Neukauf hilft. Die alten sind sowieso ziemlich abgelaufen.
In einem Reisebüro frage ich nach Fähren oder Flügen nach Santorini. Am Anfang klappt die Kommunikation ganz gut, am Ende bin ich nicht mehr sicher, ob wir jetzt über Fähren oder Flüge sprechen. Es ist jedenfalls noch etwas früh. Am 9. April gibt es auf jeden Fall eine Fähre. Das ginge auch noch, es wäre jedenfalls noch vor Ostern.
Am Abend dann endlich ins Giarakaki. Sehr schönes, rustikales Lokal, steht in keinem Reiseführer. Unregelmäßige Natursteine an den Wänden, schöner, gefliester Fußboden, schwere Holzbalkendecke, wenig Zeug an den Wänden, einfache Holztische. Von den modernen Lampen hängen Schneebesen, Schöpflöffel und Pfannenwender hinunter, und auf dem Boden unter Glas Weinflaschen und Weinzubehör. Der Raum ist in zwei längliche Teile unterteilt, und in jedem brennt ein Ofen mit offenem Feuer, aber das reicht nur so gerade, damit man nicht friert. Es ist noch fast leer, aber nach neun kommen doch noch ein paar Gäste.
Μan sitzt kaum, da werden schon unaufgefordert ein paar Appetithäppchen hingestellt: geröstetes Brot, Nudeln mit Mayonnaise, kleine Wurststückchen und Bohnenpaste. Ich nehme dann ein Gericht mit dem irreführenden Namen μεζεσ. Es ist ein Teller mit hellem und dunklem Fleisch, alles in so kleine Stücke geschnitten, dass es kein Messer dazu gibt. Dazu gibt es Jogurt als Soße und Tomaten. Schmeckt sehr gut, und der Wein auch.
28. Januar (Mittwoch)
Tsipras legt ein unglaubliches Tempo vor. Schon gestern, zwei Tage nach der Wahl, hatte er die komplette Regierung zusammen, reduziert von 20 auf 10 Ministerien! Der Koalitionspartner, die Rechten, bekommen nur ein Ministerium, passenderweise das Verteidigungsministerium. Finanzminister wird ein Hardliner der Anti-Troika-Gruppe.
Im Altgriechischen gab es in Attika, Delphi und Sparta unterschiedliche Monatsnamen, wobei Delphi und Sparta näher beieinander liegen als beide zu Attika. In einigen Namen sind Götter zu erkennen – Poseidon, Artemis, Dionysos – aber die meisten sagen uns nichts. Alle Monate hatten 29 oder 30 Tage. Das Jahr fing im Juli an, und jeder Monat in unserer Monatsmitte, am 16. Es gab aber überall zwölf Monate.
Αuch die Wochentage hatten andere Namen, mit genauen Parallelen zu anderen modernen Sprachen, aber ohne jede Parallele zum heutigen Griechisch. Der Sonntag und der Montag hießen genau so: Ημέρα Ηλιου Ημέρα Σελήνης, der Samstag war nach Kronos benannt, also dem Äquivalent des römischen Saturn, wie in Saturday, und der Dienstag nach Ares, also Mars: martes, mardi. Passt alles.
29. Januar (Donnerstag)
Die KKE, die Kommunistische Partei, heißt Kappa Kappa Epsilon. Das ist so, als wenn die SPD Sigma Pi Delta hieße.
Bei strömendem Regen nehme ich eine Frau und ihren Sohn mit nach Ierapetra. Sie ist Albanerin, lebt aber schon seit über 15 Jahren in Myrtos und spricht fließend Griechisch. Ihr Sohn, noch im Kindergartenalter, spricht Albanisch mit ihr und dann mit mir, wie selbstverständlich, Griechisch. Und erzählt mir, dass er auch schon ein bisschen Englisch kann.
Sie fragt mich, ob ich Griechisch schreibe, und ich sage nein, keine Texte, höchstens mal ein paar Notizen. Aber das meint sie mit Schreiben. Sie kann nicht schreiben. Sie ist nie zur Schule gegangen, aber Lesen hat sie gelernt. Wenn sie sich dann aber hinsetzt und die Zeichen machen will, dann geht es irgendwie immer in die falsche Richtung.
Auch sie habe ich in Myrtos noch nie gesehen. Ich frage mich, wo die Leute sich verstecken. Dabei arbeitet sie in der Bäckerei, allerdings hinter der Szene, in der Backstube.
Als sie aussteigt, fragt sie mich, was sie mir schulde. Ich bin mir nicht sicher, ob das ernst gemeint ist oder einfach eine Höflichkeitsfloskel.
30. Januar (Freitag)
Aus aktuellem Anlass sehe ich mir das Wort für ‚Schwager‘ an. Es stellt sich heraus, dass meine Verwirrung nicht umsonst besteht. Die Sache hat zwei Haken. Erstens gibt es das Wort γαμπρός. Das bedeutet ‚Schwager‘. Aber es bedeutet nicht nur ‚Schwager‘, sondern auch noch ‚Schwiegersohn‘ und ‚Bräutigam‘. Und dann gibt es ein zweites Wort für ‚Schwager‘, nämlich κουνιάδος (fast wie Spanisch). Nur bezeichnet das einen anderen Schwager, nämlich den Bruder des Ehepartners. Dagegen ist γαμπρός der Mann der Schwester! Da differenziert das Griechische, wo wir nur ein Wort verwenden. Im Russischen gibt es sogar noch ein weiteres Wort für ‚Schwager‘. Außer деверь, ‚Bruder des Ehemannes‘ gibt es noch шурин, ‚Bruder der Ehefrau‘ und зять, ‚Ehemann der Schwester‘! Es gibt sogar noch своя́к, ‚Ehemann der Schwester der Ehefrau‘, aber dafür haben wir den ‚Schwippschwager‘.
Das Die Holländerin, die offensichtlich sehr gut Griechisch spricht, erzählt eine rührende Geschichte. Sie war dieser Tage als Anhalterin unterwegs, und im Auto lief die CD eines Sängers, den sie aus ihrer Zeit in Saloniki kannte, wo sie als Studentin ein Stipendium hatte. Sie machte ein paar Kommentare, und dann kam das schönste Lied dieses Sängers. Beide hörten still zu. Als sie ausstieg, hielt der Fahrer, der bis dahin kaum etwas gesagt hatte, die CD an, nahm sie raus und drückte sie ihr in die Hand.
31. Januar (Samstag)
An der Bushaltestelle die Holländerin aufgegriffen und mit nach Ierapetra genommen. Als wir dann da waren, stellte es sich heraus, dass sie gar nicht vorhatte, nach Ierapetra zu fahren. Sie hatte nur so an der Bushaltestelle rumgesessen. Aber wollte sich dann wohl doch die Gelegenheit nicht entgehen lassen.
Vor dem Besuch des Frisörs höchste Konzentration. Es geht darum, μαλλιά nicht mit μάτια zu verwechseln. „Können Sie mir bitte die Augen schneiden?“. Hört sich irgendwie falsch an.
Die junge Friseuse in dem hochmodernen Friseursalon geht ganz bedächtig vor. Sie scheint jedes Haar einzeln behandeln zu wollen. Es dauert unendlich lange, und sie verharrt manchmal in tiefer Reflexion, bevor das nächste Haar fällt. Der totale Kontrast zu dem Friseur in Myrtos, der nicht viel Federlesens machte und in fünf Minuten fertig war, und das zu einem höheren Preis. Diese Friseuse macht ihre Sache gut, auch wenn ich am Anfang den Eindruck habe, dass ich den Salon mit Glatze verlassen werde.
Dann bei Manolis, der gleich um die Ecke ist, meine Laufschuhe präsentiert. Die seien in Ordnung für den Lauf, meinte er. Er selbst kauft sich 3-4 Paar Schuhe pro Jahre, läuft aber auch mehr als ich. Er macht aber kein Dogma daraus. Die Schuhe bestellt er im Internet. Mit gesenkter Stimme sagt er: Halb so teuer wie hier.
Nach dem Einkauf fahre ich dann zum Klio, einem Lokal außerhalb von Ierapetra, das im Reiseführer empfohlen wird. Zu recht!
Ich fahre erst dran vorbei, weil ich mir Κλίο notiert hatte, mit zweieinhalb Rechtschreibfehlern. Es ist aber Κλειώ, und das sieht ganz anders aus.
Es liegt direkt am Strand, und man blickt auf die aufgewühlte See, die Tamarisken, die im Wind schaukeln und die Sonne, die sich im Wasser bricht.
Die junge Frau, die mich bedient, ist Κλειώ. Die Namensgeberin ist aber ihre Oma, die das Lokal gegründet hatte. Jetzt macht der Papa die Küche und die Tochter die Bedienung. Klassischer Familienbetrieb.
Sie ist freundlich, spricht langsam und deutlich, erklärt, hilft, fragt. Was will man mehr? Und das Essen ist erste Sahne. Schon ganz zu Anfang wird krümeliges Brot mit einer Joghurtpaste und einer Olivenpaste aufgefahren, dann ein ganzer Teller mit ποικιλία, dann die Hauptspeise, eine Art gefüllter Rollbraten, dazu Wein, und dann noch Obst, Kuchen und Kaffee auf Kosten des Hauses, das alles für 14 €.
1. Februar (Sonntag)
Denkwürdige Szene am Straßenrand: Neben einer überfahrenen Katze zwei lebendige Katzen, mit gesenkten Köpfen auf den ausgestreckten Pfoten in gewisser Distanz auf dem Boden liegend. Dann verändern sie ihre Position immer wieder. Mal stehen sie mit gesenkten Köpfen vor ihr, so als trauerten sie, dann springen sie auf sie zu, wobei die eine die andere verjagt, dann aber sofort wieder zurückweicht. Dann schnuppern sie an der toten Katze und zerren an ihr herum, dann kommt wieder die lauernde Stellung vom Anfang. Sie wissen wahrscheinlich nicht, was sie da vor sich haben.
2. Februar (Montag)
Zur Autowäsche, die per Hand gemacht wird, macht man vorher einen Termin aus. Die Waschanlage ist mitten in einer Geschäftsstraße im Zentrum von Ierapetra. Der sehr freundliche junge Mann sagt mir, am Vormittag sei er ausgelastet, aber am Nachmittag gehe es, nach der Mittagspause. – Nach der Mittagspause, so um zwei? – Nein, so um fünf
Punkt fünf Uhr kommt er angeradelt und nimmt das Auto entgegen. Ich solle in gut einer Stunde wiederkommen. Das tue ich, und er ist tatsächlich gerade bei den letzten Handgriffen. Das Auto ist kaum wiederzuerkennen. Der Schmutz von drei Monaten und Tausenden Kilometern ist spurlos verschwunden, innen und außen. Der Mann will das Trinkgeld erst nicht annehmen, und meine Begründung geht ins Leere: Schließlich sei das Auto ja richtig schmutzig gewesen. Schmutzig? Wäre schön, meint er, wenn alle Autos so sauber wären.
3. Februar (Dienstag)
Schönes Missverständnis bei der Vorbereitung einer Besichtigung: Ein Mann schreibt mir zurück, er verstehe nicht, was ich wolle, ich solle ihn anrufen, er spreche gut Deutsch, dann könnten wir das klären. Aber auch am Telefon, und auch auf Deutsch, reden wir eine Zeitlang aneinander vorbei. Ich frage mich, warum er immer wieder von Kreta spricht, auch schon in der Mail. Dann stellt sich heraus, dass er gar nicht auf Kreta ist, sondern irgendwo an der albanischen Grenze. Ich hatte eine falsche Adresse.
In dem Mythos um Ikarios, dem ersten Winzer der Menschheit, ein interessantes Detail entdeckt: Drei Männer, die er bewirtet, sehen doppelt, beginnen zu wanken, verlieren den Verstand, und glauben, dass er sie vergiftet hat. Und der Mythos erklärt auch, warum ihnen das geschieht: Sie haben den Wein unvermischt getrunken, ohne Wasser. Ganz offensichtlich machte man das nicht.
Jana erzählt mir, ihr Sohn sei jetzt beim Militär. Ich glaube, ich höre nicht richtig. Ich kann mir das Kind kaum beim Militär vorstellen. Ob er hier in der Nähe sei, will ich wissen. Nein, das weist sie weit von sich. In der Nähe von Athen. Sie wird demnächst hinfahren, um zu sehen, wie es ihm geht. Der Anfang muss wohl ziemlich schockierend gewesen sein. Jedenfalls gibt es in Griechenland weiterhin die Wehrpflicht, zwölf Monate. Ich hatte davon in Zusammenhang mit der doppelten Staatsbürgerschaft gelesen. Wenn man die hat, bedeutet das theoretisch auch doppelte Wehrpflicht. Das wird aber in der Praxis nicht eingefordert. Es reicht, wenn man in einem Land den Wehrdienst ableistet. In der Regel kann man wählen, in welchem. Aber wenn es, wie in Deutschland, keine Wehrpflicht mehr gibt, fällt die Wahl flach. Ein Grieche, der in Deutschland aufgewachsen ist, muss nach Griechenland!
4. Februar (Mittwoch)
Wieder ein komisches Missverständnis. In Pachia Ammos, auf dem Weg nach Heraklion, suche ich die Werkstatt eines Mannes, der Musikinstrumente repariert, ein Ein-Mann-Laden. Man kann die Werkstatt besichtigen. Bei der Frage nach der Werkstatt von Erikkos werde ich immer nach oben und dann wieder nach unten geschickt. Dann stelle ich die Frage gleich vor einem hallenartigen Bau, und man deutet mit dem Finger auf den Eingang: Da. Ich gehe rein. Überall Eisen und Gummi. Ich frage, ob man einen Blick hinein werfen kann. Auf was? Auf die Werkstatt von Erikkos. Ja, aber auf was? Auf die Musikinstrumente. Ah, das ist was ganz anderes. Es gibt zwei Erikkos. Beide haben eine Werkstatt. Der eine repariert Musikinstrumente, der andere Motorräder.
Dann nehme ich einen Engländer mit. Er lebt seit zwanzig Jahren hier und kann kein bisschen Griechisch. Es macht ihm nichts aus, dass ich seinetwegen ein ganzes Stück von der Hauptstraße abfahren muss. Als ich mich dann dem Ort nähere, in dem er aussteigen will, macht er noch ein paar abfällige Bemerkungen über griechische Autofahrer. Ich bin froh, als ich ihn wieder los bin.
Dann kommt ein fröhlicher Bulgare. Den kann ich gleich bis nach Heraklion mitnehmen. Er erzählt mir seine halbe Lebensgeschichte, einschl. einer bevorstehenden Operation am Bein. Er spricht flüssiges, aber schwer verständliches Griechisch mit englischen und deutschen Brocken. Von Putin hält er wenig, von Merkel viel. Und die Griechen sollten mal schön ihr Geld zurückzahlen. Sie hätten es ja auch ausgegeben. Bei Deutschland denkt er in erster Linie an Bier. Das sei das beste, Amstel, zum Beispiel. Ich bin froh, dass kein Holländer in der Nähe ist. Er schiebt dann aber noch Radeberger nach. Geht doch.
Im Parkhaus frage ich nach dem Weg zum Historischen Museum. Einer der Männer erklärt ihn, wird aber von den anderen korrigiert: Historisches Museum, nicht Archäologisches Museum. Aber auch die zweite Erklärung ist falsch. Sie schicken mich zum Naturhistorischen Museum. Zum Glück ist das Historische Museum ganz in der Nähe.
Das Historische Museum beginnt da, wo das Archäologische aufhört: in der Römerzeit. Im ersten Raum werden die danach folgenden Epochen in Glaskästen mit jeweils ein paar kleinen Funden aus der Zeit dargestellt: die Byzantinische Epoche ab 395), die Zeit der Sarazenen (ab 827), die zweite Byzantinische Epoche (ab 961), Venedig (ab 1204), die Osmanen (ab 1645).
Die Fund stammen alle aus Heraklion und Umgebung, aber bei dem Museum ist nicht ganz klar, ob es sich um ein Stadtmuseum handelt oder nicht. Unten steht jedenfalls ein großes Holzmodell der Stadt, aus der späten venezianischen Zeit. Man kann gut eine Dreiteilung der Stadt erkennen, die beiden damals schon getrennten Häfen und ein weiteres landeinwärts liegendes Viertel. Die Stadt ist sehr unregelmäßig angelegt. Auffällig sind die vielen Bastionen und die vielen Kirchen. Die Kirchen haben alle italienische Namen und waren vermutlich katholisch. So viele Kirchen waren allein für die Besatzer sicher nicht nötig. Mussten die orthodoxen Kreter alle konvertieren? Oder zumindest katholische Gottesdienste besuchen? Es heißt jedenfalls immer, dass die Glaubensfreiheit unter den Osmanen größer war als unter den Venezianern.
Der Name der Stadt hat sich von Heraklion über Chandax und Candia zu Iraklion verändert, zurück zu den Wurzeln. Der alte Name erinnert an Herakles, der hier seine siebte Tat vollbrachte, die Bezwingung des kretischen Stiers.
Dann gibt es einen Saal mit Einzelteilenaus der venezianischen und der osmanischen Zeit. Besonders schön ein venezianischer Brunnen, in der Wand verankert, mit kleinen, kreuzförmig angebrachten Wasserschalen von oben nach unten. Als ich gerade davor stehe, beginnt tatsächlich Wasser zu laufen.
Ein junger Aufseher erklärt mir, was es mit den Loch in einem Löwen auf sich hat, der hier an der Wand hängt: Zweitverwertung. Er war ursprünglich Teil eines Adelswappens und wurde dann für einen Brunnen verwendet. Das Loch ist ein Bohrloch.
In der venezianischen Zeit gab es Juden, die es in den Adelsstand brachten. Davon hatte ich noch nie gehört. Dafür steht hier ein Adelswappen, das den venezianischen Löwen zeigt und eine Inschrift auf Hebräisch hat!
Oben befindet sich in einem abgedunkelten Saal eine Münzsammlung. Münzen kamen relativ spät nach Kreta. Sie kamen erst mit Soldaten, die im Heer Alexanders dienten, vom Ausland nach Kreta und wurden dann auch hier geprägt.
Die meisten frühen Münzen sind aus Silber und Gold. Die allererste zeigt gleich das Labyrinth, die anderen Adler, Stier, Hirsch. Profile von Herrschern kommen erst später. Die meisten dieser Münzen sind verschwindend klein. Im Laufe der Epochen werden sie dann immer größer.
Bei den byzantinischen Münzen fällt mir auf, dass sie zuerst nur Herrscherköpfe zeigen, erst später kommen christliche Insignien wie Kreuz oder Kelch. Die Erklärung: Die ersten stammen aus der ersten byzantinischen Zeit, die anderen aus der zweiten.
Aus der Neuzeit sind auch von der Kretischen Bank geprägte Münzen und Geldscheine zu sehen. Das ist die Zeit der Unabhängigkeit Kretas. Macht man sich gar keine Gedanken darüber, dass staatliche Unabhängigkeit all das mit sich bringt. Das Geld konnten sie dann nach fünfzehn Jahren vermutlich wieder einstampfen.
Oben hat man mit Freskenfragmenten aus unterschiedlichen byzantinischen Kirchen einen Altarraum nachgebildet. Einerseits wirkt die Darstellung ganz unbeholfen, aber dann auch wieder ganz gelungen, vor allem in den Farben und in den Faltenwürfen, in denen man die Bewegung erahnen kann.
Dann kommt ein Raum zu den kretischen Rebellionen, mit Säbeln, Gewehren und Pistolen mit beschlagenen Läufen. Leider gibt es dazu so gut wie keine Informationen. Am besten ist eine Portraitreihe kretischer Rebellen, alle finster dreinblickend, mit Schnäuzer oder Vollbart, einer typischen Kopfbedeckung und dem vor der Brust gekreuzten Messer! Das volle Programm. Es könnten genauso gut Albaner oder Türken sein. Aber das sagt man hier lieber nicht laut.
Als ich aus dem Museum komme, hat das Wetter sich weiter verbessert. Es ist sonnig und warm, der bisher schönste Tag des Jahres. Und ausgerechnet den haben meine Besucher verpasst.
Scheinbar zufällig, aber wie von Geisterhand durch meinen leeren Magen gelenkt, komme ich am Siga Siga vorbei. Die Gelegenheit lasse ich mir nicht entgehen, einschließlich, entgegen der Vorsätze, des Weins zum Essen und des Raki zum Nachtisch. Schließlich gibt es den auf Kosten des Hauses.
Von da gehe ich in die Innenstadt, an einem althergebrachten Laden mit der Bezeichnung Herrenfrisör vorbei und an einem althergebrachten Laden, in dem es κάλτσες und καλτσόν gibt, kaltses und kaltson. Ich weiß nur, dass das irgendwas mit Füßen zu tun hat. Es sind Socken und Strumpfhosen, laut Auskunft des Lexikons. Später sehe ich dann in einem modernen Laden Schaufensterpuppen mit Eselskopf. Ob die Kunden die Botschaft verstehen?
Mehr als rechtzeitig mache ich mich auf den Weg zum Flughafen. Der verdient sich durch und durch schlechte Noten. Geparkt wird zu beiden Seiten des abschüssigen Straßenrands, aber da finde ich keinen Platz und lande vor einer Schranke auf dem schlecht beleuchteten Platz vor der Abflughalle: militärischer Sperrbezirk. Die Offiziere öffnen die Schranken und lassen mich zurückfahren. Ich lande auf dem Parkplatz einer Autovermietung.
Die Abflughalle ist leer, ohne jeden Charme, es gibt keinen Kaffee, keine Verkaufsstände, kaum Sitzgelegenheiten, und der Weg zur Ankunftshallte ist nicht gekennzeichnet. Es ist eine winzige Halle ganz am Ende, ohne jede Information über Ankunftszeiten. Erst kurz vor der Ankunft des Fluges geht dann ein winziger Fernsehbildschirm an.
Man kann sich aber ins Internet einwählen und telefonieren. Das mache ich als eine Art Zeitvertreib. Und dann ist es so weit: der erste Besuch aus Deutschland. Schwester und Schwager, trotz der umständlichen Reise, mit Umstieg in Saloniki, gut drauf. Sie haben zwei Koffer dabei, einen mit Kleidung, einen mit Mitbringseln.
Als erstes erleben sie den griechischen Wind auf dem Weg zum Parkplatz. Ich bedauere es, dass sie ausgerechnet den bisher schönsten Tag des Jahres verpasst haben. Aber sie lassen sich ihren Optimismus nicht nehmen und freuen sich auf sonnige Tage auf Kreta. Die Ahnungslosen!
Das Landschaftsprofil ist in der Dunkelheit kaum zu erkennen, aber Berge und Meer sind zumindest zu erahnen, und die Tunnel und die Durchbrüche durch die Felsenwände geben eine Vorstellung davon. Sofort können sie Bekanntschaft machen mit der griechischen Fahrweise, bei der der Seitenstreifen, sofern vorhanden, als Fahrbahn mitbenutzt wird und bei der auch der durchgezogene Mittelstreifen überfahren wird.
Wir kommen wohlbehalten in Ierapetra an. Der erste Eindruck: größer als erwartet. Es stimmt, die Stadt zieht sich ziemlich hin und macht im Innern mit den erleuchteten Straßen fast ein bisschen einen großstädtischen Eindruck. Das war mir selbst noch nicht aufgefallen.
Das Astron, direkt an der Strandpromenade gelegen, macht von vornherein einen guten Eindruck. Der wird sich in den nächsten Tagen bestätigen. Es ist auch, jahreszeitlich bedingt, ganz preisgünstig. Die meisten Hotels an der Strandpromenade sind geschlossen.
Auch das hoteleigene Restaurant ist im Winter geschlossen, aber in der Pizzeria an der Strandpromenade gleich hinter dem Hotel bekommen wir trotz der fortgeschrittenen Stunde noch problemlos was zu essen. Zum Nachtisch gibt es Raki und Gebäck, eine Art Baklava, auf Kosten des Hauses, aber ich muss erst mal klären, dass der griechische Raki nichts mit dem türkischen Raki gemeinsam hat außer dem Namen. Dann schmeckt er auch.
Es darf geraucht werden. Und das ist für mich die Gelegenheit, das Wort für Aschenbecher zu lernen: τασάκι. Ich hatte an irgendetwas mit Asche gedacht, und so ein Wort gibt es auch, σταχτοδοχείο, aber τασάκι ist, wie die freundliche Bedienung erklärt, das gängigere Wort.
Sie versteht nicht, was mit dry wine gemeint ist, und als ich es auf Griechisch versuche, klappt es auch nicht. Vermutlich benutze ich das falsche Wort für ‚trocken‘. Beim Wein ist es ξηρός.
Wieder zu Hause angekommen, lese ich in der aus der Heimat über eine dänische Studie, die vor exzessivem Jogging warnt. Jogging sei auf lange Sicht nur dann gut für die Gesundheit, wenn moderat gelaufen werde. Optimal sind demnach eine bis zweieinhalb Stunden pro Woche, verteilt auf nicht mehr als drei Einheiten. Auch soll man nicht so schnell laufen. Daran halte ich mich sowieso – unfreiwillig.
5. Februar (Donnerstag)
Vier Augen sehen mehr als zwei (und sechs erst recht). Ein Gemeinplatz, aber in den nächsten Tagen erweist er sich immer wieder als wahr. Ich sehe Dinge, die ich nie gesehen habe, auch wenn ich Dutzende Male an ihnen vorbeigegangen bin, ich werde auf Dinge gestoßen, die ich gesehen und nicht beachtet habe. Den Anfang machte gestern ein erleuchtetes Gipfelkreuz auf der Höhe von Agios Nikolaos.
Heute geht es weiter mit einer „Pillendeponie“, einer grünen Box vor einer Apotheke, in der man gebrauchte Medikamente entsorgen kann, mit Bauarbeitern, die völlig ungeschützt auf einem Mauervorsprung im zweiten Stock eines Hauses arbeiten – in den nächsten Tagen sehen wir dann eine vorbildlich abgesicherte Stelle – mit Motorradfahrern mit und ohne Helm. Und angesichts des vollen Parkplatzes am Meer kommt die Frage auf, wie das denn im Sommer gehen kann, wenn die Autos der Touristen dazukommen. Die Antwort weiß ich nicht, und als ich später nachfrage, wird bestätigt: Tohuwabohu.
Das Hotel bekommt gute Noten, und die von mir gefürchteten Motorradfahrer haben sich nicht bemerkbar gemacht. Wohl aber das Meer, aber nicht störend.
Wir machen einen Spaziergang, immer an der Strandpromenade entlang, bis zur Festung. Da gucke ich auch zum ersten Mal kurz rein. Viel zu sehen ist nicht. Dann geht es durch die Gassen der Altstadt und wieder zurück in ein Café an der Strandpromenade.
In der Mittagszeit folgt dann ein Spaziergang in die zwei, drei betriebsamen Straßen der Neustadt, deren Geschäfte, wie die Eisenwarengeschäfte, Erinnerungen an weit zurückliegende Zeiten in der Heimat aufkommen lassen. In einem marktähnlichen Geschäft ohne Schaufenster sehen wir schön präsentiertes, frisches Obst und Gemüse in allen Variationen. Wir kaufen ein paar Mandarinen mit einer Unzahl von Kernen. In einem Sack liegt etwas, was wir für Knoblauch halten, es sind aber Zwiebeln. Wir kommen auch an der Autowäsche vorbei, wo ich von den guten Erfahrungen dort berichten kann.
Nach der Mittagspause trinken wir im Veterano (dessen Namen man ganz gut entziffern kann), draußen sitzend, einen Kaffee und probieren die drei kretischen Gebäckarten. Den Zuschlag bekommen die Kalitsunia.
Dann machen wir eine kleine Panoramafahrt, um einen Eindruck von der Gegend zu bekommen, erst am Meer entlang Richtung Osten, dann in die Thripti-Berge, oder zumindest deren Ausläufer. Der Eindruck: So stellt man sich Kreta nicht vor. Wir kommen nach Orino und erfahren: Hier geht es nicht weiter. Höchstens für Jeeps, sagt der freundliche Mann und blickt mitleidsvoll auf mein Auto. Wir müssen zurück. Ich bin wieder genau an demselben Wegweiser vorbeigefahren wie damals, als ich alleine unterwegs war.
Auch unterwegs werde ich auf zwei neue Dinge gestoßen, in den Bergen auf die Olivenbäume, am Meer auf die Häuserskeletts. Die Olivenbäume stehen wirklich meist in Reih und Glied. Das sieht man aber am besten aus der Distanz. Am Straßenrand hat man den Eindruck, dass sie unregelmäßig, „natürlich“ verteilt sind, und so wirkte es auch bei der Olivenernte.
Unten am Meer wird meine Aufmerksamkeit auf die unvollendeten Häuser gelenkt. Die habe ich gesehen, aber nicht registriert, wie viele es sind. Überall, sobald man aus den Orten herauskommt, stehen sie, oft leicht erhöht, immer zweistöckig, irgendwie wie überdimensionale Regale aussehend, immer in demselben Zustand: Der Rohbau ist fertig, mit Stützen und Decken, aber sonst ist nichts gemacht. Unsere Erklärung ist, wie sich später herausstellt, richtig: Es ist die Folge der Finanzkrise. Die Häuslebauer haben keine Arbeit mehr oder haben weniger Einnahmen, können die Kredite nicht zurückzahlen und die Häuser nicht vollenden.
Da es für das Abendessen noch zu früh ist, kommt erst ein Aperitif in Ierapetra. Gar nicht so leicht, zu dieser untypischen Stunde etwas geöffnet zu finden. Dann klappt es aber doch: Ein moderne Café-Bar, mit Eingang von der Straße und Blick von hinten aufs Meer. Wir sind die einzigen Gäste und werden freundlich bedient. Auch hier darf geraucht werden. Es gibt erst Chips und Nüsse dazu, und dann auch noch Apfelscheiben mit Zimt. Die Toiletten für Frauen und Männer sind mit Kussmund und Schnäuzer gekennzeichnet.
Dann geht es, zu einer für Griechenland unverzeihlich frühen Zeit, ins Klio. Wir haben vorher auf dem Weg schon angefragt, ob wir hier ankommen können. Ja, ab sechs ist geöffnet. Geraucht werden darf nicht, heißt es, aber als wir dann drin sitzen, gilt das nicht mehr.
Wir werden neben den Ofen platziert, der jetzt angezündet wird, was im zweiten Anlauf auch klappt. Das erste richtige griechische Essen schmeckt allen. Wir bestellen Weißwein, das habe ich bisher verpasst, und der schmeckt richtig gut.
Irgendwie kommt die Rede auf ein Fleischgericht. Wir wissen alle drei, was gemeint ist, kommen aber nicht auf das Wort. Und dann kommt es doch: Carpaccio. Und wer kommt drauf? Der Älteste in der Runde, derjenige, der sich ständig über sein nachlassendes Gedächtnis beschwert.
Als es ans Bezahlen geht, mache ich noch mal einen hilflosen Versuch, gegen unsere „Verabredung“ zu protestieren. Man sollte meinen, dass ich als Gastgeber zahle oder dass wir uns auf Fifty- Fifty einigen oder auf zwei Drittel-ein Drittel, aber bei all dem liege ich falsch, wie mir erklärt worden ist. Die „Verabredung“ heißt: Ich zahle nichts, die beiden alles. Vom ersten bis zum letzten Tag. Wohl dem, der solche Verwandte hat!
6. Februar (Freitag)
Im Frühstücksraum des Astron stehen zwei Palmen. Es macht beinahe den Eindruck, als wäre das Haus um die Palmen herum gebaut worden. Wir fragen uns, ob die Palmen durch die Decke gehen und oben über dem Dach sichtbar sind. Dabei können wir uns nicht einigen, ob es überhaupt so große Palmen gibt. Andererseits fragen wir uns, ob die Bäume nicht Luft und Licht brauchen, um zu überleben. Es stellt sich dann aber heraus, dass man sie einfach irgendwo abgeschnitten und den Stamm hat stehen lassen.
Eine sehr freundliche, etwas kindlich wirkende Angestellte, die sich uns als Maria vorstellt, gibt mir einen Teelöffel, κουταλάκι. Ich glaube, es handele sich um den typisch kretischen Diminutiv, von der Grundform κουτάλι abgeleitet, aber sie korrigiert mich. Hier sei es die Standardform. Sie hat recht. Es ist nur formal ein Diminutiv, der aber nicht als solcher wahrgenommen wird, so wie Mädchen im Deutschen. Ich erwähne die typische kretische Endung der Nachnamen und frage nach ihrem: Papadakis. Passt!
Wir fahren zum Weingut Minos, nach Peza, über die landesinnere Strecke Richtung Heraklion. Der Weg führt zwischen den beiden hohen Gebirgen her, dem Psiloritis im Westen und dem Dikti im Osten. Auf der kurzen Strecke von gut einer Stunde Fahrt bekommen wir die ganze Palette zu sehen: Meer, schroffe Felsen, hohe, teils schneebedeckte Berge, eine Hochebene, Olivenplantagen und Weinfelder. Nein, so stelle man sich Kreta in Deutschland nicht vor, lautet der Kommentar. Stimmt. Ich bin vor der Abreise immer wieder auf Erstaunen gestoßen, wenn ich überhaupt von Bergen gesprochen habe.
Wir machen Halt am Denkmal in Ano Viannos. Die Frage, ob die hingerichteten Rebellen hier tatsächlich begraben sind, wie das Gedicht nahelegt, kann ich nicht beantworten.
Am Rande des Platzes ein Relief, das ich auch bisher nie beachtet habe. Teils ist schwer zu erkennen, was überhaupt abgebildet ist – das Relief ist in sehr dunklem Grau gehalten. Und was man erkennt, scheint keinen Sinn zu ergeben: eine thronende Christusfigur im Zentrum und kämpfende Athleten daneben. Was soll das? Aber dann komme ich doch irgendwie auf die Lösung: Es ist ein Abriss der Geschichte Kretas. Ganz links ein Stier, der steht für die minoische Zeit. Dann die kämpfenden Athleten. Die stehen für das klassische Griechenland. Dann die Christusfigur. Die steht für die römische Zeit und die Einführung des Christentums. Dann das Dach einer byzantinischen Kirche. Die steht für die byzantinische Epoche nach der Teilung von Westrom und Ostrom. Und dann ein Mann mit Messer. Der steht für die kretischen Rebellen aus der osmanischen Zeit.
Am Rande blühen überall blaue Blumen, auf die ich hingewiesen werde und die, wie ich erfahre, Herbstzeitlose heißen. Trotzdem blühen sie hier im Winter.
Am Aufgang zum Platz eine Agave. Auch hier bekomme ich botanischen Nachhilfeunterricht. Die sterbende Pflanze oben ist die Mutterpflanze, ihre Blätter sind blass und ausgefranst, und unter ihr wachsen die jungen Pflanzen, klein, mit satten, grünen Blättern. Die Agaven blühen nur einmal und sterben dann ab. Und geben das Leben an die nächste Generation weiter. Eine pflanzliche Metapher auf das Leben.
Als wir abgefahren sind, war es trüb und dann, beim Aufstieg in die Berge, diesig, aber weiter oben lichtet sich die Sache und wir können ein schönes Photo von dem schneebedeckten Berg machen, mit grünen und kahlen Bergen davor und einer gelben Blumenwiese im Vordergrund. Der Berg gehört zum Dikti-Gebirge, nicht zum Psiloritis, wie ich erst vermute. Der ist weiter von uns entfernt.
Wieder kommen reihenweise, im wahrsten Sinne des Wortes, Olivenfelder in Sicht, und dann auch Weinfelder. Wir kommen fast pünktlich in Peza an.
Dort werden wir von einer freundlichen jungen Frau empfangen, Teil des Familienclans. Sie gehört zur vierten Generation und kümmert sich in erster Linie um die Verwaltung und die Besucher, 35.000 pro Jahr! Wo sonst ganze Busladungen ankommen, werden wir aber genauso gut zu dritt bedient.
Wir bekommen in einem großen Vorführraum einen Film zu sehen zu Weinanbau, Olivenanbau und Herstellung von Raki. Dieses Gebiet ist das älteste Weinanbaugebiet Europas – und der Wein ist ja auch Thema der antiken griechischen Mythen. Der Wein kam vor 4.000 Jahren aus Ägypten hierher. Das ist mir ganz neu.
Bei der Herstellung von Olivenöl wird der Rückschnitt verbrannt, und die dabei gewonnene Energie wird zum Antrieb der Maschinen benutzt. Entspricht ganz der modernen Vorstellungen von Recycling.
Der Raki, der hier fast immer mit dem einheimischen Namen Tsikoudia benannt wird, wird traditionellerweise in einem geschlossenen Kupferkessel gekocht, auf offenem Feuer. Auf den Boden des Kessels werden Olivenholzzweige gelegt. Es heißt, für den Raki benötige man eine Lizenz, die immer wieder erneuert werden müsse. Deren Erteilung wird sehr restriktiv gehandhabt, und so gibt es nur wenige Familien, die den Raki brennen dürfen. Die vielen privaten Schwarzbrenner wie mein Vermieter werden verständlicherweise nicht erwähnt.
Es erscheinen schnauzbärtige Musiker und volkstümliche Typen mit langen, traditionellen Gewändern, die ein Loblied auf den Raki singen. Nur zwei Dinge brächten die Menschen zusammen: die Liebe und der Raki. Auch die medizinischen Qualitäten des Raki werden gerühmt. Er hilft bei Erkältungen, Gliederscherzen, Verdauungsstörungen, Infektionen, einfach bei allem, einschl. Kopfschmerzen. Dass er auch Kopfschmerzen verursachen kann, wird nicht erwähnt.
Raki wird kalt getrunken, und eine Einladung zum Raki darf man nicht ausschlagen. Das gilt als Beleidigung. Danach habe ich schon mehrmals Menschen beleidigt, ohne es zu wollen.
Nach dem Film bekommen wir Weine zu probieren, aber nur vier statt der angebotenen sieben, zwei weiße und zwei rote, jeweils einen trockenen und einen lieblichen. Die wichtigste Rebsorte ist Villana. Der erste Wein ist ganz aus dieser Rebsorte. Zu den anderen Rebsorten gehören Kotsifali und Mandilari, die häufig miteinander und manchmal auch mit Syrah gemischt werden. Ein Wein hat den kuriosen Namen 35/25. Das sind die geographischen Koordinaten von Peza.
Der Wein hat, wird konstatiert, einen eigenen Charakter und unterscheidet sich von spanischen oder italienischen Weinen.
Eiswein gibt es keinen, und es gibt auch keine großen Unterschiede zwischen den Jahrgängen. Das Wetter ist ziemlich stabil.
Auf einer Weinanbaukarte sieht man, dass diese Gegend das wichtigste Anbaugebiet Kretas ist. Peza liegt ziemlich genau in der Mitte dieses Gebietes. Weitere, viel kleinere Anbaugebiete liegen im Westen Kretas. Die Weinberge von Minos sind 5-6 Kilometer von hier entfernt.
Zum Wein gibt es Paximadi, die knochentrockenen, zweifach gebackenen Brotstückchen, mit Olivenöl und Salz. Die werden, erfahren wir jetzt, weich gemacht, indem man sie kurz unter Wasser hält.
Hier, bei Minos, machen sie nur Wein, verkaufen aber auch Raki und Olivenöl. Die benachbarte Genossenschaft produziert alle drei.
Die junge Frau spricht Englisch und Französisch, beides hat sie in der Schule gelernt, und auch etwas Deutsch. Das hat sie ein Jahr lang nach der Schule gelernt und dann im Kontakt mit den Kunden verbessert. Jetzt kann sie auch ein paar Brocken Russisch. Das sei nötig, meint sie, die Russen sprächen keine anderen Sprachen. Die Italiener auch nicht.
Wir fragen nach Weinbergen und Weinfeldern. Sie sagt, Weinfelder gebe es auf Kreta nicht. Alles wächst an Hängen. Das ist aber eine Frage der Definition. Im Vergleich zu den Steillagen an der Mosel ist es hier an manchen Orten geradezu gemütlich flach.
Sie findet, dass die Weinernte vergnüglicher sei als die Olivenernte. Man ist auf Augenhöhe mit den Reben und kann mit den anderen kommunizieren. Bei der Olivenernte ist der Blick immer nach oben gerichtet, und die Arme sind gespannt. Leuchtet ein.
Wir machen einen Großeinkauf, Wein und Öl. Der Preis wird nach unten abgerundet, und es gibt zwei Flaschen umsonst dazu. Ich bekomme einen ganzen Karton Wein, selbstverständlich ohne zu bezahlen.
Auf dem Rückweg landen wir bei der Suche nach einer kleinen Mahlzeit in einem langgestreckten Straßendorf. Erst als wir auf einen Platz kommen, wird mir klar: Hier war ich schon mal. Arkalochori. Damals an einem trüben Sonntag, als die Stadt wie leergefegt war und ich unverrichteter Dinge wieder abziehen musste. Auch heute sieht es nicht viel besser aus, aber auf dem Platz finden wir doch ein geöffnetes Lokal, ein modernes, nur von der Dorfjugend besuchtes Lokal, mit moderner Musik, Club Sandwich und nicht sehr griechischen Pikilia (Gouda) auf modernen Tellern. Die Portionen sind eher zu groß für die kleine Zwischenmahlzeit, die wir haben wollten.
Von unserem Sitzplatz aus sieht man auf das Straßenschild der Seitenstraße: Οδός 28 η Οκτωβρίου. Mal wieder nationales Gedenken. Der Platz, an dem das Café liegt, bietet ein Kontrastprogramm: Γωνία Μπακλαβάς. Ein nach Baklava benannter Platz? Das ist so, als wenn es bei uns eine Bienenstichecke gäbe.
Am Straßenrand bleiben wir vor einer der Plakatwände stehen, auf der Sterbefälle angezeigt werden. Dabei taucht immer wieder die Zahl 40 auf. Das ist einer der traditionellen Gedenktage: 40 Tage nach dem Todestag wird des Toten noch mal besonders gedacht, ebenso 3 Tage und 9 Tage nach dem Todestag.
Bei der Weiterfahrt machen wir im richtigen Moment Halt an einer Stelle, wo noch Oliven geerntet werden. Man sieht uns erst etwas skeptisch an, aber als ich meine Litanei aufgesagt habe, werden wir von dem Sohn des Besitzers freundlich eingeladen, uns alles anzusehen. Die Arbeit ist in vollem Gange. Die Oliven spritzen nur so durch die Luft. Das ganze Feld ist mit den grünen Tüchern ausgelegt.
Weiter hinten kniet eine auf einem der Tücher. Mit einer Harke trennt sie Äste von Oliven. Auch sie reagiert sehr freundlich. Ja, die Arbeit sei hart, sagt sie, und die wirtschaftliche Lage alles andere als verheißungsvoll. Ob die Oliven nur für Öl verwendet würden, wollen wir wissen. Nein, sie werden auch gegessen. Daraufhin probieren wir eine der heruntergefallenen Oliven: schrecklich, bitter, ungenießbar. Die Frau kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. Die Oliven werden nach Ernte zwei Monate lang in Salzwasser eingelegt, erst dann sind sie genießbar. Diese Szene, so nebensächlich sie war, bleibt mir im Gedächtnis haften, noch lange.
Die Bienenkörbe, die wir auf dem Hinweg im Vorbeifahren gesehen haben, scheinen verschwunden zu sein. Aber dann kommen sie doch, viel später, als wir alle meinten. Auch hier machen wir Halt. Es sind lauter weiße Kästen, die man hier sieht. Unmittelbar vor uns auf einem ziemlich ebenen Feld, aber weiter hinten auf einer abschüssigen Ebene, die außerdem vom Weg abgeschnitten ist. Ein paar Bienen sind zu sehen, nur wenige sind zu hören. Auch hier wieder Herbstzeitlose, vor allem aber wieder die gelben Blumen zuhauf. Interessante Vermutung: Die Bienen sind da, wo die Blumen sind. Sie sind der Hauptlieferant des Nektars.
Dann kommen wir nach Myrtos. Die Sträucher vor dem Haus sind zurückgeschnitten, sehr stark, nur ein einzelner Hibiskus ist noch übrig geblieben.
Am Treppenaufgang stehen Sansevierien, ein Wort, das Kindheitserinnerungen weckt. Ich bin bisher immer achtlos an ihnen vorbeigegangen.
Meine Bude löst keine Begeisterungsstürme aus. Verständlicherweise. Solange das Wetter schlecht ist und man nicht draußen sitzen kann, kann man Besuchern nicht einmal einen Platz anbieten.
Dafür wird mein Fernseher gesichtet und gerichtet. Er ist bisher noch kein einziges Mal eingeschaltet worden. Jetzt sehe ich, dass ich zwei Programme empfangen kann. Außerdem erfahre ich, dass es auch hier „Wer wird Millionär?“ gibt. Aber ob es auf einem der beiden Programme läuft, muss noch herausgefunden werden. Der griechische Titel ist eine wörtliche Übersetzung des englischen Originals: Ποιός Θέλει να Γίνει Εκατομμυριούχος;
Da es zu früh zum Essen ist, fahren wir nach Ierapetra. Ein Optiker muss her für eine kleine Brillenreparatur. Wir finden einen, aber der hat noch geschlossen. Im Geschäft nebenan bekommen wir Auskunft: so gegen sechs. Bis dahin können wir draußen auf der Bank sitzen, so warm ist es. Dann, „so gegen sechs“, macht der Optiker tatsächlich auf und erledigt unsere Bitte in Windeseile.
Ganz in der Nähe des Optikers, bei dem Kriegsdenkmal mit den rostigen Kanonen, wachsen Strelitzien. Wieder eine Neuentdeckung für mich, sowohl, was die Sache als auch, was das Wort angeht. Dabei kenne ich sie von den Reisen, aus Kuba und aus Mexiko.
Und noch eine entwaffnende Frage: Warum hört und sieht man nie Rettungswagen oder Feuerwehrwagen? Stimmt, habe in der ganzen Zeit noch keinen einzigen gesehen.
7. Februar (Samstag)
Am Morgen sitzt hinter dem Hotel an der Strandpromenade ein Mann mit nacktem Oberkörper in der Sonne! Gleichzeitig werden Kies, Sand und Geröll, die das wilde Meer in der Nacht angespült hat, beseitigt. Alles direkt wieder ins Meer hinein!
Direkt nach dem Frühstück Termin in Myrtos: Apostolos bittet zum Rundgang. Beginn in der Fabrik. Als wir kommen, ist er gerade an einer der Säge beschäftigt. Er bittet um einen Moment Geduld.
Gleich sehr angetan ist er von den Namen: Maria und Theodoros. Wie seine Frau und der Patron des Heimatdorfes. Das ist doch was. Besser als diese unsäglichen deutschen Namen wie Norbert und Werner.
Die Fabrik, die mir bisher eher wie eine große Lagerhalle vorgekommen ist, findet viel Beifall. Die verschiedenen Sägen sagen mir nicht so viel, aber die Absauganlage für die Späne kann auch einen Laien beeindrucken: Die Späne werden abgesaugt und durch breite Rohre nach oben und dann nach draußen geleitet. Dort gibt es eine Vorrichtung, mittels derer sie direkt auf den Lastwagen für den Abtransport geleitet werden. Die Späne werden als Streu für das Vieh weiterverwertet.
Stolz zeigt er uns die Einzelteile für die Betten, die er gerade bastelt. Woher denn das Holz komme, wollen wir wissen. Darauf gibt es eine überraschende Antwort: Schweden und Russland! Das kretische Holz tauge nichts für Möbel, hier sei es zu sonnig und zu trocken. Ich denke an all die Importeure von kretischem Holz in der Vergangenheit, von den alten Ägyptern angefangen. Haben die sich so getäuscht? Oder hat das Holz sich verändert? Früher gab es hier viel mehr Zedern.
Das Holz, was er meistens verarbeitet, ist Kiefer, aber auch Nussbaum und Eiche (δρυς). Bei dem Wort muss ich passen, aber er erklärt, es sei besonders hart. Welches Holz er für welche Möbel verwende, wird gefragt. Ganz nach Kundenwünschen.
Apostolos führt uns ins Büro und präsentiert stolz einen Katalog, in dem Möbel von ihm vertreten sind und die von seiner Tochter am PC entworfenen Küchen. Im Katalog erscheint auch eine schöne, rötliche Tür mit einer schlichten Intarsienarbeit.
In der Halle liegen Bananen zum Probieren bereit. Er schält sie vorsichtig mit einem Taschenmesser und bietet eine nach der anderen an. Sie schmecken gut, aber nicht so gut wie die auf den Kanaren, ist das Urteil, das aber vorsichtshalber auf Deutsch ausgesprochen wird.
Am Ende der Halle liegen die Netze von der Olivenernte. Die werden jetzt hier gereinigt und draußen in die Sonne zum Trocknen gelegt.
Am Rande der Fabrik sehen wir auch wieder ein paar von den gelben Blumen. Die heißen ξυνίδα, und das heißt laut Wörterbuch ‘Butterblume‘. Sie sehen aber nicht so aus wie unsere Butterblumen, aber das kann daran liegen, dass Butterblume einfach ein sehr vager, volkstümlicher Begriff, der verschiedene Arten (Hahnenfuß, Dotterblume usw.) erfasst.
Und dann bekommen wir eine Antwort auf die Frage, die uns schon seit Tagen quält: Blühen Olivenbäume eigentlich? Ja, wir bekommen sie sogar zu sehen. Gleich neben der Fabrik stehen ein paar Olivenbäume, und sind tatsächlich schon die ersten Blüten zu sehen, rispenartige, hellgrüne Blüten. Dabei ist die Ernte gerade erst vorbei. Ja, die fingen sofort nach dem Rückschnitt wieder an zu blühen. Bevor sie in voller Blüte stehen, können noch ein paar Wochen vergehen.
Dann fahren wir zu dem Olivenfeld. Auf dem Weg erfüllt er uns gleich, als ob er es wisse, noch einen Wunsch: Er führt uns in ein Gewächshaus. Ich lerne bei der Gelegenheit das griechische Wort: θερμοκήπιο. Fängt so wie Wärmflasche an und hört mit Garten auf.
Ein Nachbar baut hier Auberginen an. Die Pflanzen, akkurat und gleichmäßig hintereinander gesetzt, hängen an Fäden und wachsen bis etwa auf halbe Höhe. Wenn sie die ganze Höhe erreicht haben, werden sie zurückgeschnitten. Überall hängen dicke, pralle Auberginen, manchmal vereinzelt, manchmal in Bündeln, von den Pflanzen herab. Ja, die Gewächshäuser bleiben immer geschlossen, auch im Sommer. Nur kann bei gutem Wetter das Dach etwas ausgefahren werden, so dass Luft reinkommt. Und an Seiten werden nachts „Jalousien“ heruntergelassen!
Dann geht es auf den Olivenhain. Zwischen den Olivenbäumen stehen auch Mandarinenbäume und Zitronenbäume, aber es gelingt mir nicht, herauszufinden, ob die einen Zweck haben oder nur zufällig da stehen. Die Olivenbäume sind alle abgeerntet, aber Apostolos kommt, nachdem er kurz verschwindet, mit einer Handvoll dicker Oliven zurück, von denen, die für den Verzehr, nicht für Öl gebraucht werden. Auf dem Nachbargrundstück sind Verwandte an der Arbeit. Sie schneiden und verbrennen das abgeholzte Zeug. Angst vor Bränden gibt es nicht, jedenfalls nicht auf griechischer Seite.
Wir fahren dann über die alte Brücke zum Garten. Bei der Gelegenheit kann ich nach dem Wasser fragen. Ein echtes Aha-Erlebnis. Der Fluss ist nicht deshalb so mickrig, weil das Wasser versickert, sondern es weil es abgezweigt wird, und zwar für die Bewässerung der Olivenhaine, von hier bis nach Ierapetra. Das ist jedenfalls das, was ich am Ende verstehe, nachdem ich erst etwas von Energiegewinnung gequasselt habe.
Dann geht es in den Garten. Wir bekommen Salat, Pampelmusen, Artischocken, Apfelsinen, dicke Bohnen und anderes zu sehen, und reichlich Bananen. Die kommen hinter blauen Plastikhüllen zum Vorschein.
Wir kämpfen uns zwischen den dicht stehenden Bananenstauden in den hinteren Teil des Gartens durch und wundern uns, wie viel Obst achtlos am Boden liegen gelassen wird. Es ist einfach die Überfülle. Hinten steht ein Trog mit Hühnerdung. Kein Wunder, dass hier alles so sprießt: gutes Boden, Sonne, Wasser, natürlicher Dünger.
Der Höhepunkt ist bis zum Schluss aufgespart geblieben: der Hühnerstall. Unser Kennerauge identifiziert eine Hühnerrasse sofort: Hybriden. Da klappt sogar die griechisch-deutsche Verständigung ohne Vermittlung. Die heißen genauso. Hybriden, erfahre ich bei der Gelegenheit, sind diejenigen, die dafür sorgen, dass so viele Eier gelegt werden. Die anderen Hühner heißen kurioserweise Italiener, und außerdem gibt es einen Hahn und eine Pute. Bei der Frage, ob die Hühner selbst gezüchtet werden, muss ich ein paar sprachliche Verrenkungen machen. Die Antwort lautet: ja.
Um eine interessante Erfahrung reicher und vollbepackt mit Apfelsinen, Bananen, Pampelmusen, an denen ich noch wochenlang zu knabbern haben werde, verlassen wir den Garten.
Auf dem Weg nach Ierapetra kommt das Thema Hühner gleich noch mal vor: Was macht der mit Hühnern vollbeladene Leiterwagen am Straßenrand? Ich weiß es nicht, finde es aber später heraus: Die werden verkauft, nicht zum Verzehr, sondern als Haustiere. Es sind lauter Hennen.
In Ierapetra versuche ich vergeblich, mit dem Auto den Weg zum Wochenmarkt zu finden. In immer neuen Drehungen bewege ich mich um ihn herum. Als wir dann irgendwo nachfragen, müssen wir drehen, und als wir das getan haben, streife ich auf der engen Straße den Spiegel eines parkenden Autos. In dem Moment kommt der Mann, der uns den Weg erklärt hat entgegen und fordert uns auf, stehenzubleiben. Ich befürchte Schlimmes, aber er will nur noch eine weitere Erklärung hinzufügen. Glück gehabt. Keine Spiegelaffäre. Am Ende gebe ich auf. Der Weg zum Markt wird zu Fuß angetreten.
Der wichtigste Eindruck vom Markt: kaum „kommerziellen Verkäufer“. Meistens sind es Menschen, die einfach das anbieten, was im eigenen Garten wächst. Eine alte Frau hat nur Apfelsinen und Mandarinen.
Bei immer schöner werdendem Wetter geht es Richtung Agios Nikolaos. Der Blick auf das tief unten liegende, in der Sonne glitzernde Meer mit seinen Farbschattierungen und den Felsbrocken und Inselchen in der Bucht ist so schön, dass wir ein paarmal Halt machen, um die Szenerie zu bewundern und Photos zu machen.
Wir fahren nach Kritsa. Gleich unten am Parkplatz sehen wir Kaktusfeigen mit Früchten, deren Reifezustand durch die immer dunkler werdenden roten Früchte angezeigt wird. Wieder was dazugelernt.
Gleich in der Nähe einer der weißblühenden Bäume, die wir immer wieder am Straßenrand gesehen haben. Jetzt kann er aus nächster Nähe inspiziert werden. Bei dem hier könnte es sich doch um Kirsche handeln. Bei denen, die wir in den letzten Tagen gesehen habe, bleibt die Frage offen: Mandel oder Kirsch?
Auf dem Weg ins Dorf sehen wir dann Hyazinthen. Auch die kenne ich nicht, obwohl ich die Geschichte dazu kenne. Hyazinth war der Spielgefährte Apollons. Deren inniges Verhältnis rief die Eifersucht von Zephyr hervor, dem Westwind, dem ehemaligen Gefährten von Hyazinth. Als Apollon zum Diskuswerfen im Stadion war, blies er den Diskus gegen einen Felsen, von wo er die Stirn von Hyazinth traf und ihn tödlich verwundete. Aus dem Blut, das aus der Stirn rann, wuchs eine blauviolette Pflanze: die Hyazinthe.
Kritsa ist wie ausgestorben, erscheint mir aber heute etwas schöner als beim ersten Besuch. Geschäfte und Lokale sind geschlossen. Wir versuchen es dennoch an dem schönen Lokal an der mächtigen Platane, aber ohne Erfolg. Erst am Nachmittag wird geöffnet.
In den Geschäften sind überall Häkelarbeiten ausgestellt, und an der Straße steht die Skulptur einer häkelnden Frau. Diese Tradition ist uralt und geht letztlich noch auf den Überfluss an Wolle zurück, der schon das minoische Kreta auszeichnete, auch wenn damals vermutlich gewebt statt gehäkelt wurde. Die Produktion von Webarbeiten wurde auch dadurch begünstigt, dass natürlich Farbstoffe vorhanden waren, vor allem die begehrte Purpurschnecke.
Wir fahren zur Panagia Kera und kommen gerade noch rechtzeitig. Hier scheitert ein weiterer Versuch von mir kläglich, einmal einen symbolischen Beitrag zu der Deckung der Kosten zu leisten. Ich will den Eintritt zahlen, aber die Kassiererin kann meinen Zwanziger nicht wechseln und ich ziehe wieder den kürzeren. Es scheint vom Schicksal so gewollt zu sein.
Wir haben genug Zeit, uns wenigstens einige der Fresken in Ruhe anzusehen. Es gibt verschiedene Motive, die ich nicht identifizieren kann, darunter eine von drei bärtigen Männern flankierte Muttergottes, die je eine Schale mit drei kleinen Köpfen auf dem Schoß haben. An einer anderen Stelle repräsentieren die Köpfe die Seelen der Verstorbenen, aber ob das hier auch der Fall ist? Und wer sind die drei? Und warum erscheinen sie neben der Muttergottes?
Bei der Identifizierung der vier ganzfigürigen Heiligen mit den ausdrucksstarken Gesichtern im Nordschiff hilft uns die Aufpasserin. Es sind lauter orthodoxe Heilige, deren Namen uns wenig sagen.
Wir entscheiden uns, nach Agios Nikolaos weiterzufahren. Eine gute Entscheidung. Auch hier ist es zwar unheimlich still, aber bei dem guten Wetter kommt die Stadt gut zur Geltung – und wir bekommen gleich am Hafen etwas zu essen. Die Palette könnte größer nicht sein: Jogurt mit Honig, Hamburger, Apfelkuchen. Wieder wird Wasser ungefragt aufgetragen, als wir kaum sitzen.
Wir gehen einmal am Hafenbecken entlang bis zur Schiffsanlegestelle und sehen die Ausflugsziele, die von hier aus angelaufen werden. Auf dem Rückweg gehen wir dann in die Kirche an der Fußgängerstraße, an der ich bisher immer achtlos vorbeigelaufen bin. Lohnt sich. Es ist alles sehr byzantinisch überladen, dunkel und künstlerisch wertlos, aber die Atmosphäre hat etwas: Malereien, Ikonen, Lüster, Altäre, Fenster, alles erscheint in dem mysteriösen Licht der Kerzen und des gebrochenen Sonnenlichts.
Vor der Kirche ein in die Wand eingelassener Brunnen mit der ausdrücklichen Information in verschiedenen Sprachen, dass es sich nicht um Trinkwasser handele. Es ist geweihtes Wasser. Man bedient sich hier, um die heimischen Weihwasserfässer zu füllen. Das hat es in unserer Kindheit auch gegeben, erfahre ich jetzt. Ganz vage kommt die Erinnerung zurück.
Angesichts der Kirchenbesichtigung kommen wir auf das Abendländische Schisma zu sprechen und die Trennung der westlichen von der östlichen Kirche, das eher kirchenpolitische als ideologische Gründe hatte. Beim Nachlesen stoße ich dann auch auf die Rolle der Sprache: Im Westen wurde es immer unüblicher, Griechisch zu sprechen. Schon Augustinus und Gregor der Große sprachen, im Gegensatz zu Hieronymus und Ambrosius, kein Griechisch! Die Messe wurde ab dem 4. Jahrhundert auf Latein gelesen, bis dahin auf Griechisch. Umgekehrt konnten die meisten Patriarchen in Konstantinopel kein Latein. Das galt als barbarische Sprache. Man war immer mehr auf Übersetzer und Sekretäre angewiesen. Am Anfang der Entfremdung stand also die Sprache. Auch bestimmte Haltungen gingen damit einher: Die Griechen sahen die Römer als ungebildet und barbarisch an, die Römer die Griechen als hochnäsig und spitzfindig.
Wieder im Auto schiebt von hinten jemand die Armlehne des Fahrersitzes hinunter. Ist das nicht bequemer? Ja. Aber ich wusste bisher nicht, dass das Auto eine Armlehne hat!
Wir hatten uns vorgenommen, auf dem Rückweg mal die Old Road zu nehmen, und das klappt auch, aber unfreiwillig. Ich biege da ab, wo ich immer abgebogen bin, ohne aber jemals zu merken, dass das die Old Road ist. Ich muss an der etwas unübersichtlichen Kreuzung, an der weiter gebaut wird, weiter fahren. Auf dem Hinweg bin ich dagegen immer die New Road entlang gefahren.
Bei der Gelegenheit lerne ich sogar ein englisches Wort: Interchange. An dem Hinweisschild bin ich schon oft vorbeigekommen, habe aber immer verpasst, das Wort nachzuschlagen. Es heißt ‚Anschlusspunkt‘, ‚Zufahrtsstelle‘, eigentlich ‚Autobahnkreuz‘. Aber davon kann man hier kaum sprechen.
Wie ist es eigentlich mit den Autokennzeichen? Ich habe ein paar Regelmäßigkeiten entdeckt, aber keine Erklärung gefunden. Die muss ich später einholen. Es stellt sich heraus, dass von der dreifachen Buchstabenkombination am Anfang nur die beiden ersten „zählen“, jedenfalls, was den Ort angeht. Deshalb haben hier und auch in Ierapetra, das dazugehört, die Autos die Anfangsbuchstaben AN: Agios Nikolaos.
In Ierapetra geht es zu Lidl. Ich muss meinen Eindruck korrigieren, dass er ganz griechisch ausgerichtet ist. Es gibt doch einige sehr deutsche Produkte, angefangen von den Zierblumen am Eingang. Auch das Angebot an Schokolade ist deutsch und das an Aufschnitt und Käse. Die Preise sind, mit wenigen Ausnahmen, eher hoch.
An der Kasse werden wir gleich zweifach vorgelassen. Das ist mir in der ganzen Zeit noch nicht passiert. Als wir zahlen, spricht uns ein Junge in der Schlange an: Sprechen Sie Deutsch? Er ist in Deutschland geboren, genauso wie seine Mutter, die mit einem Baby vor der Brust neben ihm steht, in Hannover. Jetzt leben sie seit einiger Zeit hier in Ierapetra.
Noch eine Kleinigkeit gibt es auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt zu entdecken: Über den Parkplätzen ist ein Netz als Sonnenschutz angebracht.
Am Abend gehen wir dann ins Mirtos zum Essen. Es ist ziemlich voll, und Jana macht die ganze Bedienung, souverän und freundlich wie immer. Ich bestelle viel zu viel Salat und muss erst einen verbalen Fußtritt bekommen, damit ich das Angebot annehme, den Rest mit nach Hause zu nehmen.
Ich frage Jana, wie es denn komme, dass Giorgos bei Militär ist. Wie alt ist er denn? Achtzehn! Das haut einen um. Ich sage: „Er wirkt jünger.“ Sie sagt: „Er ist jünger.“
8. Februar (Sonntag)
Am Vormittag gehen wir ins Museum in Ierapetra. Wieder wird ein schwacher Versuch von mir torpediert, mal einmal irgendwo etwas zu zahlen: Heute ist der Eintritt frei.
Auch hier werde ich wieder auf zwei Dinge gestoßen, die ich nie gesehen habe: An einem der Larnakas ist einer der Griffe als Schweinsköpfchen ausgebildet. Eine erstaunliche, für uns undenkbare Verbindung von Tod und Haustier. Und in einer Vitrine liegt ein „Telefon“, eine flache Platte aus weißem Stein mit einem quer darauf angebrachten Bogen, der den alten Telefonhörern verblüffend ähnlich sieht. Was das wohl für eine Funktion gehabt haben könnte? Wir können uns nicht einigen, und eine Beschriftung gibt es nicht.
Auch auf dem Platz vor dem Museum, der gerade neu gepflastert wird, gibt es Neues zu entdecken, das ich längst kennen müsste: Wasserleitungen. Die Bäume der Innenstadt werden „unterirdisch“ bewässert! Das erklärt, warum die Birkenfeigen hier so saftig grün sind.
Als wir aus dem Museum kommen, hat der Himmel sich aufgeklart. Wir gehen zum Kleinen Café, aber es ist geschlossen. Die Stühle stehen aber trotzdem davor. Wir nutzen sie für eine der seltenen Zigarettenpausen.
Dabei kommt die Rede auf vielen ramponiert aussehenden Autos (meins passt sich da gut ein) und darauf, dass die Autos im Schnitt ein paar Jahre älter sind als bei uns. Und auf die Zisternen auf den Dächern, die man wirklich überall sieht, manchmal mit Sonnenkollektoren daneben. Vermutlich wird so für warmes Wasser gesorgt. Das würde auch erklären, dass ich im Winter so wenig davon bekommen habe.
Nach dem Lidl von gestern wollen wir auch einen „richtigen“ griechischen Supermarkt besuchen, aber ich habe die Rechnung ohne den Sonntag gemacht. In anderen Orten sind die Geschäfte am Sonntag geöffnet. Und es gibt selbst hier keine Hinweise auf Öffnungszeiten. Völlig unverständlich.
Am Ende finden wir aber noch eine Alternative. Ein Markt, an dem ich oft vorbeigefahren bin und der von außen wie eine Autoreifenwerkstatt aussieht, hat geöffnet. Der Besitzer ist alleine und sitzt gelangweilt auf einem Stuhl neben der Kasse. Ierapetra ist noch nicht zum Leben erwacht. Es gibt allerlei Krimskrams und das Angebot ist tatsächlich griechischer als bei Lidl. Hinten an der Theke liegt in großen Holzkisten Fisch, unter anderem Kabeljau, tiefgefroren, wie wir erst meinen. Aber er ist nicht gefroren, sondern gesalzen.
Bei weiterhin besser werdendem Wetter fahren wir Richtung Kloster Kapsa. Ich glaube, falsch zu sein. Nichts von der Strecke kommt mir bekannt vor. Aber wir sind richtig, obwohl wir uns immer wieder vom Meer entfernen. Und warum? Sofort bekomme ich eine Erklärung: Wegen der Buchten! Und dann noch eine schöne Beobachtung hinterher: An den Buchten befinden sich die Sandstrände, an den Geraden Steilküsten!
Wir wollen zwischendurch irgendwo eine Pause machen, aber alles scheint geschlossen. Schon kurz vor dem Kloster kommt dann an einer Straßenbiegung die „Oase“ in Sicht. Hier können wir tatsächlich etwas bekommen. Die Frau, die vor dem Fernseher im Wohnzimmer saß, bringt uns drei verschiedene Sorten Kaffee auf die Terrasse. Und dann, entgegen den Erwartungen, doch etwas Süßes dazu. Das sind vermutlich private Vorräte. Staubtrockenes Gebäckstück mit Sesamkörnern und ein ganz leckeres Hefeteiggebäckstück. Kostenpunkt für alles zusammen: sechs Euro!
In den Kurven vor dem Kloster sehen wir immer wieder Höhlen und ähnliche Durchbrüche im Felsgestein, spektakulär aussehend. Auch die hatte ich trotz der Größe bisher immer übersehen. Besonders auffällig eine Höhle, die einen durch einen Längspfeiler zweigeteilten Eingang zu haben scheint. Sieht wie Menschenwerk aus. Zum Abschluss kommt dann der ebenso sehenswerte Eingang zur Schlucht.
Das Kloster ist wieder geschlossen, aber diesmal sind wir außerhalb der Öffnungszeiten da. Es regt sich auch nirgendwo etwas, außer dem bellenden Wachhund. Die Frage, welcher Orden hier das Kloster betreibt, kann ich nicht beantworten. Gibt es in der orthodoxen Kirche überhaupt Orden? Der Reiseführer hat aber dies zu sagen: Das Kloster wird seit Jahren von einer einzigen alten, sehr ruppigen Nonne bewohnt. Seit einigen Jahren steht ihr ein rüstiger Mönch zur Seite, der die Besucher freundlich empfängt. Allerdings nicht immer, sollte dabeistehen.
Auf dem Rückweg sehen wir einen Kartoffelacker mit sattem, dunkelbraunen Boden, dem man selbst als Laie förmlich ansieht, wie fruchtbar er ist. Hinten auf einem Traktor sitzen zwei Jungen, die, wie ich erfahre, in zwei Reihen gleichzeitig Kartoffeln setzen. Das erklärt, warum der Traktor so langsam fährt. Der Mann, der mit einem Eimer über den Acker geht und etwas auf den Boden streut, sät nicht etwa, sondern streut Kunstdünger.
Wir versuchen, ganz nah am Meer zu bleiben, auf einer älteren Straße, um irgendwo an einen Strand zu kommen. Das klappt. In der Bucht von Axlia machen wir Halt. Ein gepflasterter Weg führt hinunter zum Strand. Sandstrand, etwas heller als anderswo. Wir halten kurz die Hand ins Wasser: kalt. Wir sind ganz alleine hier unten.
Hier, direkt am Strand, sind ein paar Sommerapartments für Feriengäste. Aber der Strand ist auch für die, die oben auf der anderen Seite der Straße unterkommen. Jetzt ist alles geschlossen. Die Sonnenschirme liegen aufgeschichtet übereinander, und die Ständer stehen davor in Reih und Glied.
Der Felsen zu einer Seite des Weges zum Strand ist brüchig, es sind erste Spalten sichtbar, auch hier können irgendwann Höhlen entstehen. Und wieder bekomme ich eine gute Erklärung: Wer ist der Verursacher der Risse? Die Wurzeln! Hier kann man es perfekt sehen, wie sie erste Risse in das brüchige Gestein fügen.
Am Abend essen wir im Κιβωτός, in der „Arche“. Jeder von uns nimmt eine andere Fleischspezialität vom Holzkohlegrill, nachdem die Option Fisch doch vom Tisch war: Hähnchen, Schwein, Lamm, alles schmackhaft und mit zartem Fleisch. Jetzt hat auch endlich mal der Dill seinen Auftritt, den ich die ganzen Tage schon lauthals angekündigt habe. Der Tsatsiki ist mit Dill gewürzt.
Im Hotel sind an Photowand Ausflugsziele von Ierapetra dargestellt, darunter Chrisi, einer Kreta vorgelagerten Insel. Ich finde diese zwanghaften Inselfahrten für Touristen immer merkwürdig, muss mich aber dem Argument beugen, dass der Sandstrand hier wirklich besser aussieht als hier an der Südküste. Später erfahre ich, dass Chrisi außerdem über prächtige Dünen verfügt – die habe ich hier noch nie gesehen – über ein großes Aufkommen von Muscheln und über den einzigen in ganz Europa erhaltenen Zedernwald. Die Insel ist nur im Sommer bewohnt. Es gibt einfache Übernachtungsmöglichkeiten in Holzhütten, und die meisten Ausflügler bleiben eine Nacht dort.
An der Rezeption steht ein Pokal, einer der typischen hässlichen Dinger, die es bei Sportwettbewerben gibt. Ich kann nur entziffern, dass es sich um eine Art Firmensportwettbewerb handelt, aber die wichtigste Frage bleibt unbeantwortet: welche Sportart?
Auf dem Nachhauseweg wird mit beim Revuepassieren der letzten Tage klar, dass das Wasser gleich in dreifacher Weise Eindruck gemacht hat: das klare Wasser des Meeres, durch das man auf den Meeresgrund sehen kann, das Wasser, das in den Lokalen serviert wird, meist unaufgefordert und gratis („wie in keinem anderen Land“) und das Wasser, das über die langen, verschlungenen Wasserleitungen den Pflanzen zugeführt wird, auch in entlegene Bergregionen.
9. Februar (Montag)
Am Ende einer kurzen Nacht blättere ich in dem neuen Buch über das antike Kreta, einem weiteren Mitbringsel aus der Heimat. Sehr, sehr vielversprechend. Einige Besonderheiten der kretischen Geschichte werden aus der geographischen Lage abgleitet: Insel steht für Einheit, Bergkette steht für Zersplitterung, strategisch wichtige Lage steht für Bedeutung, Kontakt, Handel, Lage am Rand der Ägäis steht für Isolation. Von den wichtigsten Ereignissen der griechischen Geschichte – Perserkriege, Peloponnesischer Krieg, Feldzüge Alexanders – hielt sich Kreta fern. So ist Kreta mal kosmopolitisch, mal isoliert, mal die größte Macht in der Ägäis, mal vergessen an der Peripherie.
Im Regen und im Dunkeln geht es los nach Ierapetra, aber als ich am Hotel ankomme, ist es hell und hat aufgehört zu regnen. Unglaublich, wie das gute Wetter die beiden begleitet, auch noch am Abreisetag.
Im Hotel bekomme ich die Chance zum Duschen unter heißem Wasser. Eine Wohltat. Ich erfahre bei der Gelegenheit, dass meine Schwester eine Diebin ist. Sie entwendet Shampoo und Duschgel aus den Hotels, was, wie ich jetzt erfahre, Diebstahl ist. Verbrauchen darf man es.
Auch am letzten Tag werden mir wieder die Augen geöffnet: Starenkästen. Wir sehen bestimmt drei oder vier während der einen Fahrt, ich habe bisher in den ganzen Monaten keinen einzigen gesehen. Ich habe aber, wird befunden, kaum ein Chance, ein richtig schönes griechisches Knöllchen zu bekommen – bei meiner Fahrweise.
Als wir am Flughafen ankommen, ist die Sonne soweit rausgekommen, dass wir uns nach draußen setzen können. Und darüber diskutieren, wie es zu einem ordentlichen Batzen Nachzahlung beim Gepäck kommen konnte. Dann trinken wir noch einen Kaffee und müssen konstatieren, dass hier keine „griechischen“ Preise mehr gelten. Was es sonst umsonst gibt, das Wasser zum Kaffee, kostet hier ein Heidengeld. Beim Abschied geht es nicht ganz ohne Tränen, auf beiden Seiten.
Der Himmel verdüstert sich, sobald das Flugzeug in der Luft ist, aber ich fahre trotzdem nach Knossos. Es liegt auf dem Weg, und es regnet wenigstens nicht. Es gibt Reisende, die nur wegen Knossos nach Kreta kommen. Ich habe es in vier Monaten noch nicht dahin geschafft.
Schon bei der Anfahrt wird einer der Gründe für die Wahl des Standortes klar: die fruchtbare Umgebung. Hier mussten viele Menschen ernährt werden: Die zum Palast gehörige Stadt soll zur Blütezeit ca. 80.000 Bewohner gehabt haben, fast so viele wie das heutige Heraklion! Dazu kam die Nähe des Meeres und die Nähe zum Hafen. Strategische Gründe hatte die Wahl des Ortes nicht: Das Areal liegt zwar leicht erhöht auf einem Hügel, ist aber umgeben von ansteigendem Gelände, und der Palast ist völlig unbefestigt. Das wird immer als Zeichen für die völlig ungefährdete Stellung der Minoer gedeutet. Ich habe zwar keine bessere Erklärung, aber irgendwie will mir das nicht einleuchten. Man schützt sich doch auch gegen potentielle Feinde und man rechnet doch auch damit, dass Konkurrenten aufrüsten. Und warum liegt es dann doch etwas erhöht und warum liegt es nicht unmittelbar am Meer?
Als ich auf den Parkplatz komme, meine ich falsch zu sein. Gratis parken auf einem freien Parkplatz gleich vor dem Ausgrabungsgelände von Knossos? Wo gibt es das denn? Aber es stimmt, hier ist Knossos.
Ich mache das, was der Reiseführer empfiehlt und lasse mich einfach treiben. Der unregelmäßige Charakter des Palasts wird so besonders deutlich. Aber auch Rekonstruktionen und Grundrisse vermitteln den Eindruck. Allein eine Auflistung der verschiedenen Gebäudetypen gibt einen Eindruck: Säle, Tore, Pforten, Magazine, Werkstätten, Korridore, Bastionen, Hallen, Krypten, alle ineinander verschachtelt, unterschiedlich hoch und ohne jede Symmetrie und Axialität. Da weiß man nicht, wo man ist. Kein Wunder, dass Evans hier das Labyrinth vermutete.
Dessen Bronzekopf begegnet man als erstes, gleich hinter dem Eingang. Reiseführer, Menschen wie Bücher, überhäufen ihn gerne mit Spott, und auch die Schrifttafeln hier lassen Skepsis durchblicken: Seine Interpretationen waren sehr subjektiv, es gab oft keine ausreichenden Belege für seine Deutungen, er unterschied bei der Rekonstruktion nicht zwischen Echt und Unecht, er gebrauchte Beton bei der Rekonstruktion und ließ Dinge einfach verschwinden, die nicht in sein Konzept passten. Aber vielleicht macht man es sich damit zu leicht. Sein Wiederaufbau galt der Sicherung des Erhaltenen, er hatte keine ausgefeilten wissenschaftlichen Methoden und keine ausgefeilten technischen Hilfsmittel und er war unermüdlich in seinem Einsatz, investierte Geld, Zeit, Mühe. Über dreißig Jahre grub er in Knossos. Und die grundsätzliche Problematik bleibt ohnehin bestehen: Jede Ausgrabung fördert etwas zutage, lässt aber auch anderes verschwinden.
Mich persönlich stören die nachgemachten Fresken, vor allem, nachdem ich im Museum gesehen habe, wie wenig von ihnen erhalten ist. Am auffälligsten sind die Rundsäulen, farbig gefasst, entweder dunkelblau mit rot abgesetzten Basen und Kapitellen oder umgekehrt. Die Farben sind durch Reste der Bemalungen in den Fresken und Fayencen gesichert. Die Säulen waren ursprünglich aus Holz, Zypressenstämme, mit der Wurzel nach oben. Deshalb verjüngen sich auch die heutigen Säulen nach unten.
Zu den original erhaltenen Teilen gehört ein Alabaster-Sitz, den Evans als Thron interpretierte. Hier soll der legendäre König Minos Recht gesprochen haben. Doch was hier stattfand, weiß man nicht. Die erhaltenen Darstellungen zeigen Greifen und Pflanzen und Tiere, die eher in Verbindung mit Göttinnen und Priesterinnen stehen.
Auch original erhalten ist eine sehr schöne, modern wirkende Treppe, auf die man von oben hinunterschaut, mit breiten, flachen Stufen, sowie ein paar riesige Pithoi mit reichlich Dekoration und vor allem mit einer Unzahl von Griffen.
Trotz allem kann man sich kaum ein Bild von dem realen Leben in dem Palast machen. Selbst wenn man sich eine Prozession vorstellen kann, fällt es schwer, sich den Alltag hier vorzustellen. Da helfen auch Rekonstruktionen nicht. Und der überwältigende Eindruck, den die Exponate im Museum hinterlassen, lässt das hier weit hinter sich.
Noch auf dem Gelände bietet sich einmal, an der Stelle, wo das Fresko des „Lilienprinzes“ hängt, ein sehr schöner Blick in die Landschaft, auf grüne Hügel mit der Kuppe eines kahlen Berges dahinter. Auf der Rückfahrt kommt dann ein Höhepunkt nach dem anderen, mit Ausblicken auf das weite, fruchtbare Hügelland mit Olivenbäumen, Weinreben und Blumenwiesen. Ich habe Kreta noch nie so grün gesehen.
Ich komme direkt am Minos in Peza vorbei und dann nach Arkalochori. Der Ort ist wie ausgetauscht. Bewegung und Geräusche überall, ein lebendiger Ort, der nichts mit dem ausgestorbenen Kaff von vorgestern zu tun hat: dichter Verkehr, geschäftiges Treiben. Taxifahrer stehen gestikulierend am Straßenrand, Hausfrauen kommen schwer beladen aus Märkten, Mädchen laufen aus einer Boutique über die Straße in die gegenüberliegende Boutique, Männer sitzen kaffeetrinkend vor den Häusern. Ich gehe kurz in eine Bäckerei und ein Lebensmittelgeschäft mit gut gefüllten Regalen, wo alles einen Eindruck von Frische vermittelt. Zum ersten Mal bemerke ich auch, dass am Straßenrand „Fahrradskulpturen“ stehen, alte Fahrräder mit platten Reifen, die, jedes in einer anderen Farbe komplett bemalt, Speichen und Reifen und alles, am Rande des Bürgersteigs befestigt sind.
Hinter Arkalochori greife ich eine ganze rumänische Familie auf. Wir können uns über das Fahrtziel nicht richtig verständigen, also steigen sie einfach auf gut Glück ein. Der junge Mann macht sich vorne breit, während sich Frau, Mutter, Vater und Kind hinten reinquetschen. Aber nicht lange. Als es nach wenigen Minuten nach Viannos abgeht, merken sie, dass das nicht ihre Richtung ist und steigen kichernd und freundlich grüßend aus.
10. Februar (Dienstag)
Heute regnet es in Strömen, der Himmel ist verhangen, das Grau des Himmels trifft am Horizont auf das Grau des Meeres, und die Temperaturen sind im Keller. Verrückt!
Zu allem Übel fällt ständig der Strom aus. Erst am späten Vormittag, dann immer wieder im Laufe des Tages. Kein Kaffee, keine Musik, keine Heizung, kein Licht. Für ein bisschen Lektüre ist es so gerade noch hell genug, wenn man sich in die richtige Position bringt. Bei dem griechischen Roman habe ich richtige Anlaufschwierigkeiten. Die Pause macht sich bemerkbar, so kurz sie auch war.
Dafür entschädigt das Buch über das antike Kreta. Heute ist hier von dem sprachlichen Erbe Kretas die Rede. Drei Schlüsselwörter werden genannt: Minze (μέντα), Hyazinthe (υάκινθος), Labyrinth (λαβύρινθος). Alle sind vorindoeuropäisch, alle stammen aus Kreta, von den Minoern. Es sind die ältesten erkennbaren europäischen Wörter. Sprachliche Relikte, die für die Vorstellung von Kreta als Wiege Europas stehen.
Das Labyrinth, das hier seinen Ursprung hat, erscheint dann später in christlichen Kirchen. Ich habe mal eins in Chartre gesehen und eins irgendwo in England und vor kurzem eins in Maastricht. Hier bekam das Labyrinth als Symbol esoterische Bedeutung. Mit dem Finger den Linien folgend oder am Boden das Muster von außen nach innen abschreitend traten die Gläubigen, statt einer realen Reise, eine symbolische Reise nach Jerusalem an, ins Zentrum des Labyrinths.
11. Februar (Mittwoch)
Weiterhin Dauerregen und wieder Stromausfall. Der scheint immer zur falschen Zeit zu kommen.
Interessanter Aspekt in der aktuellen Griechenland-Diskussion. Es soll, heißt es immer, den Reedern an den Kragen gehen. Das findet im Inland und im Ausland Zuspruch. Die führten ein Lotterleben und zahlten wenig Steuern. Was vermutlich stimmt. Und deren Klagen über die bevorstehende Steuererhöhung könne man nicht erst nehmen. Tatsächlich geht es bei den Reedern bei der Steuer nicht nach Einkommen, sondern nach Größe der Schiffe. Die Tonnage zählt. Nur: Das ist bei den deutschen Reedern auch so. Die Regelung ist sogar in Deutschland erst vor ein paar Jahren eingeführt und den internationalen Gepflogenheiten angepasst worden. Soll man jetzt in Griechenland die Regelung umkehren? Und die Wettbewerbsfähigkeit der Reeder schwächen? Wem ist damit geholfen?
12. Februar (Donnerstag)
Der Regen hat etwas nachgelassen, aber es ist noch kälter geworden. Kaum vorzustellen, dass wir vor ein paar Tagen noch manchmal draußen gesessen haben.
Im Dorf treffe ich Giorgos. Der sollte eigentlich in Athen beim Militär sein. Irgendwie muss die Mutter ihn da wohl losgeeist haben. In zwei Jahren muss er wieder antreten, sagt er.
Beim Laufen durch den Regen auf der Landstraße fährt ein ziemlich betagtes Auto an mir vorbei, hält und setzt zurück. Durch das geschlossene Seitenfenster schreit der bärtige Fahrer, Typ Alt-Achtundsechziger, mir zu, ob er mich mitnehmen könne. Eigentlich zu schade, um abzulehnen.
13. Februar (Freitag)
Ein paar zarte Sonnenstrahlen am Morgen, die die Vögel dazu animieren, zu zwitschern. Und mich, Wäsche zu waschen und draußen aufzuhängen. Hoffentlich sind wir beide nicht zu optimistisch.
Schöne Erklärung für die Entstehung der minoischen Paläste. Kleine Gemeinschaften, die auf Subsistenzwirtschaft angewiesen sind, werden von ständigen Gefahren bedroht: Wetter, Krieg, Epidemien, Bevölkerungswachstum, Naturkatastrophen. Die kleinen Gemeinden sind dann von der Unterstützung durch einen Nachbarn angewiesen, der von dieser Katastrophe nicht betroffen und bereit ist, Nahrung gegen eine andere Leistung abzugeben. Diese Erfahrung muss man auf Kreta mehrmals gemacht haben. Das führte zu der Einsicht, dass eine bessere Organisation der Wirtschaft die Existenz sicherte. Daraus resultierten die Paläste als Stätten der zentralen Organisation.
14. Februar (Samstag)
Schöner, sonniger Morgen, aber warm ist es nicht gerade, und der Wind macht sich auch bemerkbar. Als ich aber am Mittag in Ierapetra wieder ins Auto steige, hat es sich aufgeheizt wie bei uns nur im Sommer. Komisch.
Ich tanke kurz vor Ierapetra an der Tankstelle mit dem freundlichen jungen Mann, der mich schon kennt. Ich frage nach seinen Arbeitszeiten, da er immer da ist, wenn ich komme. Die Antwort ist unglaublich: Jeden Tag, sieben Tage in der Woche von morgens sieben bis abends halb elf. Das kann doch nicht sein. Dass die Griechen alle Faulenzer sind, ist natürlich Unsinn, und auch im Dorf bin ich immer wieder überrascht, wie lange die Verkäufer arbeiten. Die durchschnittliche Arbeitszeit liegt tatsächlich in Griechenland höher als in Deutschland. Die Effektivität ist vermutlich viel geringer. Die lange arbeitenden Verkäufer kontrastieren mit den Männern, die den halben Tag im Kafeneion und den anderen halben Tag auf dem Stuhl vor dem Haus sitzen.
Nach dem Unterricht gehe ich zu Manolis, der mich vorher schon beim Vorübergehen freundlich begrüßt hat. Er meldet mich zum Lauf am 1. März an. Der Lauf heißt Μινωικό Μονοπάτι Μύθων, mit Stabreim. Es ist ein Gebirgslauf. Manolis zeigt mir Bilder vom letzten Jahr. Es sieht alles ganz professionell aus, aber die Strecke hat es in sich. Er hat gerade in den letzten Tagen die lange Strecke mit ein paar Kollegen abgelaufen: fünf Stunden für sechsundzwanzig Kilometer!
Er registriert mich für den Lauf, aber für die kurze Strecke, dabei gibt es ein unglaubliches Durcheinander. Ein weiterer Gast schaltet sich mit hilfsbereit ein, aber es scheitert alles an mir und meiner schlechten Organisation. Am Ende nehmen wir die Telefonnummer von Manolis.
Zwischendurch bedient er seine zahlreichen Gäste. Als eine Frau Tee bestellt, fragt er nach: τσάι τσάι. Wortwiederholung, um zu benennen, dass es sich um „richtigen“ Tee handelt, nicht um Früchtetee oder ähnliches. So wie café café in Spanien.
Im dem kleinen Laden am Platz am Ausgang der Innenstadt, der dann innen gar nicht so klein ist, erkennt die Frau mich wieder. Sie fragt, wo ich wohne. Wie immer, ruft Myrtos positive Reaktionen hervor. Ich mildere das Lob etwas ab, indem ich auf die verlassene Atmosphäre im Winter verweise. Da stimmt sie zu. Auch sie spricht von einem schlechten Winter. Aber in einem Monat, sagt sie, könne ich Kreta noch mal ganz neu erleben. Dann fing alles an zu blühen und, vor allem, zu riechen. So ähnlich sagt es der Reiseführer auch.
„Die wichtigste Entscheidung, wo ich in meinem Leben getroffen habe“, sagt ein deutscher Fußballspieler in einem Interview. Entspricht genau dem Griechischen.
Bei den blühenden Bäumen handelt es sich entweder um Mandel- oder um Pfirsichbäume. Kirschbäume, heißt es, seien hier nicht so oft vertreten.
Gestern war Τσικνοπέμπτη, der ‚Rauchdonnerstag‘, eigentlich der Tag, wo es nach Angebranntem riecht! Und von wo erfahre ich das? Aus Deutschland! Von treuen Reisebegleitern aus der Heimat. Habe hier wieder nichts mitbekommen.
Gelegenheit, sich mit den Karnevalstraditionen zu beschäftigen. An Τσικνοπέμπτη wird traditionellerweise gegrillt, eine Art vorweggenommener Abschied vom Fleisch. Bei besserem Wetter findet das Grillen auch draußen statt, aber dieses Jahr nicht.
Der ‚Abschied vom Fleisch‘ ist auch dem griechischen Wort für ‚Karneval‘ eingeschrieben: Αποκριές. Es setzt sich zusammen aus από und κρέας, ‚weg‘ und ‚Fleisch‘, also ganz ähnlich wie Karneval.
Der ‚Rosenmontag‘ heißt Καθαρά Δευτέρα, so etwas wie ‚Sauberer Montag‘, ‚Reiner Montag‘. Der hat aber mit unserem Rosenmontag nichts zu tun, sondern ist der erste Tag der Fastenzeit! Der Tag ist offizieller Feiertag in Griechenland. Man verbringt ihn am liebsten draußen. Dabei gibt es eine ganze Menge an leckeren Spezialitäten, aber gleichzeitig sind Fleisch, Fisch und Milchprodukte nicht erlaubt – wohl aber gegrillter Tintenfisch!
Als ich dann lese, dass Kinder an dem Tag Drachen steigen lassen, kommt mir eine Szene aus Athen in den Sinn, die viele Jahre zurückliegt. Da habe ich auf dem Lykabettus Jungen gesehen, die genau das machten. Ich hatte aber keine Ahnung, dass es sich dabei um eine Karnevalstradition handelte. Ich dachte, es wäre ein normales Freizeitvergnügen. Die Drachen heißen auf Griechisch χαρταετός, ‚Papieradler‘.
An den beiden Sonntagen zuvor ist erst ‚Kleiner Karneval‘ und dann ‚Großer Karneval‘, Μικρές Αποκριές und Μεγάλες Αποκριές, und zwischendurch gibt es auch Umzüge. Was an den Karnevalssonntagen passiert, davon bekomme ich am Morgen in der Stadt einen Eindruck. Da wimmelt es von Kindern und Eltern. Einige Kinder haben das Gesicht bemalt, aber Verkleidungen sieht man nicht. Sie haben verschiedenfarbige Bänder um den Hals. Die Farbe weist sie einer Gruppe zu. Es geht darum, ein irgendwo in der Stadt verstecktes Kiste zu finden. Den Weg dorthin findet man durch die Lösung von Rätselfragen. Diese Aktion findet am Samstag für die Kleinen, am Sonntag für die Großen statt. Die ganze Stadt kann teilnehmen.
15. Februar (Sonntag)
Syriza tritt in Europa forsch auf, beim Treffer der Finanzminister und der Ministerpräsidenten, aber was genau die Vorhaben sind, scheint niemand zu wissen. Jetzt ist von einer „Brücke“ die Rede statt von einer „Verlängerung“ des Abkommens. Ob das mehr als Wortkosmetik ist?
Es ist ständig von Investitionen statt von Sparen die Rede, aber andererseits werden private Investitionen nicht gefördert. Die Übernahme einiger regionaler Flughäfen durch Fraport soll rückgängig gemacht werden.
Auch die chinesischen Pläne werden nicht weiter verfolgt. China hat bereits seinen Fuß im Hafen von Piräus und wollte den zu einem ganz wichtigen Stützpunkt ausbauen. Die Schiffe brauchen eine Woche weniger als nach Hamburg oder Rotterdam. Piräus sollte der Umschlagplatz für chinesische Waren in Südosteuropa oder in ganz Europa werden. Daraus wird jetzt nichts.
Ganz wichtig im Selbstverständnis von Syriza und für den Wahlerfolg ist das Vorhaben, zu Hause auszumisten. Die alten Eliten sollen ihre Privilegien verlieren. Das ist auch Volkes Willen. Aber andererseits haben sie sich einen Teil der alten Eliten mit ins Boot geholt: Viele Syriza-Mitglieder sind ehemalige Mitglieder der PASOK, und der rechte Koalitionspartner ist eine Abspaltung der ND. Die Frau von Kammenos, dem Führer der ANEL, ist Reederin! Auch mit der Wiedereinstellung der entlassenen Staatsbeamten wird die alte Klientel bedient. Insgesamt ist das alles noch sehr unausgegoren, oder so wirkt es jedenfalls.
16. Februar (Montag)
Post aus der Heimat, mit dem Kreuzworträtsel aus der Zeit. Einige Leute wissen einfach, was der Mann braucht.
Überraschende Entdeckung beim Vergleich von Statistiken: Der regenärmste Monat in Deutschland ist – Februar! Wer hätte das gedacht. Dann kommen eine ganze Reihe von Monaten mit fast denselben Werten: Oktober, März usw. Am meisten regnet es im Juni. In Griechenland ist das Bild anders: Die Regenmenge nimmt vom Winter auf den Sommer hin kontinuierlich ab. Am wenigsten regnet es im Juni, am meisten in Dezember.
Sehr kommunikativer Vormittag mit Stationen in Ierapetra, Tertsa und Sidonia. Gesprächsmöglichkeiten beim Aufladen des Handys, beim Ausdrucken von Dokumenten, beim Kaffee bei Manolis, beim Besuch in dem Musikgeschäft (Flasche Wein als Dank für die CD hingebracht), beim Einkauf in dem kleinen, großen, großen, kleinen Markt in Ierapetra, beim Kaffee bei Jannis und beim Essen in Sidonia. Außerdem ein Telefongespräch, ein Gespräch mit einer Anhalterin und ein Gespräch mit Zoe, als sie zum Putzen kommt.
Bei Manolis einen Physiklehrer kennen gelernt. Er unterrichtet in einem φροντιστήριο, einer Mischung aus Volkshochschule und Nachhilfeinstitut. Er fragt, woher ich die grammatischen Termini kenne – Plural, Aorist, Pronomen – und Manolis erklärt, dass es beruflich bedingt ist.
Mit Zoe spreche ich über Bücher. Auch sie liest viel, am liebsten Thriller (μυστήριο), vor allem Dan Brown. Sie hat mir ein Buch mitgebracht, ein Geschenk, einfach so: Alexis Sorbas!
Als ich bei den Eltern von Angeliki anrufe und ankündige, dass ich demnächst mal wieder nach Heraklion kommen wolle, sage ich gleich, diesmal wolle ich zum Essen einladen. Das wird mit lautem Gelächter quittiert. Die Botschaft heißt: „Das kannst du dir abschmieren. Wir sind in Griechenland. Kommt nicht in Frage. Das kannst du in Deutschland machen.“ Nur der letzte Satz wird explizit gesagt. Den Rest muss man sich denken.
Bei Jannis frage ich nach der neuen Regierung, ganz unverhohlen. Sehr überzeugt ist er auch nicht, aber es sei wichtig, dass sie kämpfe. Das habe die andere nicht getan.
Wir sitzen draußen in der Sonne, aber als ich meine Begeisterung darüber kundtue, warnt er: Geduld. Tatsächlich sagt die Wettervorhersage neues Ungemach voraus.
Er zeigt mir einen Stein, der auf der Terrasse liegt. Ich frage mich, was das soll, bis er auf eine bestimmte Stelle deutet: Schnecken. Es ist ein Fossil mit dem Abdruck von Schnecken. Er hat den Stein irgendwo in den Bergen gefunden. Ob das bedeutet, dass früher das Meer so weit ging?
Als ich nach dem Essen von Sidonia zurückkomme, begegnet mir auf der einsamen Bergstraße eine Fußgängerin. Ich traue meinen Augen nicht: Es ist dieselbe Frau, die ich am Morgen nach Ierapetra mitgenommen habe! Ich drehe um und fahre sie in ihr Dorf. Sie hätte noch ein paar Kilometer Fußmarsch vor sich gehabt, immer bergauf.
Statt gelber gibt es hier oben weiße Blütenpracht am Straßenrand: Gänseblümchen. Ganz normale, ordinäre Gänseblümchen, aber in riesigen Mengen.
Dann löst sich ein langanhaltender Irrtum auf, ganz von selbst. In den Gesprächen mit Jannis ist immer wieder von einem Psychologen die Rede. Ich habe nie herausbekommen, wer dieser Psychologe ist. Und er kommt immer ganz unerwartet vor, ohne Bezug zu dem Gesagten. Und er deutet dabei immer nach oben, in die Berge. Jetzt dämmert es mir. Ganz zufällig sehe ich ein Hinweisschild: Sikologos 6 km. Sikologos ist ein Ort!
17. Februar (Dienstag)
Im Internet eine Szene aus Wer wird Millionär? Gefunden, die Aufzeichnung des ersten Millionengewinns. Es ging darum, wie Löffel, Gabel, Messer in Restaurants platziert werden. Hörte sich leichter an als es dann war, angesichts der Alternativen. Der Kandidat, ein junger Mann, wirkte ziemlich gefasst, auch als er als Gewinner feststand. Auffallend war, wie gute alle gekleidet waren, auch die Kandidaten. Bei der Auswahlfrage musste man vier Athener Sehenswürdigkeiten dem Alter nach ordnen. Da habe ich sogar richtig geraten, aber lange gebraucht.
Dann im Fernsehen, auf der Suche nach Nachrichten, ganz zufällig auf eine Sendung über Sprache gestoßen: Οι Λέχεις Φταίνε – Die Wörter sind schuld. Toller Titel. Ganz unaufgeregte Sendung, ganz anders als alles, was ich bisher gesehen habe. Es ging unter anderem um das Wort κατάφωρος. Auf der Straße werden Menschen gefragt, was es bedeutet. Eine junge Frau weiß sofort Bescheid und antwortet mit einem Synonym: ανυπόκριτος. Es bedeutet ‚unverhohlen‘, ‚aufrichtig‘. Alle anderen drucken herum, wie man das in solchen Situationen macht. Kaum einer gibt einfach zu, dass er es nicht weiß. Die meisten versuchen, die Bedeutung aus den beiden Teilen κατά und φωρος abzuleiten, aber das klappt nicht. Und zwar, weil alle an φωρος mit Omikron denken. Es wird aber mit Omega geschrieben und hat eine ganz andere Bedeutung.
Es kommt auch um den Reimport von „griechischen“ Wörtern, einem meiner Lieblingsthemen, bei den Griechen ein praktisch unbekanntes Phänomen. Ist unter anderem von Phosphor (φωσφόρος) und Cholesterin (χοληστερίνη), Wörter, die von ausländischen Wissenschaftlern, im Falle von Phosphor von einem deutschen Wissenschaftler, geprägt und dann in Griechenland eingeführt worden.
Und dann geht es noch um eine Frage, auf die ich seit einiger Zeit eine Antwort suche, aber nicht finde. Und blöderweise verstehe ich die Erklärung hier nicht. Es geht darum, ob τάξη und ταξί miteinander zusammenhängen – ähnliche Aussprache, ähnliche Schreibung. Auf das Deutsche übertragen: Kommt unser Taxi letztlich von τάξη, dem griechischen Wort für ‚Klasse‘? Oder sind das zwei ganz unterschiedliche Wurzeln?
18. Februar (Mittwoch)
Gestern waren es noch sieben Sonnenstunden, heute sollen es nur zwei sein. Die kurze Zeit am Morgen schnell genutzt, um auf die Piste zu gehen. Dabei ein eiskalter Wind vom Meer. In Böen stellt er sich wie eine Wand in den Weg, dann dreht er aber gnädig bei und schiebt einen von hinten an. Zwischen den Felsbrocken pfeift es und heult es und jault es, dass man an den „Erlkönig“ denkt. Aber wenn der Wind sich dann mal einen Moment legt, ist es still und – warm!
Gestern im Fernsehen eine Übertragung aus dem Parlament gesehen, mit einer Rede von Tsipras. Der Vouli wirkt ziemlich klein. Dabei gibt es immerhin 350 Abgeordnete. Es gibt keine Zuschauertribünen und auch keine Saaldiener. Vor einer der Ausgangstüren steht eine Traube Menschen herum. Es herrscht strenge Disziplin: keine Zwischenrufe, kaum Nebengeräusche. Wenn geklatscht wird, dann entschieden und alle zusammen. Auffallend ist auch die legere Kleidung. Da hat Syriza stilbildend gewirkt.
Das häufigste Wort in der Rede ist λάος, ‘Volk‘. Vom griechischen Volk ist viel die Rede, aber auch von den Völkern Europas. Auch sonst gibt es viel Rhetorik, die das neue Selbstbewusstsein widerspiegelt, aber letztlich nichtssagend ist: „Griechenland steht aufrecht, Griechenland zeigt Präsenz.“ Andere Wörter, die häufig fallen, sind Troika und Fehler. Es heißt, Griechenland habe eine historische Kehrtwende gemacht. Es heißt aber auch, dass die Arbeitslosen weiter arbeitslos sind.
Smaragd, Cannabis, Alabaster, Sesam, Charakter, Talent. Alle diese Wörter wurden, wie ich jetzt in dem Buch über das antike Kreta lese, zusammen mit dem Alphabet von den Phöniziern übernommen.
19. Februar (Donnerstag)
Jetzt verstanden, warum ich das mit dem Fasten nie verstanden habe: Das Fasten beginnt schon vor der Fastenzeit! Man nimmt quasi Anlauf, um dann, am Sauberen Montag, voll in Fahrt zu sein. Zuerst werden Fisch und Fleisch abgesetzt – das gilt jetzt schon – dann Eier und Milchprodukte. In der Fastenzeit gibt es dann nur noch Gemüse. Gesoffen wird aber weiterhin. Wein und Raki unterliegen nicht den Fastengeboten. Diese Regeln sind zwar religiös verbrämt, haben aber vermutlich andere Wurzeln: schonender Umgang mit natürlichen Ressourcen, gemeinschaftsstiftende Rituale, Schonung des Körpers. Die Fastenzeit fällt auch mit der Laichzeit der Fische zusammen.
Es ist weiterhin unerträglich kalt, kälter als in Deutschland. In der Nacht sind die Temperaturen auf 2° gefallen. Selbst die Kleidung, in die man steigt, ist kalt. Vom Wasser ganz zu schweigen. In den nächsten Tagen steigen die Temperaturen zwar, aber die Aussichten sind trüb.
Im Mirtos erfahre ich, wie Jana ihren Sohn vom Militär losgeeist hat, jedenfalls vorläufig. Sie hat ihn veranlasst, auf Selbstmordgefährdung zu plädieren. Daraufhin hat er eine Karenzzeit von einem Jahr bekommen. Dann muss er wieder ran. Der Dienst beim Heer dauert neun Monate, der bei Marine und Luftwaffe zwölf Monate. Man kann sich für jede der drei Sparten bewerben, wird aber nicht unbedingt genommen.
Im Internet Leserkommentare zu dem soeben beendeten Roman von Maria Tsirita gelesen: Fast durchgehend 5 Punkte, die Höchstzahl, meist undifferenziertes Lob wie „toll“, „wunderbar“, „begeisternd von Anfang bis Ende“. Dabei ist es ein höchst durchschnittlicher Roman mit schematischen Handlungssträngen, kaum einem nennenswerten Gedanken, herkömmlichen Motiven, wenig stimulierenden Dialogen, profillosen Charakteren und ohne Spur von Humor. Da (ver)zweifelt man an der Urteilsfähigkeit der Leute.
20. Februar (Freitag)
In der Türkei die stärksten Schneefälle seit 28 Jahren, der erste Schnee in Zypern seit 1998. Und hier ist es auch nicht viel besser. Ich habe wirklich einen schlimmen Winter erwischt.
Ich fahre nach Ierapetra, um dort die groß angekündigte Schatzsuche für Erwachsene zu erleben. In einem Geschäft erfahre ich aber, es sei längst alles vorbei. Jetzt komme nur noch der Umzug am Sonntag. Vorsichtshalber haben sie inzwischen auch das große Banner neben der Moschee abgenommen, auf dem das heutige Datum stand. War wahrscheinlich noch vom Vorjahr.
Ich gehe endlich in ein Bekleidungsgeschäft, das seit Wochen im Schaufenster schöne, im Preis reduzierte Hemden hat. Auch hier bin ich fast zu spät. Es sind nur noch Reste da. Die erste und die zweite Wahl sind in meiner Größe nicht mehr da, aber die dritte. Passt wie angegossen, obwohl ich nur nach Kragengröße gekauft habe.
An einem Kiosk fällt mein Blick auf die Schlagzeilen der Zeitungen: Die Mutter der Schlachten“, „Schäuble durstet es nach Blut“, „Einigkeit gefordert“, „Warum Berlin ja sagen muss“. Darunter die Sportzeitungen. Sie verkünden den Untergang: „Schwarzer Tag“, „Nein, nicht auch das noch“, „Waterloo“. Dabei hat Olympiakos nur 2:0 verloren, auswärts. Das ist noch alles drin. Allerdings sind sie der letzte griechische Vertreter auf der europäischen Ebene.
Auf dem Rückweg mache ich an einer Konditorei an der vielbefahrenen Straße Halt, eine moderne Konditorei in einem ganz modernen Gebäude. Hier gibt es ein Stück Baklava, das ein halbes Mittagessen ersetzt, zu passablen Preisen. Ich nehme gleich auch noch ein Schachtel mit ähnlichem Zeug mit, als Gastgeschenk für den morgigen Besuch in Heraklion. Das wird ganz professionell eingepackt.
Zuhause probiere ich dann den frisch gekauften Rohreiniger aus. Ich muss mich durch die griechischen Instruktionen kämpfen. Kaum zu glauben: Man macht das hier mit heißem Wasser, und zwar einer Riesenmenge. Es qualmt und dampft wie in einer Hexenküche. Ob es wirkt?
Gewisse Motive wiederholen sich in der griechischen Mythologie, wie mir jetzt bei der Lektüre des kleinen Bandes wieder auffällt: Ikarus fällt ins Meer und Helle fällt ins Meer. Kinder müssen geopfert werden, um Schaden vom Land abzuwenden: Phryxos und Helle, Andromeda, Ifigenia. Und Väter sind in der Regel bereit, das zu tun, wie Abraham im Alten Testament. Aber die Kinder werden gerettet, auf wundersame Weise, wie Isaak im Alten Testament. Aus Menschen werden Pflanzen: Aus den Haaren der vor Apollo fliehenden Daphne wird der Lorbeer (griechisch δάφνη), aus dem krausen Haar des tödlich verwundeten Ampelos erwachsen, als Trost für Dionysos, die ersten Weintrauben (griechisch αμπέλι, ‚Weinberg‘), an der Stelle, wo der tote Körper von Narziss lag, wachsen die ersten Narzissen, aus dem Blut des vom Diskus an der Stirn getroffen Hyazinth wächst die erste Hyazinthe. Ikaria und der Hellespont haben ihren Namen von Ikarus und Helle, die an diesen Orten ins Meer gefallen sind, das Ägäische Meer von Ägeus, der sich aus Verzweiflung über den vermeintlichen Misserfolg der Expedition seines Sohnes hier ins Meer stürzt. Io, die Geliebte des Zeus, von Zeus zur Sicherheit in eine Kuh verwandelt, die auf der Flucht vor einer von der chronisch eifersüchtigen Hera gesandten Fliege durch die halbe Welt zieht, hat als Namenspatronin gleich zweimal zugeschlagen: Sie überquert ein Meer, das Ionische Meer, und durchschreitet eine Furt, den Bosporus, die ‚Kuhfurt‘.
21. Februar (Samstag)
Früher Aufbruch nach Heraklion. Als ich in Knossos ankomme, ist von dem angekündigten schönen Wetter noch nichts zu sehen.
Erst treibt es mich aber nicht zu den Minoern, sondern in die Cafeteria. Dort gibt es ein neues Gebäck zu entdecken, ραφιόλη, etwas, was es nach der freundlichden Auskunft des jungen Mannes hinter der Theke nur in Kreta gibt, nicht in Restgriechenland. Es ist, wie immer, ein sehr festes, trockenes, erstaunlich schweres Gebäckstückchen, mit einer geleeartigen Füllung, vielleicht aus Weintrauben gemacht. Im Internet ist schwer Information zu beschaffen, da der Name so ähnlich wie Ravioli klingt.
Das Gelände löst bei mir weiterhin keine Begeisterungsstürme aus, aber es gibt viele interessante Details zu beobachten. Die Westfassade zum Beispiel, die zum Teil wiederaufgebaut ist und an der noch Brandspuren zu erkennen sind, hatte keinen Eingang. Sie war ganz geschlossen. Hinein in den Palast ging man an der Seite rechts vorbei an der Fassade.
Vor der Westfassade verlaufen auf dem Westhof unregelmäßige Prozessionswege, genau wie in Phästos, und davor befinden sich die Kolouri, große, runde Löcher, deren Funktion umstritten ist. Einer Quelle zufolge wurden die Reste von Opferungen dort deponiert. Sie stammen noch aus dem Alten Palast. Aber gleichzeitig sind am Boden der Kolouri noch Mauerreste von Häusern zu erkennen. Das finde ich alles ziemlich verwirrend.
Der Weg in den Palast ist mit unregelmäßigen Alabasterplatten, grau, rosa, gedeckt, nach dem mutmaßlichen Aussehen wieder an Ort und Stelle gebracht. Die sehen
An der Seite steht auf einer Mauerkrone ein großes Doppelhorn aus Stein, eins der heiligen Symbole der Minoer. Wie kann es sein, dass ich daran schon mal vorbeigelaufen bin, ohne es zu sehen? Es ist gleich auf Augenhöhe.
Bei einigen der halb wiederausgebauten Räume oder Gebäudeteile hat Evans betonierte Längs- und Querbalken eingezogen. Die wirken völlig deplatziert, wenn man nicht weiß, welchen Zweck sie haben: Sie imitieren die alten Holzbalken, die fachwerkartig in die Wände eingezogen waren. Sie gaben dem Bauwerk Elastizität – Erdbeben!
Von oben sieht man in ein großes, abgesperrtes Vorratslager hinunter. Dort stehen immer noch in situ gefundene Pithoi. In denen wurden Korn, Öl, Wein usw. gelagert. Nur wofür? Wenn es für sakrale Zwecke war, ist es mächtig viel, wenn es für die Versorgung der ganzen Stadt war, ist es vermutlich zu wenig. Darunter gibt es kastenförmige Versenkungen im Boden. Die dienten als eine Art Tresor für besonders wertvolle Artikel.
Von da aus geht man auf den großen Zentralplatz hinunter. Dort liegt der „Thronsaal“. Man sieht drinnen einen auf eine durchlaufende Bank eingearbeiteten Alabastersitz, Evans zufolge der älteste Thron Europas. Vor dem Thronsaal ist auch noch ein hölzerner Thron, dessen Funktion mir nicht klar wird. Es ist nicht mehr als ein Stuhl, aber der ist perfekt der Körperform angepasst und hat eine schöne, die Lehne umlaufenden Dekoration. Drinnen sind an den Wänden Fabelwesen angebracht. Wie viel davon original ist, kann man nicht erkennen. Man darf den Raum nicht betrachten. Unter den Fabelwesen befinden sich Greifen, mit Adlerkopf, Löwenkörper und Schlangenschwanz. Die Greifen repräsentieren die Macht des Königs in der Luft, im irdischen und im unterirdischen Bereich. Das Problem ist nur, dass man natürlich gar nicht weiß, ob hier ein König auf dem Thron saß. Vielleicht war es eine Priesterin. Auch auf deren Macht würde die Symbolik der Greifen natürlich zutreffen.
Auf der anderen Seite des Zentralhofs liegt der Eingang zu der großen Treppe, leider versperrt. Deshalb bleibt mir etwas verborgen, was ich gerne gesehen hätte (und, wie ich mir jetzt einbilde, damals auch schon mal gesehen habe): Schilde in Form der Acht. Die Schilde der Königlichen Wache, die hier untergebracht war, waren nicht oval, sondern hatten die Form einer 8. Und hier ist eine ganze Wand mit diesen Schilden dekoriert. Die Schilde waren so berühmt, dass noch Homer sie Jahrhunderte später erwähnt! Der Sinn der Form war eine Verringerung des Gewichts!
In das Megaron der Königin und das Megaron des Königs kann man auch nur von außen hineinsehen. Im Megaron der Königin sind die berühmten Delphine an der Kopfseite angebracht. Der Raum hat, das kann man jedenfalls erahnen, etwas Spielerisches. Im Megaron des Königs gab es eine technische Besonderheit, die staunen lässt. Die Holztüren des Raums konnten ganz in der Wand verschwinden. Bei gutem Wetter muss der Raum dann sehr luftig gewesen sein und gewirkt haben, als wäre er nur von Säulen umstanden!
Wenn man sich auf verschlungenen Wegen wieder zurückarbeitet, stößt man immer wieder auf Spuren der Kanalisation. Auch die muss technisch anspruchsvoll gewesen sein. Es heißt, die Kanalisation war so angelegt, dass Senkgruben das mitgeführte Erdreich entsorgten und dass das Wasser nur halb so schnell floss, wie es bei einer natürlichen Bewegung fließen würde.
Ich finde den Ausgang aus dem Labyrinth und mache mich auf den Weg nach Heraklion. Erst stelle ich das Auto, in einer Reihe mit einem Dutzend anderen, in das absolute Halteverbot am Straßenrand am Hafen, aber als ich dann auf dem Weg zur Stadt an einem preisgünstigen Parkplatz vorbeikomme, eine Art Privatgeschäft auf einem Hinterhof, überlege ich es mir noch mal und hole das Auto aus der Gefahrenzone.
Dann geht es direkt zum Hotel und von dort zur Agia Ekaterini. Das ist nicht weit, aber ich finde es trotzdem nicht. Die Frage nach dem Weg löst zwei unterschiedliche Reaktionen aus: „Keine Ahnung, nie gehört“ sagen die einen. Die anderen sind regelrecht angetan von der Frage, so nach dem Muster: Wow, Agia Ekaterini, ein Ausländer, der sich für unsere ureigene Kultur interessiert. Eine Frage nach dem Archäologischen Museum löst nicht solche Reaktionen aus.
Die Kirche ist die Kirche des ehemaligen Katherinenklosters. Wo hier, am Rande eines Platzes im Zentrum, Platz für ein Kloster war, kann man sich gar nicht vorstellen. In der Mitte des Platzes steht die Kathedrale, Agios Minas. Vielleicht ist die neueren Datums und steht da, wo einst das Kloster war.
Jedenfalls ist die Kirche der ideale Ort für das Ikonenmuseum. Einige der ausgestellten Ikonen wurden vielleicht sogar hier im Kloster gemalt.
Die ersten und ältesten Ikonen entsprechen dem, was man sich unter Ikonen vorstellt: Heiliger vor Goldhintergrund. Dann aber mischt sich diese östliche Tradition mit der westlichen und vereint sich manchmal mit ihr in einem einzigen Bild. Das liegt am Einfluss der Venezianer. Heraklion wurde von den Venezianern als erstes erobert und als letztes verlassen. Aus dem kleinen Hafen wurde in dieser Zeit ein internationaler Umschlagplatz, vielleicht der wichtigste des Mittelmeers. Der Einfluss der Venezianer brachte es auch mit sich, dass Marmor als Untergrund für die Ikonen durch Holz ersetzt wurde.
Gleich die erste Ikone ist ein Klassiker. Ein Pantokrator, mit eindringlichem Blick und leicht orientalischem Aussehen: dunkler Teint, kleiner Mund und ein über die Mundwinkel zu beiden Seiten abfallenden Schnäuzer. So stellt man sich eine Ikone vor.
Eine ganze Reihe von Ikonen wurden von einem gewissen Angelos firmiert, darunter ein Heiliger Georg, der zwar eine Rüstung trägt, aber ganz unmilitärisch aussieht, mit einem jungenhaften Gesicht und einer kaum sichtbaren Lanze. Dieser Angelos wirkte stilbildend und wurde richtig berühmt. Seine Bilder gelangten sogar bis in das Kloster auf dem Sinai. Von seinem Leben weiß man wenig, aber er machte ein Testament, als er sich auf einer gefährlichen Reise nach Konstantinopel befand. Ob er jemals dort angekommen ist, weiß man nicht, aber man kennt den Grund der Reise: Farben kaufen!
Es bildete sich im Laufe der Zeit eine kretische Malschule heraus. Es gab (XV) bis zu 100 Ikonenmaler in Heraklion alleine! Die Nachfrage muss riesig gewesen sein. Die Maler waren Sie waren in Verbindungen von der Art einer Art Gilde organisiert. Als Heraklion an die Osmanen fiel, flohen viele von ihnen auf die Ionischen Inseln, machten dort aber weiter. Ein wichtiger früher Vertreter dieser Schule ist ein gewisser Ritzos.
Die Ikonen aus dieser Zeit sehen ganz anders aus, mit vielen Figuren, konkreten Szenen, Handlungen. Gut gefällt mir eine Geburt des Johannes des Täufers. Im Zentrum Elisabeth unter einer dicken bestickten Decke, davor das in Windeln gewickelte Kind in den Armen der Amme, am Rand Zacharias, der den Namen des Neugeborenen aufschreibt, unten eine „Mohrin“ als Magd, oben eine Magd mit einem Wäschekorb auf dem Kopf, darunter werden auf Tabletts Hähnchen und Wein herangeschafft. Im Zentrum ein gedeckter Tisch, mit Besteck, auch mit Gabeln, dreizackig. Die müssen damals noch ziemlich neu gewesen sein.
Richtig Action kommt in einer Enthauptung des Johannes ins Spiel. Verschiedene Szenen vereinen sich in einem Bild. Vorne wird der Kopf abgeschlagen, hinten wird er auf einem Tablett präsentiert. Drei junge Frauen sehen interessiert zu.
Schön auch ein St. Minas auf dem Pferd, mit nackten Waden und Zehen, die unter den Gamaschen hervor lugen. Er hält ein Kreuz und eine Schriftrolle in der Hand.
Aus der späteren Epoche ragt ein gewisser Damaskenos hervor. Er ist mit mehreren wuchtigen, figurenreichen Bildern vertreten. Dabei ist auch eine Heilige Liturgie, was hier ein gängiges Motiv zu sein scheint. In einem Oval sind Priester und Heilige um die Mitte angeordnet, in der Christus und Gottvater und zwischen ihnen der Geist dargestellt sind. Die Figuren tragen Kerzen, Kreuze, Kelche, Waffen, Bücher. Alle, einschließlich Christus, sind schräg angeordnet, außer Gottvater. Der sitzt schnurgerade auf seinem Thron, ein Fels in der Brandung. Zwischen all den Figuren auf dem wenigen freien Platz rundliche Köpfe von Putten, die wie ein genauer Vorläufer der Putten von Raffael in der Sixtinischen Madonna aussehen.
Dann kommt noch ein Bild, das auf den ersten Blick nicht verständlich ist. Es stellt das Erste Ökumenische Konzil, das Konzil von Nicäa. Es ist gemaltes Dogma. Bischöfe und Herrscher sind versammelt, wohl auch Papst und Kaiser – historisch fragwürdig – um Thron und Evangelium herum, während der Ketzer Arius in einer dunklen Höhle traurig auf seinen Büchern lagert!
Neben Ikonen sind auch liturgische Geräte und Gewänder und eine Ikonostase ausgestellt, aber auch Ausstattungsteile aus Holz: ein Bischofsthron, ein Baldachin, ein Ambo und kleinere Teile wie Buchhalter. Es wurde alles aus kretischem Holz gemacht, und zwar vorwiegend aus Zedern und Zypressen. Die gibt es heute kaum noch. Für die kleineren Teile wurde auch das weichere Holz von Zitrusbäumen und Mispeln verwandt.
Das Verhältnis von Kretern und Venezianern war anfangs konfliktreich, wurde dann aber immer friedlicher. Als dann Konstantinopel in die Hände der Osmanen fiel, stellte sich plötzlich Einigkeit ein: Man hatte einen gemeinsamen Feind. In der Zeit davor war die Uneinigkeit vor allem dadurch bedingt, dass die Venezianer eine Vereinigung der orthodoxen und der katholischen Kirche anstrebten! Ökumene! Aber das scheiterte an den Kretern, die sich durch Sprache, Dogma und Herkunft anders fühlten.
Dann mache ich mich auf den Weg zu der Einladung, zu den Eltern von Angeliki. Ich werde empfangen wie der verlorene Sohn. Und es ist wieder ordentlich aufgetischt worden. Am besten ist ein mit Reis gefülltes Hähnchen. Sowohl das Fleisch als auch die Füllung: eine Delikatesse. Die Frau des Hauses feuert mich an, auch solange der Teller noch randvoll ist: „Nimm!“, „Bedien dich!“ „Iss!“. Und wenn ich dann nachlege, wird das mit „Bravo!“ quittiert.
Ganz umsonst bekommt man das aber nicht. Man wird immer wieder dazu aufgefordert, die Einmaligkeit der griechischen Gastfreundschaft zu bestätigen. Dabei hilft mir, dass ich ordentlich dem Wein und Raki zuspreche.
Es wird kurz nach meinen Besichtigungen am Vormittag gefragt, aber ohne echtes Interesse. Als ich vom Ikonenmuseum berichte, sagt sie Frau des Hauses, auch sie liebe Ikonen, und zeigt auf eine kitschige, silbrige Ikonensammlung an der Wand, die alle Patrone der Familie darstellen.
Im Gespräch kommt dann immer wieder „Wir Griechen“ und „Wir sind so“ und dann ein paar abfällige Bemerkungen über Einladungen in Deutschland, bei denen sie anwesend waren. Sie imitiert, wie an einem Kindergeburtstag ein Mann aufstand und sich aus einer Schale ein paar Erdnüsse nahm, um sich dann wieder hinzusetzen. Sie hätten dann die Geburtstagsfeier der Enkelin ausgerichtet, dreißig Erwachsene, ein Dutzend Kinder, um denen mal zu zeigen, wie man so was macht. Die Tochter im fernen Ausland ist ein Dorn, aber sie reden sich ein, dass es schließlich um das Wohl der Tochter gehe und ihnen das wichtiger sei als alles andere. Und dann kommt plötzlich: Ja, aber die Häuser in Deutschland! Und die Bürgersteige! Und die Parks! Und diese wunderbaren Dörfer an der Mosel!
Sie ist eine Klucke, und das fällt mir jetzt beim zweiten Besuch erst auf. Er ist klüger, versucht, zu argumentieren, zu verstehen. Das wird besonders deutlich, als es um Pünktlichkeit und Planung geht. Ich versuche zu argumentieren, dass das wohl eher soziologische Faktoren sind als Merkmale eines Nationalcharakters, die da zum Ausdruck kommen. Jedenfalls finden sie es sehr vergnüglich, dass ich am Montag angerufen hätte und erst am Samstag gekommen bin. Irgendein anderer Freund von Angeliki hätte am gleichen Tag angerufen und sein Kommen angekündigt.
Es kommt die Rede auch ohne mein Dazutun auf die politische Lage, aber wir lavieren uns da ganz gut durch. Wenig Verständnis für Deutschlands harte Haltung und seine Weigerung, sich die Vorschläge wenigstens anzuhören, aber auch wenig Verständnis für das Auftreten der griechischen Regierung, bei der man sich fragen müsse, was die denn eigentlich wolle. Darauf können wir uns gut verständigen.
Interessant dann der Kommentar zum äußeren Erscheinungsbild. Das gehe doch nicht, ohne Krawatte, gut, wenn es denn sein müsse, aber das Hemd über der Hose, das gehe doch nicht. Noch am Tag davor hat eine deutsche Freundin mir gesagt, wie sie das unkonventionelle Auftreten der griechischen Regierung begeistere. Beiden ist vermutlich nicht klarzumachen, dass ihre Urteile ziemlich willkürlich sind.
Als ich schon glaube, diesmal verschont zu bleiben, kommt dann die Rede doch noch auf die Sprache. Und mein Martyrium beginnt. Ich werde in die Beweisführung mit einbezogen: „Wie heißt das auf Deutsch?“ – „Glas.“ – „Wie heißt das auf Englisch?“ – „Glass.“ – „Siehst du, so ist das, ihr habt immer nur ein Wort, im Griechischen gibt es mindestens vier verschiedene Wörter dafür. Griechisch ist einfach die reichere Sprache.“ Wie soll man damit umgehen?
Nach dem Essen bekomme ich dann noch Bilder vom „Dorf“ zu sehen. Mit Dorf ist ein Garten gemeint, den er sich außerhalb Heraklions angelegt hat. Beeindruckend, er hat sich mit der Hilfe eines Freundes nach der Pensionierung darin eingearbeitet, ohne jede Vorkenntnisse, und baut Obst, Gemüse und Wein an, vor allem Wein. Gut, wenn sich Leute eine Aufgabe suchen. Er geht jedenfalls ganz darin auf. Beim nächsten Besuch steht das „Dorf“ auf dem Programm.
Es ist sechs Uhr, als das Mittagessen beendet ist. Es ist noch hell, und ich nutze die Gelegenheit, zum Grab von Kazantzakis zu gehen, gar nicht weit von hier. Es ist ganz oben auf einer Bastion der venezianischen Stadtmauer gelegen. Die kommt in Heraklion, obwohl sie genauso gut erhalten ist wie die von Chania, gar nicht richtig zur Geltung. Sie kommt im Stadtbild kaum vor, und wenn, dann lenken Baustellen oder hässliche Betonklötze von ihr ab.
Das Grabmal besticht durch seine Schlichtheit. Man mag kaum glauben, dass er wirklich hier begraben liegt. Es sind ein paar längliche Steinplatten, die hinter- und übereinandergeschichtet sind und davor ein einfaches Holzkreuz. Auf den Steinplatten kein Name, keine Daten, nur das berühmte Zitat: Δεν ελπίζω τίποτα, δεν φοβούμαι τίποτα, είμαι λέφτερος. – Ich hoffe nichts, ich fürchte nichts, ich bin frei.
Der Standort ist bestimmt gut gewählt, mit Blick auf Stadt und Meer und Berge, aber Kazantzakis hatte vermutlich nicht auf der Rechnung, dass gleich nebenan ein Sportstadion mit Flutlichtmasten stehen würde. Und für mich ist es zu kalt, um die Aussicht zu genießen. Man sollte aber an einem wärmeren Tag noch mal wiederkommen, um das nachzuholen.
Im Zentrum muss wohl gerade der Karnevalszug zu Ende gegangen sein: Kostümierte und – die Mehrzahl – nicht Kostümierte stehen unter dem Dach der Loggia, stehen um eine Bühne herum, auf der Livemusik gespielt wird – modern, keine Karnevalsmusik – und sitzen in Cafés und Bars. Es gibt kein Gegröle und keine Alkoholleichen. Bei den Kostümen immer wieder Andalusierinnen und Mexikaner. Es gibt aber auch eine „griechische“ Verkleidung: antike Priesterinnen in langen Gewändern. Sehr schön. Als ich eine der Priesterinnen aus dem Augenwinkel aus der Ferne beobachte, um zu sehen, ob ich ein Photo machen kann, sehe ich, wie sie ein Handy aus der Tasche zieht.
22. Februar (Sonntag)
Das Hotel ist auf der Straße 1812, eine der zentralen Straßen der Innenstadt. Eine andere wichtige Straße, die Verlängerung des Markts, heißt 1866. Und dann komme ich auf dem Weg zum Parkplatz noch über 1770. Nicht zu vergessen der 25. August.
Fast ohne es zu wollen lande ich, durch das helle Bimmeln einer Kirchenglocke aufmerksam gemacht, in einem orthodoxen Gottesdienst. Die Kirche ist klein, obwohl dreischiffig, breit, aber sehr kurz und sehr niedrig. Es kommt fast kein natürliches Licht ins Innere, das aber von Kerzen, Leuchtern und sogar modernen Scheinwerfern ausgeleuchtet ist. Wie immer, ist jeder Quadratmeter ausgemalt.
Der Pope, mit einem schweren, goldbestickten roten Gewand, ist durch eine Öffnung in der Ikonostase zu sehen, mit dem Rücken zum Volk. Einmal trägt er das kostbar gebundene Evangelikar durch die Kirche. Und dann erscheint er plötzlich mit der langen, schwarzen Kopfbedeckung der orthodoxen Priester.
Die Liturgie ist ein unendlicher Wechselgesang zwischen dem Popen und einer kleinen Schola aus stimmgewaltigen alten Männern. Es ist ein Singsang, orientalisch klingend, etwas leierhaft. An ein paar Stellen werde ich aber auch an traurige galicische Volkslieder erinnert, aber das kann Zufall sein. Der Wechselgesang besteht aus unendlichen Wiederholungen, z.B. beim Kyrie Eleison. Gesprochen wird nie, auch das Evangelium wird „gesungen“. Das Thema des Evangeliums ist das Fasten.
Die Gläubigen verneigen sich und bekreuzigen sich, Hunderte von Malen. Und stehen immer wieder auf, um sich dann wieder hinzusetzen.
Zwischendurch kommen immer wieder Einzelne nach vorne, um Kerzen anzuzünden, die Ikonen zu küssen und sich zu verneigen. Eine Frau in der ersten Reihe ist für die Kerzen zuständig. Sie räumt regelmäßig ab, löscht die halb abgebrannten Kerzen und deponiert sie in einer Box. Die werden wohl recycelt. Das kommt mir ziemlich knausrig vor, schließlich muss man für die Kerzen bezahlen.
Ich hatte erwartet, dass mich irgendwie ergriffen sein würde, von der Atmosphäre und den Ritualen, den Lichtern, Bildern, dem Geruch von Kerzen und Weihrauch, aber ich sitze eher dabei wie ein Ethnograph, der das Treiben der Eingeborenen beobachtet und sich seine Gedanken dazu macht. Immer wieder geht mir durch den Kopf, dass gleichzeitig Millionen anderer Menschen vor dem Computer sitzen und sich Kurzfilme auf U-Tube ansehen, andere sich bei einem Frühschoppen die Hucke vollhauen, andere sich die Köpfe einschlagen und andere unter erbärmlichen Umständen schuften, um überleben zu können. Jede eine Welt für sich, in der globalisierten Welt?
Am Morgen ist in der Innenstadt „Auskehr“. Vor der Lokalen werden mit den breiten Rutenbesen Konfetti und Girlanden aufgefegt. Ansonsten ist die Stadt aber wie ausgestorben.
In einem Bekleidungsgeschäft sehe ich ein Schild, auf dem Τζιν steht. Das müssen wohl Jeans sein.
Das Historische Museum hat sonntags geschlossen. Schade. Aber es hat Informationen über Öffnungszeiten.
Also gehe ich nochmal ins Archäologische Museum. Diesmal sehe ich mir die Skulpturen an. Die sind in einem eigenen Saal untergebracht. Hier ist in der Regel niemand, so auch heute.
Man kann gut zwei Perioden unterscheiden, die römische Periode, die hier in Griechenland schon früh beginnt, und die Periode davor, die Geometrische Periode. Davon gibt es ein paar beeindruckende Exemplare gleich hinter dem Eingang, darunter ein länglicher Reiterfries mit fünf ziemlich stereotyp dargestellten Reitern. Die sind unverhältnismäßig klein im Vergleich zu den Pferden. Alle haben eine Lanze, hoch erhoben, in gerader Linie in der Luft gehalten, und ein Schild. Die Pferde haben kein volles Zaumzeug, aber einfache Zügel. Alle Reiter wenden sich gegen die Laufrichtung des Pferdes um und sehen den Betrachter an. Man konnte oder wollte die Figuren wohl nicht im Profil darstellen. Die Gesichter sind unterschiedlich, aber nicht individualisiert. Sie sehen nicht wie die Gesichter von Menschen aus. Auffallend ist die Kopfbedeckung. Die sieht regelrecht ägyptisch aus. Immer wieder stoße ich bei der Lektüre auf die Verbindung nach Ägypten im Kreta der Antike, schon bei den Minoern. Hört sich überraschend an, aber so weit ist es ja nicht.
Auch zwei Göttinnen, die sich gegenübersitzen, haben diesen ägyptischen Kopfschmuck, und auch ihre Beine sind wie bei alten ägyptischen Skulpturen dargestellt, in der Form eines Würfels.
Eine der nicht endgültig erklärten Besonderheiten Kretas ist das Fehlen von Monumentalität. Es gibt keine großen Tempelanlagen, keine überdimensionale Skulpturen, auch dann nicht, als sie überall in der restlichen griechischen Welt entstehen. Das ist auch hier der Fall. Zwei Erklärungen werden hier geboten: die minoische Tradition – es gibt mehr Interesse am Detail – und das Material. Die Skulpturen hier sind aus Poros, porösem Sandstein. Der Unterschied zu den römischen Skulpturen ist gut zu erkennen. Da sind die Skulpturen aus Marmor. Es gibt einen gewissen Zeitsprung zwischen den geometrischen und den römischen Skulpturen. Das ist gerade die Zeit, vom 6. vorchristlichen Jahrhundert an, wo Griechenland seinem Höhepunkt entgegengeht. Da geht es in Kreta bergab.
Die Skulpturen aus der Römerzeit sind absolut sehenswert. Zuerst sehe ich eine Abschiedsszene. Ein Mann neigt sich seiner Frau und seinem zwischen ihnen stehenden Sohn zu. Der trägt einen Griffelkasten, sie trägt ein Schmuckkästchen. Das ist ein Grabdenkmal! Der Mann, der Abschied nimmt, ist der Tote! Die Grabplatte ist aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert, sieht aber viel jünger aus.
Dann gibt es ein schönes, kleines Relief mit einem Ringkampf zwischen zwei geflügelten Wesen. Man sieht gut die Bewegung und die Anstrengung. Der eine ist Eros, der andere Anteros, sein Bruder. Der steht für homosexuelle Liebe oder für unerwiderte Liebe. Der Ringkampf ist also ein symbolischer Ringkampf zwischen zwei Auffassungen von Liebe.
Dann kommt eine schöne sitzende Demeter mit dem Füllhorn. Sie hat den Kopf geneigt und sieht fast nachdenklich aus. Ein üppiges Gewand legt sich über ihre Schultern, ihr gebeugtes Knie und ihren gebeugten Arm.
Davor eine kleinere Doppelskulptur, die den Niobe-Mythos darstellt. Niobe hatte die Kleinigkeit von vierzehn Kindern auf die Welt gebracht, sieben Jungen und sieben Mädchen. Das machte sie so stolz, dass sie sich brüstete, mehr wert zu sein als Leto. Die hatte nur zwei Kinder, Artemis und Appolon. Leto ließ sich das nicht gefallen und beauftragte ihre Kinder, alle Kinder Niobes zu töten. Artemis nahm sich der Töchter an. Hier sieht man, wie sie mit einem Pfeil auf eins der Kinder schießt, während Niobe versucht, sich schützend über das Kind zu beugen. Man ahnt aber schon, dass sie zu spät kommt.
An der Stirnwand des Saals zieht eine große Doppelskulptur die Aufmerksamkeit auf sich, eine männliche und eine weibliche Figur, mit einem dreiköpfigen Hund. Das ist Kerberos, der Höllenhund. Die Figuren sind Pluto und Persephone, aber sie werden, in einem typischen Beispiel von Synkretismus, mit den ägyptischen Göttern Serapis und Isis identifiziert. Die wurden seit der Hellenistischen Periode auch in Griechenland verehrt. Wieder Ägypten! Persephone hat neben Mondsichel und Sonnenscheibe auch ein Sistrum, ein ägyptisches Musikinstrument, als Kennzeichen.
Dann sehe ich mir noch die Büsten an, in einer langen Reihe präsentiert. Besonders auffällig, wie genau der weibliche Kopfschmuck ausgearbeitet sind. Man kann verschiedene modische Frisuren beobachten. Unglaublich, welcher Aufwand da getrieben wurde, nicht anders als heute. Alle Frisuren sind kunstvoll angelegt. Und an Variation mangelt es nicht: hinten zu einem Pferdeschwanz, zu einem Dutt, zu einem Zopf zusammengefügt. Oft vertreten ist eine Frisur, die melon coiffure genannt wird. Bei der werden die Haare in streng geformten, eng anliegenden Strängen parallel nach hinten gebunden. Daneben gibt es den honeycomb. Da werden die Haare vorne über der Stirn hochgesteckt, so dass man den Eindruck hat, es handele sich um eine Krone. Und dann gibt es Köpfe, bei denen drei verschiedene Frisuren kombiniert sind, vorne, hinten und in der Mitte jeweils eine andere!
Obwohl es noch relativ früh ist, mache ich mich auf den Weg aus der an diesem Morgen trostlos wirkenden Stadt. Als ich nach Ierapetra komme, ist es noch zu früh für den Karnevalsumzug und zu spät, um noch nach Myrtos und wieder zurückzufahren. Aus Verlegenheit sozusagen gehe ich in die Arche. Trotz der frühen Zeit ist es dort ziemlich voll. Ich werde freundlich begrüßt, so als ob man sich an mich erinnerte. Wieder nehme ich was vom Holzkohlegrill, ein Gericht mit dem nicht sehr einladenden Namen Kotsi. Es schmeckt aber hervorragend, vielleicht das beste Fleischgericht, das ich bisher gegessen habe, zart und würzig. Was genau das ist, bleibt offen. In den Wörterbüchern erscheint es nicht, und im Internet stoße ich nur auf eine Stelle, in der ein Reisender fragt: Was ist Kotsi? Ich würde sagen, eine magere Version von Schweinshaxe.
Dann beginnt der Karnevalszug. Es ist eine bescheidene Angelegenheit. Nicht mehr als vielleicht zehn Gruppen ziehen einmal durch die Straße entlang. Nach weniger als einer Stunde ist alles vorbei. Es wird Konfetti geworfen, sonst nichts, und alle haben Trillerpfeifen. Karnevalsmusik gibt es nicht. Unter den Gruppen, alle einheitlich kostümiert hinter einem Wagen hergehend, befinden sich Froschmenschen, Würfelmännchen, Enten, Chinesen, Ärzte (mit Verletzten) und katholische Kardinäle.
Die Zuschauer sind meist nicht verkleidet, ich brauche mich also nicht zu verstecken. Andere tragen alberne Perücken, alberne Krawatten, alberne Hüte, alberne Brillen und, am schlimmsten von allem, aufblinkende Hasenohren. Pappnasen gibt es glücklicherweise nicht. Unter den verkleideten Zuschauern befinden sich Hexen, Teufel, Cowboys, amerikanische Polizisten, Flamenco-Tänzerinnen, Japanerinnen (aufwendig in Kimonos gekleidet) und der Sensenmann. Eine Krankenschwester steht gleich neben den Erste-Hilfe-Leuten, und erst auf den zweiten Blick sehe ich, dass sie falsch und die echt sind. Und erst auf den dritten Blick sehe ich, dass sie ein Mann ist. Das ist bei einer männlichen Bauchtänzerin einfacher. Auch hier spielt Alkohol praktisch gar keine Rolle.
23. Februar (Montag)
Neuer Tiefpunkt beim Wetter. Das Meer ist nicht mehr grau, sondern braun. Wer hätte gedacht, dass es noch schlechter werden würde? Dabei ist heute Καθαρά Δευτέρα, und den verbringt man sonst draußen mit Picknick und Drachensteigen. Genug Wind ist sicher da, aber der würde einem den Drachen aus der Hand reißen.
24. Februar (Dienstag)
Bei der Suche nach einer trockenen Strecke komme ich über die Brücke und traue meinen Augen nicht: Myrtos hat einen Fluss! Einen breiten, wasserreichen Fluss mit starker Strömung. Und etwas weiter landeinwärts gibt es sogar einen Wasserfall, einen breiten, reißenden Wasserfall. Und dann werde ich Zeuge von Erosion in action. Es grummelt und kracht, ich drehe mich um, und ein ganzer Uferstreifen fällt krachend ins Wasser. Jetzt weiß ich, warum das Meer neuerdings braun ist!
Unterwegs begegne ich Apostolos, und der fordert mich auf, auf dem Rückweg in der Fabrik auf einen Kaffee vorbeizukommen. Zum Kaffee gibt es dann nicht nur das obligate Wasser, sondern auch selbstgemachten Wein. Sieht aus wie Sherry, schmeckt auch ähnlich, aber wie ziemlich trockener Sherry. Auch er bestätigt, dass Getränke nicht unter das Fastengebot fallen. Er findet die Frage sogar eher erheiternd. Genauso wie sein Mitarbeiter, der mit uns Kaffee trinkt. Er selbst fastet nur in der ersten und letzten Woche der Fastenzeit, dann aber streng, also auch ohne Käse und Eier.
25. Februar (Mittwoch)
Kretas wichtigstes Ausfuhrprodukt während der römischen Zeit war der Wein. Der wird immer wieder erwähnt. Und für seine Qualität gelobt. Unter anderem auf einer in Pompeji gefundenen Amphore. Am häufigsten wird der wegen seines süßen Geschmacks beliebte, aus Rosinen hergestellte passum erwähnt.
Erstaunlich, wie viele Informationen man aus den kurzen, meist auf Amphoren angebrachten Kommentaren abgeleitet hat, und verblüffend, was da alles zutage kommt: Aus einem Heiligtum des Asklepios in Südkreta weiß man, dass der Gott der Heilkunst den Kranken Wein mit Pfeffer empfahl! Man kennt Anbaugebiete wie das von Lyttos, dem Zentrum des Weinexports nach Italien. Man kann sogar die Herkunft des Weins durch die Form der Amphoren bestimmen, so wie man heute aufgrund der Flaschenform Riesling von Chianti oder Bordeaux unterscheiden kann. Und wir erfahren, dass es einen Wein gibt, von dem eigens behauptet wird, er werde nicht aus Meerwasser gemacht!
26. Februar (Donnerstag)
Frustrierter und frustrierender Versuch, die Strecke vom Sonntag abzugehen. Nahc zwei Kilometern den Versuch erschöpft und verschwitzt abgebrochen. Da kann man nicht laufen! Ob das alles ein Missverständnis ist? Es geht über steinige, verwinkelte Pfade steil bergauf, man kann nur gehen, nicht einmal wandern, geschweige denn laufen. Aber die Strecke ist als Laufstrecke ausgeschildert! Kein Wunder, dass sie für die 26 km fünf Stunden gebraucht haben. Oder vielmehr doch ein Wunder, dass sie es so schnell geschafft haben.
27. Februar (Freitag)
Also doch: τάξη und ταξί sind etymologisch verwandt. Dimitra hat ganze Arbeit geleistet und die komplizierte Geschichte erklärt. Unser Wort Taxi ist eine Kurzform von Taximeter (das wiederum metonymisch für das Auto steht). Und τάξη schrieb man im Altgriechischen auch mit Jota! Der Diminutiv davon war ταξίδιον, und davon kommt das heutige ταξίδι für ‘Reise‘. Aber was hat das mit τάξη zu tun? Komplizierte Angelegenheit. Die Bedeutung von τάξη ist ‚Klasse‘, ‚Ordnung‘, ‚Rang‘, und das ist abgeleitet von τάσσω, ‚festlegen‘. Und was „festgelegt“ wurde, das war im mittelalterlichen Heer die Verlegung einer Einheit von einem Ort zu einem weiter entfernten Ort. Das Militär hat uns also die Reise beschert.
Am Mittag kommt plötzlich, im wahrsten Sinne des Wortes aus heiterem Himmel, ein Sturm auf, wie ich ihn hier die ganze Zeit noch nicht erlebt habe. Obwohl die Fensterläden geschlossen sind, öffnen sich die Fenster durch den Druck, den der Wind ausübt. Es regnet herein. Ich muss mich mit dem ganzen Körper gegen die Fenster stemmen, um sie zu schließen und geschlossen zu halten. Nach einer Viertelstunde ist der Spuk vorbei. Unglaublich!
Während ich hier das Gräuelwetter ertrage und sehnsüchtig auf Besserung warte, ist es im ganzen westlichen Mittelmeer wunderbar, sonnig und warm, ob Andalusien, Algarve oder Mallorca. Aber auch in Jerusalem, wo ich im Februar Herbststürme erlebt habe, ist es genauso schön. In den anderen Teilen Israels sowieso. Selbst auf dem griechischen Festland war dieser Tage Traumwetter, während es hier schüttete.
Am Abend im Mirtos fordert mich Apostolos auf, mich neben ihn zu setzen. Ich nehme das gerne an, und es entspinnt sich ein anregendes Gespräch. Nur habe ich nicht bedacht – und er vielleicht auch nicht – dass er fastet und ich vor seiner Nase Lamm mit Kartoffeln verdrücke.
Er spricht mich sofort auf den Sturm vom Mittag an. So etwas habe er in vierzig Jahren noch nicht erlebt. Er war in der Fabrik, und auch da hat es hineingeregnet.
Ich erzähle vom Lauf am Sonntag und dem Gelände, und er sagt, das müsse ein Missverständnis sein. Da könne kein Lauf stattfinden, höchstens eine Wanderung. Ich solle Wanderschuhe statt Laufschuhe anziehen. Hoffentlich hat er recht.
Die Rede kommt auf Literatur und auf den Zorbas, den Zoe mir geschenkt hat. Er spricht in höchsten Tönen von dem Buch. Als ich frage, ob er es gelesen habe, sagt er halbherzig ja. Und bringt die Rede auf den Erotokritos. Das sei Literatur. Das solle ich mal lesen. Ich antworte, dazu sei mein Griechisch bestimmt nicht ausreichend. Wieder frage ich, vom Satan angetrieben, ob er es gelesen habe. Erst sagt er ja, dann gibt er zwischen den Zeilen zu verstehen, dass er es von den Liedern kenne. Das hört sich wahrscheinlicher an. Und bezieht sich auf einige wenige Passagen. Es gebe Leute, die den ganzen Text auswendig könnten. Den ganzen Text, wiederholt er, als ich darauf nicht mit genug Verwunderung reagiere.
28. Februar (Samstag)
Großer interkulturelle Herausforderung: Wo bekommt man hier einen Kamm? Drogerien gibt es nicht. Apotheke? Supermarkt! Da gibt es wirklich welche, aber keiner eignet sich als Taschenkamm, und die Qualität ist grottenschlecht.
Im Zorbas ist der Raki Femininum. Das ist durchaus üblich, aber das Neutrum, das ich bisher meist gehört habe, ist auch üblich. In dem Roman wird der Raki noch warm angeboten, frisch aus dem Kessel.
Im Reisebüro gibt es immer noch keine Informationen über die Fähren. Sie werden aber erwartet. Sie müssten „jeden Tag“ kommen. Preislich tun sich Fähre und Flugzeug nichts, Auto bei der Fähre eingerechnet.
Manolis versichert mir, dass es sich um einen Lauf handele morgen. Keine Wanderschuhe, Laufschuhe. Am Anfang sei es ein bisschen hart, aber später komme eine ebene Strecke. Sie mussten wegen des vielen Regens die Strecke abändern!
Mal wieder bei Lidl gewesen, und da aus Nostalgie Sandringe gekauft. Das Geschäft läuft gut, hat man den Eindruck. Vor allem die Wühltischen in der Mitte sind begehrt: Freizeitschuhe, Taucherbrillen, Motorradhelme.
Raus aus der NATO! Raus aus der EG! Zusammenarbeit mit Russland und den arabischen Staaten! Abbau der amerikanischen Militärbasen in Griechenland! Das waren einige der Parolen, mit denen Papandreou in den siebziger Jahren die Wahlen gewann. Aus all dem wurde nachher nichts. Lautstarke Ankündigungen haben offensichtlich Tradition. Nachdem Syriza jetzt einerseits eingeknickt ist (so sehen es jedenfalls viele), andererseits nach der Einigung mit der Troika (die nicht mehr so heißen darf) wieder die alten Forderungen aufgreift, hoffen einige und fürchten andere, dass es Tsipras genauso ergeht wie Papandreou.
1. März (Sonntag)
Bei dem Lauf in Mithi – dem Μινωικό Μονοπάτι Μύθων – ist alles wie bei uns: parkende Autos am Straßenrand, Musik aus Lautsprechern, Moderator mit Mikrophon, Startnummern, bedrucktes Laufshirt zur Erinnerung, ein großer, halbkreisförmiger Bogen, der Start und Ziel markiert. Und das in diesem kleinen, verlassenen Nest, in dem ich bisher noch nie auch nur einen Auswärtigen gesehen habe.
Auch die Vorstellung von angemessener Laufkleidung ist, wie immer, uneinheitlich: kurze und lange Hosen, mit und ohne Jacke, mit und ohne Mütze, einfache Sportklamotten oder kompletter Outfit aus dem Sportfachgeschäft. Manolis hat das komplette Outfit. Er hat auch eine Kamera dabei und macht ein Photo von uns vor dem Start. Außerdem stellt er mich dem Mann am Mikrophon vor, der auch beruhigend auf mich einredet: langsam gehen lassen, es ist keine reine Laufstrecke.
Es ist warm, der bisher wärmste Tag des Jahres, fast zu warm zum Laufen, aber es geht in die Berge.
Die ganze Organisation ist perfekt. Nur eins ist typisch griechisch: Wir starten mit einer halben Stunde Verspätung.
Meine Sorge, von vornherein hoffnungslos abgehängt zu werden, verflüchtigt sich sofort. Die meisten lassen es langsam angehen. Dabei kann man den ersten Kilometer noch ganz gut laufen, aber auch da gehen viele schon einfach die steile Straße hinauf.
Dann kommt der Pfad, auf dem man überhaupt nicht laufen kann, es sei denn, man legt es darauf an, sich die Haxen zu brechen. Der Pfad ist so eng, dass wir im Gänsemarsch raufgehen.
Dann kommt eine Strecke mit weicherem Boden, die nicht mehr so steil ist, aber immer noch steinig. Hier laufen viele ganz locker an mir vorbei. Irgendwann fragt ein Läufer einen anderen, der mit GPS ausgestattet ist: «Wie viel haben wir?“ – „3,3 Kilometer.“ Die Reaktion ist bezeichnend: „Μόνο; – Erst?“
Es geht an einer Felswand vorbei, unter einem überragenden Felsbrocken durch, an einem rauschenden Gebirgsbach entlang und dann über den Bach. Da stehen tatsächlich Sanitäter, die aufpassen, dass wir alle unbeschadet rüberkommen.
Die Strecke ist markiert, mit roten Punkten auf Steinen, alle Naselang. Unglaublich! Hier muss jemand mit einem Farbtopf entlanggegangen sein.
Erst nach vier Kilometern kommen wir oben an. Da ist die erste Verpflegungsstation: Bananen, Apfelsinen, Nüsse, Plätzchen, Wasser, Saft. Sagenhaft! Sie müssen auf einem anderen Weg hier rauf gekommen sein, denn neben dem Stand steht ein Auto.
Hier oben ist es kalt. Jetzt sind die mit den Jacken im Vorteil. Hier oben kann man ein bisschen laufen, aber man ist irgendwie gar nicht in den Rhythmus gekommen. Und bald wird die Strecke auch wieder schwerer.
Wir kommen an einer großen Schafherde vorbei. Die blöken vor Freude, denn es ist Futterzeit. Die Schafe drängen sich dicht an dicht an den Futterstellen.
Dann, etwa bei der Hälfte der Strecke, kann man ein paar Kilometer lang richtig laufen. Wunderbar. Wie beschwingt, die Kilometer vergehen im Nu. Ich komme mit einem Athener ins Gespräch, der schon seit zwanzig Jahren auf Kreta lebt. Dann mit einem, der mich immer mit Friend anspricht und mir, nachdem er umständlich in seinem Beutel herumgewühlt hat, einen Kraftriegel anbietet. Der bleibt dann aber zurück. Dann kommen zwei junge Frauen, die immer wieder zurückgefallen sind und mich dann immer wieder überholt haben. Jetzt laufen wir eine Zeitlang zusammen. Sie sprechen ununterbrochen, und jedes dritte Wort ist Facebook. Dann kommt das Gegenstück zum Anfang. Jetzt geht es steil bergab. Ich klage den beiden mein Leid, aber davon wollen sie nichts wissen. Sie spielten Squash und hätten damit keine Probleme. Ich mache irgendwann Platz, da ich das Gefühlt habe, sie aufzuhalten, und tatsächlich laufen sie locker den steinigen Pfad runter, und ich verliere sie aus den Augen.
Bald hört man die Musik vom Ziel, und dann ist es auch nicht mehr weit. Aber wir haben für die 12,5 km über zwei Stunden gebraucht!
Am Ziel steht jemand mit einer Medaille und jemand mit einer Flasche Wasser. Der Moderator fragt mich, wie die Organisation gewesen sei, und ich kann nur mit einem Wort sagen: „Perfekt!“
2. März (Montag)
Ein schöner, warmer, sonniger Frühlingstag. Wenn die ersten Januartage das Schlimmste für den Rest des Monats ankündigten, kündigen hoffentlich die ersten Märztage das Beste für den Rest des Monats an.
Ausgerechnet heute meinen dicken Anorak aus der Reinigung abgeholt. Man hat das Gefühl, man werde ich gar nicht mehr brauchen. Der Reinigungsmann hatte mir gesagt, reinigen könne man den Anorak nicht, aber es werde sich schon eine Lösung finden. Ich solle ihn mal dalassen. Und tatsächlich. Sieht wie neu aus und ist übers Wochenende fertig geworden.
Auf dem Weg nach Ierapetra sieht man am Straßenrand den „Gartenabfall“ liegen. Die Tamarisken sind beschnitten worden, und wie! Es ist mehr abgeschnitten worden als stehen geblieben. Nur noch Baumskelette sind zu sehen, die Stämme und die Stümpfe der Äste, aber kein Zweig und kein Blatt mehr.
Ich frage den Tankwart, ob er der Besitzer der Tankstelle ist. Ein Hinweis von Dimitra, die gesagt hat, dass er, wenn er so viel arbeite, eigentlich kein Angestellter sein könne. Recht hat sie. Er hat die Tankstelle übernommen.
Auf gewohnt umständliche Art druckt die Frau in dem kleinen Copyshop in einer Seitenstraße ein paar Texte aus. Mit denen setze ich mich dann in ein Café. Bei Kaffee und Loukoumades, die frittierten Hefeteigbällchen. Die habe ich in der ganzen Zeit erst einmal probiert, aber das war nicht der wahre Jakob. Diese hier aber wohl. Sie sind noch warm und schwimmen in einer Soße aus Honig und gekackten Nüssen und Zimt. Eine Portion ist eigentlich zu viel für eine Person und ersetzt dicke eine komplette Mahlzeit. Aber ich verdrücke sie trotzdem alle. Die reinste Verführung. Was Adam im Paradies angeboten wurde, müssen Loukoumades gewesen sein, nicht ein schnöder Apfel.
Am Ausgang von Ierapetra steht eine Gruppe von Schülern. Einer hebt den Daumen, so, als wenn er mitgenommen werden wollte. Er hat aber nicht damit gerechnet, dass ich anhalte. Als er das merkt, versteckt er sich schnellstens hinter einem Auto. Die anderen sind ganz verwirrt und antworten auf meine Frage, ob ich sie mitnehmen solle, ganz verlegen nein.
3. März (Dienstag)
Das Meer ist stürmisch, man wird unten an der Uferpromenade fast weggeweht, aber es ist wieder blau, und die Sonne scheint drauf. Mein Optimismus, was das Wetter angeht, wird aber von dem Mädchen in der Bäckerei gebremst: Der große Regen komme noch. Dabei hat es dieses Jahr sowieso schon mehr geregnet als sonst, sagt sie selbst. So viel Fluss hätten sie sonst nie.
Orpheus, Eurydike, Leto, Niobe, Narziss, Perseus, Andromeda, Theseus, Hippolyte und Herakles: Alle werden im Griechischen auf einer anderen Silbe betont. Typischerweise ist der Ton im Deutschen nach vorne verschoben, in der Regel um eine Silbe. Die einzige Ausnahme ist Narziss, der im Griechischen auf der ersten Silbe betont wird. Dass Betonung, die meist als nebensächlich abgetan wird, den Wörtern einen ganz anderen Klang gibt, ist dieser Tage gerade noch im interfamiliären Kontakt zur Rede gekommen, mit Bezug auf vertraute Namen wie Oberhausen und Sterkrade, die in Zügen oder Verkehrsnachrichten schon mal anders betont werden. In Fremdsprachen kann das dazu führen, dass man das Wort nicht versteht.
4. März (Mittwoch)
Bei Sonnenschein geht es an die Nordküste, nach Chersonisos. Zum ersten Mal wird mir die Fahrt lang, und sie dauert auch wirklich länger als sonst, obwohl es noch vor Heraklion liegt. Chersonisos (χερσόνησος) bedeutet eigentlich ‚Halbinsel‘, und mit etwas Phantasie kann man auch ein halbinselförmiges Dreieck erkennen, an dessen Spitze es liegt.
Chersonisos, das frühere Fischerdorf, ist eins der Zentren des Massentourismus auf Kreta, mit wildwüchsigen Hotel- und Apartmentbauten, mit allem, was sich der Tourist wünscht: Diskos, Bars, Leuchtreklamen, Souvenirgeschäfte, Karussells, Swimmingpools. Es soll 30.000 Hotelbetten haben.
Streng genommen ist das alles allerdings gar nicht Chersonisos, sondern Limenas Chersonisou, also der Hafen von Chersonisos. Chersonisos selbst ist ein kleiner Ort ein paar Kilometer landeinwärts. Das erinnert an Mallorca mit den typischen Doppelorten wie Pollença und Port de Pollença, Alcúdia und Port d‘Alcúdia. Die Menschen waren klug genug, ihre Orte nicht an der Küste zu errichten, Meer und Angreifern ausgeliefert. Am Meer lag allenfalls der Fischerhafen. Und so war da reichlich Platz, damit sich der Tourismus ungestört ausbreiten konnte.
Eine unendlich lange, an Hässlichkeit kaum zu überbietende breite Straße führt parallel zur Uferpromenade durch den Ort. Nach vorne, zum Strand hin, befindet sich die Schauseite.
Ich suche nach Hinweisen auf Lychnostatis, aber die sind rar. Am Ortsende sehe ich einen Töpfer, der vor seiner Werkstatt sitzt, steige aus und frage nach dem Weg. Er fragt mich, woher ich komme und antwortet dann auf Deutsch. Woher er Deutch könne, will ich wissen. „Eine lange Geschichte“. Auch gut.
Lychnostatis ist ein Freilichtmuseum, das sich traditionellem kretischen Leben widmet. Es ist ganz in der Nähe, an einer Seitenstraße, die sich am Ortsende zum Strand hinunter schlängelt. Das Museum ist natürlich geschlossen, und es gibt natürlich keine Hinweise auf Öffnungszeiten.
Ich gehe einmal herum und sehe es mir von der Strandseite aus an. Man sieht eine kleine Kirche und ein Windrad. Hier ist es ganz ruhig. Man sieht auf die Hotelburgen in der Bucht, aber die scheinen weit entfernt zu sein, obwohl es nur ein paar hundert Meter sind. Der Blick aufs Meer ist schön wie immer, und hier kann man auch gut sehen, wem Chersonisos seine Beliebtheit bei den Touristen verdankt: feinster, heller Sandstrand.
Eine Alternative zu Lychnostatis wäre das Aquarium (auf den Hinweisschildern steht Cretaquarium, und ich lese immer Krematorium), aber die teilen auf ihrer Internetseite mit, dass sie erst am 1. April öffnen.
Ich fahre nach Chersonisos rauf, in das eigentliche Dorf. Ein schmuckes, adrettes Dorf, fast so, als wäre es Teil des Freilichtmuseums. An den Hinweisen kann man erkennen, dass im Sommer hier alles auf touristische Nachfrage eingestellt ist. Um den ovalen Dorfplatz ziehen sich Cafés und Tavernen. Eins ist voll mit laut diskutierenden Männern aus dem Ort. Als Fremder fühlt man sich da ausgeschlossen. Ich gehe in das Café nebenan. Da ist kein Gast. Es ist warm genug, damit man draußen sitzen kann.
Das Café wird betrieben von einer Belgierin. Ich frage ganz unverhohlen neugierig nach. Sie lebt seit sieben Jahren hier, spricht aber kaum Griechisch, obwohl sie eine Menge versteht. Sie hat erst nur saisonal hier gearbeitet, bei einer Autovermietung. Da hatte sie es nur mit Fremden zu tun. Dann hat sie, zusammen mit ihrem Freund, folgenden Beschluss gefasst: Wir sind in Belgien geboren, aber das bedeutet nicht, dass wir in Belgien sterben müssen. Und ist dann ganz hierhergekommen. Auch hier im Café sind ihre Kunden vorwiegend ausländische Touristen.
Dann kommt ein Mann auf einen Kaffee rein. Er kommt aus Stuttgart, auch er lebt seit sieben Jahren hier. Unser Gespräch wird unterbrochen von einem Telefongespräch: mein Sohn. Mit dem spricht er fließend Griechisch. Für sieben Jahre klingt das wirklich gut, obwohl ich mir einbilde, dass er anders klingt als die Einheimischen. Vor allem kann ich ihn viel besser verstehen. Es stellt sich heraus, dass er Sohn von Gastarbeitern ist, beide Eltern Griechen, zweisprachig aufgewachsen. Deutsch spricht er mit deutlich erkennbarem schwäbischem Akzent.
Als ich ein bisschen über die provinzielle Enge von Myrtos klage, macht er eine interessante Bemerkung: Kommen Sie in den Norden! Der Norden ist offener als der Süden. Das ist, wenn es so ist, historisch natürlich völlig einleuchtend. Der Süden hatte kaum Häfen und war durch die Berge von dem Rest Kretas abgeschnitten. Es deckt sich komischerweise auch mit meinen Eindrücken von den kurzen Aufenthalten in den Städten an der Nordküste.
Dann erzählt er, wie es eine Bewegung in Griechenland gibt, die das Altgriechische wieder aufwertet. Es ginge dabei darum, wieder mehr an die antike Tradition anzuknüpfen, an ein aufgeklärtes, weltoffenes Griechenland, und weniger an die vorherrschende byzantinische Tradition. Die beiden verabschieden mich sehr freundlich. Ich verspreche, wiederzukommen, wenn ich noch mal in der Gegend bin. Zum Essen statt zum Kaffee.
Ich fahre zurück und mache einen Abstecher nach Neapolis, das fast an der Strecke liegt. Es ist nichts Besonderes, höchstens insofern, als es ein „unverfälschtes“ kretisches Städtchen ist, das Gegenteil von Chersonisos. Hierher verliert sich nie ein Fremder. Es scheint auch keinen zu stören, dass die Buchstaben auf den Hinweisschildern in die nächstgelegen Orte fast komplett abgeblättert sind. Wer hier durch die Gegend fährt, weiß sowieso, wo es lang geht.
Der Ort hat eine überdimensionale Kirche und einen rechteckigen, langgestreckten Platz um einen Park herum. Im Zentrum sieht man Schwarz-Weiß-Bilder, die dokumentieren, wie früher Olivenöl produziert wurde. Man sieht auch Pferde, die die Presse bewegen.
Am Rande des Parks das unvermeidliche weiße Denkmal für die „Helden“. In zwei Reihen sind die Namen der Gefallenen aufgelistet. Links 1941-1945, rechts 1946-1949. Das muss der Bürgerkrieg sein.
Ich fahre weiter nach Vrachasi, einem Bergdorf, das im Reiseführer unpassend als „Gebirgsnest“ bezeichnet wird. Dazu ist es zu groß. Auf dem Weg dahin sieht man blühende Mandelbäume, auch, als es immer weiter bergauf geht. Einige blühen weiß, andere rosa, aber ich weiß nicht, ob beides Mandelbäume sind.
Vrachasi steht in seiner Gesamtheit unter Denkmalschutz. Das liegt allerdings vermutlich weniger an der „Schönheit“ des Ortes als an seiner Struktur: die in den Berghang, dem Bodenniveau angepassten, niedrigen Häuser, die aus Natursteinen gemachten, steilen Wege, die prekäre Lage zwischen Berg und Schlucht. Unten, an der Durchgangsstraße, steht eine größere Kirche, und ich komme bei meinem Gang durch das Dorf noch an drei weiteren vorbei! Unten, an der Straße, an der einzigen Stelle, wo der Berg sich ein bisschen zurückzieht und etwas Platz bietet, ein Brunnen, ein Denkmal und zwei Tavernen. Bei dem Rundgang schöne Photomotive: ein ganz oben in eine winzige Lücke eingezwängtes, rot-gelbes Auto, eine blauer Stuhl mit einem bunten Blumenkorb, eine steil aufsteigende Gasse mit breiten Stufen, eine außen an einem Haus angebrachte, schmiedeeiserne Wendeltreppe, der Blick von oben auf den Dorfplatz. Und dann, am Ortsausgang, ein Lieferwagen, auf dem vorne in großen Buchstaben Getränke steht und an der Seite Krombacher.
Ich komme wieder nach Neapolis, aber in den Lokalen an dem zentralen Platz gibt es nichts zu essen außer einem Sandwich. Die Einheimischen gehen nicht zum Essen aus. Die Lokale sind aber fast alle voll besetzt.
Von der Sonne des frühen Vormittags ist nichts mehr zu sehen. Der Himmel ist schwarz-weiß-blau und voller schwerer, niedriger Wolken. Es ist aber warm, so um die 17°, und ich bin mit meinem kurzärmligen Hemd zwar auffällig, aber nicht unpassend gekleidet.
Ich fahre nach Agios Nikolaos. Da ich von der anderen Seite in den Ort komme, finde ich meinen angestammten Parkplatz nicht und muss zum ersten Mal für das Parken bezahlen. Der Ort ist noch lebendig und laut, aber das hat sich komplett geändert, als ich vom Essen zurückkomme. Es wirkt wie ein anderer Ort.
Zum Essen gehe ich ins Itanos, etwas versteckt in einer Gasse neben dem zentralen Platz gelegen. Das ist ein Lokal für Einheimische. Es sind alles Einzelgäste, die da sind, lauter Männer, an getrennten Tischen sitzend. Da passe ich ja gut ins Bild. Eine Karte gibt es nicht, man wählt in der Küche aus. Alles ist sehr einfach und das Lokal eher unansehnlich, aber das Essen ist gut. Das zweite Glas Wein gibt es auf Kosten des Hauses, „auf das Geschäft“, wie die Bedienung sagt.
Um den Wein wieder abzubauen, gehe ich die Straße zum Archäologischen Museum hoch. Da steht immer noch „Closed Today“, wie vor Monaten. An der Touristeninformation sind die Öffnungszeiten jetzt nicht mehr überklebt. Es ist geöffnet von 8-22 Uhr. Es ist natürlich geschlossen.
Der Supermarkt, wo ich ein paar Kleinigkeiten besorge, ist dagegen nicht nur geöffnet, sondern hat sogar Öffnungszeiten. Es ist dieselbe Kette wie die, die verschiedene Märkte in Ierapetra betreibt. Die haben keine Öffnungszeiten.
Auf dem Rückweg mache ich an der Abbiegung nach Ierapetra an der Küste Halt an einer schönen Szenerie: Kirchlein im Vordergrund, im Hintergrund Wasser, Felsen, Wolken.
5. März (Donnerstag)
Passables Wetter, aber mehr Wolken als Sonne. Von dem wolkenlosen Himmel und dem strahlenden Sonnenschein der Wettervorhersage nichts zu sehen.
Beim Reisebüro immer noch keine Informationen zu den Fähren. Es gibt auch keine Fahrpläne. Auch im Internet nicht. Da muss sich erst Seite für Seite durch das Programm arbeiten, bis man an einem Punkt kommt, an dem man aufgefordert wird, ein Kästchen zu aktivieren, das sich nicht aktivieren lässt. Das heißt dann wohl, dass es an dem Tag keine Fähre gibt. Irgendwo im Netz lästert ein Brite darüber, dass sich die griechischen Fähren immer bis zwei Wochen vor dem Termin Zeit lassen, aber einen Frühbuchertarif anbieten!
Ich versuche es auf Englisch und mache dabei die Entdeckung, dass der englische Kalender anders strukturiert ist als der griechische und der deutsche. Bei denen fängt die Woche am Montag an, in der englischen Version am Sonntag.
6. März (Freitag)
Griechische Regierung bringt die ersten Gesetzesvorlagen ein. Haushalte, die ihre Stromrechnungen nicht bezahlen können, werden wieder ans Netz angeschlossen und bekommen ein Guthaben an Strom. Das reicht allerdings nur für ungefähr einen Monat. Außerdem soll es Mietzuschüsse und Lebensmittelkarten geben, und denjenigen, die mit der Bezahlung von Schulden im Rückstand sind, sollen die Strafgelder erlassen werden, wenn sie bald zahlen. Das sind sicher alles Maßnahmen, die unter dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit vertretbar sind. Wirtschaftlich dürfte es aber unerheblich sein. Und die Aktion soll nur 220 Millionen kosten. Das ist ein Klacks im Vergleich zu den griechischen Schulden. Aber wie sollen sie die Schulden zurückzahlen? Nach den neuesten Kalkulationen sind die Steuereinnahmen in den letzten beiden Monaten zurückgegangen und liegen hinter den Erwartungen. Kein Land in Sicht. Zwei deutsche Abgeordnete schlagen vor, Reisen nach Griechenland solle man in Deutschland von der Steuer abziehen können. Schön und gut, aber was sagen Spanien, Italien, die Türkei oder Tunesien dazu?
7. März (Samstag)
Zum ersten Mal auf die Mehrwertsteuer geachtet, rein zufällig, beim Blick auf die Quittung, die gerade in den Abfall wandern sollte. Es gibt zwei Werte, 13% und 23%. Nur kann ich nicht mehr herausfinden, auf welche Artikel es 23% gibt. Ich habe außer Zahnpasta nur Lebensmittel gekauft, und trotzdem sind 5 Artikel mit 23% markiert.
Bei Manolis, der mich gewohnt überschwänglich begrüßt, ist noch ein anderer Läufer vom letzten Sonntag. Ich kann ihnen nicht folgen, als sie vom Lauf berichten, aber der andere Läufer zeigt auf seine kunterbunten Schuhe, als ich davon berichte, dass ein Läufer im Wald auf der unebenen Strecke geradezu an uns vorbeigeflogen ist. Es scheinen Spezialschuhe für so ein Gelände zu sein.
Als ich mich draußen zum Kaffee hinsetze, kommt ein älterer Mann vorbei, der mich fragt, ob ich auf Griechisch lese. Ich sage vorsichtig ja. Er drückt mir ein kleines Faltblatt in die Hand. Auf den ersten Blick ist kaum zu erkennen, worum es geht. Es ist eine Einladung zu einem Vortrag oder einer Feier. Der Herausgeber ist eine Organisation, die JW.ORG heißt. Dann geht mir ein Licht auf: Jehovah’s Witnesses. Im Impressum steht ganz klein: Druck und Verlag: Wachturm. Selters Ts. Printed in Germany. Die frisch geföhnten, blassen jungen Männer mit den sauber gestutzten Bärten auf dem Bild sind Jesus und seine Jünger.
Dimitras Mann spielt Tuba. Jedenfalls einigen wir uns nach einigem Hin und Her darauf, dass die Tuba gemeint sein muss. Passt auch zu seiner Statur. Er ist Mitglied von dem, was man im Deutschen einen Spielmannszug nennt (oder nannte). Am 25. März bei der Parade könne ich sie hören, sagt er. Erst auf dem Rückweg, Stunden später, geht mir auf: 25. März = Nationalfeiertag!
Die Tamarisken an der Strandpromenade von Ierapetra, bis vor kurzem nach dem radikalen Rückschnitt noch kahl, schlagen aus, und wie! Sie sehen ganz merkwürdig aus, so als wenn sie einen Wuschelkopf hätten. Ganz viel dichtes Grün direkt oben am Ende des Stammes, ansatzlos.
Man macht ein Photo, verspricht sich viel davon und ist enttäuscht. Und dann macht man ein Photo, hat keine großen Erwartungen und ist begeistert. Passiert mir jetzt immer wieder. Bei den Naturaufnahmen liegt es meistens an den Wolken. Beim Photographieren nimmt man sie kaum wahr, auf dem Photo machen sie den Unterschied. Heute wieder passiert bei den Photos von den Tamarisken. Diesmal keine schweren, dicken Wolken und auch keine geschlossene Wolkendecke, sondern unzählig viele kleine, leichte Wolken, beinahe regelmäßig am Himmel verteilt, mit gleichmäßigen Lücken dazwischen. Bei den Aufnahmen, die Gegenstände darstellen, ist es anders. Schwer zu sagen, was genau. Vielleicht geben die Photos den einfachen, alltäglichen Dingen einen Wert, den sie sonst nicht haben.
8. März (Sonntag)
Am Abend nach Agios Nikolaos zu einer Lesung. Meine Befürchtung, zu spät zu kommen, ist gegenstandslos. Ich komme fünf Minuten zu spät, die Veranstaltung fängt eine halbe Stunde später an.
Dimitra ist auch da und stellt mich einem Mann vor, mit dem ich ein bisschen Small Talk betreibe. Sein Vater ist elf Jahre in Köln gewesen.
Sie selbst ist mit Mann und Tochter hier. Von denen ist aber nichts zu sehen. Sie sind in die Stadt gegangen, um etwas zu essen. Ob es nicht ein bisschen spät für die Tochter sei, will ich wissen. Ja, das ist es, sagt sie, aber nicht später als sonst. Wann die Kinder denn ins Bett gehen, will ich wissen. So um elf. Das haut mich um. Die Kinder sind noch nicht einmal in der Schule. Ja, sagt sie, es sei ihre eigene Schuld. Das habe sich so eingebürgert. Sie hätten sich jetzt dran gewöhnt. Die Kinder schlafen allerdings mittags.
Die Lesung findet in einem abgetrennten Raum einer Café-Bar statt. Sehr schön eingerichtet, aber wenig geeignet für so eine Veranstaltung. Aus dem Nebenraum kommen Leute rüber, die nicht wissen, dass hier etwas stattfindet, ebenso kommen von draußen Leute rein, da dies der einzige Zugang ist. Man hört das Klinken der Gläser und der Eiswürfel, die Bestellungen der Gäste, das Rauschen der Toilette. Außerdem sind drei junge Männer da, die einfach ihre Konversation weiterführen und zwischendurch Telefonate machen.
Erstaunlich, wie wenig sich die beiden Darsteller davon beeindrucken lassen. Sie bringen die Sache ganz souverän vor. Es ist keine Lesung im eigentlichen Sinne, sondern eine Rezitation mit Gitarrenbegleitung. Eigentlich wechseln sich Gitarre und Rezitation ab, aber hin und wieder kommen sie auch zusammen. Die Rezensentin ist gleichzeitig die Autorin der Texte.
Ich verstehe nur Bahnhof. Dabei sind die Bedingungen erstklassig. Die Rezensentin spricht glasklar, sie hat ein gut funktionierendes Mikrophon, und die Erzählungen haben einen märchenhaften Charakter, so etwas wie Märchen für Erwachsene. Die meisten Wörter sind ganz alltäglich, aber ich bekomme einfach den Zusammenhang nicht hin.
Das Wort, das am häufigsten vorkommt, ist γυναίκες, ‘Frauen‘. Passt gut. Heute ist ja Weltfrauentag. Am Anfang begrüßt die Rezensentin alle und beglückwünscht die anwesenden Frauen mit Χρόνια πολλά! Das kommt mir aufgrund seiner wörtlichen Bedeutung, ‚Viele Jahre!‘, ganz unangemessen vor, aber es ist wirklich hier der Ausdruck für alle Gelegenheiten.
9. März (Montag)
Ganz komisch: Ich kenne Maria, die Vermieterin, als eine umgängliche, freundliche Frau. Ich habe nie auf ihre Stimme geachtet. Hätte man mich gefragt, hätte ich gesagt, dass sie eine warme, angenehme Stimme hat. Jetzt höre ich sie immer wieder in heftigen, langen Diskussionen mit den Albanern hier unten. Ihre Stimme ist nicht wiederzuerkennen. Sie ist schrill, unnatürlich hoch, überschlägt sich. Es ist ein einziges Gekreische.
Verrückte Gedankenverbindung. Unterwegs überlege ich, was wohl ‚Zone‘ auf Griechisch heißt. Es gibt ζώνη, von dem unsere Zone abgeleitet ist, aber das heißt ‚Gürtel‘. Die Antwort: Es heißt ‚Zone‘ und ‚Gürtel‘. Von da auf die Frage gekommen, ob ein Gürtel ein Kleidungsstück ist. Eher ja, aber nicht gerade prototypisch. Wenn man jemanden auffordert, ein Kleidungsstück zu nennen, spontan, wer sagt dann Gürtel? Hose, Hemd und (bei Frauen) Schuhe sind vermutlich die ersten Anwärter. Ist ein Helm ein Kleidungsstück? Ein Armband? Ein Kopftuch?
10. März (Dienstag)
Zoe, die Tochter des Hauses, schleppt immer neue Bücher an, die ich lesen soll. Sie hat keine Vorstellung davon, in welchem Schneckentempo ich lese. Interessant aber, dass sie liest und was sie liest, nämlich querbeet: Kazantzakis, George Sand, Rosamunde Pilcher, Coelho, Jules Verne, Arundhathi Roy.
11. März (Mittwoch)
Nachdem sich letzte Woche das gute Wetter der Vorhersage nicht eingestellt hat, stellt sich diese Woche das schlechte Wetter der Vorhersage nicht ein. Noch kein Tropfen Regen, und heute strahlender Sonnenschein.
Gestern den Einkauf bei Lidl gemacht und da für alles nur 13% Mehrwertsteuer bezahlt. Bei Lidl muss man, im Plastiktüten-Paradies Griechenland, für die Plastiktüten bezahlen. Warum nicht? Die meisten tun das, einige behelfen sich mit den überall herumliegenden Kartons.
Im Zentrum wird einer der großen hölzernen Strommasten von einem Bagger mit einem riesigen Greifer zurechtgerückt oder gestützt. Was immer da passiert sein mag: Es sieht nicht sehr vertrauenserregend aus, die Strommasten stehen direkt vor den Häusern.
In einem Café im Zentrum einen Artikel über Lagos auf Papier gelesen, den ich vorher am Bildschirm gelesen hatte. Dabei gemerkt, dass ich eine zentrale Sache missverstanden und eine andere übersehen hatte. Wie kommt das? Warum liest man den gedruckten Text besser als den am Bildschirm? Ist es wirklich einfacher? Oder ist man nur Gefangener alter Lesegewohnheiten? Oder bildet man sich das alles nur ein? Hätte ich am Bildschirm vielleicht bei der zweiten Lektüre dieselben Fehler gefunden? Auf jeden Fall fand ich es praktisch, bei dem gedruckten Text die Zeichnung im Text einfach neben den Text zu legen und immer wieder zu konsultieren, wenn eine weitere Beschreibung kam. Das war hilfreich bei all den (im doppelten Sinne) fremden Namen.
Bei der Rückkehr nach Hause wieder eine Polizeistreife gesehen. Die steht immer an derselben Stelle, am Straßenrand in einem der Durchgangsdörfer. Auf dem Polizeiwagen steht Police. Das griechische Wort, αστυνομία, taucht nirgendwo auf.
Wunderbares Experiment: Eine Linguistin beim Bundeskriminalamt lässt ihre Studenten Erpresserbriefe schreiben. Die Sprache soll so sein, dass der Erpresser ungebildet oder wie ein Ausländer klingt. Oder beides. Das machen nämlich viele tatsächliche Erpresser, um ihre Identität zu verbergen. Resultat: klägliches Scheitern! Die Studenten schreiben nicht so, wie Ausländer oder Ungebildete schreiben, sondern so, wie sie glauben, dass sie schreiben. Es wird zu sehr auf Rechtschreibung fokussiert, und die ist dann unverhältnismäßig schlecht im Vergleich zur allgemeinen guten Sprachkompetenz. Es wird viel zu wenig auf Satzbau geachtet, und wenn doch, dann werden elementare Dinge falsch gemacht und gleichzeitig viel schwere richtig. Es wird nicht genug Wert auf den Plural der Substantive gelegt. Da gibt es in den Briefen der Studenten kaum Fehler. Die Muttersprachler haben keine Ahnung von der eigenen Sprache und noch weniger Ahnung davon, welche Schwierigkeiten sie Ausländern bereitet. Eine Erfahrung, die ich hier jeden Tag mache.
Spät am Abend Interview mit evangelischem Theologen gehört, Friedrich Wilhelm Graf. Ein paar gute Einblicke in die Besonderheiten Griechenlands: Im Großraum von Athen leben ca. 800.000 Muslime, und es gibt keine einzige offizielle Moschee. Es gibt private Bethäuser und moscheeartige Gebilde, aber die haben alle keinen legalen Status. Die griechisch-orthodoxe Kirche ist in Griechenland in vielen Belangen privilegiert (gewesen), sie musste bis vor kurzem keine Abgaben zahlen, obwohl ihr ein Drittel des griechischen Bodens gehört. Junge Griechen wurden bei den jugoslawischen Sezessionskriegen von orthodoxen Geistlichen aufgefordert, für die orthodoxe Sache in den Heiligen Krieg zu ziehen. Die orthodoxen Kirchen kennen keine religionsinternen Aufklärungstraditionen, während die lateinischen Kirchen durch die Aufklärungsbewegung des 17. und 18. Jahrhunderts verändert wurden. Soziologisch gesehen ist außerdem die orthodoxe Kirche weithin eine Ethnoreligion, mit einem engen Zusammenhang zwischen Heiligkeit der Nation und religiösem Kultus.
12. März (Donnerstag)
Die See ist wieder blau, aber auch stürmisch. Es ist eine merkwürdige Mischung aus Frühling und Herbst. Die Temperaturen sind stabil, mit geringen Unterschieden zwischen Tiefsttemperaturen und Höchsttemperaturen (10°-15°), und das soll sich auch in nächster Zukunft nicht ändern.
Gestern Abend blies der Wind die Wolken in einer solchen Geschwindigkeit am Nachthimmel vor sich her, dass es aussah, als wenn der Mond sich bewegte und die Wolken stillstanden.
Schöne Verbindung, die mir nie aufgefallen war und auf die ich jetzt gestoßen wurde: Anemone klingt nach άνεμος, ‚Wind‘. Der alte Plinius hat die Verbindung gesehen und sie so erklärt: Anemone war eine Nymphe, in die sich Zephyr, der Gott des Windes, verliebt hatte. Seine eifersüchtige Gattin verwandelte Anemone in eine Blume. Das deutsche Wort Windröschen nimmt die Vorstellung auf.
13. März (Freitag)
Schon wieder Freitag, der 13. Den gibt es dieses Jahr dreimal, überdurchschnittlich oft. Und nicht nur dieses Jahr. Im kompletten Zyklus von 400 Jahren fällt der 13. auf keinen Wochentag so häufig wie auf den Freitag. Auch Freitage fallen auf keinen Monatstag häufiger als auf den 13. (zusammen mit den davon abhängigen 6., 20., und 27.)
Im Dauerregen sitze ich in Cafés in Ierapetra herum und widme mich der einzigen noch anstehenden Arbeit von der Uni. Den Versuch, die umfangreiche Arbeit am Bildschirm zu lesen, habe ich nach zehn Seiten aufgegeben und habe die Arbeit in Ierapetra ausdrucken lassen.
Im zweiten Café hindert mich ein Mann an der Weiterarbeit. Dafür ist man ja immer dankbar. Er steht neben meinem Tisch und deutet auf den strömenden Regen. Ein Wort ergibt das andere und, eher wir uns versehen, sind wir im Gespräch. Ich verstehe zwar nur die Hälfte, aber er ist auf jeden Fall ein interessanter Gesprächspartner. Es geht u.a. um Westkreta und Ostkreta. Er sagt, im Westen, das seien die Dorier. Historisch stimmt das, und man soll das sogar an den Nachnamen erkennen können. Ich werde nur nicht schlau daraus, ob er die gut oder schlecht findet. Auf jeden Fall anders.
Es knarrt und quietscht an allen Ecken und Enden, mir fehlen die Worte und ich bekomme meine Sätze nicht zu Ende, aber er hat Geduld und versteht am Ende auch, was schlecht ausgedrückt ist. Es geht um Altgriechisch und die Sprache der orthodoxen Kirche. Ich wende ein, das sei doch wohl nicht dasselbe, aber er besteht zuerst darauf, versteht dann aber, als ich sage, das sei doch wohl nicht die Sprache Platons. Nein, das nicht, da gibt er mir recht. Es geht um Katharevusa und Domitiki. Er hat die Termini vermieden, um es mir nicht zu schwer zu machen, und genau das hat das Missverständnis heraufbeschworen. Dann wiederholt sich die Sache, als ich die Rede auf Norwegen bringe. Das habe mit Griechisch nichts zu tun, wendet er ein. Ich mache einen zweiten Anlauf, und es klappt. Er ist sogar bestens informiert: Bokmål und Nynorsk. Er kennt die Termini und kennt den ganzen Hintergrund. Irgendwo taucht in seinen Erzählungen eine norwegische Frau auf, aber welche Rolle sie genau in seinem Leben spielt, vielleicht Ex-Frau, versteh ich wieder nicht. Er kann auch etwas Norwegisch und findet eine schmeichelhafte Erklärung für meinen Namen, die aber etymologisch nicht standhält. Wieder kommt ein Kommentar, diesmal zu Griechen und Norwegern, offensichtlich einordnend oder wertend, aber wieder verstehe ich nicht, was er an beiden gut und was er nicht so gut findet. Auf jeden Fall sind die anders, die Norweger „ruhiger“.
Er lässt sich sogar auf meine Argumentation ein, als mal wieder das Argument von dem besonderen Reichtum des Griechischen kommt. Ich bezeichne das als Mythos und, man mag es kaum glauben, er gibt mir am Ende recht. Er meinte wohl in erster Linie, dass Griechisch in alle europäischen Sprachen viele Wörter exportiert hat. Klar, bezweifelt ja keiner.
Er zitiert hin und wieder was auf Englisch und kann auch ein bisschen Deutsch. Vorbehalte spüre ich keine, obwohl er auch von der Politik spricht. Nochmal Glück gehabt. Oder nicht genug verstanden. Was er auf jeden Fall gut findet, ist der Soli, jedenfalls, dass Westdeutschland bei der Vereinigung Ostdeutschland auf die Beine geholfen hat.
Er zitiert, erst auf Griechisch, dann auf Englisch: Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Wir einigen uns darauf, dass der dritte Teil der wichtige ist. Das Zitat soll angeblich von Kazantzakis sein. Wirklich? Ja, die norwegische Frau habe das auch nicht geglaubt, aber er habe es ihr gezeigt, in einem Buch von Kazantzakis. Ja, aber das heißt natürlich nicht, dass es von Kazantzakis stammt. Aber das sage ich nicht mehr. Habe genug widersprochen.
Als unser Gespräch zu Ende ist, hat es aufgehört zu regnen, die Loukoumades sind kalt, und die Arbeit liegt halb ungelesen daneben.
14. März (Samstag)
Der Regen hat sich verzogen, und es ist fast keine Wolke am Himmel. Es sieht wärmer aus als es tatsächlich ist.
Gestern war man im Reisebüro man mein ständiges Nachfragen leid und machte einen Telefonanruf. Ergebnis: keine Fähre vor dem 9. April. Das ist aber das Datum, was ich schon seit Wochen kenne. Vielleicht hat es gar keine neuen Fahrpläne gegeben, und die Auskunft im Reisebüro war einfach falsch. Daraufhin am PC versucht, einen Flug zu buchen. Schrecklich. Probleme mit fehlenden Häkchen, mit dem Umlaut, mit immer neuen Seiten, auf denen man Autos und Hotels und Versicherungen buchen soll – die Griechen sind lernfähig, sie machen es den Iren nach – und mit immer wieder zurückgesetzten Eingaben. Nach drei Anläufen endlich bis ans Ende des Prozesses gekommen, und dann wurde die Zahlung nicht akzeptiert. Also wieder ins Reisebüro. Im ersten wurde mir gesagt, es gebe keine Flüge an dem Tag. Katastrophe. Im zweiten klappte es dann. Mit dem Flugzeug hin, mit der Fähre zurück. Die ist viel billiger. Ich hole die Karte raus zu bezahlen. Nein, geht nicht. Keine Kartenzahlung. Ja, wie denn dann? Überweisung? Nein, alles bar!
Der Nachname Prokop kommt in Deutschland ungefähr 2000 Mal vor. Ich kenne mindestens zwei der Namensträger. In einem Text jetzt auf προκοπή gestoßen, ‚fleißig‘. Da kann es durchaus einen Zusammenhang geben. Die Prokops sind fleißige Leute. Aber wie wird ein griechisches Wort zu einem deutschen Nachnamen? Über einen Heiligen, einen der ersten Märtyrer der Christenverfolgungen unter Diocletian. Der wiederum war der Namenspatron eines späteren Heiligen, St. Prokop, dem Patron Böhmens. Durch ihn wurde der Name in der orthodoxen Kirche, vor allem in Tschechien, Polen, Weißrussland und der Ukraine populär. Die Bestandteile des Namens sind pro und kope, ‚vor‘ und ‚schneiden‘, und ergeben an sich nicht viel Sinn. Ursprünglich war es ein Omen und stand für „Erfolg“ und „Wohlstand“. Christlich wurde das dann als Pionier verstanden und auf den ersten Märtyrer angewandt.
Frauen zu verstehen ist schwer genug. Jugendliche zu verstehen auch. Fünfzehnjährige Mädchen sind die Potenzierung der Schwierigkeit. Um die geht es in einem der Bücher, die mir Zoe gegeben hat, ein Roman für Mädchen, ein Buch aus ihrer eigenen Zeit als Teenager. Es klingt alles etwas veraltet, und die Jugendlichen sprechen ein bisschen zu sehr wie Erwachsene. Aber die Konstellation ist interessant: Mädchen zieht zusammen mit ihrer Mutter von Thessaloniki nach Athen um, nachdem der Vater ins Ausland gegangen ist, wohin ihn die Mutter nicht folgen wollte. Die muss sich irgendwie in der neuen Stadt durchschlagen. Das Mädchen schämt sich, „keinen“ Vater zu haben und arm zu sein und erfindet einen Handelsvertreter, der ständig unterwegs ist. Ihrer Mutter gibt sie Schuld daran, dass der Vater gegangen ist. Und lässt sie das spüren. In der Schule wollen alle immer hören, wie toll Athen ist, aber das findet sie überhaupt nicht und antwortet ziemlich schroff auf die Fragen. Überhaupt zeigt sie sich ziemlich kratzbürstig und bringt sich selbst immer mehr in eine Außenseiterposition, ohne das zu wollen. Konfliktreiche Situation. Keine große Literatur, aber man kann sich gut in die Lage des Mädchens versetzen.
15. März (Sonntag)
Auf dem Weg nach Ierapetra nehme ich einen jungen Franzosen mit, sehr netter Mensch. Es stellt sich heraus, dass auch er eine Art Auszeit genommen hat, obwohl er erst seit drei Jahren arbeitet. Er ist aber noch nicht lange hier und hat sich also die kalte Jahreszeit erspart. Er stammt aus dem Massif Central und hat in Montpellier Literatur studiert. Jetzt erwandert er Griechenland. Er fängt mit Kreta an und macht dann auf dem Festland weiter. Er wandert den ganzen Tag, vom morgens bis abends, mit einer langen Mittagspause. Wir sind fast sofort ein Herz und eine Seele und verständigen uns schnell über unsere Erfahrungen mit Griechenland und den Griechen. In Ierapetra schnallt er seinen riesigen Rucksack um und macht sie daran, die Stadt zu erkunden.
In der Arche wieder dieselbe freundliche Begrüßung. Man hat das Gefühl, ein alter Bekannter zu sein. Bald stellen sich auch Dimitra und Nikos ein. Sie haben ihre kleine Tochter mitgebracht. Sie hat den blassen Teint von Dimitra, aber sonst das Aussehen von Nikos und, wie ich erfahre, auch seinen Charakter. Bei dem Sohn ist die Sache genau umgekehrt verteilt. Das Mädchen ist ruhig und beschäftigt sich selbst mit Malstiften und ein paar Spielsteinchen und sucht dann das Weite mit ein paar anderen Kindern. Es gibt einen Spielplatz in der Nähe, und es fahren hier praktisch keine Autos her. Bis zum Ende des Mittagessens, um sechs Uhr (!), sehen wir sie nicht wieder. Nur die Mutter guckt hin und wieder besorgt nach draußen, setzt sich dann aber wieder hin, nachdem sie die spielenden Kinder in der Ferne gesehen hat.
Die beiden kennen die Wirte, gut sogar. Nikos ist mit der Wirtin zur Schule gegangen, und sein Elternhaus ist nur ein Steinwurf entfernt.
Wein oder Bier? Erst sage ich egal, aber dann habe ich das Gefühl, dass er lieber Bier trinken würde und sage Bier. Ein Volltreffer! Er ist ein passionierter Biertrinker mit großer Expertise und einigem Durchhaltevermögen. Er spricht über verschiedene Brauprozesse, über starkes Bier und über alle möglichen Marken. Die drei gängigen Marken hier, Mythos, Alpha und Fix, seien alle gleich, sagt er. Dasselbe Bier mit anderem Etikett. Das widerspricht allem, was ich bisher darüber gelesen habe. Da wird Alpha als alternatives Bier und Fix als besonders an die deutsche Brautradition angelehntes Bier beschrieben. Alles Quatsch, wie es scheint. Sein Lieblingsbier ist Erdinger. Davon hat er immer eine Flasche im Kühlschrank, obwohl die hier über drei Euro kostet. Wie viel kostet eine Flasche Erdinger in Deutschland? Keine Ahnung. Ich verspreche aber, nachzufragen. Sein anderes Lieblingsbier ist Chimay. Das hält der auch für deutsches Bier. Klingt nicht sehr deutsch, sage ich. Er sieht nach, es ist belgisch. Da stimme ich gleich in den Lobgesang über belgisches Bier ein und erwähne Leffe. Auch das kennt er. Am liebsten trinkt er starkes Bier. Hat schon mal eins mit 30% Alkohol getrunken.
Und was essen wir? Auch alles, solange es kein Fisch ist. Damit renne ich offene Türen ein. Sein Vater ist Fischer, und der steht im bis dahin. Dimitra ist auch nicht allzu heiß darauf. Ich überlasse ihnen die Bestellung, und sie machen genau das, was ich erhofft hatte: Pikilia. Von allem für alle etwas. Wunderbar. Da sind dann auch Dinge darunter, die ich alleine nie bestellt hätte, darunter zwei Käse, ξύγαλα und στάκα, beides kretische Spezialitäten, beide als Vorspeise. Der erste ist eine weiße Masse, von der Konsistenz her wie Tsatsiki, aber milder, das andere sieht aus wie ein Omelett und schmeckt hervorragend. Dann wird gefragt, ob ich etwas gegen Innereien hätte. Nee, immer her damit. Es stellt sich als ganz harmlos heraus. Es sind ομαδιές, ist eine Art Wurst, die mit Reis mit winzigen Feigen und Rosinen gefüllt ist. Wo die Innereien sind, ist nicht zu erkennen. Vermutlich ist nur der Darm der Wurst daraus gemacht. Dann werden noch Salat, Kartoffeln und eine riesige Fleischplatte aufgetragen, mehr als wir essen können. Der Rest wird mit nach Hause genommen, für den Hund.
Die Konversation ist eine Mischung aus Griechisch und Englisch. Nikos genießt es, Englisch sprechen zu können. Im Laufe der Zeit unterscheidet sich mein Englisch ohnehin nicht mehr sehr von meinem Griechisch. Dimitra spricht durchgehend Griechisch, versteht aber alles, was wir auf Englisch sagen.
Es entwickelt sich ein unterhaltsames Gespräch, es kommt in keinem Moment Langeweile auf oder auch nur die krampfhafte Suche nach Themen. Wir sprechen über Gott und die Welt: Kinder, Bier, Frauen, Bulgarien, Preise, Arbeit, Medien, Sprache, Autos. Ganz nebenbei bekomme ich ein paar interessante Einblicke ins Land.
Nikos erinnert mich, auf sympathische Weise, an Lord Melbournes Kommentar über Macaulay: „Ich wünschte, ich wäre in einer einzigen Sache so sicher wie Macaulay in allen“.
Seine zweite Leidenschaft außer dem Bier sind die Autos. Er hat ein, das wie ein Tourenwagen aussieht, nur ohne Reklame, einen Renault. Von dieser Art gibt es nur zwei in ganz Griechenland und keinen weiteren auf Kreta. Er hat 450 PS. Die hatte er nicht beim Kauf, er hat ihn mit Hilfe eines Freundes aufgemotzt.
Voller Begeisterung erzählt er, wie er einmal, von Haustür bis Check-in, Ierapetra nach Heraklion in 35 Minuten geschafft hat. Ich brauche das Doppelte, mindestens. Was er denn mit der Zeit machen könne, die er eher als ich da ist, frage ich ketzerisch. Einen Kaffee trinken.
Ob er keine Angst vor den Geschwindigkeitskontrollen habe, will ich wissen. Die Strafen sollen ganz schön heftig sein. Ja, sind sie, aber er kennt die Starenkästen und reduziert dort die Geschwindigkeit. Und die Polizeistreifen? Gibt es so gut wie nicht. Die Polizei ist einfach personell so schlecht ausgestattet, dass es kaum Streifen gibt. Das erklärt, warum ich bisher kaum mal ein Polizeiauto gesehen habe.
Wie teuer die Abgaben für ein Auto in Deutschland sind, will er wissen. Steuern? Nein, nicht Steuern. Versicherung? Nein, nicht Versicherung. Ja, was denn dann? Es scheint hier irgendeine Art von Maut zu geben, die jeder darüber hinaus bezahlen muss. Er zahlt 600 € pro Jahr. Und fragt sich, wo all das Geld bleibt.
Ich frage nach seiner Praxis. Ja, läuft gut. Aber die Abgaben. Er zahlt 56% Steuern. Ein halbes Jahr lang arbeite ich für den Staat, sagt er. Und die Krise? Ja, die merkt er. Kassenpatienten gibt es genauso viele wie vorher. Nur gibt es einen Unterschied. Die kommen nur noch für die Kassenleistungen zu ihm bzw. gehen zu den anderen physiotherapeutischen Praxen, sieben insgesamt in Ierapetra. Für die zusätzlichen Leistungen gehen sie zu denen, die schwarz arbeiten. Sie schätzen, dass es davon noch mal fünf bis sechs gibt. Die zahlen keine Steuern und bieten die Leistungen billiger an. Und er musste in den ersten Jahren erst mal seine Lizenz für die Berufsausübung und die Lizenz für die Praxis erwerben.
Er hat seine Ausbildung in Bulgarien gemacht, in Plovdiv, jedenfalls einen Teil der Ausbildung, den Rest dann in Athen. Bulgarien sei ein wunderbares Land. Es sei wie Griechenland. Dabei wollte er am Anfang gar nicht dahin. Seine Mutter begleitete ihn bei der ersten Fahrt nach Plovdid. Er sagte ihr unverblümt, da wolle nicht bleiben. Die Mutter, offensichtlich eine kluge Frau, sagte, in Ordnung, dann fahren wir morgen wieder zurück. Aber heute sehen wir uns erst mal die Stadt an. Dann seien sie aus dem Haus gegangen, und kaum aus dem Haus habe er gewusst: Hier will ich bleiben! Er muss mir auf die Sprünge helfen. Ganz einfach, sagt er mit einem entschuldigenden Blick auf Dimitra: die Frauen! So was habe die Welt noch nicht gesehen. Er sei eben ein Jäger.
Bei einer der Grenzkontrollen habe man ihn gefragt, wohin er wolle. Nach Φιλιππούπολη, habe er gesagt. Er sei eben Grieche, hundert Prozent Grieche. Und das sei ja alles griechisch (gewesen). Also könne die Stadt auch Φιλιππούπολη nennen, ‘Philippstadt’. Der Grenzer fand das aber nicht so toll und warf ihn raus. Er musste zehn Stunden bei eisiger Kälte auf den nächsten Bus warten. Dann kam derselbe Grenzer mit derselben Frage, und er habe wieder Φιλιππούπολη gesagt. Da habe der Grenzer gemerkt, dass er es mit einem Verrückten zu tun habe und habe ihn fahren lassen.
Ich frage nach den Namen der Kinder. Die sind gemäß der griechischen Tradition vergeben, die Tochter nach der mütterlichen Großmutter, der Sohn nach dem väterlichen Großvater. Ob es so etwas in Deutschland auch gebe. Nein. Darauf ernte ich, wie immer, Blicke voller Mitleid.
Dann setze ich mich fast in die Brennnesseln, als ich nach einem weiteren Kind frage. Das ist wohl Gegenstand eines internen Streits. Wir kommen aber wieder aus der Sache raus, indem das Gespräch auf Dimitras Arbeit kommt. Sie arbeitet nicht wegen der Kinder nicht, sondern weil sie keine Stelle findet. An Gymnasien hier in der Gegend werden seit fünf Jahren keine Stellen mehr ausgeschrieben. Und es gibt immer mehr Bewerber als Stellen. Es gibt dann ein strenges Auswahlverfahren. Sie habe es falsch gemacht, findet er. Sie hätte Grundschullehrerin werden sollen. Die würden händeringend gesucht. Und jetzt würde man sogar Hausfrauen mit einem Notdiplom einstellen. Warum sie denn nicht die arbeitslosen Gymnasiallehrer einstellen, will ich wissen. Das ginge nicht, sie müssten ja alles unterrichten. Ja, aber das kann man doch lernen. Wenn die Hausfrauen das können, können das doch auch die ausgebildeten Lehrer. Hört sich nach einer Verschwendung von Ressourcen an.
Was die Krise angeht, findet er, man solle einfach mehr Geld drucken. Das hätten sie in Amerika gemacht, und schon wären sie aus der Krise raus gewesen. Aber da sei Deutschland dagegen. Darauf gibt es bestimmt eine gute Antwort, aber mir fällt keine ein. Ich sage nur, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass es so einfache Lösungen gebe und dass ein Veto von Deutschland reichen würde, wenn alle dafür wären. Sie finden aber auch, dass die Griechen selbst verschuldet haben, nicht die anderen.
In dem Zusammenhang kommt die Rede auf Varoufakis. Der heiße Jannis. Das schreibe man mit zwei <n>. Aber dessen Name sähe man jetzt immer mit einem <n>. Nikos wendet sich an seine Frau, und zwar wörtlich, er wendet sich zu ihr um und fragt: Was ist denn jetzt richtig? Das solle sie ihm mal sagen. Ich muss lachen. Hier vereinigen sich alle volkstümlichen Irrungen und Wirrungen über Sprache: Es gibt richtig und falsch, es kann immer nur eine richtige Lösung geben, und die Expertin muss die Antwort wissen. Weiß sie natürlich nicht.
Als wir dann die Rechnung bestellen, ist das Lokal leer. Mein hilfloser Versuch, die Rechnung zu übernehmen, wird gar nicht richtig ernst genommen. Man zieht die Brauen hoch und legt den Kopf leicht nach hinten. Das heißt nein. Das nächste Mal, schlagen sie vor, sollen wir nach Monastiraki fahren. In Ordnung, da werde ich dann zahlen. Mal sehen, sagen sie. Das heißt nein.
16. März (Montag)
Servicewüste Griechenland. Heute gehe ich mit meinem Bargeld zum Reisebüro, um meine Fahrkarten abzuholen. Ich rechne mit einer Abfertigungszeit von zwei Minuten, aber denkste. Die Fahrkarten sind noch nicht ausgedruckt, und jetzt muss erst mal der Computer hochgefahren werden. Um zwölf Uhr! Das dauert so lange, dass ich aufgefordert werde, erst noch ein paar Besorgungen zu machen und dann wiederzukommen. Vorher muss ich aber zahlen. Das geht alles sehr umständlich, und dann wir auf einem der alten Quittungsblöcke, wie man sie in den sechziger Jahren in deutschen Kontoren hatte, per Hand der Betrag bestätigt. Da ich keine Besorgungen zu machen habe, gehe ich zu Manolis auf einen Kaffee.
Der ist wie immer bester Dinge, macht mir seinen wunderbaren heißen Kaffee und erzählt von diesem und jenem. Er zeigt mir Photos vom Lauf. Start und Ziel und Siegerehrungen in den verschiedenen Kategorien sind vertreten, aber auch Photos von der Strecke. Er hat tatsächlich die Kamera unterwegs mitgehabt und beim Laufen photographiert. Gut sogar. Jetzt hat er Knieschmerzen, ist schon damit beim Arzt gewesen. Aber er klagt nicht. In unserem Alter … Ich soll schätzen, wie alt er ist, immer eine delikate Sache, aber diesmal geht es gut. Ich sage 50, er ist 57 und sieht wirklich jünger aus.
Als ich wieder zum Reisebüro komme, ist die Sache immer noch nicht fertig und werde noch mal weggeschickt. Kurz vor zwei – um zwei Uhr wird für den Rest des Tages geschlossen – soll ich wiederkommen. Als ich komme, heißt es, jetzt werde das Flugticket gleich fertig sein. Das Ticket für die Fähre dauert noch ein bisschen. Zwischendurch kommt eine Frau rein, drängt sich ohne ein Wort der Entschuldigung vor und spricht mit dem Mädchen hinter der Theke, so als wenn ich Luft wäre. Als sie wieder geht, ist das Flugticket fertig. Das Warten wird dann begleitet von ein paar hilflosen Versuchen, ein Gespräch zu führen und peinlichem Schweigen. Dann ist es endlich soweit.
Als ich den Berg zur Villa Mare rauffahre, hangelt sich eine kleine alte Frau, gebeugt gehend, den Hang rauf, mit dem Stock in der einen und einer Tüte in der anderen Hand. Gleichzeitig will sie sich an dem Geländer, das ein Stück lang an den Häusern entlang läuft, festhalten. Sie kommt kaum weiter. Ich hätte sie gleich das Stückchen im Auto mitnehmen sollen. Oben angekommen, frage ich, ob ich ihr helfen kann und zeige auf das Auto. Sie zeigt auf die Tüte. Die soll ich ihr abnehmen. Ich nehme die Tüte, gehe voraus, und sie dirigiert mich von unten zu dem Eingang, wo ich die Tüte hinlegen soll. Als ich wieder zurückkomme, zeigt sie mit der Hand erst auf ihr Herz, dann zum Himmel.
Am Abend gibt es im Mirtos, wo ich mich lange nicht habe blicken lassen, Hähnchen mit Jogurt. Noch nie probiert. Schmeckt phantastisch. Man sieht vom Jogurt nichts, er ist in die Soße eingemischt. Es gibt nur ein paar kleine Stücke Hähnchenfleisch, aber das ist zwar und schmeckt in der Soße wunderbar. Dazu ganz dünn geschnittene Möhren und ganz dünn geschnittene Kartoffelscheiben.
Zum ersten Mal ist wieder eins der Lokale für den Sommer geöffnet, Katerina, im Dorf gelegen. Draußen auf der Gasse stehen gedeckte Tische unter bunten Lampen. Es versprüht etwas von mediterranem Sommer. Allerdings ist es eigentlich noch zu kalt dafür, aber ein Tisch ist tatsächlich besetzt. Unterwegs habe ich heute auch eine Handvoll Touristen gesehen.
Worauf ich selbst noch nie geachtet habe und erst durch eine Frage gestoßen worden bin: Man sieht kaum Licht hinter den Fenstern. Aber die Häuser haben keine Rollladen, sondern höchstens Fensterläden. Die können nicht so dicht schließen, und hinter dem einen oder anderen schummert etwas Licht. Entweder sind die Häuser unbewohnt oder es hat etwas mit der Konstruktion der Häuser zu tun: Der Wohnbereich könnte hinter dem Atrium nach innen liegen. Zur Straße hin wären dann nur Flure. Da die Straßenbeleuchtung schwach ist, ist es insgesamt doch ziemlich schummrig. Vielleicht trägt das unbewusst auch dazu bei, dass ich abends oft lieber zuhause bleibe.
17. März (Dienstag)
Beim Laufen Jannis begegnet. Ganz entgegen seiner Gewohnheit wirkt er ganz bedröppelt. Hört sich mächtig erkältet an.
Dann hier vor dem Haus Maria mit einem Pinsel in der Hand. Sie streicht die Außenmauer. Sie wollen alle Zimmer streichen, sagt sie. Da haben sie sich aber einiges vorgenommen. Ich sehe mir daraufhin mal mein eigenes Zimmer hat. Das hat es definitiv nicht nötig.
Keinen Ehrgeiz zu haben, aber wie ein Hund zu arbeiten, so als ob man Ehrgeiz hätte, das sei Glück, meint Sorbas.
18. März (Mittwoch)
Manolis gefragt, wo ich Erdinger bekommen kann. Er will seine Lieferanten fragen. Gute Idee. Um sicher zu gehen, beschreibt er das Bier und freut sich wie ein Kind, als es sich herausstellt, dass ich ein Wort nicht kenne: μαγιά. Das findet er witzig. Er gibt es im Internet ein, aber irgendwie gibt es Probleme mit der Orthographie. Im zweiten Anlauf klappt es dann: Hefe.
Dimitra gibt mir eine Ausgabe einer Regionalzeitung mit, Ανατολική Κρήτη, ‘Ostkreta‘. Da ist ein Bericht über den Lauf drin, mit der Auflistung aller Teilnehmer. Die Namen der Ausländer sind in lateinischen Buchstaben aufgelistet. Es waren mindestens noch zwei deutsche Frauen am Start.
Ein anderer Artikel ist über den Gebrauch der griechischen Buchstaben in der Wissenschaft. Es scheint, dass tatsächlich jeder Buchstabe irgendetwas bezeichnet. Am bekanntesten ist Pi, aber es gibt zum Beispiel auch einen Stern, der Kappa heißt.
19. März (Donnerstag)
Das Wetter ist gut. Im Wetterbericht. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Wind und Wolken. Wolken, Wolken, Wolken, weiße, graue, schwarze Wolken, schwere, tiefe Wolken, die hin und wieder schön anzusehen sind, aber bedrückend wirken. Und es ist kalt, Wetter für Wollmütze und Handschuhe. Ich mache mich trotzdem auf den Weg.
Unterwegs gibt es in den hintersten Dörfern manchmal eine elektronische Temperaturanzeige: 6°. Angekündigt waren 20°. Ich frage mich inzwischen, wie die Wettervorhersagen immer so danebenliegen können. Eine Seite ist die von einem Reiseveranstalter. Da könnte man auf die Idee kommen, dass die das aus Werbegründen beschönigen. Aber die anderen?
In Gra Ligya, dem Bulgarendorf, halte ich an einem Zebrastreifen, weil eine Frau mit Kind auf dem Arm die Straße passieren will. Keine gute Idee. Das macht man nicht. Ein Auto fährt links an mir vorbei und fährt einfach über den Zebrastreifen. Gut, dass die Frau vorsichtig war. Das Auto hat ein bulgarisches Kennzeichen. Mit einem Aufkleber von Österreich. Ob der da auch so fährt?
Ich fahre in die Lasithi-Hochebene. Die hat unserem Bezirk seinen Namen gegeben. Nach vielen Kurven kommt Mochos, ein Ort mit einem schönen Dorfplatz mit Plantanen. An einer Seite eine Kirche, sonst überall Lokale. Ich gehe in eins, um einen Kaffee zu trinken. Hier brennt der Ofen.
Die Kirche ist geschlossen. Das Patronatsfest ist der 25. März: Mariä Verkündigung! Das trifft sich ja gut. Das ist der griechische Nationalfeiertag. Perfektes Symbol für die Verbindung von Staat und Kirche.
Es geht immer weiter bergauf. Ich habe Glück, als ich zum Kloster Kera komme. Da beendet gerade eine Reisegruppe ihre Besichtigung. Vermutlich ist die Kirche nur deshalb geöffnet. Die nette, redefreudige Schwester nimmt mich in Empfang und führt mich durch die kleine Kirche. Ich verstehe längst nicht alles, aber sie spricht viel von Wundern. Und um die geht es hier auch. Die Bedeutung der Kirche liegt vor allem in einer Ikone, die gar nicht hier ist. Sie ist auf Kreta im 14. Jahrhundert entstanden und hing hier, bis sie von den Venezianern nach Rom entführt wurde, nach San Alfonso. Hier hängt jetzt an einem Pfeiler eine Kopie. Es ist ein wunderbares Bild, mit einer traurigen Gottesmutter, die die Hand des Kindes liebevoll hält. Der Blick des Kindes geht in eine andere Richtung, in die Ferne, der Dinge harrend, die da kommen werden. In einer Beschreibung habe ich dieser Tage etwas über die ikonographische Bedeutung der Farben gelesen: der braune Umhang steht für Erdverbundenheit, die grüne Tunika darunter für Hoffnung, der rote Gürtel für Leiden. Über den beiden schweben Engel, die die Leidenswerkzeuge tragen. Ein besonderes Detail, das einem leicht entgehen kann, sind die Füße des Kindes. Sie sind übereinander geschlagen, und von einem Fuß hat sich die Sandale gelöst und fällt hinunter.
Die Nonne führt mich vor die Ikonenwand. Hier hängt das Madonnenbild, das das geklaute ablöste. Leider ist es hier vorne sehr dunkel, man kann kaum etwas erkennen. Um diese Ikone rankt sich die Legende, noch eine, die die griechische Identität mitgestaltet. Die Türken haben das Bild geklaut, es ist dann von selbst zurückgekommen, dann haben sie es nochmal geklaut, und es ist wieder zurückgekommen, und beim dritten Mal haben sie es geklaut und mit einer Kette an einer Säule befestigt. Da ist das Bild mit Kette und Säule zurückgekehrt. Die Kette hängt unter dem Bild, die Säule steht im Innenhof. Vor dem Bild hängen dünne, silberne Votivplättchen, auf denen einzelne Körperteile abgebildet sind, in dankbarer Verehrung für Heilung.
Ich frage nach dem Wort für Kette auf Griechisch – hatte ich dieser Tage noch im Zusammenhang mit Lidl nachgeschlagen – und die Nonne kennt auch das deutsche Wort: Kette.
Die Kirche ist schlicht, aber schön, ein bisschen wie die andere Panagia Kera. Diese hier heißt auch so, aber mit vollem Namen Panagia Kera Kardiotisa. Auch hier lauter Fresken, aber die sind vermutlich irgendwann übermalt und dann wieder freigelegt worden, und die Dunkelheit trägt ihren Teil dazu bei, dass man kaum was erkennen kann. Die Nonne sagt mir, im Sommer werde die Tür geöffnet, da könne man besser sehen. Das tut man verständlicherweise jetzt nicht. Immer wieder deutet die Nonne auf Szenen und sagt „Paradies“ und Hölle“. Das ist offensichtlich die zentrale Botschaft.
Ein bisschen sagt sie auch noch zur Architektur. Der Altarraum war der erste Teil. Das muss ein winziges Kirchlein gewesen sein. Dann kam eine Nebenkapelle. Mit Emphase weist sie darauf hin, dass die dem Hl. Charalampos gewidmet sei. Dann kamen Hauptraum und Narthex.
Nachdem ich ihrer Aufforderung Folge leiste, eine Kerze anzuzünden, sehe ich mir noch kurz den stilvollen Innenhof mit einer Reihe riesiger, schlanker Zypressen an und den anderen Bauteilen, wie die Kirche aus Bruchstein gebaut. Dann flüchte ich ins warme Auto.
Es geht immer noch weiter bergauf. An einer Kurve ein Museum und davor ein paar wieder hergerichtete alte Windräder. Mit denen pumpte man früher das Wasser, das in die Ebene geflossen war, wieder rauf. Jetzt werden Elektropumpen benutzt. Auf der Ebene steht oder liegt hier und da noch eins der alten Windräder herum. Irgendwo absurd: Windräder sind out, aber jetzt sind sie wieder in.
Dann kommt nach einer Kurve plötzlich die Ebene in Sicht. Die hat ihren Namen wirklich verdient. Platter geht’s nimmer. Flach und fruchtbar, Holland lässt grüßen. Die Ebene ist außerdem kreisrund. Das sieht man aber leider auf der Karte besser als in Wirklichkeit. Für die Schafe, die hier grasen, muss das das Paradies sein.
Ich fahre halb um die Ebene rum, und dann geht es wieder ein Stück aufwärts, nach Psychro. Hier wird ordentlich mit Zeus geworben. Psychro hat die berühmteste Höhle von Kreta. In der wurde Zeus geboren. Da es noch eine andere Höhle gibt, die mit Zeus in Verbindung gebracht wird, haben die geschäftstüchtigen Kreter einen Kompromiss gefunden: hier geboren, dort aufgewachsen. Also muss man sich zwei Höhlen ansehen.
Diese hier, Dikteon Andron, liegt allerdings nur ganz am Rande des Psiloritis, des antiken Ida-Gebirges, das mit Zeus in Verbindung gebracht wird. Aber was soll’s? Man glaubt es eben. Was machte Zeus in einer Höhle auf Kreta? Seine Mutter hatte ihn vor seinem Vater, Kronos, versteckt, der die unangenehme Angewohnheit hatte, seine Kinder zu fressen. Also landete er hier, zusammen mit einer Amme (oder einer Ziege), die ihn stillte. Und außerdem wurden irgendwelche Bauern oder andere Wesen engagiert, die mit Trommeln Krach machten, damit Kronos die Schreie des Kindes nicht hörte.
Wie dem auch sei, die Höhle, die seit Jahrtausenden den Hirten der Gegend bekannt war, wurde Ende des 19. Jahrhunderts für die Archäologie entdeckt, und zwar auch durch einen Hirten, der hier ein paar glänzende Gegenstände fand. Es stellte sich heraus, dass es ein minoischer Kultort war. Und da war die Verbindung mit der Legende naheliegen
Die Höhle selbst findet im Internet alle Kommentare von Begeisterung in höchsten Tönen und tiefster Enttäuschung. Ich finde sie ganz schön. Der Anstieg über die flachen Steinplatten ist ganz schön anstrengend. Es ist steiler als es aussieht. Im Sommer bringen hier Esel die Touristen für gesalzene Preise nach oben.
Oben kommt gerade die Reisegruppe aus der Höhle, dieselbe von der Pangia Kera. Ich frage, welche Sprache sie sprechen und werde an die Fremdenführerin verwiesen: Polnisch und Tschechisch. Die Reiseführerin wechselt sofort ins Deutsche. Sie macht Reiseführungen auf Deutsch. Wir sprechen auch über das Wetter. Sie fragt sich, wann der Frühling kommt. Ich auch.
In der Höhle bin ich dann ganz alleine. Da kommt die Atmosphäre mit dem schummrigen Licht, dem leise tropfenden Wasser, der feuchten Luft und den schemenhaften Stalaktiten und Stalagmiten natürlich voll zur Wirkung. Es ist nur ein Raum, aber der ist ganz eindrucksvoll. Man geht einmal bis ganz unten und dann wieder hinauf.
Auf dem Rückweg sehe ich am Straßenrand eine alte Frau, klein, ganz in schwarz gekleidet, über etwas gebückt. Sie wechselt dann die Straßenseite und macht dort weiter. Ich steige aus, in der Hoffnung, heimlich ein Photo von ihr machen zu können, gehe dann aber einfach auf sie zu und frage, was sie denn da sammle: χόρτα. Ein Wort, das meist mit ‚Gemüse‘ übersetzt wird, aber in Konkurrenz zu λαχανικό steht, was auch ‚Gemüse‘ heißt. Sie öffnet die Ledertasche, die sie an einem Gurt um die Hüfte trägt und zeigt mir ihre Funde: „Zum Essen“, sagt sie. Was das alles genau ist, kann ich nicht erkennen, eine Sache sieht wie Lauch aus, in ganz dünnen Stangen, anderes eher wie Kräuter. Sie bittet mich um eine kleine Spende. Das kommt sehr gelegen, denn im Gegenzug bitte ich sie um ein Photo. Gewährt.
Irgendwo verpasse ich die richtige Abfahrt und komme ungeplant auf einem anderen Weg zurück, direkt nach Agios Nikolaos. Dieser Weg ist der einfachere, aber auch weniger spektakuläre.
Ich fahre nach Monasteraki, dem Dorf, für das Dimitra und Nikos so schwärmen. Es ist wirklich schön, aber völlig ausgestorben, und am Ortsende ist der Weg zu Ende. Das zwingt mich zu einem unliebsamen Rückfahrtmanöver. Bei der Ausfahr aus dem Ort bekomme ich aber noch unerwartet einen Blick auf den Eingang der Cha-Schlucht aus nächster Nähe.
20. März (Freitag)
In einem Paket aus der Heimat ist auch ein ganzer Stapel Photos. Schöne Erinnerungen. Das beste Photo ist vom Wochenmarkt. Da war ich gar nicht dabei. Auf dem Photo sind Tomaten, nichts als Tomaten, große, runde, knallrote Tomaten. Man hat den Eindruck, dass sie aus dem Bild herauskullern werden, wenn man es nicht bald wieder hinlegt. Wie ein barockes Stillleben.
In dem Mädchenroman, der in den siebziger oder den achtziger Jahren spielt, wird eine Party gefeiert. Es wird Musik gemacht, es werden Platten aufgelegt, eine davon von einer Gruppe, auf die der Gastgeber besonders steht: Ρόλινγκ Στόουνς. Wie ein I-Dötzchen fahre ich über die Buchstaben und übersetze sie in Laute, erst dann kommt die Erleuchtung: Rolling Stones.
Die ersten Touristen kommen. Im Dorf zwei Paare gesehen, und hier im Hause eine Nachricht für jemanden, der heute ankommt. Die kommen in der Erwartung des Frühlings. Der fängt heute offiziell an. Die werden ihr blaues Wunder erleben. Die Bäckersfrau sagt aber, dass es vom 25. März an besser werden soll. Wer’s glaubt, wird selig.
21. März (Samstag)
Wieder nur durch einen Anstoß von außen auf einen wichtigen Aspekt der griechischen Alltagskultur aufmerksam geworden: die Nachnamen. Söhne und Töchter, Männer und Frauen haben unterschiedliche Nachnamen oder, genauer gesagt, ihre Nachnamen eine unterschiedliche Form. Die männlichen Nachnamen stehen im Nominativ, die weiblichen im Genitiv: Karamanlis (Καραμανλής) bzw. Karamanli (Καραμανλή), Theotokopoulos (Θεοτοκόπουλος) bzw. Theotokopoulou (Θεοτοκόπουλος). So ist es im Prinzip. Das Rumsuchen im Internet wirft aber weitere Fragen auf: Nehmen verheiratete Frauen den Namen ihres Mannes an und ist der dann auch im Genitiv? Bekommen Söhne den Nachnamen des Vaters und Töchter den der Mutter? Dimitra weiß die Antwort, aber wir drehen uns bei der Klärung der Sache lange im Kreis. Langer Rede kurzer Sinn: kommt drauf an. Man hat die Wahl. Sie hat zum Beispiel ihren Nachnamen behalten. So steht er im Personalausweis. Die Kinder haben den Nachnamen des Vaters erhalten, aber auch das war eine persönliche Entscheidung der beiden.
22. März (Sonntag)
Typisch griechische Verabredung: Wo treffen wir uns? An der kaputten Ampel. Die kaputte Ampel steht in Kato Chorio, einem Dorf bei der Cha-Schlucht. Pünktlich zur verabredeten Zeit steht Dimitra an der kaputten Ampel, vor dem Haus ihres Onkels. Der, ein pensionierter Lehrer, macht den Reiseführer. Gleich zur Begrüßung bekomme ich zwei Bücher geschenkt, die er selbst geschrieben hat, über die Alltagskultur dieser Dörfer. Er fährt mit uns ins Nachbardorf. Dort empfängt uns ein kleiner, drahtiger, fast zahnloser Mann mit unrasiertem Kinn. Der wird als die Seele des Museum vorgestellt (griechisch die „Psyche des Museums“). Das Museum ist ein Sammelsurium, von dem Mann in Eigenarbeit und ohne Mittel zusammengestellt, nichts Aufsehenerregendes, aber wert, beachtet zu werden. Beide reden mit Nachdruck auf mich ein, wobei der Museumsmann immer wieder „Alt! Alt!“ sagt, während der Lehrer sagt „Das hat alles Geschichte! Geschichte!“ Er erwähnt in jedem zweiten Satz Deutschland. In Deutschland widmeten sich solche Museen dem Handwerk, hier sei alles Landwirtschaft. Alles Landwirtschaft. Leuchtet irgendwie ein. Auch der andere spricht von Deutschland. Er hat deutsche Freunde, die hier in der Nähe wohnen, aber: „kaputt“. Hodenkrebs. Ich bin irgendwie ganz gerührt, dass sie beide ständig von Deutschland reden und dabei kein Wort über die Krise verlieren oder auch nur andeutungsweise Zurückhaltung mir gegenüber üben.
Dimitri hat Sophia mitgebracht. Die schnappt sich sofort eins der alten Schulbücher und beginnt darin zu lesen. Als gute Tochter ihrer Mutter hat sie sich die ersten Schritte beim Lesen schon beigebracht, obwohl sie noch nicht zur Schule geht.
Den Lehrer verstehe ich zur Hälfte, den Museumsmacher überhaupt nicht. Aber er agiert geschickt mit Gesten und Ausrufen, um mir die Funktion bestimmter Gegenstände zu erklären. Mit heftigen Bewegungen führt er vor, wie man mittels eines Stabs auf einem Stein mit einer Aushöhlung Mehl mahlte.
Es gibt Dreschflegel, Wollkämme, Bügeleisen – mit Kohle und elektrisch –, einen Webstuhl, Werkzeug zur Bearbeitung von Leinen, eine Kinderwiege, eine Waage, Ziegenhörner, Tonkrüge, Sägen, Lampen (mit Öl und mit Petroleum) und Schulbücher. Dazwischen zwei Kanister, die hier als typisch deutsch gelten, eine italienische Granate und Bordinstrumente eines abgestürzten Flugzeugs. Eine ganze Wand ist sehr dekorativ mit landwirtschaftlichen Geräten behängt.
Ich mache ein Photo von den dreien und heimlich eins von Sophia, und dann ziehen wir weiter, nach Monasteraki. Die dortige Taverne, ein Geheimtipp, dessen kleiner Raum selbst wie ein Museum aussieht, ist heute geöffnet. Bei besserem Wetter sitzt man hier auf der breiten Terrasse mit Blick auf Agios Nikolaos und das Meer. Der Wirt, der aussieht, als hätte sein Schöpfer den Versuch gemacht, einen typischen Griechen zu schaffen, begleitet uns zur Fabrika. Das sprechen sie hier, griechischen Aussprachegewohnheiten gemäß, wie Fambrika aus. Bei der Fabrika handelt es sich um eine alte Ölpresse. Sie besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil ist ein Mühlstein, von einem im Kreis laufenden Pferd in Bewegung gehalten, unter dem die Oliven zu einer Olivenpaste gemahlen werden. Die wird dann im zweiten Durchgang unter einem Stein mit einem Schraubstock ausgepresst. Unten läuft das Öl heraus. Hier ist Muskelkraft gefragt, menschliche. Ich frage, was man mit dem Ausschuss machte, und erhalte eine einleuchtende Antwort: Brennstoff. Ob er sich selbst noch daran erinnere, dass diese Ölpresse benutzt wurde, will ich wissen. Nein, das war zu Großvaters Zeiten.
Wir gehen dann wieder zur Taverne rauf und trinken einen Kaffee. Der Lehrer erzählt von seinen Projekten. Jeder Satz erhält eine besondere Emphase, so als ob es genau auf den ankäme. Irgendein anerkennendes Adjektiv, das ich in der Ölpresse benutzt habe, hat es ihm angetan. Es freut ihn sehr, dass ich das gesagt hätte. Immer wieder zitiert er es. Dann sagt er, er wolle mir etwas erklären: Das, was für uns heute ein großes Problem sei, das sei für die Leute früher gar kein Problem gewesen. Das sei der Lauf der Welt. Das andere, was er immer wieder betont, ist die Kontinuität, von der minoischen Zeit bis zur der Zeit unserer Großeltern. Da ist was dran. Da hat sich in manchen Abläufen in Jahrtausenden nicht viel geändert. Allerdings lässt das außer Acht, dass es wohl einiges an Auf und Ab gegeben haben dürfte. Was er noch wissen wolle: Warum die Deutschen Kreta so lieben? Ich sage das Naheliegende: Natur, Kultur, Meer. Etwas zögernd sage ich dann auch noch Sonne. Er sagt, letzte Woche sei das erste Charterflugzeug in Heraklion angekommen, mehr als hundert Deutsche an Bord, alle mit kretischen Musikinstrumenten ausgestattet. Liebhaber kretischer Musik. Außerdem berichtet er von deutschen Historikern und Archäologen, die extra hierhergekommen seien. Während wir die Vergangenheit beschwören und sagen, wie wichtig es sei, seine Wurzeln zu kennen, spielt Sophia, die uns gar nicht zur Kenntnis nimmt, auf dem Handy Computerspiele.
23. März (Montag)
Griechenland hat ca. 900.000 staatliche Angestellte, Deutschland ca. 1,7 Millionen. Bei Zahlen muss man vorsichtig sein, man weiß nie, wie sie zustande kamen, was wie gezählt wurde, aber wenn die auch nur annähernd stimmen, dann stimmt wirklich etwas nicht im Staate Griechenland. Dann hätte Deutschland siebenmal so viele Einwohner und nur doppelt so viele staatliche Angestellte.
Das Wetter ist zwar nicht besser, aber die Wettervorhersage verbessert sich. Jetzt sind wenigstens die Prognosen so schlecht wie die Wirklichkeit. Ich muss ein ernstes Wort mit der Bäckersfrau sprechen. Regen und Wolken sind angesagt für den 25. – und darüber hinaus.
Schönen Link zu einer Seite des Dudens bekommen. Er führt zu einer sprachlichen Zeitreise durch die Nachkriegszeit, von den fünfziger Jahren bis zum Jahrhundertwechsel. Da trifft man viele alte Bekannte. Einige davon hatte man schon aus den Augen verloren: Kaugummi, Motortoller, Petticoat, Raumfahrt, Hitparade, Jo-Jo, Farbfernsehen, Trimm-Dich-Pfad, Gastarbeiter, Pilzkopf, Friedensbewegung, Chaot, Videoclip, Döner, La Ola, Inliner, Handy, geil, Wessi, Ossi.
24. März (Dienstag)
Dem Wetterbericht, der mal wieder für Donnerstag, wie jede Woche, gutes Wetter vorhersagt, begegne ich inzwischen mit einer Mischung aus Resignation, Wut und Sarkasmus. In welchem Teil der Welt heute die zehn Stunden Sonnenschein zu sehen sein sollen, fragt man sich. Hier jedenfalls nicht. Überall schwere, dicke Wolken, graue, weiße, schwarze, die tief am Himmel hängen. Manchmal ist das für einen Moment, für ein Photo ganz sehenswert, aber der Effekt ist eher erdrückend. Zumindest ist es warm, und in der Ferne sieht man manchmal Teile der weiten Täler im Sonnenlicht.
Auf dem Weg durch die Berge sieht man am Wegesrand Bäume mit watteartigen Büschen an den Enden der Äste. Keine Ahnung, was das ist. Wenn man es nicht besser wüsste, würde man Baumwolle sagen.
Im Radio erregte Diskussionen über den Besuch von Tsipras bei Merkel gestern. Ein Zuhörer schreit nur in den Hörer, ein anderer wird von dem Moderator, der selbst kräftig mitdiskutiert, zurechtgewiesen. Das gehöre nicht zum Thema, er solle am Donnerstag anrufen. Liebend gerne würde ich mehr verstehen. Es wird nur deutlich, dass viel von den Flughäfen die Rede ist, und viele sprechen vom Tourismus. Nur einer spricht auch von Industrie. Das fände ich besonders interessant. Er nennt die Zahl vier. Vier griechische Industrien, die ausbaufähig sind? Wär ja schon mal was.
Bald kommt Archanes. Erst geht es durch das unscheinbare Kato Archanes, dann kommt Pano Archanes, das oben gelegene. Der Ort macht einen guten Eindruck, und der wird bei genauerem Hinsehen eher noch besser: sehr gepflegt, aber nicht so rausgeputzt, ganz authentisch. Es gibt auch praktisch keine leer stehenden Häuser, ein voll funktionierendes Dorf.
Am Ortseingang die ehemalige Grundschule, ein klassizistisches Gebäude, das jetzt umgebaut wird. Schubkarren fahren rein und raus, Handarbeit im wahrsten Sinne des Wortes. Die Schule ist von historischer Bedeutung. Hier hat im Krieg die waghalsige Entführung eines NS-Kommandanten stattgefunden.
Etwas weiter die Kirche des Ortes, eine der vielen Panagia. Eine alte Frau, die den Vorhof kehrt, keift mich an, als ich auf die Tür zugehe. Ich muss ihre Antwort auf meine Frage, ob geöffnet ist, wohl missverstanden haben. Aber auch deshalb, weil die Öffnungszeiten neben der Tür stehen. Danach müsste jetzt offen sein. Sie kriegt sich gar nicht mehr ein und schreit sich die Seele aus dem Leib. Doofe Alte.
Die Kirche, ganz in weiß getüncht, ganz niedrig, hat einen Glockenturm und dazu noch einen freistehenden Uhrenturm und sehr schöne Durchbruchfenster in den Apsiden.
Die freundliche Frau in dem Café nebenan lässt mich den Ärger über die Alte wieder vergessen. Sie ist ganz verdutzt, als ich ihr den Reiseführer zeige, in dem steht, dass es hier guten Kaffee gebe. Es stimmt außerdem. Das Café hat den merkwürdigen Namen Προεδρείο, was so etwas wie ‚Vorstand‘ bedeutet. Aber vielleicht ist die deutsche Übersetzung einfach unzureichend.
Ich gehe dann die Straße entlang, die einen zu einem sehr schönen Platz am anderen Ende des Ortes führt. Unterwegs überall schön gestaltete Ladenschilder, alle individuell: Φιλόσοφος [Filosofos], ein Café, Αμπελοσ [Ambelos], eine Taverne, benannt nach einer Gestalt in den Mythen, die mit dem ersten Weinanbau in Verbindung steht, Ονειροχώρα, ‚Traumland‘, ein Geschäft für Kinderwaren, Αλφαβητάριο [Alfabitario], eine Buchhandlung, Σπιτιμό, eine weitere Taverne, deren Name was mit ‚Haus‘ zu tun hat, den ich aber nicht verstehe. Außerdem gibt es ein Καπνοπολείο, eine Geschäftsbezeichnung, die ich noch nie gehört habe, wörtlich ‚Rauchgeschäft‘. Und der Besitzer der Fahrschule heißt passenderweise Καπετανάκις [Kapetanakis].
Auf dem sehr schönen, baumbestandenen Platz mit gusseisernen Laternen spielen Kinder, die in Bäume klettern, während die Eltern sich auf die verschiedenen Terrassencafés verteilen. Es hat fast eine sommerliche Atmosphäre, jedenfalls kann man sich gut vorstellen, wie es im Sommer hier ist. Passenderweise kommt in diesem Moment auch die Sonne raus. Von hier aus sieht man besonders gut den Jouchtas, den mächtigen Berg, an dessen Fuß der Ort liegt.
Auch die Straßen innerhalb des Dorfes sind schön. Sowohl das Archäologische Museum als auch das Volkskundemuseum, in dem im Wesentlichen die Zimmer eines traditionellen Hauses ausgestellt sind, sind in sehr schönen, farbig gefassten Häusern untergebracht. Natürlich sind beide geschlossen. Bei der Frage nach beiden bekomme ich freundliche Hilfe. Wobei mir mal wieder auffällt, wie sehr die Griechen die Wörter links und rechts vermeiden. Es ist fast immer runter und rauf. Genauso wie in Spanien. Eine Frau errötet sogar, als ich ihr blöderweise das Wort links aus dem Mund nehme.
Vor dem Archäologischen Museum stehen zwei blühende Mandelbäume, an denen Bienen aktiv sind. Gegen das Licht kommt dabei ein gutes Photo heraus.
Eigentlich wollte ich wegen der Ausgrabungen nach Archanes. Die Funde werden als „sensationell“ bezeichnet. Vor allem die, die aus Menschenopfer bei den Minoern zu verweisen scheinen. Es liegt hier noch viel unter der Erde. Aber ich muss unverrichteter Dinge wieder zurückfahren. Hier kann ich nichts finden, und das größere Gelände in Kato Archanes ist abgesperrt.
Ich fahre nach Choudetsi, ein ganz schöner Umweg, und auch den mache ich umsonst. Aber die sensationell schöne Landschaft mit weiten, welligen, fruchtbaren Tälern mit einzelnen herausragenden kegelförmigen Bergen und dem dichten gelben Blütenteppich unter den Weinreben entschädigt dafür.
In Choudetsi befindet sich das Labyrinth. Hier hält Ross Daley, ein irischer Musiker, der sich ein Leben lang mit kretischer Musik beschäftigt, Musikseminare ab und stellt kretische Musikinstrumente aus. Aber mich begrüßen nur die Hunde, erst hinter einer eisernen Tür, dann auf der anderen Seite am Haupteingang.
Auf dem Weg weiter geht es wieder durch Archanes. Ein Lastwagen quält sich durch die engen Straßen und muss sich alle paar Meter an einem Ladenschild, an einem Auto, an einer Laterne entlang lavieren. Als der Lastwagen vor einer Metzgerei hält, fällt mein Blick auf zwei Wörter, die ich immer für eins und dasselbe gehalten habe: λουκάνικο und αλλαντικά. Das eine heißt Wurst im Sinne von ‚Bratwurst‘, das andere heißt Wurst im Sinne von ‚Aufschnitt‘.
Erst am Ende von Archanes merke ich, dass ich falsch bin und wieder nach Choudetsi muss! Schließlich komme ich nach Thrapsano, einem gesichtslosen Ort mit einer überdimensionalen Kirche, das ganz zu Unrecht den Titel „Töpferdorf“ trägt. Es sind nicht nur keine Töpfer zu sehen, sondern so gut wie überhaupt niemand. Irgendwie finde ich dann aber doch ein Lokal, eine Art bessere Dönerbude. Mein Magen hängt auf halb acht. Der Mann hinter der Theke, der erst etwas schroff ist, sich dann aber als freundlich erweist, hat einen ordentlichen Schmerbauch. Später, als ich seine Mutter sehe, weiß ich, woher er es hat. Als ich Rotwein bestelle, setzt er mit einer Erklärung an, winkt dann ab und bringt mir zwei Probiergläschen, eins mit Rotwein, eins mit Rosé. Ich nehme den Roten, trotz der unausgesprochenen Warnung. Es gibt ein reichhaltiges Essen mit Brot, Fladen, Pommes, Hacksteak und einem riesigen Salat, alles für elf Euro.
Auf dem Weg zu der Dönerbude schrecke ich zusammen: dumpfes Hundegebell, das ganz plötzlich aus dem Nichts kommt. Die Quelle ist nicht zu sehen. Auf dem Rückweg dann das gleiche Spiel. Jetzt sehe ich den Hund, einen großen Schäferhund: Er steht auf dem Haus, ganz oben, auf dem Flachdach.
Eine Töpferwerkstatt finde ich dann am Ortsausgang. Nicht so, wie man sich das vorstellt in einem Töpferdorf. Es hat eher etwas Fabrikähnliches. Auf dem langgestreckten Vorhof stehen ganze Reihen von Pithoi in allen Variationen herum. Die Kundschaft reicht hier in alle Welt, bis nach China.
Drinnen ist es sehr ruhig. Dies gilt in Griechenland noch als Mittagszeit. Auch hier stehen die Pithoi, aber in Grau. Ein Mann macht sich mit einer Brennschere an einigen zu schaffen. Dabei werden sie dunkelgrau. In der anderen Halle sehe ich dann wirklich einen Töpfer. Mit dem Fuß bewegt er die Töpferscheibe, mit der linken Hand formt er die Vase von innen und mit der rechten trägt er weiteren Lehm auf und kreiert dann mit rasend schnellen Fingerbewegungen einen horizontalen Schmuckfries, wie mit der Schnur gemacht. Handarbeit wie zur Zeit der Minoer. Ist schwer, sieht aber leicht aus.
Das bestätigt er. Es hat sich nichts geändert. Wir kommen ins Gespräch. Er ist ein paar Mal in Deutschland gewesen, immer auf Geschäftsreise. Er kennt München und Frankfurt und sogar Saarbrücken.
Auf dem Rückweg komme ich ungewollt über Chersonisos. Ich fahre ins Dorf rauf, um bei der Belgierin einen Kaffee zu trinken. Sie erkennt mich sofort wieder. Unter den anderen Gästen ist ein Brite mit breitem schottischem Akzent. Er ist der Betreiber des örtlichen Golfkurses. Passt doch. Neben ihm sitzt eine Griechin, die die schönen Schilder des Cafés gemalt hat.
Bald kommen wir alle ins Gespräch, auch zwei unrasierte Männer in verschlissenen Jeans, zwei Holländer, wie sich herausstellt, zwei unterschiedliche „Brüder“, der eine aus Amsterdam, der andere aus Rotterdam. Sie nehmen es mir nicht nur nicht übel, dass ich sie für Belgier gehalten haben, sondern stellen sich mit lang anhaltendem, festem Händedruck vor, so als hätten sie die ganze Zeit auf mich und keinen anderen gewartet. Sie sind ganz begeistert, Deutsch sprechen zu können. Eine wohltuende Begegnung.
In Ierapetra mache ich Termine bei Frisör und Autowäsche und trinke einen Kaffee bei Manolis. Der humpelt. Immer noch das Knie? Nein, schon wieder. Er ist am Wochenende, trotz Knie, in Chania einen Halbmarathon gelaufen, einen von der kretischen Sorte, mit riesigen Höhenunterschieden. Am Wochenende kommt der nächste.
Auch er spricht von einem Flugzeugabsturz. Habe ich am Rand schon in Chersonisos gehört. Ich brauche für jedes Detail zwei Anläufe, bis ich verstehe: deutsche Maschine, aus Spanien kommend, Alpen, keine Überlebenden.
25. März (Mittwoch)
Nationalfeiertag: Marschmusik, Parade, Gebete, patriotische Ansagen, Flaggen, Kriegerdenkmal. Schwer, dem was abzugewinnen. Und bei Nieselregen und geschlossener Wolkendecke schon gar nicht. Die mit Wimpeln und Fahnen geschmückte Straße sieht aber ganz schön aus.
Es ist noch sehr ruhig, als ich am Vormittag in die Stadt komme, und brechend voll wird es auch nicht. Eher so wie Karneval. Überhaupt ist es ein bisschen wie Karneval. Auch die gleichen „lustigen“ Luftballons werden verkauft und allerlei Kleinzeug. Vor mir ein rundlicher Junge, der mit einer Hand die Fahne schwenkt und sich mit der anderen Chips in den Mund stopft.
Bald hört man schon die Blaskapelle. Am Kriegerdenkmal wird Halt gemacht. Da gibt es Gebete und Gesänge. Dann stehen plötzlich alle auf. Die Nationalhymne? Es ist ein sehr schönes, leises, melancholisches Stück, ganz kurz. Klingt allerdings überhaupt nicht griechisch. Kurz danach stehen dann wieder alle auf. Diesmal wird die Nationalhymne angekündigt. Auch die klingt nicht griechisch, ist aber nicht so schön. Auch wenn alle aufstehen, gesungen wird nicht.
Dann kommt die eigentliche Parade. Die Blaskapelle, in ganz schönen blau-roten Uniformen, steht am Straßenrand. Über die Köpfe der Zuschauer hinweg kann ich ein Bild machen. Es ist gar nicht so leicht, Nikos mit drauf zu bekommen. Die Tuba verdeckt ihn fast. Nikos trägt eine Sonnenbrille. Warum, ist schwer zu erraten. Er ist der einzige in der ganzen Stadt. Vor ihm steht Sophia, etwas lustlos dreischauend, in der Hand eine griechische Fahne, die schlapp nach unten zeigt und den Boden berührt. Schönes Bild.
Vor der Blaskapelle ziehen jetzt Schulkinder, getrennt nach Geschlecht, in Gruppen vorbei und machen so etwas wie Marschbewegungen, mit weit ausgreifenden Armen. Sie tragen keine Uniform, sind aber uniform gekleidet, fast alles in Blau und Weiß. Eine Frau gibt Erklärungen, welche Gruppe jetzt kommt. Begeisterung ist nicht gerade zu spüren. Höchstens ein bisschen Beifall, wenn die Gruppe vorbeikommt.
Typisch griechisch, dass auch dieser Tag „negativ“ definiert ist: Am 28. Oktober geht es „gegen“ die Italiener (und, per Implikation, gegen Deutsche und Bulgaren), am 25. März „gegen“ die Türken. Und es ist eine Menge Geschichtsklitterung dabei. Der Aufstand wird als Beginn des griechischen Freiheitskampfs dargestellt, dabei war der Aufstand ein totaler Reinfall und der Freiheitskampf war erst erfolgreich, als sich die internationalen Kräfteverhältnisse änderten. Erst mal tat sich jahrelang gar nichts: Russland fürchtete ein Bündnis von Griechenland und England, England fürchtete ein Erstarken Russlands durch eine Schwächung des Osmanischen Reichs. Der heldenhafte Kampf ist ein griechischer Mythos, gar nicht unähnlich dem deutschen Mythos, nach dem die Einheit dem Mut und dem Friedenswillen der Deutschen zu verdanken ist.
26. März (Donnerstag)
Tag für dicken Anorak mit Kapuze: unablässiger Regen, böiger Wind, keine Sonnenstrahl am ganzen Tag. Die Frau in dem Gemüsehandel in Ierapetra kommentiert das Wetter. Dabei wechselt sie plötzlich ins Englische. Sie hat wohl den Eindruck, dass das auf Griechisch nicht emphatisch genug klingt für meine ausländischen Ohren. Sie habe das noch nie erlebt, in ihrem ganzen Leben nicht. Aber: Sie sei froh, der Regen sei gut, Kreta brauche Regen. Ohne Regen sähe es schlecht für die Ernte nächstes Jahr aus. Sie fühle sich immer unwohl, wenn die Sonne scheint. Ich sage, dass ich Kreta ja den Regen gönne, dass es jetzt aber langsam reicht. Ja, sagt sie, nur noch bis Sonntag. Am Sonntag regnet es noch mal. Dann wird es besser. Wie oft habe ich das schon gehört.
Beim Frisör wieder bei dem Mädchen vom letzten Mal gelandet. Sie macht es wieder sehr gut, sehr langsam, sehr bedächtig, sehr vorsichtig. Und benutzt dann am Ende auch noch mein griechisches Lieblingswort: πιστολάκι [pistolaki]. Das heißt ‚Fön‘.
Zum ersten Mal, mit Dimitras Hilfe, richtig systematisch Grammatik gemacht: Verben. Halb gegen die eigene Überzeugung, aber ich habe gemerkt, dass ich bei bestimmten Verbformen nicht nur drauf komme, sondern dass ich sie nicht kenne. Dimitra macht sich sehr viel Mühe und arbeitet einen Überblick über die verschiedenen Verbgruppen aus. Das ist aber eher was für jemanden, der die Grammatik schon kann. Ich mache eine Liste von den Verben, die ich im Laufe von 2-3 Tagen tatsächlich verwende. Erst glaube ich, mit 25-30 hinzukommen, dann werden es eher 60-70, und jetzt sind es fast 100. Kein Luxus dabei, nur ganz alltägliches Zeug: vergessen, trinken, lesen, holen, helfen usw. Die Sache wird durch die Aspekte besonders knifflig. Das Griechische hat durch die Bank eine Aspektunterscheidung, nur im Präsens nicht. Da scheint alles immer unvollendet zu sein. Aber sonst überall, sogar beim Imperativ: „Frag mal Deine Kollegen.“ Ist das vollendet oder unvollendet? Mein Gefühl war, vollendet, Dimitra sagt, eher unvollendet. Aber bevor man das überhaupt benutzen kann, muss man beide Formen kennen: Frage! bzw. Frage! Und die unterscheiden sich oft nur minimal, oft nur durch einen Laut, manchmal nur durch stimmhaften bzw. stimmlosen Konsonanten. Ein echtes Durcheinander.
Die Nachbarstochter hat ein Auto bekommen, bestimmt das erste ihres Lebens, funkelnagelneu, feuerrot. Auf dem Rückweg von Ierapetra habe ich sie vor mir. Sie hat es gleich doppelt schwer. Erst muss sie diese blöde, schlecht beleuchtete Strecke entlang fahren und dann den Hügel rauf und oben am Abhang wenden. Eine echte Herausforderung für eine Anfängerin
Griechenland hat über 6.000 Inseln, das ist mehr als vier Fünftel aller Insel im Mittelmeer. Aber sie nehmen nur ein Viertel der Fläche der Inseln des Mittelmeers ein und nur ein Fünftel der Fläche Griechenlands. Man kann schnell den Überblick verlieren, aber die wichtigste Unterscheidung ist die zwischen den Ionischen Inseln im Westen (grob gesprochen zwischen Griechenland und Italien) und den Ägäischen Inseln im Osten (grob gesprochen zwischen Griechenland und der Türkei). Bei den Ägäischen Inseln gibt es dann die Unterscheidung zwischen den Sporaden (die wirklich eher sporadisch über das Wasser verteilt sind) und den Kykladen (die wirklich so etwas wie einen Kreis bilden). Die Sporaden liegen näher an der Türkei, die Kykladen näher an Griechenland. Zu den Ionischen Inseln gehört Korfu, zu den Sporaden Rhodos, zu den Kykladen Santorini. Unter den Ägäischen Inseln bildet Kreta (mit seinen Satelliteninseln) eine eigene Gruppe.
27. März (Freitag)
Regen, Dunst, Wolken. Die Sonnencreme steht auf der Ablage im Bad und lacht mich aus.
Als ich aus dem Haus komme, traue ich meinen Augen nicht. Das Auto sieht aus, als wenn es an einer Rallye im Outback teilgenommen hätte: Scheiben verstaubt, Karosserie voller Schlamm. Ich habe es gestern Abend um sieben, auf Hochglanz gebracht, aus der Waschanlage abgeholt.
Der zweite Besuch aus der Heimat kommt. Es geht nach Heraklion und dort ins Naturhistorische Museum. Da mache ich noch einmal die Erdbebensimulation mit, diesmal mit Erklärungen auf Griechisch. Außer mir ist noch eine Mutter mit Tochter dabei. Diesmal wirkt die Simulation stärker als beim ersten Mal. Keine Ahnung, woran das liegt.
In der Ausstellung sieht man eine elektronische Karte, in der im Zeitraffer Vulkanausbrüche und Erdbeben auf der Erde dargestellt werden, jedes mit einem Licht, über zehn Jahre. Man sieht ganz deutlich eine Kette, die sich an der Westküste Amerikas hinaufzieht, von Argentinien bis Alaska, und dann übers Meer Richtung Australien wandert. Bei uns ist es eher ein Haufen Lichter, zwischen Europa und Afrika, und dann noch mal ein Haufen in Ostafrika. In anderen Teilen der Welt ist so gut wie gar nichts. Es gibt auch noch mythologische Erklärungen für Erdbeben aus aller Welt. Bei den Griechen war es Atlas, der das Himmelsgewölbe trug und der hin und wieder unter der Last seine Position etwas veränderte. Damit löste er Erdbeben aus. Oder es war ein von den Göttern im Meer unter Sizilien eingesperrter Gigant. Der versuchte hin und wieder, die Insel hochzudrücken, um sich zu befreien.
Oben ist eine Ausstellung über optische Phänomene. Man blickt durch eine kleine Rundung in einen Kasten und sieht nichts. Alles schwarz. Dann macht man den Kasten auf, und er ist drinnen weiß, überall. Dann stellt man sich vor eine Abbildung griechischer Tempel. Zwischen den Tempeln sind Landschaften zu sehen, die aus dem Bild nach vorne herausgucken. Wenn man zurücktritt, treten die Landschaften immer mehr nach hinten und bilden auf einmal den Hintergrund statt den Vordergrund. Und wenn man nach links und rechts geht, wandern die Säulen, und auf einmal sieht man die ganze Breite der Säulenfront, während man vorher auf eine im spitzen Winkel nach vorne zeigende Säule sah. Dann kommt ein „echter“ Spiegel. In dem sieht man sich so, wie einen andere sehen, also „seitenverkehrt“. Man hebt einen Arm, und im Spiegel hebt sich der „falsche“ Arm, man zupft sich ans Ohr, und es ist das „falsche“ Ohr. Und dann kommt eine viereckige Spiegelbox. Wenn sich jemand halb versteckt hinter eine Ecke stellt, wird im Spiegel eine Hälfte des Körpers reflektiert. Dann plötzlich sieht man auch die andere Hälfte und die Person fängt an, in der Luft zu schweben und mit den Armen und Beinen zu schwingen. Es ist einfach unglaublich. Tatsächlich steht die Person mit einem Bein auf einem Trittbrett hinter dem Glaskasten. Nur eine Hälfte des Körpers ist „echt“, die andere ist eine Spiegelung. Aber das ist nicht zu erkennen.
Dann gibt es noch täuschend echte Hologramme, eine ganze Sammlung, von Schwämmen und Muscheln im Meer, die aus dem Bild, das gar keins ist, herauszutreten scheinen bis zu Figuren aus der minoischen Kultur bis zu einer Schreibmaschine. Das ist alles sehr beeindruckend, aber auf die Dauer auch etwas ermüdend.
Ich gehe zu einem kleinen Lokal hinter der Tituskirche, wo ich schon Karneval mal war. Da sind heute die Chefin und eine Köchin anwesend. Sie haben nichts zu tun, und wir kommen ins Gespräch. Sie haben das Lokal erst vor kurzem eröffnet und setzen auf griechische Hausmannskost. Das gebe es hier im Stadtzentrum sonst nicht. Stimmt. War mir noch gar nicht aufgefallen. Sie schwärmen vor allem von der Schweinepfotensuppe, die Poppy macht, die Köchin, die abends dran ist. Die kommt um fünf und löst sie ab. So spät, denn sie müsse ja bis in die Morgenstunden bleiben. Der Grund dafür ist, wie ich erfahre, dass die Geschäfte freitags und samstags bis in die Puppen geöffnet sind. Jeden Freitag und jeden Samstag! Wie alle, machen auch sie erst positive Kommentare zu Myrtos, sagen dann aber auch, die Leute da unten im Süden seien ziemlich verschlossen. Aber wenn man sie richtig kennen lernte, dann wären sie die zuverlässigsten Freunde. Eine Vorstellung, die man auch woanders kennt. Bei uns sagt man das unter anderem über die Sauerländer. Zum Nachtisch wird eine ganz süße Frucht serviert, deren Name so ähnlich wie Pergamon klingt.
Danach in einem Straßencafé vor der Kirche den ersten Frappé des Jahres. Es ist wärmer geworden, und tatsächlich kommt die Sonne raus.
Dann weiter zum Flughafen. Gar kein Problem, aber wieder finde ich keine Parkplatz. Entweder nur für Militär oder nur für Bedienstete oder nur für Autoverleiher oder gesperrt. Dann finde ich eine Einfahrt zwischen Maschendraht. Keine Hinweisschilder. Ich fahre rein. Es gibt nur eine schmale Schneise zwischen den Autos. Die zieht sich immer weiter in den Parkplatz hinein. Dann merke ich, dass die Autos keine Nummernschilder haben. Am Ende der Schneise geht es nicht mehr weiter, weder geradeaus noch rechts noch links. Ich muss mich irgendwie wieder zurück manövrieren, um aus dem Parkplatz hinauszukommen. Dann werde durch das Einbahnstraßensystem nach links geschickt und gerate dann immer weiter vom Flughafen weg. Durch Außenviertel geht es Richtung Zentrum und plötzlich befinde ich mich wieder am Hafen. Da war ich hergekommen. Im zweiten Anlauf klappt es aber. Ich parke am Straßenrand und suche den öffentlichen Parkplatz zu Fuß. Und finde ihn auf Anhieb. Wie ich ihn übersehen konnte, kann ich mir nicht erklären. Auf jeden Fall weiß ich jetzt Bescheid für spätere Gelegenheiten.
Dann kommt Xia, mit dem Flug von Düsseldorf über Thessaloniki, ein langer Reisetag. Auch sie kommt gut gelaunt und mit einem großen Koffer, in dem mehr Mitbringsel als eigene Sachen sind, darunter ein „Trip Book, in den man Reiseerinnerungen sammeln kann, mit extra Fächern für Münzen, Briefmarken, Eintrittskarten und mit Platz für Notizen.
Als wir uns auf den Weg machen, wird es gerade dunkel. In der Villa Mare gibt es dann noch ein improvisiertes Abendessen im Innenhof mit kretischem Wein aus dem Duty-Free-Shop. Die Flasche wird mit dem auch selbst mitgebrachten Taschenmesser geöffnet.
27. März (Freitag)
Regen, Dunst, Wolken. Die Sonnencreme steht auf der Ablage im Bad und lacht mich aus.
Als ich aus dem Haus komme, traue ich meinen Augen nicht. Das Auto sieht aus, als wenn es an einer Rallye im Outback teilgenommen hätte: Scheiben verstaubt, Karosserie voller Schlamm. Ich habe es gestern Abend um sieben, auf Hochglanz gebracht, aus der Waschanlage abgeholt.
Der zweite Besuch aus der Heimat kommt. Es geht nach Heraklion und dort ins Naturhistorische Museum. Da mache ich noch einmal die Erdbebensimulation mit, diesmal mit Erklärungen auf Griechisch. Außer mir ist noch eine Mutter mit Tochter dabei. Diesmal wirkt die Simulation stärker als beim ersten Mal. Keine Ahnung, woran das liegt.
In der Ausstellung sieht man eine elektronische Karte, in der im Zeitraffer Vulkanausbrüche und Erdbeben auf der Erde dargestellt werden, jedes mit einem Licht, über zehn Jahre. Man sieht ganz deutlich eine Kette, die sich an der Westküste Amerikas hinaufzieht, von Argentinien bis Alaska, und dann übers Meer Richtung Australien wandert. Bei uns ist es eher ein Haufen Lichter, zwischen Europa und Afrika, und dann noch mal ein Haufen in Ostafrika. In anderen Teilen der Welt ist so gut wie gar nichts. Es gibt auch noch mythologische Erklärungen für Erdbeben aus aller Welt. Bei den Griechen war es Atlas, der das Himmelsgewölbe trug und der hin und wieder unter der Last seine Position etwas veränderte. Damit löste er Erdbeben aus. Oder es war ein von den Göttern im Meer unter Sizilien eingesperrter Gigant. Der versuchte hin und wieder, die Insel hochzudrücken, um sich zu befreien.
Oben ist eine Ausstellung über optische Phänomene. Man blickt durch eine kleine Rundung in einen Kasten und sieht nichts. Alles schwarz. Dann macht man den Kasten auf, und er ist drinnen weiß, überall. Dann stellt man sich vor eine Abbildung griechischer Tempel. Zwischen den Tempeln sind Landschaften zu sehen, die aus dem Bild nach vorne herausgucken. Wenn man zurücktritt, treten die Landschaften immer mehr nach hinten und bilden auf einmal den Hintergrund statt den Vordergrund. Und wenn man nach links und rechts geht, wandern die Säulen, und auf einmal sieht man die ganze Breite der Säulenfront, während man vorher auf eine im spitzen Winkel nach vorne zeigende Säule sah. Dann kommt ein „echter“ Spiegel. In dem sieht man sich so, wie einen andere sehen, also „seitenverkehrt“. Man hebt einen Arm, und im Spiegel hebt sich der „falsche“ Arm, man zupft sich ans Ohr, und es ist das „falsche“ Ohr. Und dann kommt eine viereckige Spiegelbox. Wenn sich jemand halb versteckt hinter eine Ecke stellt, wird im Spiegel eine Hälfte des Körpers reflektiert. Dann plötzlich sieht man auch die andere Hälfte und die Person fängt an, in der Luft zu schweben und mit den Armen und Beinen zu schwingen. Es ist einfach unglaublich. Tatsächlich steht die Person mit einem Bein auf einem Trittbrett hinter dem Glaskasten. Nur eine Hälfte des Körpers ist „echt“, die andere ist eine Spiegelung. Aber das ist nicht zu erkennen.
Dann gibt es noch täuschend echte Hologramme, eine ganze Sammlung, von Schwämmen und Muscheln im Meer, die aus dem Bild, das gar keins ist, herauszutreten scheinen bis zu Figuren aus der minoischen Kultur bis zu einer Schreibmaschine. Das ist alles sehr beeindruckend, aber auf die Dauer auch etwas ermüdend.
Ich gehe zu einem kleinen Lokal hinter der Tituskirche, wo ich schon Karneval mal war. Da sind heute die Chefin und eine Köchin anwesend. Sie haben nichts zu tun, und wir kommen ins Gespräch. Sie haben das Lokal erst vor kurzem eröffnet und setzen auf griechische Hausmannskost. Das gebe es hier im Stadtzentrum sonst nicht. Stimmt. War mir noch gar nicht aufgefallen. Sie schwärmen vor allem von der Schweinepfotensuppe, die Poppy macht, die Köchin, die abends dran ist. Die kommt um fünf und löst sie ab. So spät, denn sie müsse ja bis in die Morgenstunden bleiben. Der Grund dafür ist, wie ich erfahre, dass die Geschäfte freitags und samstags bis in die Puppen geöffnet sind. Jeden Freitag und jeden Samstag! Wie alle, machen auch sie erst positive Kommentare zu Myrtos, sagen dann aber auch, die Leute da unten im Süden seien ziemlich verschlossen. Aber wenn man sie richtig kennen lernte, dann wären sie die zuverlässigsten Freunde. Eine Vorstellung, die man auch woanders kennt. Bei uns sagt man das unter anderem über die Sauerländer. Zum Nachtisch wird eine ganz süße Frucht serviert, deren Name so ähnlich wie Pergamon klingt.
Danach in einem Straßencafé vor der Kirche den ersten Frappé des Jahres. Es ist wärmer geworden, und tatsächlich kommt die Sonne raus.
Dann weiter zum Flughafen. Gar kein Problem, aber wieder finde ich keine Parkplatz. Entweder nur für Militär oder nur für Bedienstete oder nur für Autoverleiher oder gesperrt. Dann finde ich eine Einfahrt zwischen Maschendraht. Keine Hinweisschilder. Ich fahre rein. Es gibt nur eine schmale Schneise zwischen den Autos. Die zieht sich immer weiter in den Parkplatz hinein. Dann merke ich, dass die Autos keine Nummernschilder haben. Am Ende der Schneise geht es nicht mehr weiter, weder geradeaus noch rechts noch links. Ich muss mich irgendwie wieder zurück manövrieren, um aus dem Parkplatz hinauszukommen. Dann werde durch das Einbahnstraßensystem nach links geschickt und gerate dann immer weiter vom Flughafen weg. Durch Außenviertel geht es Richtung Zentrum und plötzlich befinde ich mich wieder am Hafen. Da war ich hergekommen. Im zweiten Anlauf klappt es aber. Ich parke am Straßenrand und suche den öffentlichen Parkplatz zu Fuß. Und finde ihn auf Anhieb. Wie ich ihn übersehen konnte, kann ich mir nicht erklären. Auf jeden Fall weiß ich jetzt Bescheid für spätere Gelegenheiten.
Dann kommt Xia, mit dem Flug von Düsseldorf über Thessaloniki, ein langer Reisetag. Auch sie kommt gut gelaunt und mit einem großen Koffer, in dem mehr Mitbringsel als eigene Sachen sind, darunter ein „Trip Book, in den man Reiseerinnerungen sammeln kann, mit extra Fächern für Münzen, Briefmarken, Eintrittskarten und mit Platz für Notizen.
Als wir uns auf den Weg machen, wird es gerade dunkel. In der Villa Mare gibt es dann noch ein improvisiertes Abendessen im Innenhof mit kretischem Wein aus dem Duty-Free-Shop. Die Flasche wird mit dem auch selbst mitgebrachten Taschenmesser geöffnet.
28. März (Samstag)
Auf dem Rückweg vom Bäcker, bei dem es eine freundliche Begrüßung mit Handschlag gibt, sehen wir uns kurz die Kirche an. Man kann, darauf bin ich bisher noch nicht gekommen, an dem Mauerwerk sehen, welcher Teil angebaut ist. Überhaupt vermischen sich alte mit neueren Steinen. Im Gegensatz zu der steinsichtigen Kirche blättert an den Häuserfassaden der Putz ab. Das nackte Mauerwerk, das mir sowieso besser gefällt, hat auch den Vorteil, dass es der feuchten Luft besser standhält. Auch in der Villa Mare blättert die Farbe am Geländer ab, und überall, wo Eisen ist, ist auch Rost.
Am Rande der Kirche wachsen Löwenmäulchen, und ich bekomme eine Demonstration, wie man das Löwenmäulchen zum Vorschein bringt. Im Laufe der Tage lerne ich auch Oleander, Ringelblumen und viele andere kennen. Und dass es sich bei zwei der vielen verschiedenen gelben Blüten um die von Ginster oder Raps handeln könnte.
Frühstück gibt es oben auf der Terrasse, auf einem Teil der Terrasse, den ich bisher noch überhaupt nicht kannte. Auch ein Zimmer gibt es da oben, das sehr gut eingerichtet ist, moderner und gemütlicher als die hier unten.
Wir fahren auf die Lasithi Ebene. Auf dem Weg machen wir Halt an einem Friedhof. Die Gräber sind alle nach Osten ausgerichtet und folgen alle dem gleichen Muster: ein kastenförmiges Grab aus Marmor, mit einem Aufbau am Kopfende, das Fenster für Erinnerungsstücke und Photos enthält. Darauf ein Kreuz und das Wort Oikos und danach der Familienname im Genitiv. Manchmal auch ein marmornes aufgeschlagenes Buch mit hoch emotionalen Widmungen. All das ist sehr kitschig, nur mäßig geschmackvoll und sehr aufwändig. Man fragt sich, wo ärmere Menschen begraben liegen.
Etwas niedriger liegt die Friedhofskapelle, ein schöner Bau, der älter ist, als er einem eingemeißeltem Datum zufolge ist: 1843. Gleichzeitig gibt es einzelne schön skulptierte Steine, die älter aussehen. Darauf stoßen wir in diesen Tagen immer wieder. Wo kommen die wohl her? Hier ist besonders schön ein gemeißeltes geflochtenes Band
Dann kommen wir zum Denkmal von Ano Vianos. Bei dem dichten Dunst hat es eine besonders mystische Atmosphäre, und die Reihe der Verurteilten und der Todesengel mit dem Gehenkten geben ein eindrucksvolles Bild ab.
An dem Relief mit der kretischen Geschichte entdeckt Xia am Ende auch noch einen Fallschirmspringer. Passt. Die letzte historische Etappe Kretas.
Als wir wieder im Auto sitzen, ist es so dunstig, dass man kaum etwas sehen kann. Umkehren? Museumsbesuch statt Lasithi? Nach Heraklion? Wir beschließen, noch ein kleines Stück weiter zu fahren. Und dann erscheint ganz unten am Meer ein schmaler hellweißer Streifen, und man sieht das sonnenbeschienene Meer. Was für ein Bild! Alles andere ist dunkel. Im Laufe des Tages bekommen wir dann einen Mix aus Wolken, Sonne, Finsternis, der alles übertrifft, was ich bisher gesehen habe. Immer wieder bleiben wir für ein Photo stehen. Der Höhepunkt ist eins, bei dem sich zu dem Panorama noch ein schneebedeckter Berg im Hintergrund gesellt, bei dem der Schnee sich in weißen Streifen um den schwarzen Berg legt.
Xia hat von durchlöcherten Verkehrsschildern gelesen, und prompt kommen wir an einem vorbei, ein Dreieck. Das Vorfahrtszeichen ist noch ganz blass vorhanden, aber das ganze Schild ist mit kleineren und größeren Kugeln durchlöchert worden. Die meisten sind wahllos platziert, aber am Rand sieht man, dass einige versucht haben, ganz genau den Rand zu treffen. Das Verkehrsschild ist Ausweis der kretischen Freizeitgestaltung.
Wir biegen dann Richtung Lasithi-Ebene ab und machen einen kleinen Abstecher nach Krasi, genau den, den ich dieser Tage verpasst habe. Krasi ist ein kleines Dorf mit einer riesigen, jahrhundertealten Platane, die es bis in die Reiseführer gebracht hat. Hier ist sogar eine griechische Touristengruppe. Gibt es auch nicht so oft. Sehenswerter als die Platane ist der Brunnen dahinter. Eine Quelle, die ständig rauscht, versorgt den Ort mit Wasser. Das läuft in drei in den Felsen eingelassene Brunnen mit Becken, an denen früher die Wäsche gewaschen wurde.
Wir haben unten eine Skulptur gesehen, drei Köpfe, Mann, Frau und Tochter vermutlich. Es scheint sich bei dem Mann um einen lokalen Dichter zu handeln. Der rätselhafte Ort Mallon, der nirgendwo zu finden ist, entpuppt sich als der Genitiv Plural von Mallia! Krasi gehört dazu.
Dann kommen wir zur Panagia Kera, wo uns wieder dieselbe Schwester in Empfang nimmt, die mich dieser Tage durch die Kirche geführt hat. Xia bemerkt die besondere Form ihres schwarzen Gewandes, das an der Taille ausgestellt ist. Später sehen wir im Theater von Ierapetra ein ähnliches Kleid bei einer Puppe, die traditionelle kretische Kleidung trägt.
Die Nonne redet unaufhörlich auf uns ein, und ich versuche notdürftig, zu übersetzen. Xia bemerkt die Sandale, die sich vom Fuß des Jesuskindes löst. Die Nonne erklärt, dass Jesus, mit dem ernsten Gesicht eines Erwachsenen, einem der Engel entgegenblickt, die oben die Leidenswerkzeuge herantragen. Das Kind ahnt, was ihm im späteren Leben erwartet, welches Leid auf ihn zukommt, eine weit über das Christentum hinausweisende Szene.
Wir sehen uns noch ein bisschen draußen um. Auch hier gibt es wieder einen sehr schön gemeißelten grauen Stein an der Apsis der Kirche, der nicht zu dem übrigen Mauerwerk passt. Es sind Verzierungen zu sehen, von denen man eine mit Mühe und Not als X lesen kann, der Nonne zufolge der Anfangsbuchstabe von Christus.
Im Innenhof liegt eine Glasplatte, unter der man ins Untergeschoss sehen kann. Wasser? Ein Brunnen? Eine junge Nonne, die gerade vorbeikommt, klärt uns auf: Nein, nicht Wasser. Wein! Hier unten stampften die Mönche die Weintrauben zu Maische.
Dann kommen wir zum Ambelos, dem Scheitelpunkt. Da stehen auf der Anhöhe in einer Reihe merkwürdige alte Steinkonstruktionen, vorne abgerundet, aus denen vorne ein Art Rohr heraustritt. Was kann das sein? Doch wohl keine Kanonen? Dann sehen wir es: alte Windräder, an denen der Zahn der Zeit genagt hat.
Dann geht es in die Ebene runter und dort an einer großen Schafherde vorbei. Von dem, was hier angebaut wird, Weizen, Kartoffeln, Bohnen, ist nichts zu sehen. Hier gibt es nur Gras. Später beim Spaziergang sehen wir aber etwas, was nach Getreide aussieht.
Wir kommen nach Psychro, aber statt die Höhle zu besichtigen, machen wir einen mächtigen Spaziergang ins nächste Dorf, Agios Giorgos, durch den kalten Wind, mitten durch die menschenleere Ebene. Am Wegesrand schöne, kahle Bäume, deren graue Äste im Licht silbrig schimmern. Darunter ist ein ganz symmetrischer, bei dem man nicht weiß, ob es ein Stamm ist, der sich zweiteilt oder zwei Stämme, die ganz nah aneinandergerückt sind. Wunderbar. Erinnert an Goethes Interpretation des Ginkgo-Blattes, aber wenn er den Baum genommen hätte, hätte er den genommen.
In Agios Giorgos gibt es gleich zwei Museen, ein Volkskundemuseum und ein Museum für Venizelos. Natürlich sind beide geschlossen.
Am Abend gehen wir ins Klio, wo wir am Anfang die einzigen Gäste sind. Wieder sehr freundliche Begrüßung durch Klio, die eine ganze Reihe von Gerichten herunterrasselt, die es heute als Tagesgerichte gibt, neben der vielfältigen Speisekarte. Da kann man sich ja gar nicht entscheiden. Als Appetitanreger gibt es neben der Olivenpaste eine merkwürdige Sache, die man erst mit dem Mund aufbeißt. Dann rutscht die Schale ab und man isst das mandelförmige, flache Innenteil. Könnten Bohnen sein.
29. März (Sonntag)
Der Tankwart trägt eine Brille. Ich spreche ihn darauf an. Er trägt normalerweise Kontaktlinsen. Aber in den letzten Tagen liegt etwas in der Luft, das seine Augen irritiert. Er musste Augentropfen nehmen. Genauso wie Xia. Bei der Gelegenheit lerne ich, dass φακός nicht nur ‚Taschenlampe‘ und ‚Lupe‘ bedeutet, sondern auch ‚Linse‘.
Wir fahren zur Panagia Kera. Obwohl es der dritte Besuch ist, findet sich wieder was Neues. Zufällig fällt unser gemeinsamer Blick auf die Darstellung einer ausgesprochen schönen Heiligen im Seitenschiff, mit schwarzem Haar und blassen Teint, auf Augenhöhe. Sehr schön auch die Darstellung eines Buch an einem Pfeiler im Mittelschiff und ganz besonders ein Pferd im Nordschiff, mit wehender Mähne, sieht viel jünger aus, könnte aus dem Barock stammen.
Der Aufpasser, der sieht, dass wir uns Zeit nehmen, erklärt ein paar Szenen, zuerst die Hölle: Ein Mann der an Beinen und Händen zusammengebunden aufgehängt ist, ist ein Dieb; der neben ihm, mit einem Schaf auf den Schultern, ist ein Tierdieb; der dritte ist einer, der Land geraubt hat. Die Frauen in der Höllen sind durch Schlangen gekennzeichnet. Eine führt in den Mund, eine in das Ohr, eine in die Vagina, die Organe, die beim Begehen der Sünde beteiligt waren. Männer, so erkennt man, klauen, Frauen tratschen und sind lüstern.
Der Mann erklärt auch eine merkwürdige Szene, die sich bisher meinem Verständnis entzog. Es ist eine Paradiesdarstellung. Im Hintergrund die Bäume des Paradieses, vorne die Himmelspforte. Der kleine Mann mit dem Kreuz neben der Pforte ist der erste Mensch, der ins Paradies eingeht, der gute der beiden Schächer, die mit Christus zusammen gekreuzigt wurden. Neben ihm Maria und drei bärtige Männer, Propheten, die kleine Köpfe, die Seelen der Verstorbenen, auf dem Schoß halten.
An einem Verkaufsstand formt eine Frau gerade Kalitsounia. Sie etikettiert es als typisches Ostergebäck, was es ursprünglich auch war. Wir kaufen Ansichtskarten, und Xia ein Buch über kretische Pflanzen.
Statt nach Kritsa zu fahren, machen wir einen Spaziergang an der Landstraße entlang, vorbei an Eseln, Hühnern und bellenden Hunden und blühenden Mandelbäumen und Blumen, deren Namen ich bei dieser Gelegenheit erfahre.
Wir machen einen Spaziergang durch Kritsa, das aber Xia auch nicht umwerfend findet. Eine einzige Verkäuferin versucht, uns in ihr Geschäft zu locken und gestickte Tücher zu verkaufen. Alle Cafés sind geschlossen, wie immer.
Am Ortsausgang gibt es aber ein unscheinbares Café, und aus einer Laune heraus bestellen wir einen Raki dazu. Den gibt es in einem ansehnlichen Schnapsglas. Wir genießen die Sonne und die Kleinigkeiten, die dazu aufgefahren werden, darunter kleine, geröstete Brotstückchen mit Sesam und Kümmel mit Käse darauf. Welcher Käse? Auf Nachfrage erfahren wir: Philadelphia Frischkäse!
Wir überlegen, ob wir nach Lato oder nach Gournia fahren wollen und kommen zu dem Ergebnis: zu beiden. Als wir dann aber nach Lato kommen, müssen wir feststellen: zu spät. Sie machen in einer Viertelstunde zu. Die Zeitumstellung und der Raki haben uns ins Hintertreffen gebracht.
Stattdessen fahren wir nach nach Agios Nikolaos. Dort entdecke ich lauter neue Dinge. Am Ende des Sees führt eine Treppe im Felsen hoch. Von dort hat man einen Blick auf die Stadt und die Bucht und die Berge. Xia fällt auf, dass alles relativ neu ist. Das stimmt. Ein paar venezianisch aussehende Häuser an der Meeresfront, das ist es. Die Stadt ist in den letzten Jahren gewachsen, war früher nichts als ein Fischerdorf, und das generiert im Internet den einen oder anderen nostalgischen Kommentar von alten Kreta-Reisenden.
Wir gehen natürlich, Xias Grundsatz folgend, nicht denselben Weg zurück, sondern an der anderen Seite, an der geschlossenen Touristeninformation vorbei (Open 8-22) und dann den Berg rauf, um zur Bucht von Elounda zu kommen. Dort gibt es ein Luxushotel, und das hat den Schlüssel zu einer mittelalterlichen Kirche. Das Hotel liegt aber ganz am anderen Ende der Bucht. Wir müssen mit dem Auto dorthin.
Schon der Weg zum Auto am Hafen entlang ist schön, aber als wir dann endlich mit dem Auto aus der Stadt herausfinden, dem guten Orientierungssinn der Beifahrerin sei Dank, bietet sich uns am Jachthafen ein wahrhaft phantastisches Bild: der dichte Wald der Masten vor dem Hintergrund des Meers und der dunklen Berge und der schattierten Wolken.
Der Weg zum Hotel führt einmal ganz um die Bucht herum. Das Hotel liegt erhöht auf einem Felsvorsprung. Kein Mensch ist zu sehen, das Gitter ist verschlossen. Man kann aber über eine niedrige Mauer klettern und kommt auf das Grundstück. Xia übernimmt die Nachforschungen, ich warte im Auto. Sie kommt mit geheimnisvollen Berichten zurück: alles verlassen, aber geöffnet, weiße Bettlaken über den Möbeln, kein Schild, luxuriöse Einrichtung. Irgendwo im Garten hört man Geräusche. Wie die Kulisse für einen geheimnisvollen Film. Die Kirche selbst liegt auch auf dem Grundstück des Hotels.
Wir fahren noch ein Stück die Bucht entlang, über eine praktisch nicht mehr befahrbare Straße und machen dann kehrt.
Als es auf Ierapetra zugeht, versteckt sich ganz plötzlich die Sonne hinter den Wolken. Die Atmosphäre verändert sich schlagartig und es wird deutlich kälter. Der Tag hat mit Regen und Kälte begonnen und hat sich dann zu einem schönen Frühlingstag entwickelt.
Wir machen einen Spaziergang durch Ierapetra. Hier hat das Meer gewütet, die Fußwege an der Strandpromenade sind kaum zu begehen. Wir gehen zum Essen in die Arche und probieren dabei die χόρτα, wobei wir den Tipp der Wirtin in den Wind schlagen, nur mit Salz und Öl zu würzen. Das tut dem Zeug nicht gut. Sie werden warm serviert und enthalten unter anderem Brennnesseln, Huflattich und Gras.
Als wir raus kommen, ist es stockdunkel. Am Himmel erkennt man den Orion und den großen Wagen, auch wenn dem eine Ecke fehlt.
30. März (Montag)
Auf dem Weg nach Knossos sehen wir wieder die merkwürdigen Wattebäusche an den Bäumen. Wir machen Halt und sehen nach. Sie sind um die Tannenzapfen herumgewickelt, werden aber nicht von denen produziert, wie wir in unserer Einfalt gedacht haben, sondern vermutlich von Raupen. Die spinnen sich hier ein „Nest“ aus dichten, weißen Fäden, entweder als Schutz oder zur Sicherung der Nahrung.
In Knossos ist so viel Betrieb wie bisher noch nie, aber wir bekommen noch einen Parkplatz gleich vor dem Gelände. Wir schließen uns einer deutschen Führung an. Die ist die reinste Katastrophe. Man kann den Mann kaum verstehen; er spricht einfach los, wenn er irgendwo angekommen ist, ohne zu warten, bis alle da sind; er setzt Dinge voraus, die vielleicht gar nicht bekannt sind; die Erklärungen sind unstrukturiert und er verliert sich in Details und vergisst die Zusammenhänge. Viel schlechter geht es nicht. Xia lauscht hin und wieder zu der benachbarten, großen Gruppe hinüber, in der eine junge Frau zeigt, wie es geht.
Immerhin sehe ich zwei Dinge, die mir bisher entgangen waren: das einzige einigermaßen vollständig erhaltene und einzige originale in situ verbliebenen Fresko, stilisierte Pflanzen in Rot, Gelb und Blau, und die Dränage. Die Rohre waren unterschiedlich groß, und damit wurden irgendwie Druck und Geschwindigkeit geregelt. Es gab drei Systeme: Regenwasser, Abwasser, Trinkwasser.
Aus dem inkohärenten Gerede des Führers schnappe ich noch auf: Es spricht die These an, die Zerstörung könne durch den Brand der großen Ölvorräte im Palast ausgelöst worden sein. Brandspuren sieht man jedenfalls an verschiedenen Stellen noch. Der Brand wäre dann durch das Erdbeben ausgelöst worden.
Das Lebensalter der Menschen im Palast war deutlich höher als das der Menschen in der Stadt Knossos. Dort herrschten Malaria, Blutarmut, Tuberkulose. Die Priester im Palast waren auch Ärzte. Das ist einleuchtend. Sie waren einfach gebildeter als die meisten.
Auch spricht er von einem unerklärlichen Bevölkerungswachstum in Byblos nach der Zerstörung der Paläste. Offensichtlich löste die Flugasche Krebs aus, und eine massive Auswanderung war die Folge.
Steinbrüche gab es hier ganz in der Nähe, und Wasser gab es auch reichlich. Bimsstein wurde aus Santorin importiert, Kupfer aus Zypern, Zink aus Afghanistan.
Der Palast war ganz absichtlich als Labyrinth, wie ein Fuchsbau, angelegt, nicht damit man sich darin verlaufen sollte, sondern als Schutz vor Hitze und Lärm. Der Raum, in dem die Kinder des „Königs“ verwahrt wurden, war tatsächlich im Sommer besonders kühl und im Winter besonders warm.
Einen interessanten Gedanken äußert er auch zu Dädalus, aber wieder nur in einem Einschub, den man kaum wahrnimmt. Der historische Hintergrund zu dem „fliegenden“ Dädalus ist vielleicht, dass er Segelschiffe konstruierte. Mit denen konnte man über das Wasser „fliegen“.
Nach der Führung fahren wir nach Heraklion. Es lohnt sich für das Museum kaum noch. Der Führer hat uns gesagt, um drei Uhr sei Schluss. Und so steht es auch im Internet. Aber wir haben Glück: Ausgerechnet montags gelten längere Öffnungszeiten. Wir können uns in Ruhe umsehen. Auch diesmal gibt es wieder ein paar Details an bekannten Objekten zu entdecken, vor allem sehr gut gestaltete Körperpartien, die Augenbrauen beim Stierspringer, die Pobacke bei einem von den dreien, die am Stierkopf hängen. Außerdem kommt eine Keramik vor, die wie ein Seiher aussieht. Damit würde man heute Spaghetti abschütten.
Ich übernehme die „Führung“ und vergesse dabei die Bienen und den Diskus von Phaistos, zwei der wichtigsten Ausstellungsstücke. Aber ich habe eine aufmerksame Zuhörerin. Die weiß, was fehlt.
Wir gehen dann in die Tituskirche und über den Markt und setzen uns dann zu Kaffee und Bugatsa in ein Café an den Morosini-Brunnen.
Das Musikgeschäft, das ich vergeblich gesucht habe, ist umgezogen. Bei der Suche hilft uns ein jüdischer Juwelier, in flüssigem Deutsch, aber nicht, bevor wir uns seine gesamte Lebensgeschichte angehört haben. Die Großmutter hat in Wien, die Mutter in Berlin studiert und Berlin zu seiner besten Zeit erlebt, als kosmopolitische Stadt vor dem Krieg. Dann kam die Nazi-Zeit, und sie überlebten hier mit Hilfe von Kommunisten, bei denen sie unterkommen konnten. Er betont, was für eine schwere Zeit es war, und immer wieder kommt: „Aber wir haben überlebt“.
Er begleitet uns zu dem Musikgeschäft, das abseits der Einkaufsstraße in einer schönen Ecke liegt, in die man sonst nicht hinkommen würde. Im Musikgeschäft werden wir von Vater und Sohn empfangen und beraten, über kretische Musik und Musikinstrumente. Der eigentliche Plan, Noten zu kaufen, schlägt fehl, weil es für das gesuchte Instrument keine Noten gibt, aber eine CD springt am Ende doch raus. Vor allem aber den Genuss, dem Sohn beim Vorspielen auf der Lyra zuzuhören. Die hat einen sehr schönen, vollen Klang. Der Juwelier fragt mich nach meinen weiteren Plänen und sagt, Santorini sei eher eine Touristeninsel. Richtig „wild“ sei nur Kreta.
Wir verabschieden uns und machen noch einen Spaziergang zur Stadtmauer. Eine junge Frau zeigt uns den Weg zu Kazantzakis Grab. Sie hat einen Koffer bei sich. Sie kommt gerade aus Santorin. Sie ist Fremdenführerin der TUI. Schön, sage ich. Nein, nicht so schön, sagt sie. So finde sie keinen Ehemann.
Als wir wieder zurückkommen, stellen wir entsetzt fest, dass es schon halb sieben ist. Zeit, zurückzufahren. Auf dem Parkplatz bekomme ich ein Lob für mein Griechisch, wie vorher von einer jungen Frau, die wir nach dem Weg zum Museum gefragt haben.
31. März (Dienstag)
Am Morgen vom Kuckuck geweckt worden. Ist mir bisher noch gar nicht aufgefallen. Auch die anderen Vögel sind voll zu Gange, wie auch in den letzten Wochen immer wieder, meistens in Dörfern und Städten an Plätzen. Ob es daran liegt, dass da eher Laubbäume zu finden sind.
Der Tag ist wieder trüb, kein Vergleich zu gestern. Während Xia auf Erkundung ist, bleibe ich zuhause und treffe Vorbereitungen für die Weiterfahrt. Sie bringt Sesamblättchen mit Honig mit, offensichtlich eine griechische Spezialität, von der ich bisher noch nichts wusste. Schmeckt gut zu Obst. Sie ist auch gleich ins Gespräch gekommen mit verschiedenen Leuten, unter anderem mit einer Deutschen, die hier einen Laden betreibt, mit einem Griechen verheiratet schon das halbe Leben hier ist.
1. April (Mittwoch)
Wie am 1. Januar ändert sich auch heute, am 1. April, das Wetter, nicht ganz so schlagartig, aber merklich. Nach ein paar Anlaufschwierigkeiten wird es richtig schön. Es sollen die wärmsten, sonnigsten Tage seit vielen Monaten werden.
Unterwegs sehen wir am Rand der Straße einen ungewöhnlichen Bildstock, ein richtiges gemauertes Kirchlein, mit Fenster, Apsis, Tunnelgewölbe, Kreuz. Wir machen Halt und ich erfahre, dass jeder vernünftige Maurer die Steine quer legt, wie hier bei dem Bildstock. Xia sorgt erst mal für Ordnung im Innern des Bildstocks, hat aber kein Staubtuch dabei. Das einzige Ausrüstungsstück, das in ihrer Ausstattung fehlt.
Wir fahren „unten rum“, eine gute Entscheidung, denn so kommen wir mal über eine andere Strecke. Und wir finden auch einen Kompromiss: Gortys ja, Phaistos nein. Und ehe wir uns versehen, sind wir schon in Phaistos. Es lohnt sich auch für mich, denn eher zufällig treffen wir bei der Erwanderung des Geländes auf die immergrüne Platane, die ich beim letzten Mal verpasst habe. Das ist die Platane, unter der Zeus mit Europa herumgemacht haben soll, mit beachtlichem Ergebnis: Minos. Allerdings sieht die Platane für so eine historische Verantwortung nicht groß, nicht alt, nicht prächtig genug aus.
Die Orientierung ist nicht einfach, immer wieder müssen wir die Karte herumdrehen, um zu sehen, was wo liegt. Offensichtlich wird die antike Stadt nicht nur durch die Hauptstraße geteilt, sondern, auf unserer Seite, nochmals in zwei Teile durch einen Fluss. Auf der anderen Seite erhebt sich ein Hügel. Das muss die Akropolis gewesen sein.
Xia zeigt sich von Odeon und Gesetzestext beeindruckt. Wir spekulieren auch darüber, ob die unterschiedlichen Farben der Steine etwas zu sagen haben, kommen aber zu dem Schluss, dass vielleicht die hellen einfach schon restauriert worden. Neben dem E, das durch die Bustrophedon in jeder zweiten Zeile in eine andere Richtung weist, finden wir auch P und B, bei denen das auch der Fall ist. Wie immer, gefällt ihr auch das, was einfach so in der Gegend herumliegt, und davon gibt es hier eine ganze Menge, vor allem auf dem nicht zugänglichen Gelände der Titus-Basilika.
Am Ausgang des Ausgrabungsgeländes eine Nische in der Mauer mit einem Krug und anderen Gefäßen. Die Funktion ist schwer zu erkennen, aber es dürfte auch eine Art Bildstock sein.
Bei der Weiterfahrt biegen wir nach kurzem Zögern ab, Richtung Matala, eine Entscheidung, die wir nicht bereuen. Dabei kommen wir dann tatsächlich an Phaistos vorbei, lassen es aber nach einem kurzen Blick links liegen. Matala war die klassische Heimstatt der Hippies auf Kreta, ein paar Überbleibsel gibt es wohl noch. Es liegt wunderbar an einer Bucht, deren Wasser in allen möglichen Farben schillert. Und an der Seite liegen die Höhlen, schon aus der Ferne beeindruckend.
Wir trinken aber erst einen Kaffee auf einer schönen Terrasse am Ende der Hauptstraße. Die ist ganz auf touristischen Bedarf ausgerichtet, ist aber jetzt, zu dieser frühen Jahreszeit, noch einsam und verlassen.
Ob man in die Höhlen wohl reingehen kann? Ich glaube nicht, behalte aber unrecht. Es gibt zwar einen Zaun, aber auch ein Kassenhäuschen. Man hat die Höhlen, nachdem sie immer mehr verwahrlost wurden, vor ein paar Jahren geschlossen, jetzt aber wieder geöffnet, gegen Eintrittsgeld. Ein guter Kompromiss.
Wir kraxeln in der Sonne auf den Felsvorsprüngen rum und gehen in ein paar Höhlen rein. Es sind tatsächlich steinzeitliche Höhlen, die dann von den Hippies „besetzt“ wurden. Die Höhlen sind ganz unterschiedlich. In der einen oder anderen ist sogar eine Bettstätte in den weichen Kalkstein gehauen, mit steinernem „Kopfkissen“. Man steht verwundert davor und fragt sich, wer das gemacht hat, die Steinzeitmenschen oder die Hippies. Man kann über ein paar Steine auch auf die höher gelegenen „Etagen“ gelangen, und das lassen wir und nicht entgehen. Es Die „Erkundung“ der Höhlen gehört zu den bleibenden Erinnerungen an Kreta. Der Umweg hat sich gelohnt.
Auch das Auto nimmt eine Erinnerung mit, als ich beim Zurücksetzen gegen einen Stein fahre und der Karosserie ein Loch verpasse.
Unterwegs ist irgendwann die Beschilderung futsch, und dann treffen wir an einer Kreuzung tatsächlich auf ein paar Schilder, die nur griechische Buchstaben haben, eine der ganz wenigen Ausnahmen. Die sind außerdem verblasst, aber man kann anhand des einen oder anderen Buchstabens so gerade noch Chania identifizieren.
Es geht Richtung Norden, und auf dem Weg haben wir eine außergewöhnliche Begegnung. Am Straßenrand steht eine alte Frau. Sie macht eine unbestimmte Geste. Wir verstehen die Geste so, dass sie auf Mitfahrgelegenheit wartet, und das stimmt. Eine greise Tramperin. Sie will nach Rethymnon. Den kleinen Umweg nehmen wir gerne in Kauf. Wir packen ein paar Reisetaschen um und verstauen ihre beiden schweren, prall gefüllten Taschen im Kofferraum. Unterwegs erzählt sie eifrig. Sie ist 85. Kinder hat sie nicht, aber eine Nichte, die sich um sie kümmert. Die beiden Tüten enthalten xorta, Grünzeug, das sie offensichtlich verkauft. Zum Essen für die alleine ist es viel zu viel. Sie macht das schon seit vielen Jahrzehnten. Wie lange sie denn auf eine Mitfahrgelegenheit gewartet habe, wollen wir wissen. Eine Viertelstunde. Sie errät, dass wir Deutsche sind. Und beginnt, vom Krieg zu erzählen. Schlimme Erinnerungen seien das, sie habe als Kind immer Angst gehabt. Vor dem Knallen. Aber ihre Mutter habe sie beruhigt. Nein, sie wohne nicht im Zentrum, sagt sie, aber das Viertel, in das sie uns mit sicheren Anweisungen führt, liegt doch ziemlich zentral, wenn auch nicht in der Altstadt. Vor einem modernen mehrstöckigen Haus steigt sie aus und packt entschlossen ihre beiden Taschen unter den Arm und geht ihres Weges. Kein bemitleidenswertes, hilfsbedürftiges Mütterlein, sondern eine selbständige alte Frau. Dazu passt auch Xias Beobachtung, dass sie gepflegte Hände und sorgfältig manikürte Fingernägel gehabt habe.
Wir fahren in Rethymnon bei herrlichem Sonnenschein ein Stück an der Meeresfront vorbei und entdecken da tatsächlich eine Handvoll Badende!
Unser nächster Halt ist schon an der Nordküste, in Georgioupolis, einem der wenigen Orte auf Kreta mit einem Fluss. Der Ort hält nicht, was er verspricht, aber der erste Eindruck ist sehr schön. Wir parken an einer baumbestandenen Allee gleich an einer Brücke über den Fluss. Auf der Brücke stehend, sieht man nach vorne auf den Hafen weißen Booten und die Flussmündung, nach auf den unregelmäßig zwischen Bäumen und Sträuchern verlaufenden Fluss.
Am Meeresufer stehen Hotelanlagen, die auf Massentourismus hindeuten. Xia macht ein paar abfällige Bemerkungen über deren architektonische Gestaltung.
Wenn man die im Rücken hat, beeinträchtigen sie aber nicht die Sicht auf das Meer, in das ein steinerner Steg mit einem weißen Kirchlein am Ende führt.
Die hohen Bäume von Georgioupolis sind Eukalyptusbäume. Sie tun ihre Wirkung, die sonst meist schädlich ist, weil sie anderen Pflanzen das Wasser entziehen. Hier sind die absichtlich dafür gepflanzt worden. Georgioupolis war ein Sumpfgebiet mit hohem Aufkommen von Malaria. Man pflanzte die Eukalyptusbäume, und die taten ihren Dienst.
Georgioupolis ist nach dem britischen Hochkommissar benannt und hat seinen Namen merkwürdigerweise behalten. Es hieß ursprünglich Almiropolis, nach dem Fluss, dem Almiros, und der heißt der ‚Salzige‘.
Auf der Suche nach einem im Reiseführer empfohlenen Café landen wir auf dem zentralen Platz des Ortes, und der ist nur zum Weglaufen. Das tun wir auch und landen irgendwo in einem Café in der Nähe des Flusses. Auf einer Tafel vor dem Café wird „Kaffee mit einem Stück Kuchen“ angeboten. Es wird tatsächlich von einer Deutschen betrieben, einer Norddeutschen, die schon seit undenklichen Zeiten hier lebt und sich endlich ihren Traum verwirklicht hat, ihr eigenes Café. Das finden wir beide gut. Eigentlich ist das Café für Griechenland ein bisschen zu fein, zu etepetete, und die Besitzerin wirkt auch etwas gouvernantenhaft. Aber so was verkauft sich hier bei den vielen Touristen bestimmt gut. Wie gut sie Griechisch spricht, ist schwer zu sagen, aber auf jeden verrät ihr Akzent sie sofort als Deutsche.
Dann erreichen wir unser Ziel, Kalives, etwas weiter westlich gelegen. Die Pension ist nicht so leicht zu finden, es gibt keine Adresse, und die ersten Nachfragen im Ort ergeben nichts. Wir fahren einfach weiter ortsauswärts, und plötzlich erscheint auf der rechten Seite Maria Rooms. Aber keine Maria. Mehrere Räume stehen offen und sind offensichtlich für ankommende Gäste reserviert, nur ist niemand zu sehen. Ein Nachbar hilft. Er regelt es einfach per Lautstärke: Mariiiiia! Und schon erscheint sie, eine etwas rundliche Frau mit einem offenen, freundlichen Lächeln. Sie lädt uns sofort in ihre Wohnung ein. Dort bekomme ich Kaffee, während Xia sich mit Saft zufrieden geben muss, weil ich es nicht richtig verstanden habe. Maria spricht sehr wenig Englisch, bemüht sich aber und kommt mit ein paar Worten ganz gut zurecht. Sie spricht von einem Ehepaar aus München, das lange bei ihr Gast war, Jetzt sind die beiden zu alt zum Reisen, aber sie schreiben immer noch. Die konnten gut Griechisch, sagt sie, beide.
Wie immer, wird stolz von Kindern und Enkelkindern berichtet und davon, wann das nächste kommt: im August.
Auch nach dem Alter fragt sie, und es stellt sich heraus, dass sie viel jünger ist, als sie aussieht, und dass Xia nach ihrer Schätzung fünfzehn Jahre abziehen kann von ihrem Alter. Bei mir liegt sie mit der Schätzung dagegen richtig. Die Welt ist eben ungerecht.
Das Haus hat einen privaten Strand, das macht sicher seine Beliebtheit aus. Am Ende eines gepflegten Rasens – eine Seltenheit in Griechenland – führen ein paar Treppenstufen direkt zum Strand hinunter. Von dem Wohnzimmer sieht man gleich darauf hinab. Man sieht allerdings nur bedingt, denn die Fensterscheiben könnten mal wieder geputzt werden, wie mir auf Deutsch zugeraunt wird. Als ob sie es ahne, sagt Maria, man habe es hier gar nicht leicht: die Feuchtigkeit, das Salz. Sie entzaubert das, was für den Besucher ein kleines Paradies ist, mit ein paar Worten. Eine Erfahrung, die mir in Erinnerung bleibt. Sie weist auf die Fenster und sagt: Die sind geputzt. Der Dreck steckt mitten drin, zwischen den beiden Scheiben. Die braucht man wegen der Feuchtigkeit.
Sie zeigt uns unsere Zimmer und sagt dann, sie komme gleich noch mal mit der Rechnung. Das finde ich etwas verfrüht, aber ist ja egal. Dann bringt sie aber nicht die Rechnung, sondern das Benutzerwort für das Internet. Sie hat nicht logariasmo gesagt, sondern login!
Am Abend bleibe ich hartnäckig und bestehe auf dem Koumandros, dem im Reiseführer empfohlenen Lokal, am anderen Ortsende, obwohl da kein Mensch ist. Es gibt ganz einfache Küche, mit verschiedenen kleinen Fleischgerichten, darunter Speck und eine Wurst. Schmeckt aber ganz ordentlich, und mich schreckt auch der kräftige, hauseigene, sehr kalt servierte Rotwein nicht ab. Und die schmale Rechnung trägt auch zur Zustimmung bei. Überhaupt ist das Essen am Abend einer Fahrt nach Ankunft in einem neuen Ort fast immer gut.
2. April (Donnerstag)
Fahrt nach Chania. Wir finden einen Parkplatz im Parkhaus eines Supermarkts. Von dort geht es gleich in die Innenstadt.
Im alten Hammam, mit flachen, kleinen Kuppeln auf dem Dach, ist eine moderne Boutique. Frauenklammotten. Nichts wie rein. Wir werden von einer jungen Frau bedient, die sehr viel Geduld hat und guten Geschmack und mit einer Art Stola geradezu Zauberei betreibt. Die Stola verwandelt sich ständig, je nachdem, wie sie gefaltet und wo sie angelegt wird. Sagenhaft. Außerdem fällt für mich ein griechisches Wort ab: μετάξι – Seide. Ja, natürlich! Sie fragt, woher wir kommen, ich frage zurück, woher sie kommt, und zum ersten Mal verstehe ich sie nicht. Wo ist denn dieser Ort. Dann kapiere ich: Russland. Sie ist keine Griechin. Sie kommt aus einem Ort etwas dreihundert Kilometer von Moskau. Spricht sehr gut Griechisch, so gut, dass ich nicht merke, dass es nicht ihre Muttersprache ist. Dann fällt mir ein, dass sie bei einem Stoff zurückgefragt hat, bei der Chefin. Da wusste sie offensichtlich das Wort nicht. Wir finden auch beide, dass man sieht, dass sie keine Griechin ist, wenn man es einmal weiß. Die Gesichtszüge haben irgendetwas Osteuropäisches. Schwer zu sagen, was.
Nach erfolgreichem Einkauf geht es durch die Gässchen zum Handdenkmal und dann am Hafen entlang zurück. Der Blick auf die Häuser der Meeresfront, die Lagerhallen, die Moschee, den Leuchtturm und das Meer verfehlt seine Wirkung nicht, und bei dem wunderbaren Wetter schon gar nicht. Aber Xia macht eine nachdenkliche Einschränkung: Das ist alles italienisch. Gefällt uns das, was wir kennen?
Am Ende des Hafens dann die Enttäuschung: Das minoische Schiff ist immer noch nicht zu sehen, die Lagerhalle ist immer noch geschlossen, und natürlich gibt es weiterhin keine Information über Öffnungszeiten.
Dann sehen wir uns die Markthalle an. Sie findet Beifall wegen ihrer Architektur, aber weniger wegen ihrer Atmosphäre. An einer Informationstafel draußen erfährt man, welch großer Eingriff in die Stadtstruktur der Bau der Markthalle war. Vor allem bedeutete sie den Abbruch des kompletten parallel zum Meer verlaufenden Teils der Stadtmauer. Es gab aber auch sehr gute Gründe für ihre Errichtung. Es war nicht nur praktisch, alles unter einem Dach zu kaufen, sondern auch aus hygienischen Gründen ratsam. Vorher musste man den frischen Fisch und die Meeresfrüchte oft lange durch die Straßen und nach Hause schaffen.
Wir trinken einen Kaffee an dem Platz mit der Kirche mit Turm und Minarett, und da gibt es eine Erinnerung an die Kindheit. Der „Mosaik“, den wir dazu bestellen, entpuppt sich als Kalter Hund.
Wir gehen ins Kastelli-Viertel und sehen dort die Spolien in der Stadtmauer. Die kenne ich schon, aber was ich immer übersehen habe, ist eine Pyramide aus Raki-Flaschen vor einem Lokal. Originell, und schön anzusehen.
Gegenüber eins der typischen Messergeschäfte, mit Werkstatt gleich nebenan. Der Messerschmied lädt uns in die Werkstatt ein und zeigt Materialien und Geräte. Darauf entspinnt sich ein Gespräch zwischen Experten, in dem es um zusammenklappbare Klingen, französische Patente und gebogene Griffe geht. Ich kann nur andächtig zuhören.
Der Mann spricht auch ein paar Brocken Deutsch. Ludwigshafen, BASF. Da hat der Schwiegervater lange Jahre gearbeitet, und seine Frau ist dort geboren. Dann sind sie nach Griechenland zurückgekehrt.
Wir werden dann elegant in das Geschäft geleitet und verlassen es am Ende mit einem Messer als Mitbringsel.
Dann folgt eine fast unendliche Suche nach einer unterirdischen Kirche. Immer wieder werden wir hin und zurück geschickt, aber die meisten Leute sind freundlich. Am Ende entdecken wir sie, als uns eine Frau bis zur Schwelle begleitet. Wir sind vermutlich schon ein paarmal da vorbeigelaufen. Die Kirche ist weder unterirdisch – nur ein ganz kleines Stück unter Bodenniveau – noch sonderlich sehenswert. Sie ist winzig klein, einschiffig, eher eine Kapelle. Aber eine Frau kommt rein und erklärt die Ikonen und deren Besonderheit. Auch sie spricht Deutsch, ganz ordentlich sogar. Die Begegnung mit ihr und ihre Begeisterung für die Kirchenpatronin, Irini, und ihr männliches Pendant, einen anderen Märtyrer, entschädigen für die entgangene unterirdische Kirche. Am meisten schwärmt die Frau vom Patronatsfest. Das klingt wie ein weltbewegendes Fest.
Bei der Wanderung durch die Gassen werde ich auf einen ganz kuriosen Baum aufmerksam gemacht, an dem ich vorbeigelaufen wäre. Er hat Zitronen und Apfelsinen. Wenn man das auf einem Bild sehen würde, würde man sagen: manipuliert. Aber damit nicht genug: Außerdem wächst an demselben Baum auch noch Jasmin. Und der duftet.
Im selben Viertel gibt es auch noch ein schlankes, sehr schön gestaltetes Minarett mit einem spitzen Helm zu entdecken. Es wächst einfach zwischen den Häusern der engen Straße in die Höhe.
Am Ende leisten wir uns in einer Konditorei ein verbotenes Stück mit Schokolade überzogenes rundes Tortenstück. Das wird auf dem Platz vor der Kathedrale verdrückt. Das Mädchen in der Konditorei erklärt erst auf Griechisch, wechselt dann auf Deutsch, als sie uns hört. Erst, als wir draußen sitzen und uns der Kalorienbombe annehmen, kommen uns Zweifel: doch keine deutsche Muttersprachlerin. Wenn sie es nicht ist, ist ihr Deutsch sagenhaft gut.
In der Pension liegt am Abend eine riesige Tüte Apfelsinen auf dem Tisch. Von Maria. Sie werden in den nächsten Tagen als Wegzehrung und in Form von Orangensaft zum Einsatz kommen sowie später, zusammen mit der Bergamotte, ihren Eingang in eine selbst kreierte Soße finden.
Zum Essen gibt es Nudeln und improvisierten Salat. Die Ingredienzen stammen aus dem Supermarkt gleich auf der anderen Straßenseite. Es gibt eine unterschiedliche Interpretation des Verhaltens des Mädchens an der Kasse, das mich keines Blickes würdigt und wortlos das Wechselgeld in die Schale legt. Ich finde das unmöglich, Xia ist da großzügiger.
3. April (Freitag)
Die Fahrt geht in den Wilden Westen. Ich bestehe auf Falassarna, im äußersten Westen, fast ganz im Norden. Die Entscheidung schließt gleich eine ganze Reihe von Alternativen aus. Der Wilde Westen ist groß.
Auf der ersten Teilstrecke ist von wild allerdings nichts zu sehen. Es geht über die New Road auf ebener Strecke bis nach Kissamos, der größten Stadt der Gegend. Dann wird es interessanter. Wir biegen auf eine kleine Straße ab und bekommen aufregende Landschaft zu sehen. Ich frage mich, wo der Unterschied zum Wilden Osten liegt, aber komme zu keinem Ergebnis. Etwas ist anders, aber ich weiß nicht, was.
Falassarna mit seiner Grabungsstätte ist schon früh sehr gut ausgeschildert. Dann wird die Ausschilderung, je näher man kommt, immer schlechter und verschwindet am Ende ganz. Gibt es etwas, was Griechenland besser zusammenfasst?
Eine ältere, elegant gekleidete Dame, die wir nach dem Weg fragen, antwortet höflich, ist dann aber fast verstimmt, als ich frage, ob man mit dem Auto oder zu Fuß dahin käme. Mit dem Auto natürlich! Die Straßen sind gut! Die Frage ist ein Affront. Dabei wären wir ganz gerne gelaufen, wenn es nicht zu weit ist.
Wie in Ierapetra, wird der schöne Blick aus der Ferne auf das Meer hinunter nicht gerade verschönert durch die vielen Gewächshäuser. Je näher wir kommen, umso hässlicher wird die Umgebung. Und jetzt beginnt die große Suche. Wir folgen einem kleinen Pfad, von dem man ständig den Eindruck hat, dass er bald zu Ende sein muss, aber er geht immer weiter. Und am Ende kommen wir da aus, wo wir vor einer halben Stunde losgefahren sind. Dann geht es die Straße rauf und dann die Straße runter, kein Ergebnis. Schließlich fahren wir wieder zum Meer runter und in die andere Richtung. Hier sieht es besser aus. Wir lassen das Auto an einem Platz stehen und fragen in einem Café nach. Ja, ist richtig, etwa einen Kilometer weiter, immer den Feldweg entlang. Das machen wir zu Fuß.
Was jetzt folgt, ist eine Suchaktion, die nur von sehr bescheidenem Erfolg bekrönt ist, aber wir nehmen das klaglos hin und finden uns damit ab, dass die Suchaktion trotzdem den Aufwand wert war.
Den ersten Treffer landen wir, nachdem wir schon mehrmals Richtung Meer abgebogen und über Felsen gekraxelt sind, als wir uns endlich entschließen, den Feldweg weiter zu gehen. Und da steht er, mitten in der Landschaft: der Thron. Ein merkwürdiges Gebilde, aus dem Stein am Ort gehauener, also mit der Erde verwachsener Thron, den man wegen seiner Form und mangels einer geeigneten Bezeichnung so bezeichnet. Ob er wirklich ein Thron war, ist nicht klar. Auch von Rednertribüne oder Teil eines Heiligtums ist die Rede. Hinten hat der Thron eine schmale Sitzfläche. Daher vermutlich die Annahme, dass es ein Thron sein könnte. Aber die ist nicht gerade bequem und nicht groß genug. Was immer das Ding auch sein mag, es ist ein außergewöhnlicher Anblick und ein außergewöhnliches Ding.
Immer noch am Wegesrand entdecken wir dann eine andere Steinstruktur. Ich bezweifele, dass es ein Fischbecken ist, weiß aber keine Alternative. Es ist ein Sarkophag.
Dann kommen wir tatsächlich zum Ausgrabungsgelände. Der Aufpasser macht gerade Mittagspause, und wir kommen umsonst rein. Man sieht Reste von Wachtürmen, eines Baderaums, einer Zisterne, eines Brunnens.
Falassarna war in der Antike der Hafen einer landeinwärts gelegenen Stadt. Aus irgendeinem Grund nehme ich die ganze Zeit an, dass das römisch ist, aber das scheint nicht zu stimmen. Es ist aber nirgendwo Genaues zu erfahren.
Die Anlage versteht man aber ungefähr. Man hat hier wohl eine künstliche Lagune geschaffen, die mit dem Meer verbunden war. Der Hafen war an der Lagune. Und damit im Zusammenhang steht das interessanteste Detail. Wir sehen eine Art „Straße“, an deren Seite merkwürdige Haken in den Stein gehauen sind. Was ist das? Dann lesen wir die Erklärung: Die „Straße“ ist eine Art Kanal, eine ihrer Seiten ist das Kai, und an den Haken wurden die Schiffe festgemacht!
Dann folgt die immer erneute, am Ende vergebliche Suche nach dem, was Falassarna interessant macht: der Steinbruch und das Fischbecken. Das Fischbecken, aus dem Stein gehauen, muss gleich unter dem steilen Ufer liegen, aber wir finden es nicht. Im Reiseführer ist ein dramatisches Photo zu sehen, in dem jemand da hinuntergeklettert ist. Es muss wohl am Ende des Ausgrabungsfeldes liegen. Da versperrt ein Zaun den Weg. Für die Steinbrüche kommen zwar ein paar Felsbrocken in Frage, aber sie entsprechen auch nicht ganz der im Reiseführer geschilderten, interessanten Form. Die größte Enttäuschung für mich ist es aber, dass man die Felsen nicht sieht, an denen mal ablesen kann, dass der Hafen durch ein Erdbeben sechs Meter angehoben wurde. Er liegt also heute auf dem Trockenen. Das stimmt zwar, aber wir können uns die alte Situation nicht ausmalen. Trotzdem verlassen wir den Ort guter Dinge. Hat wohl nicht sein sollen.
Xia will zu einem Kloster, Moni Chrissokalitissa, auch an der Westküste gelegen, aber ein ganzes Stück weiter südlich. Aber man muss erst ins Inland, an der Küste gibt es keine Straße. Es geht ständig bergauf, und ziemlich genau auf der Bergspitze, in einem Ort mit dem merkwürdigen Namen Amigdalokefali, ‚Mandelkopf‘, finden wir ein Lokal. Da kann man sich draußen hinsetzen. Wir bestellen Kaffee und Gebäck und Jogurt mit Honig. Schmeckt alles ganz vorzüglich, und die Wirtin ist freundlich. In ihr finde ich auch eine Adressatin für Xias Frage, was es mit den Eisen auf sich hat, die überall aus den Dächern herausgucken und in die Höhe weisen, auch hier. Es folgt eine ziemlich lange Erklärung, in der das Wort Staat mehrmals vorkommt und irgendetwas von Steuern oder Zuschüssen. Jedenfalls sind die Eisen für den Aufbau, fürs nächste Geschoss, das aber dann nicht zur Ausführung kam, weil es an Geld fehlte.
Von hier oben sieht man, wie eine Straße sich in langen Serpentinen zur Küste hinunter windet. Sieht richtig beeindruckend aus. Der Karte zufolge eine winzige Nebenstraße, aber die Wirtin versichert uns, dass wir sie problemlos nehmen können. Sie ist wohl vor kurzem ausgebaut worden.
Fahrerwechsel für die Serpentinen. Der zahlt sich aus, denn ich kann am Abend beim Bier ungehindert zuschlagen.
Am Kloster nimmt uns ein verwirrter junger Mann in Empfang, der es sich zur Aufgabe macht, uns in den „Parkplatz“ einzuweisen. Er stößt nur ein paar unverständliche Worte aus, aber die Absicht ist klar: Parkgebühren bezahlen. Tun wir ohne Widerworte.
Das Kloster ist wie eine Replik von Kapsa, und natürlich genauso wie Kapsa geschlossen. Es sieht nicht wie ein Kloster aus, aber auch nicht wie eine Festung, eher wie ein verbautes Haus mit einem burgähnlichen Teil. Auch hier führt eine Treppe den Berg hoch, und das Kloster ist wie in den Felsen gebaut. Wie an so vielen Orten, gibt es auch hier die typische Legende mit einer wundertätigen Ikone, und wie an so vielen Orten, sind auch hier die Türken die Schurken.
Die lange Treppe hat am Ende eine goldene Stufe. Man kann sie nur sehen, wenn man von Sünden frei ist. Wir steigen hinauf und ich zeige sie ihr.
Die Fahrt hat sich aber nicht nur deshalb gelohnt. Als wir einmal um das Kloster herumgehen, sieht man in der Ferne die Lefka Ori, die Weißen Berge. Sie sind tatsächlich weiß. Aber es ist kein Schnee. Es ist Kalk. Und passenderweise liegt gleich vor uns ein Haufen Kalkstein, wohl für die Instandsetzung des Klosters gedacht. Auf all das muss ich aber erst dezent aufmerksam gemacht werden. Hätte ich alleine alles übersehen.
Nicht weit von hier gibt es das, was ein Traumstrand genannt wird, in Elafonisi, aber wir verzichten darauf und fahren auf einem anderen Weg Richtung Norden zurück. Dabei gelangen wir auf eine Scenic Road.
Nicht weit von hier liegt der kretische Südseestrand, Elafonisi, aber wir verzichten darauf und fahren auf einem anderen Weg Richtung Norden zurück. Dabei gelangen wir auf einen Streckenabschnitt, der von der Schönheit der Landschaft seinesgleichen sucht. Erst im Nachhinein wird mir klar, was hier anders ist: Es ist eng. Die typisch kretische weite, offene Landschaft hat hier ihren Gegenpol: Die Felswände stehen nahe beieinander und ragen weit nach oben hinauf. Es sieht wie eine Schlucht aus. Es ist eine Schlucht! Die Topolia-Schlucht. An einer Haltebucht bleiben wir stehen und versuchen vergeblich, den atemberaubenden Blick auf das Photo zu bannen. Irgendwie erinnert mich die Szenerie an Italien. In dem Moment bleibt ein anderes Autos hier stehen, und zwei Italiener steigen aus! Älteres Semester, aber es ist schwer zu entscheiden, ob es sich um Mann und Frau oder Tochter und Vater handelt. Sie fährt jedenfalls, und er kommt nur mit Mühe aus dem Auto. Sie kommen aus Rom und haben auch Deutschland bereist – die Weltkulturstätten, darunter Aachen und Trier. Sehr schön. Aber bei Trier können sie sich den Hinweis nicht verkneifen: römisch. Ja, so wie Mailand langobardisch oder Ravenna gotisch ist.Sobald man die Schlucht hinter sich gelassen hat, wird die Landschaft wieder normal. Es geht Richtung Norden. Was soll man mit dem Rest des Tages anfangen? Eine „richtige“ Besichtigung ist nicht mehr drin. Dann kommt die Lösung: Chania. Da hat es uns gut gefallen. Ich stimme sofort zu.
Auf dem Weg dahin haben wir eine Begegnung. Wir stehen an einem Ende einer Brücke, mit offenen Fenstern, über eine Karte gebeugt, um zu sehen, in welche Richtung wir müssen. Am anderen Ende der Brücke steht ein Pope. Er steht vor einem Baum und fuchtelt mit irgendetwas herum. Dann kommt er auf uns zu, bleibt am offenen Autofenster stehen, drückt uns etwas in die Hand und verschwindet, wortlos, aber mit einem Lachen. Wir müssen uns erst einmal fassen. In der Hand halten wir ein Kreuz, aus Palmenblättern geflochten. Wir sehen uns fragend an. Und entscheiden, das Kreuz im Auto aufzuhängen. Leichter gesagt als getan, aber Xia findet eine Lösung. Von jetzt an baumelt das Kreuz vor der Windschutzscheibe. Wir sind beide beeindruckt. Können uns aber nicht darauf einigen, mit was für einem Lachen der Pope uns das Kreuz gegeben hat: freundliches Lachen oder nervöses Lachen? Nervöses natürlich.
Die Entscheidung, nach Chania war genau die richtige. Das Meer und die Hafenfront schimmern im goldenen Abendsonnenschein. Das fangen auch die Photos wunderbar ein. Zum Glück kommt dann noch ein frisch gezapftes Bier in einer Taverne am Hafen hinzu.
Am Abend gibt es dann aufgewärmte Nudeln und Dosenbier aus dem Supermarkt. Das Leben ist nicht nur eitel Sonnenschein.
4. April (Samstag)
Zum Abschluss geht es nach Rethymnon. Xia will unbedingt auf den Wochenmarkt, aber ich finde die Vorstellung, den jetzt erst noch zu suchen, nicht so prickelnd. Ist der nicht donnerstags? Ja, aber samstags gibt es auch einen.
Wir parken irgendwo am Rande der Innenstadt in einem Wohnviertel, vor einem Hotel. Wir steigen aus, und sie zeigt nach unten: Da. Tatsächlich, da ist der Markt. In ein paar Minuten sind wir da. Gleich am ersten Stand gibt es die Frucht mit dem merkwürdigen Namen Περγαμόντο, was sich wie Pergament oder Pergamon anhört. Erst später finde ich heraus, dass das die Bergamotte ist. Ich habe sie vor gar nicht allzu langer Zeit in Heraklion als ganz süße Nachspeise bekommen. Ich frage den Verkäufer, ob wir eine einzige bekommen könnten, drücke mich dabei aber ziemlich unbeholfen aus, so dass er meint, ich wollte sie geschenkt bekommen. Ja, klar, sagt er, und packt gleich mehrere in eine Tüte und tut auch noch eine Apfelsine dazu. Kannst Du mitnehmen! Die Bergamotte schmeckt unsäglich bitter, aber findige kulinarische Geister verarbeiten sie zu Soßen oder machen aus ihnen ein süßes Dessert.
Wir machen an vielen Ständen Halt, und fast überall entsteht eine Plauderei. Eine alte Frau erklärt uns die verschiedenen Arten von Wildgemüse, die sie verkauft, die berühmte χόρτα, der ich jetzt schon so oft begegnet bin. Eine junge Frau erklärt die verschiedenen Käsesorten und lässt uns probieren. Der Vater ist der Besitzer der Schafe, der Bruder kümmert sich um die Käseherstellung, sie um den Verkauf. Eine andere junge Frau erzählt, sie sei in Ludwigshafen geboren, habe aber seit ihrer Rückkehr hierher nicht mehr viel Deutsch gesprochen. Sie kommt aber noch gut zurecht.
Nicht nur der Markt ist mir neu, ich erlebe eine ganz andere Stadt, größer, moderner, lauter. Nur den Venezianischen Hafen und den Rimondi-Brunnen erkenne ich wieder. Das Tor, durch das wir in die Innenstadt kommen, führt in eine lebendige, schöne Fußgängerstraße, in der wir alle paar Meter stehen bleiben und uns gegenseitig Kleinigkeiten zeigen. Und bekommen bei einem Schreibwarenhändler Umschläge. Wir brauchen nur zwei, und haben die Karten nicht dabei, die da rein sollen, also dauert es, bis die Verhandlungen abgeschlossen sind, und als wir dann am Ende bezahlen wollen, winkt er ab: Geschenkt!
Dann stehen wir vor der Loggia. Jetzt wird mir klar, warum ich sie vergeblich gesucht habe: Sie wurde restauriert und war hinter Planen verborgen. Ich erkenne aber den Platz wieder, wo ich die zwei Mädchen nach der Loggia gefragt habe. Der ist gleich gegenüber, keine zehn Meter entfernt! Ein Wasserspeier, den Xia sichtet, muss wohl wirklich etwas Besonderes sein. Er liegt als Replik auch in dem noch gar nicht eröffneten Museumsshop der Loggia.
Wir gehen zur Festung rauf. Draußen erkundigen zwei junge Amerikaner das Gelände, mit Plastikbechern von Starbucks in der Hand.
Wir gehen in das Archäologische Museum. Dort diskutieren wir mit einer schwäbischen Hausfrau die Funktion einer minoischen Keramik, die wie ein Gefährt aussieht, aber wohl eher Teil eines Heiligtums ist. Die schwäbische Hausfrau hat, ebenso wie Xia, eine „Apfelreibe“ und eine „Zitronenpresse“ unter den Exponaten ausgemacht.
Der Weg hinauf zur Festung hat sich für mich auf jeden Fall gelohnt. Ich bekomme ein T-Shirt mit entschieden unsentimentalem Kreta-Motiv.
Wir landen dann, gleich auf dem Abhang, der zur Festung führt, in einem Café der Alterne mit einschlägigen Zitaten auf den Klotüren und lockerem Gehabe. Es ist richtig schön, sonnig und warm, und man kann draußen auf der schmalen Straße sitzen. Als mehr Gäste kommen als Platz haben, werden auf der anderen Straßenseite weitere Stühle aufgestellt.
Bei den weiteren Streifzügen durch die Stadt gibt es ein paar schöne Motive zum Photographieren: eine riesige Skulptur in Form einer griechischen Lyra, die noch nicht beseitigte Weihnachtsdekoration über einer Straße, deren Schatten auf die Hausfassade geworfen wird, ein riesiges Komboloi, das von einem Haus herunterbaumelt, eine Gärtnerei mit der Aufschrift Hella Sod, Vordächer über Fenstern, auf der Fassade der Häuser aufliegende Kamine mit Fenstern, und immer wieder Ungetüme von Strommasten.
Wir kommen auch an zwei Moscheen vorbei, die eine wohl im Dornröschenzustand, mit weißen Säulenteilen auf dem Boden des Vorgartens verstreut. Die andere ist das Heim des Paläontologischen Museums.
Als wir uns am Abend in Kalives auf den Weg ins Dorf machen wollen, fällt unser Blick auf ein Lokal, das zwei Häuser neben der Pension liegt. Der Einfachheit halber nehmen wir das. Wir bleiben auch bei unserer Entscheidung, als wir hören, dass es kein Zicklein gibt. Nur sonntags und nur auf Vorbestellung. Es gibt gutes Essen, begleitet von intensiver Werbung für den eigenen Betrieb, ein Familienbetrieb, der sich die Wörter authentisch, kretisch, organisch, biologisch auf die Fahne geschrieben hat.
Am nächsten Tag geht es dann noch gemeinsam nach Heraklion, zum Flughafen. Dort starten innerhalb weniger Minuten die Flugzeuge nach Düsseldorf und nach Santorin.
19. April (Sonntag)
Nach zweiwöchiger Abwesenheit wieder „zu Hause“. Am Vormittag klopft es an der Tür. Es ist eine Freundin von Norbert. Sie fliegt heute wieder zurück und bringt mir Reste, darunter Schwarzbrot und Bier. Sie bittet mich, sie nach Ierapetra zu bringen.
Unterwegs erzählt sie mir, dass sie in einer Reiseagentur arbeite und günstige Sonderangebote bekomme, aber immer nur kurzfristig. Dieser Flug mit Luxair hat sie nur 70 € gekostet. Der Normalpreis ist 500 €.
Sie war eine Woche hier. Wie denn das Wetter gewesen ist, will ich wissen. Na ja, nicht so gut. Sonnig, aber nicht warm, und sehr, sehr windig.
Auch sie spricht von dem Erdbeben. Es sei sehr kurz gewesen, aber heftig. Sie war im Mirtos, das voll besetzt war. Alle seien auf der Stelle auf die Straße gelaufen, es habe eine richtige Panik gegeben.
20. April (Montag)
Zum ersten Mal seit Wochen wieder etwas Lektüre. Sonst immer noch ein Tag des Ankommens, mit Mails und Waschen und Aufräumen. Und Zeit, über ein Grass-Zitat nachzudenken, das ich in Santorin zugeschickt bekam: „Schamlos das Tier von der Leine lassen. Dieser und jener werden. Tote erwecken. Zielstrebig in die Irre gehen. Unter gestrichelten Schatten Zuflucht suchen. Jetzt sagen.“
21. April (Dienstag)
An der Strandpromenade haben viele Läden und Lokale inzwischen geöffnet. Auslagen, Schilder mit Angeboten, Tischdecken. Aber es wird auch noch eingeräumt und gestrichen. Vor einem Lokal stehen unter Sonnenschirmen mit Binsendächern auch Liegestühle herum, die aber noch keiner nutzt. Weiter hinten am Strand liegen aber tatsächlich ein paar Touristen im Sand, und andere stecken die Zehen ins Wasser. Es ist so, wie Norberts Freundin es beschrieben hat: sonnig, aber nicht sonderlich warm und sehr windig. Hier ist es 18°, in der Heimat 21° warm.
Im Sorbas kommt die Rede auf die ausgewanderten Griechen, die, die nach dem Bürgerkrieg in die sozialistischen Ländern geflohen sind. Von denen war auch im Unterricht in Santorin die Rede. Im Roman macht sich Sorbas daran, sie in die Heimat, in das gelobte Land, zurückzuführen, weil sie im Ausland schlecht behandelt werden. Was Sorbas aber noch nicht wissen konnte: Auch in der Heimat würden sie nach ihrer Rückkehr nicht sonderlich gut behandelt werden.
22. April (Mittwoch)
Heute ist das Meer blau, einfach nur blau. Ohne Schattierungen. Das kommt selten vor. Es ist mäßig warm und wieder ziemlich windig. Ein bisschen auf dem Balkon gelesen, aber es wird bald ungemütlich.
Schöner Vergleich in dem Roman des Italienischkurses. Vergleich zwischen Erzählerin und einem Kind, das in ihrem Umkreis auftaucht. Das Kind läuft, so als laufe es hinter etwas her, was es fangen möchte, sie läuft, so als laufe sie vor etwas weg, das ihr angst macht.
Sorbas ist ein tief unglücklicher Mensch. Das sagt er von sich selbst. Das ist für die herkömmliche Rezeption des Sorbas als fröhlicher, lebensbejahender, leichtlebiger Mann ein Schlag ins Gesicht. Und er sagt, für ihn sei es dasselbe, wenn die Nachricht lautet, die Griechen hätten Konstantinopel erobert oder die Türken hätten Athen erobert. Wie viele Griechen, die den Roman als einen der Höhepunkte der modernen griechischen Literatur feiern, wissen, dass das da drin steht?
23. April (Donnerstag)
Und der Gewinner ist: Thessaloniki. Nicht Kreta, nicht Santorin, nicht Athen. Die Vermieter in Thessaloniki waren freundlicher und schneller und vermieten Wohnungen zu akzeptablen Preisen. Nach kleiner Gewöhnungszeit jetzt Vorfreude.
Typisch: Ich schreibe auf Griechisch, Vermieterin antwortet auf Griechisch, ich antworte auf Griechisch, Vermieterin antwortet auf Englisch. Das ist wie ein Watschen.
Bei den Anfragen gelernt, wie man Thessaloniki schreibt, erst mit Jota, dann mit Eta. Einleuchtend: Nike.
Die Erinnerungen an Thessaloniki – ganz kurzer Besuch auf der Durchfahrt – sind sehr unbestimmt und auch gar nicht so positiv. Die Wirklichkeit konnte der Schwärmerei der Griechen nicht standhalten. Aber es gibt viel zu sehen, es ist neu, und etwas Großstadtluft tut vielleicht gut. Meinen Anorak habe ich ja noch dabei. Andererseits: Gestern waren es dort 20°, hier 17°, dort war es wolkenlos, hier bewölkt.
Von der damaligen Reise vor allem die Meteora-Klöster in Erinnerung und die Grabstätte Philipps II. Beides beeindruckend.
Ich fahre nach Ierapetra zum Einkaufen. Alle Geschäfte sind geschlossen. Ich frage einen Passanten im Zentrum: „Agios Giorgos. Nur in Ierapetra. In Agios Nikolaos Nikolaus.“ Leuchtet ein. Nur heißt Ierapetra eben nicht Agios Giorgos.
In einem kleinen Laden bekomme ich wenigstens Milch, allerdings zum Rekordpreis von zwei Euro für eine Tüte!
Bei der Fahrt durch die engen Straßen Richtung Innenstadt habe ich vor mir einen Motorradfahrer auf einem uralten Motorrad mit selbstgebasteltem Nummernschild und einem Helm, der wie ein Stahlhelm aus dem Krieg aussieht. Er weicht keinen Meter zur Seite und lässt mir genug Zeit, ihn genau zu beobachten.
Ich setze mich auf eine Bank an dem Platz mit der Moschee. Wenn der Wind sich für einen Moment legt und die Sonne sich ausnahmsweise nicht hinter den wenigen Wolken versteckt, ist es richtig warm, sommerlich. Aber beides ist selten der Fall.
Ich lese im Sorbas, wie Sorbas berichtet, dass er nach Heraklion fährt, dort aber alle Geschäfte geschlossen sind! Verrückt. Er sagt, er kenne niemanden und niemand kenne ihn in Heraklion. Er sei frei.
Auf dem Rückweg sehe ich dann, dass die Geschäfte in den Dörfern tatsächlich geöffnet sind. Es ist wirklich, wie der Passant sagte, nur in Ierapetra.
Am Wegesrand ist fast die ganze gelbe Blumenpracht verschwunden. Stattdessen gibt es jetzt viele blauviolette Büsche. Sieht aus wie in der Heide.
24. April (Freitag)
Nur ein paar Schleierwolken, ansonsten blauer Himmel, Sonnenschein, wenig Wind. Und es ist richtig warm. Kaum zu glauben. Nach dem Laufen kurz die Füße ins Wasser gesteckt. Geht schon. Am Strand sind ein paar Liegestühle besetzt. Und die wachsende Zahl der Touristen kann man an den Mülleimern ablesen. Die quellen über. Dabei habe ich die ganze Zeit gedacht, wie genau die dem Bedarf angepasst sind.
Auf dem Balkon hört man die Stimmen der Kinder vom Schulhof. Wenn sie abzählen, machen sie das mit Buchstaben: Alpha, Beta, Gamma …
Auf Umwegen, durch die Erinnerung an ein Café in Georgiopoulis, kommt mir das Wort ζαχαροπλαστείο in den Sinn, ‚Konditorei‘. Zum ersten Mal fällt mir auf, dass der Bindevokal ein <o> ist, obwohl ζάχαρη, ‚Zucker‘ auf <i> endet. Und dann erinnere ich mich an einer der langwierigen Grammatikübungen in Santorin. Da ging es die Bildung von Komposita, und genau um diesen Vokal. Das Wort ζαχαροπλαστείο kam dabei nicht vor. Dabei ist es besser, weil häufiger, als die meisten der etwas weit hergeholten Wörter der Übung. Ob mir die Sache auch aufgefallen wäre, hätten wir die Übung nicht gemacht? Wenn nicht, spricht das für die Langzeitwirkung von Lehre, selbst der langweiliger Grammatikübungen.
25. April (Samstag)
Auch in Ierapetra haben die Souvenirläden inzwischen geöffnet: Hüte, Badetücher, Sonnenbrillen, T-Shirts mit angeblich originellen Aufdrücken und Ansichtskarten, die einen verzweifeln lassen: kitschig, klischeehaft, überladen oder nichtssagend.
Im Zentrum von Ierapetra sehe ich ein Plakat, auf dem ein Theaterstück angekündigt wird: η ποντικοπαγιδα. Kurzes Rätselraten, was das wohl sein kann. Dann entziffere ich den Namen der Autorin: Αγκάθα Κρίστι – Agatha Christie. Und dann erst verstehe ich den Titel: Die Mausefalle. Und dann erst das Wort: ποντίκι + παγίδα, ‚Maus‘ + ‚Falle‘, könnte logischer gar nicht sein, aber wieder mit dem Bindevokal <o>.
Im Zentrum blühen jetzt auffällige Bäume mit knallroten Blüten. Die sehen aus wie einzelne, lange Haare und fühlen sich ganz weich an. Auch während der Tage mit Xia haben wir sie mehrmals gesehen. Was mag das wohl sein?
Die Post ist samstags geschlossen und auch währende der Woche nur vormittags geöffnet. Und im Kiosk gibt es keine Briefmarken. In Myrtos gibt es Briefmarken am Kiosk, aber da bekommt man nicht immer die richtigen.
Dimitra erzählt, dass ausnahmsweisen die Kindern Ostern mal nicht krank geworden sind. Und dass sie in nächtlicher Arbeit einen Auftrag erledigt hat, den sie bekommen hat: Sie hat für die lokale Tageszeitung eine Vorstellung von Kreta für ausländische Besucher geschrieben. Die wird hier veröffentlicht und dann auch in Athen, bei einer Ausstellung, vermutlich einer Tourismusmesse, ausgestellt. Sie ist froh, den Auftrag bekommen zu haben und sichtlich stolz darauf, nicht einfach, wie ihr nahegelegt wurde, eine Kolportage mit Hilfe Materialien aus dem Internet zu verfertigen, sondern ihren eigenen Text verfasst zu haben. Gut gemacht!
26. April (Sonntag)
„In Oia, Greece, the temperature is generally temperate and mild“. Diesen Satz aus einer Broschüre habe ich damals vorgelesen, als wir uns in Santorin auf dem Parkplatz in Oia getroffen haben, in dicke Anoraks und gesteppte Wintermäntel gehüllt und uns vor Kälte schüttelnd. Später lesen wir in einer anderen Broschüre: „Fira is a small lively town in Santorini, especially during the summer season, which in Greece begins early and ends late“. Haha. Und jetzt entdecke ich auf der CD aus Santorin ein Lied mit dem Titel: Δεν κάνει κρύο στην Ελλάδα. – In Griechenland wird es nie kalt. Die glauben das wirklich! Nicht nur die Touristen, sogar die Griechen selbst glauben es!
Bei der Durchsicht der Notizen aus Santorin wiedergefunden. Der griechische Tausendfüßler, σαρανταποδαρούσα, hat nur vierzig Füße! Das ist näher an der Wirklichkeit dran. Der spanische, cienpiés, hat hundert!
Heute wütet das Meer wieder und zeigt sich in allen Schattierungen: vorne grau, dann grün, dann blau und hinten wieder grau. Komisch.
27. April (Montag)
Interessante Erfahrung bei der Buchung der Fähre: Es wird nach keinem Personalausweis, keinem Führerschein, keinem Kraftfahrzeugschein gefragt, nicht einmal nach den Maßen des Autos, nur nach dem Nummernschild. Im ersten Reisebüro konnte man nicht mit Kreditkarte bezahlen: zu teuer. Die Banken knüpfen den Geschäften zu viele Gebühren ab. (Vorher beim Kauf eines Mitbringsels eine ähnliche Erfahrung: Die Banken fördern das Kartensystem nicht, sie wollen kleine Geschäfte davon abhalten, die Zahlung per Karte einzuführen). Im zweiten Reisebüro dann die verblüffende Antwort auf die Frage, ob man mit Karte bezahlen könne: Kommt drauf an. Worauf? Auf die Buchung. Fähre nach Piräus. Nein, das lohnt sich nicht für uns. Aber mit Auto? Na gut, kommen sie, sagt er nach kurzem Zögern und eher widerwillig. Danach geht alles ganz schnell.
Wirklichkeit und Abbildung: Erst auf einem Photo habe ich gemerkt, dass der Boden am Strand von Ierapetra Wellen imitiert. Es sieht auf dem Photo geradezu nach Bewegung aus. Man meint auf den ersten Blick, das Meer zu sehen. Erst jetzt sehe ich es auch an Ort und Stelle, aber nicht so deutlich wie auf dem Photo.
Bemerkenswert die Geschwindigkeit, mit der die Tamarisken an der Uferpromenade in Ierapetra wieder grün geworden sind. Vor ein paar Wochen sahen sie noch nackt aus.
Bei Manolis herzliche Begrüßung wie immer. Er sagt, heute beginne der Sommer. Definitiv. Versprochen. Das Geschäft läuft. Es kommen jetzt neben den Einheimischen auch Touristen, fast immer im Zweierpack, am blassen Teint und den kurzen Hosen zu erkennen. Sie bestellen Bier, um elf Uhr vormittags.
Auf dem Rückweg auf der anderen Fahrspur eine Katze, die es sich auf dem Asphalt bequem gemacht hat. Aber es kommen Autos von hinten. Beim Näherkommen sieht man dann, dass sie angefahren worden ist und verzweifelt versucht, sich aufzurappeln. Vergeblich. Sie ist totgeweiht.
In Myrtos sehe ich an der Strandpromenade einen Maler, der die Fassade einer Taverne tüncht. Ob er das jedes Jahr mache, frage ich. Ja, jedes Jahr. Das Salz.
28. April (Dienstag)
Gestern Abend mal wieder im Mirtos gewesen, nach einiger Zeit. Mit eingedeckten Tischen, offenen Türen, Tischen draußen und ohne Aschenbecher sieht die Dorfkneipe jetzt eher wie ein Restaurant für Touristen aus. Es ist nicht so voll wie erwartet, jedenfalls am Anfang nicht. So viele Touristen sind noch nicht da, und die Konkurrenz hat jetzt auch geöffnet.
Am Nebentisch drei Holländer, zwei Emigranten und ein „richtiger“. Der sieht aus wie ein Holländer. Es hat „Holländer“ auf der Stirn stehen. Wie kann das sein, dass man manchmal die Nationalität so einfach zuordnen kann?
Am anderen Nebentisch fünf Finninnen, älteres Semester, die bei einem Schönheitswettbewerb ihren Konkurrentinnen keinen Schrecken einjagen würden. Sie betonen die Tendenz noch durch alberne Hüte und unsägliche Brillen.
Manolis‘ angekündigter Sommer hat genau einen Tag angehalten. Ich werde ihn zur Rede stellen müssen.
29. April (Mittwoch)
Der Tag beginnt mit einem Stromausfall. Nix wie weg. Die letzten Wochen noch ausnutzen, um etwas von Kreta zu sehen. Das Reiseziel, Kloster Arkadi, ist vor allem wegen zuverlässiger Öffnungszeiten – 365 Tage im Jahr! – und den entsprechenden Informationen auf der Website ausgewählt worden.
Auf dem Weg habe ich einen Blick auf die von der Wehrmacht so systematisch zerstörten Häuser von Kato Symi, die von unten noch beeindruckender aussehen als oben. Diesmal sehe ich sie rechtzeitig, um ein Photo zu machen, von hier unten, wie sie am Berghang liegen.
Vor Heraklion kommt ein schneebedeckter Berg in Sicht, mit dem immer wieder auffälligen schwarz-weißen Muster. Den sehe ich dann immer wieder, aus unterschiedlichen Perspektiven.
An einer schönen, kleinen Bucht, die mir durch ihr blaues Wasser bei der Durchfahrt schon mehrmals aufgefallen war, mache ich Halt. Man fährt von der hoch gelegenen Straße in das wie ausgestorben wirkende Dorf hinunter. In einer Taverne, in der gähnende Leere herrscht, bestelle ich einen Kaffee. Ich weiß gar nicht, wo ich bin. Paleochora? Paleokastro? Palekastro? Ein altes Ehepaar, das in der Ecke sitzt, gibt die Antwort: Dies ist Paleokastro, ‚alte Burg‘. Sie erklären mir auch, wo die anderen Orte liegen.
Die Wirtin erklärt mir den Weg hinauf zur Burg, auf der anderen Seite der vielbefahrenen Straße. Würde man alleine nicht finden. Es gibt einen schmalen Trampelpfad, auf dem man sich über Steine hoch über der Bucht nach oben kämpft. Von der Burg ist nicht allzu viel übrig geblieben, aber das liegt und steht einfach so in der Gegend herum, von Gras und Gestrüpp überwachsen: ein Torbogen, eine in den Felsen gehauene Sitzbank, eine windschiefe Mauer, eine versteckte, improvisierte Kapelle, eine Treppe, die ins Nichts führt. Das hat beinahe etwas Geheimnisvolles. Es handelt sich um einen historisch für die Geschichte Kretas durchaus bedeutungsvollen Ort. Hier verhandelte Morosini, der Venezianische Statthalter, die Übergabe des jahrzehntelang umkämpften Heraklion an die Türken. Warum nur noch Ruinen erhalten sind, weiß man nicht so recht. Vielleicht ließen die Türken das Kastell einfach verfallen.
Einen zweiten Stopp lege ich in Fodele ein, dem angeblichen Geburtsort El Grecos. Er liegt ein paar Kilometer abseits der Hauptstraße. Tatsächlich stammte El Greco vermutlich aus Heraklion. Aber das interessiert hier niemanden. Je näher man dem Ort kommt, umso schöner wird die Landschaft. Aus der Distanz sieht man auf die außerhalb des Ortes liegende, kleine Kirche. Schon für diesen Blick lohnt sich der Umweg.
Nach der Fahrt über die einsame Landstraße traut man seine Augen nicht, wenn man in den Ort kommt: Der Parkplatz ist voller Reisebusse. Man muss sich selbst abseits, an dem kleinen Fluss, der mitten durch den Ort fließt, einen Platz suchen. Überall werden Stickarbeiten, Getränke und Andenken angeboten. El Greco ist ein gutes Geschäft.
Von den vielen Besuchern merkt man kaum etwas, auf dem kleinen Weg, auf der kleinen Straße, die aus dem Ort heraus zu der Kirche führt, sowieso nicht. Ich treffe nur auf eine kleine Gruppe französischer Touristen – nicht spanischer, wie ich erwartet hatte. Die laufen mit nacktem Oberkörper durch die Gegend, jedenfalls die Männer. So warm ist es nun auch wieder nicht.
Die Kirche ist leider verschlossen, dabei soll sie auch von innen sehr sehenswert sein. Es lohnt sich aber auch so. Es ist eine kleine, fast symmetrische Kreuzkuppelkirche, steinsichtig, mit einem schönen Tambour und schönem, einfachem Schmuck, mit Ziegelbändern und Blendarkaden. Es gibt im Osten und im Norden noch gut erkennbare Reste einer größeren Vorgängerkirche.
Etwas weiter liegt das zum Geburtshaus El Grecos erklärte Gebäude, schön etwas erhöht zwischen Pinien gelegen. Zu sehen gibt es eigentlich nichts, außer ein paar von hinten angeleuchteten Reproduktionen einiger Werke El Grecos. Die Begegnung mit seinen Bildern löst auch in den Reproduktionen ambivalente Gefühle aus: Die völlig vergeistigten, fast körperlosen, länglichen Figuren und deren verdrehte Augen und die kitschigen Farben der Gewänder sind kaum erträglich, aber die Intensität der Blicke der Figuren, vor allem in den Portraits, und die geheimnisvolle Atmosphäre der Stadtansichten im Hintergrund sind beeindruckend. Zwei signifikante Kleinigkeiten fallen mir auf: Der Apostel Paulus hält einen Brief in der Hand, auf dem ein griechischer Text steht. Keine Geste an das Heimatland des Malers, sondern historisch korrekt: Paulus, römischer Staatsbürger, schrieb seine Briefe auf Griechisch, auch den an die Römer. Die andere Kleinigkeit taucht im Bild der Familie des Malers auf, lauter Frauen und ein Kind. Eine der Frauen trägt einen Zwicker auf der Nase. Es muss eine der ältesten Darstellungen einer Brille sein.
Auf dem Rückweg schwebt ganz oben über dem Felsen ein Vogel mit breiten Schwingen und stürzt sich dann nach unten, während seine kleineren Kollegen in den Bäumen singen. An einem verrosteten Tor ranken sich dichte, grüne Blätter, und auf einer niedrigen Steinmauer vor einem Haus sind kleine, bunte Blumentöpfe mit einfachen Grünpflanzen aufgereiht. Daraus wird ein richtig schönes Photo.
Hinter Fodele tauchen am Straßenrand zu beiden Seiten der Straße improvisierte Verkaufsstände auf, einer nach dem anderen. Schwere, mit Apfelsinen und Kartoffeln gefüllte Tüten hängen an Gestellen und liegen auf der Bordsteinkante. Jeder Verkäufer hat einen Stand auf beiden Seiten. Bei Bedarf geht man dann eben auf die andere Straßenseite rüber.
Ich mache Halt und gehe zu dem Stand eines alten Ehepaars. Die beiden lächeln mich fröhlich an, als ich sie auf Griechisch anspreche. Und zeigen dabei das Ruinenfeld ihrer Zähne.
Eine ganze Tüte kann ich nicht gebrauchen. Ob ich wohl auch einfach zwei Apfelsinen haben könne? Ja, kein Problem. Die Frau drückt sie mir in die Hand. Geschenkt. So war es aber nicht gemeint. Als ich ihr dann irgendwie zwei Euro in die Hand drücke, legt sie noch schnell zwei Mandarinen dazu. Man sieht den Apfelsinen förmlich an, dass sie „echt sind: etwas schrumpelig, mit kleinen Farbflecken, unterschiedlich groß.
Plötzlich sagt der Mann: „Deutsch? Ich fünf Jahre Deutschland, drei Jahre Düsseldorf“. Wo er die beiden anderen Jahre verbracht hat, verstehe ich dann nicht. Er strahlt geradezu bei der Erinnerung an eine lang zurückliegende Zeit, ganz egal, mit welchen Schwierigkeiten er damit vielleicht zu kämpfen hatte. Diese zufällig Begegnung und die freundlichen Gesten und Worte der beiden graben sich in mein Gedächtnis ein. Erst als ich weiterfahre, frage ich mich, wie die beiden wohl dahin kommen und ob sie den ganzen Tag dort sitzen.
Dann geht es weiter nach Arkadi. Die Suche ist schwer. Erst fahre ich zu weit, bis nach Rethymnon, dann fahre ich in einem Dorf immer auf und ab, auf und ab: Nach Arkadi geht es immer in die andere Richtung. Dann merke ich endlich, dass das, was wie der Liefereingang zu einem Supermarkt aussieht, die Straße ist. Dann geht es einen Feldweg entlang und durch ein Dorf, in dem handgeschriebene Schilder den Weg weisen: Moni Arkadi.
Das Moni Arkadi ist eine Art sakrales Nationalmonument, Ort eines kollektiven Selbstmords in der Türkenzeit. Um den Türken nicht in die Hände zu fallen, sprengen die Griechen das Pulvermagazin in die Luft und suchen gemeinsam den Tod. Nur 114 überleben, von ca. 964, die hier Zuflucht gesucht hatten. Der Hauptverantwortliche ist ausgerechnet der Abt, Abt Gavril, der sich geweigert hatte, sich zu ergeben, trotz warnender Stimmen, die die Zerstörung des Klosters befürchteten. Trotz des Abzugs des griechischen Offiziers Kornoeos, der von Festland gekommen war, um die Kreter zu unterstützen, aber wieder abgezogen war, weil das Kloster nicht zu verteidigen war. Trotz der Aufforderungen der Türken, sich zu ergeben. Die waren mit 15 Mann angezogen. Das Kloster war zu einer revolutionären Zelle geworden, und das war dem türkischen Pascha nicht verborgen geblieben.
Das wird natürlich hier als Heldentat gefeiert, wobei alle anderen Aspekte außen vor bleiben: Wer darf darüber entscheiden, dass so viele Menschen sterben? Lohnt es sich, für die „Freiheit“ zu sterben? Die Weltöffentlichkeit wurde zwar auf das Schicksal der Kreter aufmerksam durch diese aufsehenerregende Tat, aber es tat sich erst mal nichts. Die Unabhängigkeit Kretas kam erst, als es den Großmächten passte. Davon, dass bei der Sprengung auch Türken ums Leben kamen, wird hier natürlich nicht erwähnt.
Trotzdem hat die Aktion natürlich alle Ingredienzien einer Legende: zahlenmäßige Unterlegenheit, Tapferkeit, Durchhaltewillen, Verteidigung mit einfachsten Mitteln, Beteiligung von Frauen und Kindern, Freiheitskampf, Aufopferung für eine Idee.
Heute geht es hier aber ganz friedlich zu. Es herrscht Betrieb, aber der hält sich in Grenzen. Fast nur individuelle Besucher, Paare mit und ohne Kinder, meist Franzosen.
Von der vielphotographierten Kirchenfassade ist zunächst nichts zu sehen. Sie versteckt sich wie alles andere hinter dem Geviert der Klostermauer, die wie eine Festung aussieht. Das wirkt eher abweisend als einladend.
Am Rande des großen, leeren Vorhofs steht das Gebäude einer ehemaligen Mühle, die später als Beinhaus für die Knochen der toten Kreter umfunktioniert wurde. Die sollen dort fein säuberlich aufgestapelt sein. Aber der Bau ist verschlossen, ohne Information, wie immer. Für die paar Besucher machen wir uns doch nicht die Mühe, aufzuschließen.
Das Tor, durch das man das Kloster betritt, ist offensichtlich neu. Es wurde nach der Aktion erneuert, ein Zeichen dafür, dass die Türken an der Normalisierung der Verhältnisse interessiert waren. Das Kloster wurde nicht in Schutt und Asche gelegt, obwohl hier insgesamt mehr Türken als Griechen ums Leben kamen!
Dann steht man sofort vor der Fassade. Die Einschusslöcher der türkischen Kanonen sind gut zu erkennen. Ansonsten hat sie den Angriff offensichtlich gut überstanden.
Die dreigliedrige Fassade, mit einem offenen Glockenstuhl mit Voluten oben drauf, mit Türmchen zur Seite, mit runden und querovalen Fenstern, mit vorgeblendeten Doppelsäulen sieht italienisch aus und nach Renaissance mit Barockelementen.
Es lohnt sich, um die Kirche herumzugehen. Da sieht man, dass sie zweischiffig ist! Auch von vorne kann man das erkennen, aber dann muss man gut hingucken, und das tue ich nicht. Das mittlere Portal und das mittlere Rundfenster sind geschlossen, und oben kann man die beiden Schiffe erahnen.
Das Innere ist dann völlig verblüffend: eine ganz und gar orthodoxe Kirche mit all den typischen Bestandteilen und der typischen Atmosphäre. Das Ganze wirkt wie eine Geste des Entgegenkommens der italienischen Bauherren und Stifter gegenüber der griechischen Bevölkerung.
Die Ikonostase ist durchlaufend, aber die beiden Schiffe, durch Stützen getrennt, wirken wie eigenständige Räume. In dem schmalen Raum hinter der Ikonostase nisten Vögel, und vor ihnen tragen hölzerne Vögel an der Ikonostase die Weihrauchfässer.
In einem Schiff steht ein der sonstigen Ausstattung nicht entsprechendes einfaches Holzkreuz mit einer Dornenkrone. Am Kreuz steht, wie immer in Griechenland, INBI statt INRI.
Vor der Kirche steht eine dicht bewachsene Zypresse, in der sich der Legende nach ein Grieche versteckt hielt und den türkischen Angriff überlebte.
Außer der Kirche kann man das Refektorium und das Pulvermagazin und ein kleines Museum besichtigen. Dem Pulvermagazin fehlt bis heute die Decke. Nachdem man den Widerstand aufgegeben hatte und genau in dem Moment, als die Türken das Kloster stürmten, schießt Kostas Giampoudakis, der Bürgermeister eines Städtchens aus der Umgebung, auf die Pulverfässer und bringt das Arsenal zur Explosion.
In dem Museum sind Pistolen und Gewehre und eine von Schüssen durchlöcherte Fahne, aber auch Dokumente, Teile der alten hölzernen Ikonostase, liturgische Geräte, Dokumente, Messgewänder, Evangelikare ausgestellt, ein deutlicher Beweis dafür, dass die Vorstellung, alles sei von den Türken geraubt oder zerstört worden, eine Legende ist.
Dann geht es wieder nach Rethymnon. Dort Suchen, Wenden, Einbahnstraßen, Baustellen, das Passieren von altbekannten Stellen. Aber am Ende finde ich den „alten“ Platz direkt unter dem Kastell. Hier kann man kostenlos parken.
Der Besitzer einer einfachen Unterkunft im Zentrum, dessen Website auch eine schwedische Version hat, hat auf meine Anfrage nicht geantwortet. Also mache ich mich auf die Suche nach der nächsten besten Unterkunft gleich hier beim Kastell. Ein Glückstreffer. Die Besitzerin ist freundlich, hat ein Zimmer und ist vor allem, jetzt, in der griechischen „Mittagszeit“, anzutreffen, weil sie in ihrem Atelier ist. Das ist eine Keramikwerkstatt mit Verkaufsraum. Die Zimmer liegen im hinteren Teil des Gebäudes. Das Zimmer hat unverputzte Wände, ist sehr geschmackvoll eingerichtet, mit einigen wenigen Keramikgefäßen und Bildern (vermutlich alles eigene Produktion), dunkle Möbel und ein modernes Bad. Wie immer in Griechenland, gibt es den einen oder anderen kleinen Kratzer: Es gibt kaum Steckdosen, in der Fliesenwand klafft ein Loch, und man zieht mit einer an einer Schnur hängenden Wäscheklammer ab. Aber das macht gar nichts. Zumal das Zimmer sehr preisgünstig ist.
Ich gehe gleich zum Bezahlen runter. Dabei entwickelt sich ein längeres Gespräch. Die Frau spricht wunderbar deutlich und hat viel Geduld. Und freut sich sichtlich über das Lob für das Zimmer. Sie erzählt, die Zimmer seien eine gute Ergänzung zur Töpferei. Die alleine würde nicht tragen. Das wundert mich zuerst, denn die Lage ist phantastisch, und es kommen auch Kunden rein und kaufen was. Aber man muss die ganzen Monate mitrechnen, in denen tote Hose herrscht. Sie erzählt, den Ton bekäme sei einheimisch, aus einem Ort in Kreta, den ich nicht kenne. Aber er habe einen Nachteil: Man könne ihn keinen hohen Temperaturen aussetzen, höchstens 1100°. Dass das eine Rolle spielt, habe ich noch nie überlegt.
Ich bin selbst überrascht, wie viel Zeit noch ist, nach allem, was ich heute schon gesehen habe. Ich laufe ziellos durch die Gegend und genieße das wunderbare Wetter und diese schöne Stadt. Dabei komme ich immer wieder an bekannten Stellen vorbei, unter anderem an dem Café der Alternativen an dem Burgberg und an der Weihnachtsbeleuchtung.
Ich komme zum Platz der Vier Märtyrer, wieder eine Anspielung auf die Kämpfe gegen die Türken. Im Zentrum des Platzes die Bronzestatue des grimmig und entschlossen in die Ferne, Richtung Arkadi, blickenden und schwer bewaffneten Giampoudakis, der mit seinen Schüssen das Pulvermagazin zum Explodieren brachte.
Hinter dem Platz liegt der Stadtpark, ein großer, schöner Park mit riesigen Aleppokiefern, hohen Bambussträuchern und einem bunten Baumbestand. Die Palmen hat man so zugeschnitten, als wolle man ihnen absichtlich leid antun. Aber Pflanzen scheinen das zu mögen.
Am Venezianischen Hafen gibt kaum Platz zum Flanieren, alles ist von Tischen der Lokale besetzt. So kommt der Hafen nicht richtig zur Wirkung. Man ist genug damit beschäftigt, sich der aufdringlichen Kellner zu erwehren und auf sein Portemonnaie aufzupassen.
Im Zentrum ist es dagegen ruhig. Es ist Mittwoch. Die Geschäfte sind geschlossen. Ich sehe einen orthodoxen Popen, der laut mit dem Handy telefoniert. Irgendwo steht eine ambulante Verkäuferin mit dem typischen Wägelchen, in dem Koulouri verkauft werden, Sesamkringel, alte Bekannte, denen ich lange nicht mehr begegnet bin. Ich kaufe einen. Dabei lasse ich mich von einer Frage der Verkäuferin dermaßen übertölpeln, dass ich die „falsche“ Antwort gebe. Sie fragt mich, ob weich oder hart (σκληρό oder μαλακό). Darauf war ich nicht eingestellt. Und sage „weich“, vermutlich, weil es das einfachere Wort ist!
Am Abend finde ich ein ganz zentrales, aber versteckt hinter der Loggia liegendes Lokal, wo man unaufdringlich bedient wird. Der Kellner spricht alle mit Guten Abend an, auch die Holländer. Die lassen das aber gutmütig über sich ergehen.
Dann gehe ich nochmal durch die inzwischen dunkle Stadt und komme an einer kleinen Buchhandlung vorbei, mit Büchern in Regalen draußen an der Wand. Mir fallen Romane von Agatha Christie ins Auge und ich vergnüge mich eine Zeitlang damit, die Titel zu identifizieren: Φόνος στη Μεσοποταμία, Το μυστήριο πρόβλημα στο Σταιλς, Δέκα Μικροί Νέγροι, Εγκλημα στο Νείλο, Ο φόνος του Ρότζερ Ακρόυντ. Gar nicht so einfach. Entweder fehlen mir die Vokabeln oder die Titel sind sehr frei übersetzt.
30. April (Donnerstag)
Am Morgen sind außer mir nur die Straßenfeger und die Sonne unterwegs. In einem kleinen Café vor dem Anstieg zum Burgberg bestelle ich einen Kaffee. Das Wasser muss man extra anfordern. Die Wirtin sagt etwas entschuldigend, sie habe sich das abgewöhnt. Die meisten wollten kein Wasser. Für Griechen unvorstellbar.
Dann kommt eine jüngere, gut gekleidete Frau, die auffälligen Schmuck trägt. Sie grüßt freundlich und setzt sich an einen anderen Tisch. Dann fragt sie, ob ich aus Deutschland käme. Ja, warum? Das hätte sie sich gedacht. Auch ein Mann, der sich an den Blumen zu schaffen macht, stimmt ein. Sie man doch sofort. Es ist, wie sich herausstellt, ihr Freund, und sie ist die Tochter der Wirtin.
Sie spricht fließend Deutsch, ist in Mönchengladbach aufgewachsen. Wir kommen auf meine weiteren Pläne zu sprechen, und als sie Thessaloniki hört, sagt sie, da komme sie gerade her. Gestern. Das ist die eigentliche Heimat der Familie. Im Sommer kommt sie hierher, um der Mutter im Lokal zu helfen. In Thessaloniki hatte sie ein Geschäft, ein Schmuckgeschäft. Das hat sie gerade aufgegeben. Warum? Ja, seitdem die Grenzen offen sind … Und dann auch noch Schmuck … Geht gar nicht.
Ich gehe die paar Schritte zur Festung rauf. Die macht schon früh auf. Es ist sonst noch niemand da. Es ist ein mächtiger Bau, was man von hier aus, aber noch mehr von der Meeresseite aus sieht. Sie sollte noch größer werden und auch einen Graben bekommen, aber es gab Aufstände unter den griechischen Arbeitern, und man wählte die „bescheidenere“ Lösung.
Was es vorher hier gab, das weiß man nicht so genau. Hier konnte man ohne Festung keine Stadt anlegen, es war einfach zu gefährlich. Und doch muss es in der Antike etwas gegeben haben, einen Ort, von dem die Stadt ihren Namen hat.
Trotz der mächtigen Anlage wurde die Stadt achtzig Jahre später von den Türken erobert, und die machten sie zu ihrer Hauptstadt auf Kreta. Es ist bemerkenswert, dass die Eroberung keineswegs bedeutete, dass alle Venezianer die Stadt verließen. Das ist auch völlig einleuchtend. Die vereinfachte Rede von „den Venezianern“, „den Türken“, „den Griechen“ führt in die Irre.
Wenn man das Tor durchschreitet, bekommt man noch einmal einen Eindruck von den Maßen. Es ist viele Meter breit. Auch die Weite des Areals ist beeindruckend. Man kann sich hier verlieren, die Festung muss so etwas wie eine Kleinstadt gewesen sein.
Über das ganze Gelände verstreut befinden sich Gebäude unterschiedlicher Funktion, aber gleicher Machart: kubisch, einfach, schmucklos, mit wenigen Fenstern. Das gilt sogar für die Moschee, das auffälligste Gebäude mit einer riesigen Halbkuppel, und die viel kleinere Kirche nebenan. Die beiden stehen etwas versetzt. Die Kirche ist nach Osten, die Moschee nach Südosten ausgerichtet, dorthin, wo Mekka liegt. Leider ist die Moschee, die sehenswert sein soll, verschlossen, wie alles andere auch.
Man kann einmal ganz herum gehen, immer an der Mauer mit den Schießscharten entlang. An den Eckpunkten sind pilzartige Wächterhäuschen angebracht, von denen man auf das Meer sehen kann.
Die Festung hat drei Bastionen. In dem Faltblatt sind sie beschrieben. Eine Bastion finde ich nicht, die Beschreibung ist ziemlich verwirrend. Sie soll im nordwestlichen Teil der Festung liegen. Im Nordwesten gibt es aber keine Bastion. Dann sehe ich mir den griechischen Text an. Da ist davon die Rede, sie befinde ich im ΝΔ τμήμα, dem νοτιοδυτικό τμήμα der Festung, dem südwestlichen Teil. Es ist ein Übersetzungsfehler! Zwar hört sich νότος (notos) nach Norden an, bedeutet aber Süden!
Ich lese den Text in einem halbrunden Theater, das man in einer der Bastionen errichtet hat, mit einer ganz einfachen Bretterbühne und Plastiksesseln. Die Sitzflächen der Sessel sind durch eine Spalte in zwei Teile aufgeteilt, der Anatomie entsprechend.
Nach der Festung streife ich noch einmal durch die Gassen der Innenstadt. Diesmal finde ich auch die „alte“ Gasse wieder, die immer einheimischer wird, je mehr sie sich vom Hafen entfernt. Und ich komme auch wieder auf den großen, freien Platz, den ich damals gesehen habe. In der Gasse gibt es ein Obstgeschäft, das in einem normalen Wohnhaus untergebracht ist. Die Auslagen werden hinter einem geöffneten Fenster präsentiert, mit etwas abgeblätterten Fenstersprossen und einem ähnlichen Unterbau. Davor steht ein niedriger Holztisch. Es wird eines der merkwürdigsten Photos der Reise. Es sieht unecht, wie gemalt aus.
Ich gehe in das Historische Museum, das man leicht übersehen kann. Es ist eine bescheidene Sammlung, und etwas altertümlich, aber es lohnt sich trotzdem. Es gibt Münzen aus verschiedenen Epochen, von den Römern bis zum unabhängigen Kreta. Die sind allerdings so schlecht präsentiert, dass man kaum etwas erkennen kann. Eine venezianische Münze (XVII) hat den Markuslöwen, erst mit lateinischer, später mit griechischer Inschrift: Sanct Marcus, Ο Αγιος Μάρκος. Ob das eine Konzession an die einheimische Bevölkerung war? Der Wert der Münze – 4 Soldi – ist durch einfache Striche wiedergegeben: IIII. Eine byzantinische Münze hat ein Kreuz und zu allen vier Seiten des Kreuzes Buchstaben, aus denen sich Christos, der Sieger ergibt. Kurioserweise taucht eine ähnliche Gestaltung später bei einem von türkischen Kugeln getroffenen kretischen Banner auf. Jetzt stehen die Buchstaben zu den vier Seiten des Kreuzes – ΚΕΕΣ für eine politische Losung: Kreta, Griechenland, Vereinigung oder Tod.
Im hinteren Raum gibt es Werkzeuge und Werkstoffe aus traditionellen Handwerksbetrieben: Sattlerei, Schuhmacherei, Schmiede, Instrumentenbauer, Friseur. Die Friseurstube erinnert mich an meine Kindheitstage, mit dem Arsenal von Pinseln und Scheren, vor allem aber mit der Rasierschüssel, mit einer Auslassung am Rand, für den Hals. Bei dem Sattler ist ein schön dekorierter Holzsattel mit russischem Leder ausgestellt und darin ein Zitat aus einem Roman, das genau diesen Sattel zu beschreiben scheint. Es ist ein Roman, der hier in Rethymnon spielt, geschrieben von einem gewissen Prevelakis.
Oben gibt es Webstühle und Stickereien und ein komplett eingerichtetes Wohnzimmer. Vorhänge, Sitzkissen, Wandteppiche, Läufer, Hängetaschen, alles mit geometrischen Mustern unterschiedlich bestickt, alles auf rotem Grund. Sehr schön.
In einem Nebenraum gibt es Gerätschaften aus dem Bäckerhandwerk. Nichts Besonderes. Aber es gibt eine interessante Beschreibung traditioneller Brotformen, wie man sie in verschiedenen Gegenden Kretas zu festlichen Gelegenheiten vorfand, Kommunion, Ostern usw. Die Grundform ist immer gleich, ein Kreuz in einem Rad, aber die Dekoration ist anders: in Mylopotamos so reichlich, dass man die Details kaum erkennt, in Amari mit schön säuberlich voneinander getrennten Motiven – Myrte, Zitronenblüte, Traube – und in Agios Vassilosi nur mit geometrischen Mustern. Wie eine Geschichte der Kunst im Kleinen: Gotik, Romanik, Renaissance.
Nach einem Zwischenstopp auf dem Zimmer und in der Töpferei, wo ich Mitbringsel für bevorstehende Besuche kaufe, mache ich mich auf den Weg zum Paläontologischen Museum. Dabei komme ich auf dem Wochenmarkt vorbei. Der findet donnerstags im Zentrum statt, auf einem Platz nahe dem Stadtpark. Diesmal gibt es nichts umsonst. Es gibt aber etwas zu entdecken: Artischocken. Die gibt es hier in einer besonderen Variante: offen, stachelig aussehend und nicht auf den ersten Blick als Artischocken zu identifizieren. An manchen Ständen werden sie neben den klassischen angeboten und als „wild“ oder „einheimisch“ etikettiert.
Als ich an einer Ampel stehe und mir den Stadtplan ansehe, kommt eine junge Frau auf mich zu und fragt, ob sie mir helfen kann. Das passiert hier selten. Erst weiß sie nicht genau, welches Museum gemeint ist, aber als ich die Moschee erwähne, weiß sie sofort Bescheid und erklärt mir freundlich lächelnd den Weg.
Die Moschee sieht jetzt, wo sie geöffnet ist, gar nicht mehr so verlockend aus. Sie ist aber relativ gut erhalten. Hier gibt es nicht eine große Kuppel wie bei der in der Festung, sondern neun kleine. Und es gibt eine schön verzierte, italienisch aussehende Pforte. Außerdem ist das Minarett erhalten, das ältestes Rethymnons. Irgendwo soll die Jahreszahl stehen: 1204. Aber das ist natürlich irreführend. Arabische Zeitrechnung. Für uns 1789.
Drinnen gibt es eine bescheidene Ausstellung. Dennoch fällt etwas dabei ab. Es gibt vor allem Elefantenknochen: Rippen, Stoßzähne, Wirbel und vor allem Knochen des Schädels, 192 Teile, in einer Höhle in Vamos gefunden. Es heißt, solche Funde in Höhlen seien die Grundlage des Mythos um den einäugigen Zyklopen gewesen. Noch nie diese Verbindung gesehen.
In Kreta gab es drei Elefantenarten. Deren Präsenz wird als Zeichen für Wanderbewegungen gesehen aus der Zeit, als es noch eine Landbrücke gab.
Außer Elefanten gibt es vor allem Knochen von Rehwild. Auffallend darunter das typisch kretische Reh, mit langem, ganz einfachem Gehörn. Das Museum hat das Profil des Rehs zu seinem Emblem gemacht. Es gibt Bilder von einer Höhlenzeichnung in Skordalakia, auf denen man das Reh gut erkennen kann.
Dann kommt etwas zur erdgeschichtlichen Entwicklung Kretas. Man sieht, dass im Laufe der Zeit das Hellenische Becken (mit Kreta) immer weiter nach Süden wanderte. Afrika ist dagegen stabil geblieben. Irgendwann wird es zur Kollision kommen. Aber das dauert noch ein paar Jahre.
Dann sieht man die Abbildung von vier Phasen der Entwicklung. Erst ist Kreta ein breiter Streifen und noch zu beiden Seiten mit Land verbunden. Das war vor 14 Millionen Jahren. Dann, vor 10 Millionen Jahren, kommt es zu einer Aufsplitterung. Ganz dramatisch. Das Land ist in drei größere Inseln aufgeteilt, jede davon mit einem der hohen Gebirge: Lefka Ori, Idi und Dikti. Insgesamt ist es etwa ein Dutzend Inseln. Das kann man sich noch irgendwie vorstellen, aber was jetzt kommt, kaum noch: Die Sache wächst wieder zusammen! Vor 4 Millionen Jahren sinkt der Meeresspiegel und gleichzeitig steigt das Land auf. Jetzt gibt es nur noch zwei Teile. Wenn man die zusammenfügt, hat man, grob gesprochen, die heutige Form, aber Heraklion, Rethymnon und Ierapetra liegen noch unter Wasser. Das sind auch die Gegenden, in denen sich heute noch die Ebenen befinden. Erst in der vierten Darstellung ist dann die heutige Form zu sehen. Als Beleg für die geologischen Veränderungen sieht man am Ende noch große Steinblöcke voller Muscheln, die in Orten wie Arni gefunden wurden, die heute über Wasser liegen.
Auf dem Rückweg komme ich an einer Apotheke vorbei. Da wird die Temperatur angezeigt: 26°. Und so fühlt es sich auch an.
Dann geht es zum Auto und zurück nach Myrtos. Noch einmal fahre ich an der schönen Uferfront dieser schönen Stadt entlang.
Unterwegs komme ich durch Orte mit den Namen Gasi, Bali und Mesi. Dann mache ich Halt in Sises, eigentlich nur wegen des Ortsschilds. Aber es gibt keins, und ich komme in den Ort rein und durch den Ort durch. Gar nicht so einfach. Die einzige, langgezogene Straße ist voller geparkter Autos. Als ich dann zurückkomme, versperrt ein ambulanter Händler mit seinem Transporter den Weg. Er hat ein kurioses Warenangebot: Stühle und Blumen. Als er zur Seite setzt, kommt ein Einheimischer zum Auto und krallt sich, als ich mich langsam in Bewegung setze, an dem offenen Fenster fest. Er brüllt irgendetwas in einer unverständlichen Sprache. Als ich auf Griechisch antworte, fragt er mich, woher ich käme und sagt dann immer wieder „Jawohl“, bis ich verstehe, dass er wissen will, was es bedeutet.
Sises hieß früher Astali. Der neue Name soll auf die Zeit der Türkenherrschaft zurückgehen. Die Einwohner von Astali versorgten die Verteidiger von Candia, also dem heutigen Heraklion, mit Proviant. Das bekamen die Türken spitz und richteten in Astali ein Blutbad an, dass so schrecklich war, dass die Erde bebte. Von Erdbeben, sismos, soll der Name des Ortes abgeleitet sein. Nur zwei Jungen entkamen dem Blutbad, Rasouli und Mavros. Sie bauten als Erwachsene den Ort wieder auf. Noch heute heißen die Einwohner von Sises mit Nachnamen entweder Rasouli oder Mavros.
Später, in Viannos, mache ich nochmal Halt und kaufe eine Pita. Als ich die auf dem Platz stehend in der Sonne verputze, fällt mein Blick auf den Baum vor der Kirche. Aus dem Baum läuft Wasser. Am Stamm ist ein Wasserhahn angebracht! Das Wasser scheint aus dem Baum zu kommen.
1. Mai (Freitag)
Feiertag! Aber was für einen Unterschied macht das bei diesem Lotterleben? Es gibt kein frisches Brot beim Bäcker! Dafür dann ein Stück Bougatsa, von dem eine ganze Familie satt werden kann.
Beim Laufen in Tertsa Männer mit Abfalltüten am Strand gesehen. Die räumen tatsächlich den Strand auf, beseitigen vor allem das Geäst von den Tamarisken.
2. Mai (Samstag)
Auf dem Weg nach Ierapetra warnen entgegenkommende Autos mit Lichthupe. Gerade noch rechtzeitig. Vor dem Ortseingang steht eine Polizeistreife. Es ist allerdings nicht auszumache, was und wie sie kontrollieren.
In der Nähe des Kinos ein Plakat von der gestrigen Maikundgebung: ουτε βημα πισο! keinen schritt zurück! Dass das gefordert wird, ist der beste Beweis dafür, dass man genau das jetzt macht, einen Schritt zurück.
Dimitra erzählt sehr angetan von dem Maiausflug der Familie. Sie waren erst in einem Wald spazieren, dann machten sie den Fehler, für einen Kaffee nach Makrogiali hinunterzufahren. Die Kinder sahen den Strand und mussten unbedingt ins Wasser. Mit den Klamotten, die sie trugen. Die umsichtige Mutter hatte allerdings eine Reservemontur dabei! Die Kinder seien eine ganze Zeitlang im Wasser gewesen, und auch Erwachsene, Griechen wie Touristen, seien im Wasser gewesen.
Ich will wissen, wie der Wald heißt. Das fällt ihr nicht ein. Sie nennen ihn immer nur Το Δασάκι, ‚Das Wäldchen‘, dann weiß jeder, was gemeint ist.
Bevor ich mich für die Einladung für morgen bedanke, frage ich vorsichtshalber noch mal nach, was Einladung heißt. Ich habe da so ein ungutes Gefühl. Und das trügt nicht. Ich verwechsele πρόκληση mit πρόσκληση. Die unterscheiden sich nur durch ein Sigma. Dann hätte ich gesagt: „Vielen Dank für die Provokation!“
Dimitra hat herausgefunden, wie der Baum mit den roten Blüten heißt: καλλιστήμονας. Ganz komisch, sagt sie, sie habe die noch nie bemerkt und erst auf dem Photo gesehen, dass sie mitten im Zentrum von Ierapetra stehen. Der Baum sei ursprünglich aus Australien, habe aber hier Fuß gefasst. Über den wissenschaftlichen Namen, Kallistemon, der dem griechischen Wort sehr ähnlich ist, finde ich den wirklich putzigen deutschen Namen der Pflanze: Zylinderputzer. Er heißt auch Pfeifenputzer oder Flaschenputzer. Ja, klar, genauso sieht er aus! Warum ist mir die Ähnlichkeit eigentlich nicht aufgefallen?
In meinem Mädchenroman ist vom Mathematikunterricht die Rede, μαθήματα μαθεματικών. Ιch frage nach der Ähnlichkeit der Wörter, und sie sagt, ja, das sei vermutlich dieselbe Wurzel. Wer lernte in der Antike, machte Mathematik. Das war die Grundlage.
Nach dem Unterricht geht es zu Manolis auf einen Kaffee. Er ist so begeistert davon, dass er mir von weiteren bevorstehenden Läufen berichten kann, dass er vor lauter Aufregung Englisch spricht. Morgen gibt es gleich zwei Läufe, einen in Ierapetra, einen in Arkalochori. Schade, da kommt die Einladung dazwischen. Das sage ich ihm, aber dann stellt sich heraus, dass der in Ierapetra doch geht. Der Lauf in Ierapetra ist früh, und es ist eine kurze Strecke, das geht noch vor der Einladung.
Er kündigt voller Stolz an, dass er mir ein neues Wort beibringen wolle. Das kenne ich bestimmt nicht. Recht hat er: κόλλυβα. Über die Schreibweise muss er sich erst mit einer anderen Kundin, einer jungen Frau einigen. Beide liefern dann die Erklärung. Es ist der Name einer rituellen Speise, die in Griechenland zum Totengedenken serviert wird, nach neun Tagen, nach vierzig Tagen, nach einem Jahr. Alle bekommen davon etwas ab, auch zufällig Anwesende. Damit ich verstehe, was es ist, bekomme ich gleich eine Probe auf einem kleinen Teller serviert. Es sind gekochte Weizenkörner, mit Rosinen und Nüssen und Granatapfelkernen gemischt, und gezuckert, sehr süß.
Am Nachmittag kommt ein schwules Paar in ein Café an der Strandpromenade, mit Eheringen, Engländer, ein junger Schwarzer und ein alter Weißer. Der Junge raucht. Er raucht wie jemand, der nicht raucht. Sieht aus wie eine Figur aus A Room With a View oder Gateshead Revisited. Der Kellner kennt sie schon. Er weiß, was sie haben wollen: Bier für den Jungen, Kaffee für den Alten.
Am Abend in die Mausefalle. Wir sind ca. 50 Zuschauer in einem Theater, das ca. 250 fasst. Das ist verdammt wenig für die Inszenierung mit acht Darstellern, einem aufwändigen Bühnenbild und visuellen und optischen Effekten wie dem täuschend echten Schneesturm draußen. Es gibt zwar noch eine Spätvorstellung, aber da sieht es auch nicht viel besser aus.
Die Bühne ist ein Raum aus der Zeit, mit Gemälden mit vergoldeten Rahmen, Kamin, Gardinen und Vorhängen, Schaukelpferd und Bakelit-Telephon. Die Inszenierung ist richtig gut, professionell gemacht, mit guter Sprechtechnik, guter Gestik. In bester griechischer Tradition wird mit zwanzig Minuten Verspätung angefangen. Das führt dazu, dass die Zuschauer der Spätvorstellung schon reinkommen in dem Glauben, ihr Stück hätte schon angefangen. Außerdem kommen mehrere Zuschauer laut redend verspätet aus der Pause zurück, und natürlich klingelt zwischendurch ein Handy, das die Frau erst umständlich aus ihrer Handtasche befreien muss, während es immer lauter klingelt.
Zwischendurch kommt einer der Ordner nach vorne und macht eine Geste in Richtung von zwei Zuschauern in der ersten Reihe. Er formt mit den Händen eine Art Raute. Ich komme aber nicht drauf, was das bedeuten soll.
Eine weitere Besonderheit ist der Applaus, der jeder Zuschauer beim ersten Auftritt auf der Bühne bekommt. Habe nicht in Erinnerung, das schon mal irgendwo gesehen zu haben.
Ich verstehe praktisch nichts. Jedenfalls die Handlung nicht. Dabei nutzt es auch nicht, dass ich das Stück schon mal gesehen habe. Wie auch? Das hilft bei der Entzifferung keiner einzigen Zeile. Am Schluss wird immer gesagt, man möge das Ende nicht verraten, aber bei mir ist das überflüssig. Ich weiß nicht, wer der Mörder ist.
3. Mai (Sonntag)
Der Lauf in Ierapetra heißt Gyros. Leuchtet ein. Es geht einmal rund um die Stadt. Das Motto des Laufs heißt Ενάντια στη Φτώχεια και τον Κοινωνικό Αποκλεισμό – Gegen die Armut und die gesellschaftliche Ausgrenzung. So steht es auf einem großen Banner. Das ist wohl nur eine Bekundung der Einstellung, ohne konkrete Aktionen. Irgendwo steht handschriftlich noch ein zweites Motto, dessen Wortspiel ich erst mit dem Wörterbuch verstehe: Τρέχουμε μαζί – Συντρέχουμε μαζί – Lasst uns zusammen laufen und zusammen beistehen. Die formale Ähnlichkeit der Verben macht es im Griechischen möglich.
Es ist ein bescheidener, aber gut organisierter Lauf, mit vieler Hände Einsatz. Man hat einen kleinen Stand aufgebaut, es gibt Startnummern (handgeschrieben), Streckenposten, Pokale und sogar Versorgungsstände unterwegs. Bei denen hat man sich vernünftigerweise auf Wasser beschränkt. Sonst braucht man nichts. Aber das tut gut bei der Hitze. Die Zeit wird per Hand gestoppt. Die Teilnahme kostet nichts, aber eine Spende wird angenommen, und der Mann, der der Cheforganisator zu sein scheint, sorgt dafür, dass das ordentlich irgendwo vermerkt wird.
Es gibt nur sechs Kilometer und Kinderläufe. Viele Mütter sind mit einem Kind da. Nachdem es erst verdächtig ruhig ist, kommen im Laufe der Zeit doch einige Läufer zusammen. Am Ende sind wir ungefähr einhundert.
Es geht die ganze Strandpromenade entlang. Die ist aber auch das einige schöne Stück der Strecke.
Das Feld zieht sich sofort auseinander, vorne stürmen einige sofort los. Ich bleibe erst hinten und lasse dann allmählich die meisten hinter mir und auf einmal bin ich ganz alleine, hinter den Schnellen und vor den Langsamen. Dann kommt eine Gabelung, die nicht beschildert ist, und dann noch eine, aber ich habe Glück und erwische die richtige Richtung. Am Ziel gibt es dann nochmal reichlich Wasser.
Schweiß scheint in Griechenland eine unbekannte Größe zu sein. Während es bei mir aus allen Poren trieft, sehen die Griechen aus, als kämen sie gerade aus der Dusche. Bei mir ist sogar die Startnummer so verwischt, dass der Zeitnehmer mich noch mal zu sich ruft und versucht, sie zu entziffern.
Ich fahre nach Myrtos zurück und werde da von Zoe abgefangen, die einen englischen Text korrigiert haben will. Ist eigentlich gar nicht nötig, man versteht alles sehr gut, aber sie will auch die Fehler raus haben. Sie hat heute viel Geduld und erzählt von den Kindern, aber ich sitze auf heißen Kohlen. Auf jeden Fall interessant, dass ihre Tochter jetzt Altgriechisch hat, wobei sie ihr nicht helfen kann, da es damals in der Schule kein Altgriechisch gab. Sie versucht aber, mit der Tochter zusammen zu lernen.
Dann geht es zu Dimitra und Nikos. Diesmal haben sie mich nach Hause eingeladen. Sie wohnen in Kentri, außerhalb von Ierapetra. Da bleibe ich an einem kleinen Platz mit Brunnen stehen und werde abgeholt.
Das Haus ist ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe, ein Bungalow mit hochmoderner Einrichtung und Ausstattung. Es gibt nur einen großen offenen Raum aus Küche und Wohnzimmer und dann einen langen Flur mit vielen einzelnen Zimmern.
Die Kinder sind gar nicht so scheu und zeigen stolz ihr Spielzeug vor: Manos ein Polizeiauto, das viel Krach macht, Sofia einen pinkfarbenen Engel mit beweglichen Flügeln. Sofia hat sich selbst das Lesen und Schreiben beigebracht und kann auch schon ein paar englische Wörter. Mit großer Freude am fremden Klang präsentiert sie sie.
Unter den reichlichen Vorspeisen befinden sich vegetarische Pita, die ihre Mutter gemacht hat und eine Sorte Käse, auf die Nikos schwört. Es ist dänischer Käse, den er bei einem Patienten kennen gelernt hat. Schmeckt etwas wie Feta, ist aber stärker im Geschmack. Und dann gibt es unversehens das lange erwartete Zicklein. Dimitra hat auf dem Ofen bestanden, während Nikos lieber gegrillt hätte. Sie hat recht, das Fleisch ist wunderbar zart. Dass es Zicklein ist, darauf wäre ich im Leben nicht gekommen. Es hat auch keine Ähnlichkeit mit Lammfleisch, ist viel saftiger und viel schmackhafter.
Nikos erzählt bewegende Geschichten von seinen Patienten und überraschenden Heilungserfolgen, darunter von einem Mann, der nach einem Schlaganfall elf Jahre aufopferungsvoll von seiner Frau gepflegt wurde. Der erste Satz nach elfjährigem Schweigen galt seiner Frau: „Ich liebe dich.“
Er erzählt auch von einem albanischen Patienten, der ihn Maestro nennt. Der spreche gar kein Griechisch. Wie denn da die Verständigung klappt, will ich wissen. Es ist der Sohn, der ist bei jeder Behandlung als Dolmetscher dabei.
Er erzählt aber auch eine Geschichte von Inkompetenz oder Rücksichtslosigkeit aufseiten von Pflegern und Ärzten. Sein betagter Vater hatte sich die Schulter beim Sturz von einer Leiter ausgerenkt. Nikos musste sie insgesamt viermal wieder einrenken, nachdem die Pfleger und Ärzte den Patienten falsch behandelt hatten, einmal davon im Beisein eines Orthopäden, der ihn bat, das zu übernehmen, weil er es selbst nicht konnte.
Die Rede kommt auf Thessaloniki als meine nächste Station. Da müsse ich unbedingt Plovdiv besuchen, sagt er. Ist das nicht ein bisschen weit vom Schuss? Eine gute Stunde! Plovdiv, sagt er, sei wie Prag, und holt Photos hervor, als er meinen ungläubigen Gesichtsausdruck sieht. Er hat recht. Es sieht wirklich wie Prag aus. Ob er denn seiner Frau schon mal Plovdiv gezeigt hätte? Nein, noch nie. Na, dann werde es aber höchste Zeit, meine ich. Er lässt sich sogar auf mein Gedankenspiel ein: Kommt mich doch besuchen, wenn ich in Thessaloniki bin, und dann fahren wir zusammen nach Plovdiv. Er lässt sich allerdings überhaupt nicht auf mein Angebot an, dazu mein Auto zu nehmen. Er nimmt sein Auto auf jeden Fall mit.
Das bringt die Rede auf die Preise für die Fähre. Und dann, als ich sage, was ich bezahlt habe, kommt das, was immer kommt, wenn ich verreise: viel zu teuer, rausgeschmissenes Geld, nicht ins Reisebüro gehen. Keinesfalls mehr als 75 € dürfe das kosten, sagt er. Ich habe 132 € bezahlt. Später finde ich im Internet 121 €.
Nach Deutschland will er auch mal gerne, schon wegen der Autobahnen. Ich versuche, die Sache ein bisschen zu modifizieren: Baustellen, Verkehr, Geschwindigkeitsbeschränkungen usw. Außerdem braucht er Deutschland dafür gar nicht. Nach eigener Bekundung hat er es südlich von Chania schon mal auf 272 km/h gebracht. Der Tacho habe das gar nicht messen können, wohl aber sein GPS. Sein Vater habe auf dem Beifahrersitz gesessen. Sie kamen gerade zurück von einem Arztbesuch, bei dem ein Stresstest durchgeführt werden sollte. Der war aber ausgefallen. Da habe er ihm eben einen eigenen Stresstest gegeben. Was denn der Vater davon gehalten habe, frage ich. Der sei an der Tankstelle ausgestiegen und habe als erstes gefragt, wo es hier ein Taxi gebe. Ich sage nur, ich hoffe, dass er das nicht mache, wenn die Kinder im Auto sind. Nein, sagt er. In der Regel nicht. Oder wenn seine Frau im Auto sitzt. Nein, sagt er. In der Regel nicht.
Ich solle keinesfalls die Gelegenheit verpassen, noch die Sarakina-Schlucht zu besuchen, bevor ich Kreta verlasse. Sie waren im vergangenen Jahr da. Die Bilder sind atemberaubend. Die Schlucht ist besser als die berühmtere Samaria-Schlucht und ganz in der Nähe. Das Argument, dass es jetzt aber noch zu früh sein könnte, können sie aber auch nicht ganz entschärfen. Ich ärgere mich, dass ich mich im Oktober durch die Warnung am Kiosk habe abhalten lassen.
Irgendwie kommt die Rede dann noch auf die griechische Orthographie und deren Schwierigkeiten. Ich behaupte einfach, so schwer sei die gar nicht, jedenfalls nicht schwerer als die anderer Sprachen. Das ist sehr riskant, und ich werde herausgefordert, ein unbekanntes Wort zu schreiben: προειδοποίηση‚ ‚Vorankündigung‘. Ich schaffe es mit zwei Fehlern, wobei einer einfach zu dumm ist. Er hatte auf jeden Fall auf mehr gehofft.
4. Mai (Montag)
Am Vormittag kurzentschlossen einen Versuch mit der Sarakina-Schlucht gemacht. Liegt schließlich fast vor der Haustür. Der Weg ist sogar ausgeschildert, schon vor Mithoi.
Ein ganz schmaler, steinerner Fußpfad, auf dem kaum die beiden Füße nebeneinander passen, führt zum Eingang der Schlucht. Zwei hohe Felsen, die unten weiter auseinander stehen und sich oben fast berühren, bilden das Eingangstor zur Schlucht. Der Weg ist breit und bequem. Das Wasser hört man, aber man sieht es nicht. Es nimmt hier wohl einen anderen Weg. Dann aber stößt man auf das Wasser. Es nimmt fast die ganze Breite ein, aber am Rand ist noch ein schmaler Streifen. Dann verschwindet auch der. Jetzt muss man durchs Wasser waten. Es geht aber nur bis zu den Knöcheln und ist nicht unerträglich kalt. Dann wird das Wasser immer tiefer, man steht jetzt bis zu den Knien drin. Und die Strömung wird langsam stärker. Und dann geht es nicht mehr weiter. Man muss über die Felsbrocken am Rand klettern. Das geht erst noch ganz gut, wird aber allmählich immer abenteuerlicher. Die Felsbrocken werden größer, und man muss aufpassen, dass man nicht ausrutscht und dass man eine Stelle findet, an der man sich festhalten kann.
Der Blick nach oben, zu den Seiten und in die Ferne, wo man den Himmel über den Felsen sieht, ist wunderbar. Und dazu das rauschende Wasser, das sich zwischen den Felsbrocken seinen Weg bahnt. Die Schlucht kann mit der viel berühmteren Samaria-Schlucht mithalten. Allerdings ist die Erinnerung daran etwas verblasst, und die Schlucht war zu der Zeit völlig ausgetrocknet.
Es wird mir aber langsam zu heikel und ich überlege, umzukehren, und dann sehe ich etwas, was ich hier gar nicht vermutet habe: Menschen. Auf den höher liegenden Felsen vor mir kraxelt ein Ehepaar mit zwei Kindern herum, Holländer. Sie kommen zurück. Als erster kommt der Junge. Er sagt entschuldigend, sie hätten umkehren müssen, weil seine Mutter und seine Schwester nicht über einen Felsen steigen wollten. Da gibt es eine Art Halteseil, wie ich später sehe, das wie ein Schlauch aussieht. Als der Mann kommt, bietet er mir an, noch ein Stück mit mir zurück zu gehen, um mir die Stelle zu zeigen. Er ist behende und schnell und erreicht weit vor mir die besagte Stelle. Als ich ihn an dem Seil hängen sehe, verlässt mich der Mut und ich beschließe, zurückzukehren. Der Mann bestätigt mich: „You’ve seen it“. Er eilt seiner Familie hinterher, und ich lasse die Umgebung auf mich wirken. Dann mache ich mich ganz langsam auf den Weg.
Jetzt ist aber alles viel schwieriger als vorher, als ich einfach dem Holländer gefolgt war. Der hatte einen guten Blick für den besten Weg. Vor mir scheinen sich nur noch Felsen aufzutun. Ich stehe verdutzt davor und frage mich, wie ich da überhaupt hingekommen bin. Dann kommen zwei Situationen, bei denen man froh ist, dass man nicht beobachtet wird und dass sie glimpflich ausgegangen sind.
Verdreckt, verschwitzt, aber erleichtert komme ich wieder nach Myrtos und gehe sofort runter zum Strand. Und ins Wasser. Es ist deutlich kälter als im Herbst, aber nicht mehr zu kalt. Und ich bin nicht der einzige, der das findet.
Am Nachmittag lese ich irgendwo zufällig, dass Thessaloniki einen neuen, unkonventionellen Bürgermeister hat, Yannis Boutaris. Er ist 72, hat ein bewegtes Leben mit überwundenem Alkoholismus hinter sich und scheut sich nicht, neue Wege einzuschlagen. Er ließ in der Innenstadt eine Straße mit Bändern sperren, das erwartete Verkehrschaos blieb aus, und jetzt soll die Straße Fußgängerzone werden. Er will nicht nur das griechische, sondern auch das türkische Erbe Thessalonikis pflegen – schließlich ist Thessaloniki die Geburtsstadt Atatürks – und türkische Touristen anlocken. Über Syriza schimpft er wie ein Rohrspatz, verweigert ihnen aber nicht die Unterstützung.
5. Mai (Dienstag)
Auf in den Wilden Osten! Hinter Ierapetra habe ich einen deutschen Touristen vor mir, der provozierend langsam fährt. Nachdem ich ihn überholt habe, fahre ich rechts ran, um ein Photo zu machen, und dann habe ich ihn wieder vor mir.
Später habe ich dann einen Lastwagen vor mir, der seine Fracht, einen Bagger und zwei Baumstämme, auf schräger Fläche geladen hat. Das sieht nicht sehr vertrauenerweckend aus. In den engen Kurven ist an Überholen nicht zu denken. Ich fahre wieder rechts ran, um ein Photo zu machen, und dann habe ich ein anderes Auto als Puffer zwischen ihm und mir. Da kann man die Landschaft und das herrliche Wetter besser genießen. Immer wieder kommt das Meer in Sicht und verschwindet dann wieder.
Dann wird es langsam einsamer, und ich habe die Straße ganz für mich alleine. Im Radio hört man den unendlichen Monolog des Moderators. Er scheint nirgendwo hinzuführen. Ganz merkwürdig, halb improvisiert. Es geht um Wetter wie um Politik. Mario Dragi klingt im Griechischen wie Mario Drangi. Die etwas umständliche, durch das Lautsystem bedingte Wiedergabe des /g/ durch einen Doppelbuchstaben hat Rückwirkungen auf die Aussprache und produziert zwei Laute, wo einer reicht. Irgendwann kommt der schöne Ausdruck τάκα-τάκα vor, ‚auf die Schnelle‘, ‚zack-zack‘.
An einer verlorenen Bushaltestelle steht eine Frau. Ich nehme sie mit nach Sitia. Es ist eine freundliche, gesprächige Frau: Anastasia. Sie erzählt stolz, sie habe vier Kinder, alle schon erwachsen. Ja, sie habe mit dem Kinderkriegen früh angefangen, sagt sie auf Nachfrage.
Auch sie war Ostern auf Santorin. Eine Tochter arbeitet dort am Flughafen. Wir gehen die Orte von Santorin durch und bestätigen uns gegenseitig, dass wir sie schön finden. Wir einigen uns aber auch darauf, dass Kreta schöner, vielfältiger ist, was die Natur angeht. Und Deutschland und Griechenland? Unterschiedlich, aber beide schön, sage ich, und schiebe eine Begründung hinterher. Das leuchtet ihr ein. Lieber hätte sie natürlich gehört, dass Kreta unübertrefflich ist.
Kreta habe alles, sagt sie, Meer, Oliven, Berge, Kultur. Und Wein, sage ich. Und Wein, sagt sie. Und Raki, sage ich. Und Raki, sagt sie lachend.
Irgendwie kommen wir auf die griechische Sitte zu sprechen, dem Gast im Lokal eine Vorspeise oder eine Nachspeise auf Kosten des Hauses zu servieren. Ich finde diese Sitte schön, sage ich. Ja, sagt sie, dass sei φιλοξενία, ‚Gastfreundschaft‘. Und fügt noch hinterher, in Santorin gebe es das nicht mehr. Das Geld. Das verderbe alles. Damit gibt sie mir einiges zum Denken mit auf den Weg. Sie schickt mich in Sitia noch in die richtige Richtung und verabschiedet sich mit einem breiten Lächeln.
An die schöne Strecke in Sitia am Meer entlang kann ich mich noch gut erinnern und auch an die Abbiegung nach Toplou. Danach wird es das ganz wüst und einsam. Nur Windräder sind auf den Bergen in der Distanz zu sehen.
In Toplou steht auf dem einsamen Parkplatz tatsächlich ein Reisebus. Die Gäste müssen aber in der Weinkellerei sein. Im Kloster ist es jedenfalls ruhig.
Auch in der Cafeteria, in einer schönen Laube untergebracht, ist niemand. Außer dem Wirt. Der sitzt an einem Tisch und macht sich an irgendwelchen Blättern zu schaffen. Ich bestelle meinen Kaffee, und als er wiederkommt, erklärt er es mir: Dolmadakia. Er säubert die Blätter, befreit sie von den Stengelansätzen und legt sie dann fein säuberlich übereinander, so als wenn sie für eine Zeremonie gebraucht würden. Woher denn die Blätter kämen, will ich wissen. Mit leichtem Unverständnis für das Unverständnis der Fremden zeigt er auf die Laube. Da rankt sich Wein entlang. Ich vergesse, mich darüber zu wundern, dass der Wein schon so weit ist. Bei uns sind die Weinberge länger kahl.
Ich erzähle, ich sei im Winter schon mal hier gewesen, hätte aber vor verschlossenen Türen gestanden. Ja, vier Monate, sagt er. Vier Monate geschlossen, meint er. Ich hatte erst verstanden, dass nur vier Monate lang geöffnet ist. Ich hätte also auch schon eher hierher kommen können.
Das Kloster hat einen äußeren und einen inneren Innenhof. Der erste sieht sehr wehrhaft aus, der zweite, frisch renoviert, sehr heimelig, arkadengesäumt, mit einer Außentreppe und runden Kieselsteinen auf dem Boden.
Über dem Tor, das die beiden Innenhöfe trennt, hängt eine Pechnase, Zeichen dafür, dass das Kloster tatsächlich für Verteidigungszwecke benutzt wurde. Und der Name, vom türkischen Wort für ‚Kanone‘ abgeleitet, spricht auch Bände.
Das Museum ist in einem niedrigen, überwölbten, fensterlosen Raum untergebracht, auch der schön renoviert, mit unverputzten Wänden. Hier gibt es eine Unzahl von Stichen zu sehen, Kupferstiche und Holzstiche. Biblische Themen, aber auch Stadtansichten. In einem sieht man die Hinrichtung des Propheten Jesaia. Er hängt mit dem Kopf nach unten an einem Baum, und zwei Männer mit Helmen und dünnen Schnurrbärten machen sich mit einer breiten Säge daran, ihn in Stücke zu schneiden. Sie setzen gleich zwischen den Beinen an.
Es gibt auch Drucke von Ikonen. Hier wird betont, dass Ikonen spirituelle Werte ausdrücken. Zeit und Raum werden nicht berücksichtigt, es geht um Essentielleres. Berge und Hügel werden schematisch wiedergegeben, Pflanzen und Tieren durch geometrische Formen. Teil dieses Ansatzes sind auch die standardisierten Merkmale der Dargestellten: hohe Stirn, dünne Lippen, Mandelaugen, schmale Nase, Frontaldarstellung. All das ist dazu ausersehen, innere Ruhe auszudrücken.
Besonders schön sind ein paar Stadtansichten, wie die von Konstantinopel. Man sieht Häuser, Moscheen, Schiffe, alle dicht gedrängt, ganz unrealistisch aneinandergereiht. Die Perspektive ist wie auf Kinderzeichnungen. Was oben ist, ist weit weg. Diese Stiche sind teilweise bunt, anders als die anderen.
In einem Nebenraum gibt es dann plötzlich Kriegsgerät, aus dem Befreiungskrieg und aus dem 2. Weltkrieg. Das Kloster war im 2. Weltkrieg die Verbindungsstelle zwischen den Alliierten und dem kretischen Widerstand. Es gibt ein klobiges Feldtelefon zu sehen und drei Helme, einen griechischen, einen britischen und einen deutschen. Der britische ist flacher und sieht etwas wie ein Tropenhelm aus, der deutsche hat so etwas wie „Ohrenschützer“.
Im Innenhof vor der Kirche steht eine französische Reisegruppe. Die Führerin weist auf eine Besonderheit der Ausstattung der orthodoxen Kirchen hin: Es gibt keine Skulpturen. Leider folgt keine Begründung. Vermutlich ist das zu körperlich, zu weltlich. Die Führerin spricht auch von zwei Traditionen in der Ikonenmalerei, der mazedonischen und der kretischen. Die kretische hat dabei westliche Einflüsse aufgenommen, durch die lange Besatzungszeit der Venezianer. Das leuchtet ein und erklärt einige der Ikonen, die ich in Heraklion gesehen habe.
Vor dem Kirchenportal hinter Glas eine Steinplatte mit einem antiken Vertrag. Die Buchstaben außen kann man noch ganz gut lesen, die in der Mitte kaum. Die Steinplatte wurde jahrhundertelang als Altartisch benutzt, bis ein britischer Reisender entdeckte, dass es sich nicht um irgendeine Steinplatte handelte. Sagt viel über den Umgang der Griechen mit „ihrer“ Antike.
Die Kirche ist klein und auch wieder zweischiffig. Das ist aber von außen nicht zu sehen, sie ist in den Gebäudekomplex des Klosters eingebunden, und man kann eigentlich nur ahnen, dass dies der Eingang zur Kirche ist.
Hier gibt es aber, anders als in Arkadi, keine durchgehende Ikonostase. Ein dicker Pfeiler trennt sie, und davor hängt, ganz anders als ich es mir vorgestellt habe, auf Augenhöhe statt hoch im Chor, die Ikone, für die das Kloster berühmt ist: Kornarous Άξιον Εστί. Dieses Bild hat es in sich. Es ist ein Gewimmel und Gewusel von Szenen und Figuren – angeblich über eintausend! – in dem man immer mehr entdeckt, je länger man hinsieht. Die Szenen stammen aus dem Alten und dem Neuen Testament, sind aber zu einem geradezu kosmischen Blick zusammengefügt, mit Tierkreiszeichen, Gestirnen und der über alles thronenden Trinität.
Immer wieder taucht das Thema Wasser auf, und es verbindet auch ganz wörtlich verschiedenen Bildteile. Man ist selbst überrascht, wie oft das Wasser ein Motiv bei biblischen Szenen ist: die Taufe im Jordan, die Durchquerung des Roten Meers, die Sintflut, Jonas und der Walfisch, Moses auf dem Nil usw.
Das Paradies wird bevölkert von Tieren aller Art: einem Elefanten, einem Fuchs, einem Affen, einem Warzenschwein, einer Gans, einer Eule, sowie Fabelwesen wie einem Dinosaurier im Miniaturformat und einem geflügelten Dromedar.
Bei der Taufe schwimmen Fische und Biber im Jordan und Jesus steht auf einem Delphin. Beim Abendmahl sitzt man auf goldenen Stühlen an einem runden Tisch! Komisch, sprengt völlig unsere Vorstellung.
In dem Museum, das in dem südlichen Schiff untergebracht ist, gibt es noch eine ganze Ikonensammlung, aber nach diesem visuellen Paukenschlag verblasst das alles.
Ich gehe aus Neugier noch in den Andenkenladen. Hier gibt es Ikonen, die hier vor Ort hergestellt werden, in Handarbeit. Keine große Kunst, aber auch keine Massenproduktion. Ich frage die Verkäuferin nach den Preisen, und wir kommen ins Gespräch. Wo ich Griechisch gelernt hätte, will sie wissen, und das bringt uns auf die Griechischlehrerin zuhause und darauf, dass sie schwanger ist. „Da habe ich was für Sie!“ Sie sucht die Reihen mit den Ikonen ab und zieht dann eine heraus: Agios Stilianos. Das ist derjenige, der in der himmlischen Verwaltung für Schwangerschaften und Kinder zuständig ist. Und er hält ein Baby auf dem Arm!
Ich habe meine Freude an dem Mitbringsel und mache mich auf den Weg. Der nächste Halt ist in Palekastro, dem Namenspendant zu Paleokastro, wo ich dieser Tage war, ein unaufgeregter, ländlicher Ort etwas abseits der Küste mit gerade beginnendem Touristenbetrieb. An der Fassade der Schule haben Schulkinder Szenen aus Kreta in bunten Bildern festgehalten, einen Palmenstrand, Olivenbäume, den minoischen „Lilienprinzen“, eine Bucht mit Schiffen. Die Schiffe in der Bucht, wie an einer Schnur aneinandergereiht, so, wie sie in der Wirklichkeit nie vorkommen, erinnern an die Stadtansichten von Konstantinopel.
Bei der Ausfahrt aus dem Ort sehe ich ein Schild, das auf Accomodation hinweist. Später sehe ich dann noch Dead’s Gorge und Appartments. Und dann sagen sie, die griechische Orthographie wäre schwer.
Bei der Weiterfahrt nach Kato Zakros auf der einsamen Landstraße tausche ich die lange Klosterhose gegen eine kurze Touristenhose. Im Auto rollt auf einmal eine Apfelsine über den Boden. Das muss noch eine von den beiden Alten von der Fahrt nach Rethymnon sein. Ich genieße die leckere Apfelsine und die Erinnerung an die kurze Begegnung mit den beiden. Als ich wieder einsteige, kommt mir der Lastwagen mit dem Bagger und den Baumstämmen entgegen. Er scheint sie nicht losgeworden zu sein.
Auf der Weiterfahrt über die kurvenreiche Straße, die sich langsam immer weiter nach oben windet, mache ich mehrmals für ein Photo kehrt. Das ist ziemlich umständlich, es gibt kaum Platz zum Drehen. Meistens sind es Bildstöcke, die ich photographiere, mit Bergen, Meer oder Olivenplantagen im Hintergrund.
Dann geht es bergab. Die Berge fallen hier direkt ins Meer, es ist kein Platz für Bebauung, und deshalb ist es noch einsamer als in anderen Gegenden Kretas. Das ist alles so verlassen, dass ich mich frage, ob wir damals tatsächlich mit dem Bus hier runter gefahren sind.
Unten angekommen, in Kato Zakros, stößt man auf eine kleine Bucht mit Kiesstrand, an der prompt zwei deutsche Wohnwagen auftauchen. Kato Zakros ist kein Ort, nur eine Ansammlung von ein paar Tavernen, die von der Ausgrabungsstätte profitieren.
Kato Zakros ist der kleinste der minoischen Paläste. Man kann ihn tatsächlich mit einem Blick erfassen. Zuerst sieht man nur einen Haufen Steine. Aber je länger man zwischen den Steinen umherläuft, umso mehr Struktur bekommt die Sache. Die Mauern werden irgendwie höher, man entdeckt Bodenplatten, Säulenstumpfe, vor allem aber Räume, viele, kleine, verschachtelt angelegte Räume.
Nur die Orientierung fehlt mir wieder. Dabei ist hier die Rollenverteilung der einzelnen Palastteile besonders klar: Im Süden die Handwerksbetriebe, im Norden die Vorratsräume und die Küchen, im Westen der sakrale Bezirk und im Osten der Marktplatz, die Zone des Handels. Und genau dieser Bezirk war durch eine teils erhaltene Straße mit dem Hafen verbunden. Das ist eine Besonderheit von Kato Zakros: Man hatte keinen entfernt gelegenen Hafen, sondern den Hafen direkt vor der Haustür. Eine weitere Besonderheit ist der Rollentausch von Palast und Stadt. Hier liegt der Palast unterhalb der Stadt, völlig ungeschützt. Man sieht das als Zeichen dafür an, dass die Stadt den Palast als ihren betrachtete.
Was dem Laien sofort auffällt, ist etwas, was wirklich eine Besonderheit von Kato Zakros ist: Wasser. Habe ich in den beiden anderen Palästen noch gar nicht gesehen. Hier gibt es ein rundes Bassin, ein rechteckiges Bassin und eine Art Tümpel. Besonders witzig sieht das runde Bassin aus, klein, mit zwei, drei Stufen, die an einer Seite hineinführen, wie ein modernes Jacuzzi.
Tatsächlich handelt es sich bei diesen Bassins und Tümpeln um Zisternen. Das reichlich vorhandene Wasser aus den Bergen der Umgebung füllte sie in der Antike. Es gab insgesamt vier Zisternen, von denen eine rituelle Funktionen hatte. An einem der weiteren, jetzt trockenen Bassins sieht man am Rand Tröge angebracht. Deren Funktion ist bis heute unbekannt.
In dem Schlamm eins dieser Bassins hat man eine Tasse mit Oliven gefunden, vermutlich der älteste Olivenfund der Welt. Sie haben ihr Fleisch und ihre Farbe durch die feuchte Umgebung bewahrt.
Kato Zakros ist zerstört worden wie die anderen Paläste, aber nie mehr wiederaufgebaut worden. Und es ist gar nicht oder wenig ausgeraubt worden. Insgesamt wurden mehr als 10.000 Objekte gefunden! In den Werkstätten hat man Marmor, Bergkristall, Fayence und Elfenbein gefunden.
Der Umfang der Vorratsräume ist hier viel kleiner als in den anderen Palästen. Daraus hat man die Schlussfolgerung gezogen, dass man die Versorgung eher durch Handel als durch eigenen Anbau gesichert hat. Interessant. Als Nachweis für den Handel mit Ägypten und dem Nahen Osten – für den es durch seine Lage ganz im Osten prädestiniert war – gilt das Vorhandensein von Elefantenzähnen und Bronzebarren. Und der Fund großer Baumsägen aus Bronze gilt als Beleg dafür, dass von hier aus Holz nach Ägypten exportiert wurde.
Ganz in der Nähe der Ausgrabungsstätte ist der Eingang zum Tal der Toten, einer weiteren Schlucht. Sie hat ihren Namen von den Minoern, die hier ihre Toten begruben. Die Gräber wurden allerdings vollständig ausgeraubt. Ich gehe ein ganzes Stück in die Schlucht hinein. Sie ist ganz anders als die Sarakina-Schlucht, viel breiter und mit viel mehr Vegetation. Auch das Wasser scheint hier, jedenfalls in diesem ersten Teil, kein Problem zu sein. Es ist nur ein schöner Bach, der am Weg entlang läuft und hin und wieder überschritten werden muss. Die Besonderheit dieser Schlucht ist, dass Pflanzen auf sehr informativen Schildern erklärt werden. Dabei erfahre ich, dass eine der vielen gelben Blüten, die man hier vor Ostern so oft gesehen hat, φλόμος heißt, ‚Königskerze‘. Vor dem milchigen Saft der Pflanze wird gewarnt: giftig. Ebenfalls gelb und ebenfalls giftig ist die Αναγύρις – Anagyris. Hier sind es die Früchte, die giftig sind. Sie sehen wie Bohnen aus, wird erklärt. Sie heißt auf Deutsch auch Stinkstrauch! Und bei der dritten gelben Pflanze, ρούτα, handelt es sich um einen Strauch, der auf Deutsch Rauten heißt. Davon gab es die allermeisten.
Bei der Weiterfahrt komme ich, es ist kaum zu glauben, in noch einsamere Gegenden. In Xerokambos, dem äußersten südöstlichen Zipfel der Insel, fahre ich zum Meer hinunter: feiner, weißer Sandstrand, eine geschützte Bucht, ein paar dekorative Felsen im Meer und kein Mensch weit und breit.
Leider geht es unten an der Küste nicht weiter, man muss wieder ein bisschen ins Land fahren. Irgendwo frage ich an einer Tankstelle nach Moni Kapsa. Der Junge verzieht das Gesicht und sagt mit der typisch griechischen Mimik, wortlos: „Keine Ahnung!“ Wir sehen uns die Karte an, und ich zeige auf mein Ziel. Es ist in der Nähe von Kalo Chorio. Jetzt weiß er Bescheid, und wiederholt immer wieder, laut und deutlich „Kalo Chorio!“, „Kalo Chorio!“, so als wolle er mir sagen: „Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?“. Daraufhin erklärt er mir in voller Lautstärke und unvollständigen Sätzen immer wieder von neuem den Weg, und zwischendurch kommt immer wieder „Kalo Chorio!“. Er sagt mir aber nur, was ich ohnehin schon weiß. Macht nichts.
Es geht durch das Inland und dann nach Makrigialos, einen Ort, den ich vom Winter als einen der hässlichsten auf Kreta in Erinnerung habe. Jetzt ist es nicht mehr so schlimm, und die Strandpromenade ist sogar ausgesprochen schön, eine gute Mischung aus Myrtos und Ierapetra, mit einem sanft ins Meer fallenden, feinen Sandstrand und einem Lokal nach dem anderen. Viele Hinweisschilder in skandinavischen Sprachen, denn in der Nähe ist ein großes Hotel, das fast ausschließlich skandinavische Kunden hat. Aber auch auf Deutsch wird man begrüßt: „Unsere Familie begrüßt Ihnen und Ihren Kindern“.
Nach einem Kaffee geht es an der Küste entlang Richtung Ierapetra und dann ein kurzes Stück von der Küste weg. Dort bleibe ich vor einem eingezäunten Feld mit Sonnenkollektoren stehen. Vorher habe ich schon Windräder gesehen. Kretas Zukunft? In dem eingezäunten Areal ein Schaf, mit dicker Wolle, das immer am Zaun auf und ab läuft. Es hat sich wohl hierher verlaufen und kommt nicht mehr raus.
Zum Abschluss des Tages geht es dann in die Σπηλιά του Δράκου, die Drachenhöhle, eine etwas erhöht liegende traditionelle Taverne mit herrlichem Blick auf das etwas entfernt liegende, sonnenbeschienene Meer. Ich sitze kaum auf der Terrasse, als schon warmes Holzofenbrot mit Oliven und Tomaten aufgefahren wird. Danach gibt es Mezedes: Dolmadakia, Tsatsiki, Bohnen, Rote Beete, Fava, Paprika und, am besten, frittierte Zucchini-Kügelchen mit Kräutern aus dem eigenen Garten. Zum Nachtisch gibt es auf Kosten des Hauses μούσμουλο. Das ist die gelbe Frucht, die man jetzt überall an den Sträuchern sieht. Von der Konsistenz wie Pfirsich, aber etwas härter und etwas bitterer im Geschmack, mit zwei, drei dicken Kernen.
Die Wirtin fragt mich, wie ich auf ihre Taverne gekommen sei. Da kann ich ihr gleich drei Quellen nennen: Reiseführer, Internet, Stammgäste.
Als ich dann zuhause ankomme, habe ich zum ersten Mal das Gefühl, genug gesehen zu haben von Kreta.
6. Mai (Mittwoch)
Manolis hat erfahren, dass ich bei dem Lauf in Ierapetra dabei war. Er hat seine Fühler überall. Die Veranstalter waren nicht ganz zufrieden mit dem Lauf, es habe noch ein paar Probleme bei der Organisation gegeben, aber das werde man im nächsten Jahr angehen. Der Lauf findet auf Initiative eines Händlers statt. Irgendwas mit Lebensmitteln. Ich spreche ihn auf das Motto des Laufs an, Gegen den Hunger und die soziale Ausgrenzung. Das veranlasst ihn zu einem ironischen Kommentar darüber, wie arm die Griechen jetzt seien. Und zu einer Wutrede über die Bilder, die hungernde Griechen zeigen. Was das denn solle? Welcher Eindruck das denn wohl im Ausland macht? Als ob die Griechen am Hungertuch neigten. Eine ganz eigene Perspektive.
Beim Frisör übernimmt diesmal die Chefin selbst die Arbeit. Das Mädchen hat heute frei. Sie hat montags und mittwochs immer frei, also an den Tagen, an denen nachmittags geschlossen ist. Sie hat da „richtig“ frei, nicht frei, um zur Schule zu gehen. Das jedenfalls glaube ich zu verstehen. Das Geschäft gehe gut, mal besser, mal schlechter, sagt sie, aber sie sei zufrieden. Ich habe den Laden tatsächlich noch nie ohne Kundschaft gesehen. Sie ist seit sieben Jahren selbständig, seit zwei Jahren hat sie diesen Salon.
Danach versuche ich, in einem wunderbaren Schuhgeschäft Sandalen zu kaufen. Vergeblich. Das Ein-Raum-Geschäft ist dunkel, mit Schuhkartons vom Boden bis zur Decke an drei Seiten und nur wenig Platz zum Anprobieren. An einer Seite hängt ein Spiegel, um die die Schals von zwei griechischen Fußballvereinen gewickelt sind, und darüber ist eine Ikone mit dem Drachentöter Georg. Die Schuhe sind sehr preisgünstig, aber passen nicht. Es klappt dann in dem zweiten Geschäft. Das ist auch klein, aber hell, mit Glasfronten zu zwei Seiten, und man sieht keinen einzigen Schuhkarton, nur einzelne Schuhe, und die sind ausschließlich im Schaufenster. Man zeigt dann auf den Schuh, den man haben will, und die Verkäuferin geht nach oben und holt die Schuhe. Hier passen die Schuhe, sind aber viel teurer.
In einer Bäckerei frage ich aufs Geratewohl, ob es hier auch frische Milch gebe. Ja, sagt die Frau hinter der Theke etwas zögerlich, aber nur Ziegenmilch. Ich zögere auch einen Moment und frage dann, überflüssigerweise, ob die ganz anders schmecke als Milch von der Kuh. Ja, sagt die Verkäuferin, aber sie und ihre Familie tränken nur Ziegenmilch. Ich nehme einen Karton mit, allerdings zu astronomischen Preisen: 2,40 €. Zu Hause mache ich dann den Test, mit zwei Gläsern, unmittelbaren Geschmacksvergleich. Besser wäre die Blindverkostung gewesen. Die Ziegenmilch schmeckt jedenfalls überraschend „normal“. Sie ist höchstens etwas intensiver im Geschmack.
Angesichts von zwei pummeligen Mädchen in einer Eisdiele erinnere ich mich an unseren merkwürdigen Führer in Knossos, der die Bemerkung gemacht hatte, die griechischen Kinder seien die dicksten Europas. Ein paar Prachtexemplare habe ich tatsächlich gesehen. Es wäre ein kompletter Umschwung im Vergleich zur erwachsenen Bevölkerung, die als besonders gesund gilt.
Als ich an einem Einrichtungsgeschäft vorbeikomme, erinnere ich mich an die Vorhänge in Kalyves, bei denen für jedes Fenster zwei verschiedene Muster, sehr verschiedene Muster, verwendet wurde, Muster, die auf den ersten Blick gar nicht zusammenpassten. Der Wahnsinn scheint Methode zu haben. Hier im Schaufenster ist es genauso.
7. Mai (Donnerstag)
Bei der Fahrt zur Autowäsche nach Ierapetra steht unterwegs an einer Bushaltestelle eine ältere Frau. Will sie mitfahren? Zuerst zögert sie etwas. Wer ich denn sei, will sie wissen. Ich erkläre es, und sie steigt ein. Dann wird sie sehr schnell gesprächig. Vier Enkel, der älteste angehender Mediziner in Chania, in einer in Kreta ganz neuen Disziplin. Sie will zum Einkaufen in die Stadt und zu einem Stadtbummel. Ich erzähle von der Autowäsche und von dem bevorstehenden Besuch meiner Schwester. Sie wird immer zutraulicher. Das mit den Ausländern sei so: Es gebe jetzt so viele, Pakistanis und Bulgaren und wie die alle heißen, da müsse man vorsichtig sein. Ich versuche ein bisschen zu relativieren und sage, die Albaner in meiner Pension seien alle sehr nett gewesen. Ja, sagt sie, klar, natürlich seien nicht alle schlecht. Sie will zum Inka, und da ich dort ohnehin vorbeikomme, setze ich sie vor der Tür ab. Am Ende wirft sie noch schnell ein, Frau Merkel koste sie viele Nerven. Um dann hinzuzufügen: Aber sind ja selbst schuld. Mit einem freundlichen Lächeln und emphatischem Dank verabschiedet sie sich.
Der junge Mann bei der Autowäsche macht wieder ganz vorzügliche Arbeit. Und als ich einsteige, finde ich auch meinen vermissten Kuli wieder und im Kofferraum eine weitere Apfelsine!
Ich gehe noch bei dem kleinen Laden vorbei und sage, dass die Ziegenmilch mir gut geschmeckt habe. Die Frau freut sich und erklärt, sie seien umgestiegen, nachdem sich herausgestellt hat, dass einer der Söhne eine Allergie gegen Kuhmilch hat. Hätte nicht gedacht, dass man dann Ziegenmilch vertragen kann.
Auf dem Rückweg habe ich eine Autofahrerin vor mir, die, ohne sich um die Autos hinter ihr zu scheren, ihre Apothekentour aus dem Auto heraus macht. Sie bleibt auf Höhe der Apotheke stehen und ruft ihr Anliegen durch die geöffneten Türen der Apotheken. Bei den ersten beiden geht es schnell, bei der dritten dauert es.
8. Mai (Freitag)
Nach einer umständlichen Fahrt nach Heraklion und dem misslungenen Versuch, dort noch eine Mission zu erfüllen, geht es zum Flughafen.
Der Flug ist überpünktlich, aber beim Warten auf die Koffer geht die gewonnen Zeit wieder verloren. Dann habe ich aber das Vergnügen, noch einmal Besuch aus der Heimat in Empfang zu nehmen. Was kann einem in die Fremde verschlagenen Mann Besseres passieren, als eine Schwester in die Arme zu nehmen? Sie kommt blass, aber nicht leichenblass an. Der Flug ist gut überstanden worden. Im Koffer befinden sich Schwarzbrot, Marmelade, Käse und Cantuccini. Die nächsten Tage sind gesichert.
Wir machen Halt in Agios Nikolaos bei Frappé und Jogurt mit Honig und gehen die Treppe hinter dem See rauf und laufen durch die verschiedenen Teile der Stadt, am Strand, Marine, Hafen und See entlang.
In Myrtos machen wir einen Spaziergang durchs Dorf. Dabei sehen wir Petunien, Oleander, Bougainvillea, Geranien, und ich erfahre, dass eine der gelben Blumen definitiv Ginster ist. Die auffälligen blauen Blumen mit gelbem Samenfeld bleiben vorläufig ein Geheimnis. Überall treffen wir auch auf den Pfeifenputzer mit seinem lustigen Aussehen. Den scheint es in unseren Breiten nicht zu geben.
Am Abend werde ich ins Platanos eingeladen und erfahre, dass der Baum, unter dem wir sitzen, keine Platane, sondern ein Ahorn ist. Wir werden von einem jungen Mann mit dunkelblondem Pferdeschwanz bedient. Er spricht mit auf das T-Shirt mit dem durchschossenen Verkehrszeichen an, wie heute Morgen schon eine junge Frau am Flughafen. Scheint gut anzukommen. Er ist der Sohn einer Deutschen und eines Griechen, den Besitzern des Lokals. Er spricht auch gut Deutsch, aber seine Muttersprache ist offensichtlich Griechisch. Statt eines großen Gerichts bestellen wir Mezedes und haben unsere Freude daran.
9. Mai (Samstag)
Das Mädchen beim Bäcker begrüßt den Gast aus Deutschland sehr freundlich und lässt erst gar keinen Zweifel aufkommen: „Your sister?“ Genau zum richtigen Zeitpunkt gibt es wieder Spanakotiropita. Später sehen wir uns die komplizierte Zubereitung im Internet an. Außerdem nehmen wir eine Bougatsa mit. Die schmeckt hier besonders gut.
Am Ortsausgang von Myrtos sitzen am Straßenrand ein alter Mann und eine alte Frau. Wir haben sie gestern Abend aus der Distanz auf dem Platz in der Mitte des Dorfes gesehen. Sie reparieren Stühle. Offensichtlich sind sie ambulante Handwerker. Sie reisen mit einem Transporter durch die Gegend, der etwas abseits steht. Jetzt haben sie sich hierher gesetzt, weil sie vermutlich die Stühle der Pension hinter ihnen reparieren. Es sind die traditionellen Stühle mit kleiner, quadratischer Sitzfläche, wie man sie früher immer vor griechischen Häusern vorfand. Die Sitzfläche ist geflochten. Die Frau setzt mit großer Kraft mit einem Messer an einer Stelle des Flechtwerks an und beseitigt es, der Mann erneuert es. Es scheint natürliches Material zu sein.
Ganz in der Nähe sehen wir vor einer Schule einen merkwürdigen Baum mit kahlem Stamm und dicken Früchten ganz oben unter den Blättern. Was kann das sein? Die Früchte sehen aus die Kokosnüsse, aber der Baum passt nicht dazu. Vielleicht Mango?
Wir fahren nach Selakano, um eine Wanderung durch den Wald zu machen. Die Fahrt ist länger und umständlicher, als ich sie in Erinnerung hatte und als es auf der Karte aussah. Wir sind aber richtig. Spätestens merke ich das an der einsamen Kapelle vor der Felswand. Die ist diesmal offen. Auf dem Altartisch in dem schummrigen Raum liegt eine ganze Reihe von Ikonen unterschiedlicher Machart. Darauf kommt es hier sicher nicht an.
Wir finden die Stelle, die im Reiseführer als „Parkplatz“ bezeichnet wird und machen uns auf den Weg. Wir nehmen eine Abbiegung, die keine ist, steigen hinauf, gehen weiter und stellen dann auf einmal fest, dass wir wieder genau da gelandet sind, wo wir losgegangen sind.
Also noch mal von vorn. Diesmal richtig. Bald kommen wir an Bienenstöcken vorbei, wie vorher schon, aber bald merkt man, dass die der Orientierung nicht gerade dienlich sind. Davon gibt es einfach zu viele. Es ist bezeichnend, dass der einzige Mensch, dem wir an dem ganzen Vormittag begegnen, ein Imker ist.
Auch in einem Graben sehen wir Bienen, und hören sie vor allem. Wir beugen uns darüber und fragen uns, was die da unten zu suchen haben. Blüten sind keine zu sehen, wohl aber von den Bäumen abgefallene, wurmartig aussehende kleine Früchte, wie Schoten aussehend. Locken sie die Bienen an?
Wir haben eine kleine Durststrecke und fragen uns, ob wir noch richtig sind, aber irgendwann geht es deutlich bergab. Das muss richtig sein. Dennoch dauert es noch ein ganzes Stück, bis wir wieder im Tal sind und dann noch eine Weile, bis wir das Auto wiederfinden.
Wir landen in einem am Rande dieses Streudorfes versteckt gelegenen Kafeneion. Dass es hier in der Wildnis überhaupt so etwas gibt! Männer sitzen draußen und essen oder trinken Raki. Sie sitzen aber geschützt unter einer Überdachung. Das ist auch nötig. Hier weht ein frischer Wind. Bedient werden wir von einem alten Mütterchen, das aber sehr agil ist, die Artischocken vom Tisch nimmt, die Decke reinigt und dann einen leckeren Frappe serviert.
Wieder in Myrtos gehen wir zum Strand und diesmal beide ins Wasser. Mein Eindruck wird bestätigt, dass es zwar kalt ist, aber man die Kälte nur am Anfang empfindet. Und außerdem fühlt es sich gut an, wenn man herauskommt und nicht friert.
Am Strand kommen wir mit einer jungen Russin ins Gespräch, Mutter zweier Jungen, die gerade aus dem Wasser kommen. Sie sagt, die Russen würden Schätzungen zufolge schon nächstes Jahr die größte Touristengruppe in Griechenland stellen. Das führt sie auf die gemeinsame orthodoxe Tradition zurück. Und so kommen wir auf die Koliva zu sprechen. Und sie weiß bestens Bescheid. Witzig der Unterschied in der Aussprache zwischen dem Russischen und dem Griechischen. Ich bin nicht sicher, ob man das Wort identifizieren würde, wenn man es nicht kennt.
10. Mai (Sonntag)
Am Vormittag steigen wir auf die Dachterrasse, um von oben einen Blick auf die Umgebung zu werfen. Dort treffen wir auf das schwäbische Ehepaar, die uns am Vorabend ihren Korkenzieher ausgeliehen haben. Sie stehen vor der Weiterreise nach Sitia. Und erzählen, man habe ihnen berichtet, dies sei der strengste Winter seit 70 Jahren gewesen.
Wir gehen der Straße entlang nach Tertsa. Aufmerksame Augen zeigen mir, was ich in einem halben Jahr nie gesehen habe: eine Wasserleitung ganz hoch oben an einem Felsen, ein ausgetrocknetes Flussbett, eine antike Begrenzungsmauer an dem rätselhaften archäologischen Feld direkt an der Straße, von dem ich bisher nichts als die Hinweistafel entdeckt habe. Gemeinsam fragen wir uns, was die allein stehende Akazie auf der Bergkuppe zu suchen hat, wann das klotzige Felsenstück, das die Form eines überdimensionierten Sarkophags hat, auf dem Abhang ins Rutschen kommt und wie die säuberlich auf schwarzem Grund angebrachten vier weißen Buchstaben auf den unzugänglichen Fels in der Mitte gekommen sind. Am Wegesrand stehen stolze Disteln, die aussehen wie Palmen im Miniaturformat. Außerdem sehen wir Mais und wilde Artischocken.
Ich muss meine Meinung korrigieren, dass das Blau des Himmels langweilig ist. Man muss einfach in verschiedenen Richtungen gucken. Zum Meer hin ist der Himmel heller, zum Land hin dunkler. Auch dieser Tage in Selakano war er schön, wenn man ihn durch die Zweige sah.
In Tertsa, wo es erstaunlich lebendig zugeht bei dem kleinen Ort, gehen wir noch ein Stück den Strand entlang und bewundern, zusammen mit einer Handvoll Touristen, die sich hierher verirrt haben, die höhlenartigen Felsen am Strand und die Felsbrocken, die hier dekorativ im Wasser und auf dem Sand herumliegen. Wir setzen uns in ein Strandcafé und beobachten die Griechen bei ihrem morgendlichen Ausgang. Es wird meist Kaffee und Wasser getrunken und etwas Raki. Die Getränke werden auf einem orientalisch aussehenden metallenen Tablett mit Bügel serviert.
Am Ende einer umständlichen Diskussion über Schriftarten steht für mich eine neue Erkenntnis: Griechische Handschriften ähneln der Druckschrift insofern, als viel häufiger als bei uns abgesetzt wird. Die Buchstaben laufen nur in Ausnahmefällen, z.B. bei Doppelvokalbuchstaben, ineinander. Sonst gibt es meist einen Zwischenraum. Das könnte auch erklären, warum meine eigene Handschrift mit griechischen Buchstaben leserlicher ist als die mit lateinischen Buchstaben!
Am Abend habe ich das Vergnügen, ins Katerina eingeladen zu werden, dem ersten Lokal am Platze, ganz neu für mich. Wohl dem, der eine Schwester hat. Als die Rechnung kommt, sind die zarten Gefühle der Unwohlseins bereits in Wein und Raki erstickt.
Die Tische stehen hier auf der Straße, unter einer begrünten Pergola, und als es dunkel wird, gehen die Lichter an. Das ist wohl die photogenste Stelle von Myrtos. Könnte in jedem Reiseprospekt erscheinen.
An den Nachbartischen Paare aus Holland, Deutschland und Frankreich. Aber wer sind die an der langen Tischreihe Sitzenden? Als wir kommen und direkt an ihnen vorbeigehen, warten sie auf die Bestellung. Schweigend. Als wir bestellen, essen sie. Schweigend. Als wir essen, sitzen sie noch eine Weile zusammen. Schweigend. Taubstumme? Wir spekulieren darüber, wer sie sein können, und aus einer Laune heraus sage ich: „Müssen wohl Finnen sein“. Wir fragen die Wirtin, und die sagt: „Das ist eine finnische Wandergruppe.“ Es lebe das Stereotyp.
Die Finnen sind hier gut aufgehoben, da die Wirtin selbst Finnin ist. Als sie gehen, sagen sie der Wirtin demonstrativ Auf Wiedersehen!“, so als wollten sie beweisen, dass sie doch sprechen können.
Die Wirtin bewältigt die gesamte Bedienung ganz alleine und bleibt dabei sehr freundlich und geduldig. Allerdings ist sie in ihrem Kommunikationsverhalten etwas einseitig. Man spricht mit dem Mann. Und der bekommt auch das Wechselgeld, obwohl die Frau bezahlt. Gute Sitten haben sie in Finnland.
Hin und wieder erscheint auch der Wirt, mit karierter Bäckerhose, und hilft aus. Er ist der Koch und auch der Bäcker. Das Brot, wohl mit Olivenöl zubereitet, ist auch aus eigener Produktion. Mehrmals erscheint er, mir kindlichen Stolz und sichtlicher Freude, um Saganaki zu servieren. Das wird hier flambiert serviert. Das habe er, sagt er, in einem Hotel in Norddeutschland gelernt, in Lübeck.
11. Mai (Montag)
Am Vormittag gehen wir durch Ierapetra und essen anschließend Loukoumades in einem Café. Das hat zur Folge, dass wir zu spät in Kapsa eintreffen und das Kloster mal wieder verschlossen vorfinden. Diesmal kommt aber ein Pope zu der Klappe und erklärt uns freundlich, jetzt sei Mittagszeit. Dabei lassen wir uns eine große Chance für ein schönes Photo entgehen, das bärtige Gesicht hinter der Klappe in der Holztür.
Wir schnüren uns Wanderschuhe an und gehen in die benachbarte Schlucht. Sie ist weit, mit nackten Felswänden zur einen Seite, dort, wo oben das Kloster steht (mit einem üppigen Kakteengarten, der oben über den Felsen sichtbar ist), und mit höhlenartigen Vertiefungen im Fels auf der anderen Seite. Am Boden gibt es allerlei dorniges Gestrüpp, aber auch hellen Mohn. Besonders kurios ist ein rundliches, gelb blühendes Gestrüpp, das immer im Verbund mit Thymian auftritt. Vielleicht sucht der Thymian den Schutz des dornigen Gewächses.
Wir fahren nach Makrigialos und trinken an der Strandpromenade Orangensaft und Kaffee. Es ist warm, und die Atmosphäre ist angenehm, ruhig, aber mit gerade genug Betrieb, um nicht ausgestorben zu wirken.
Bei der Weiterfahrt sehen wir den inzwischen grünen Kartoffelacker, auf dem gerade gesät wurde, als wir im Februar hier vorbeikamen. Das Schaf von der Vorwoche ist immer noch zwischen den Sonnenkollektoren. Es wird von anderen Schafen außerhalb der Einzäunung gerufen, reagiert aber nicht. Überall stehen hier Kisten herum, mit denen vermutlich die geernteten Früchte transportiert werden.
Überraschendes Ergebnis des Milchtests nach der Rückkehr nach Myrtos. Erste Reaktion beim Blindversuch: kein großer Unterschied. Dann, nach einigem Zögern, falsche Zuordnung: Kuhmilch wird für Ziegenmilch gehalten!
12. Mai (Dienstag)
Am Morgen fragen wir Zoe nach den auffälligen blauen Blumen, aber sie weiß auch nicht, worum es sich handelt. Sie weiß aber, dass es wild wachsende Blumen sind. Danach sehen sie nicht aus. Und sie weiß, dass sie sich nachts schließen, und tatsächlich sind sie auch jetzt noch geschlossen. Das bringt uns dann irgendwie auf die Spur. Wir finden den Namen heraus, und der könnte einleuchtender gar nicht sein: Mittagsblumen.
Wir machen einen langen Spaziergang durchs Dorf und dann landeinwärts bis zur alten Brücke. Am Ortsrand sehen wir jetzt auch mal einen Feigenbaum mit Früchten. Und der Pfeifenputzer präsentiert sich gleich in verschiedenen Entwicklungsstadien: blühend, verblüht, sprießend und im Stadium vor dem Sprießen, alles in wenigen benachbarten Zweigen.
Am Straßenrand sehen wir eine Ameisenautobahn, mehrere Meter lang. Es ist ein richtiges Spektakel. In zwei Reihen laufen die Ameisen geschäftig in zwei Richtungen, in eine Richtung leer, in die andere bepackt. Dabei transportieren einige einen Halm, der doppelt so lang wie sie selbst ist. Was treibt sie an? Wer lenkt das Geschehen. Woher wissen sie, was sie tun müssen? Wissen sie, was sie tun?
Dann sehen wir Schnecken. Auch die hätte ich alleine übersehen, kleine, weiße Schnecken mit Gehäuse, unbeweglich an den kahlen Ästen eines Strauchs hängend. Es ist immer derselbe Strauch. Warum sitzen sie nicht auf den Blättern? Haben sie die Äste leergefressen? Nein, das scheint es nicht zu sein, denn dann sehen wir sie auch an Maschendrahtzäunen hängen, in Trauben.
In freier Natur sieht man jetzt nicht mehr so viel Obst an den Bäumen hängen, höchstens ein paar Apfelsinen und Zitronen. Die große Ausnahme ist die Mispel. Die hängen jetzt ganz voll mit den gelben Früchten, μούσμουλο. Wir haben in Ierapetra ein paar gekauft und probiert. Schmeckten besser als die, die ich im Restaurant bekommen habe, waren vermutlich einfach reifer. Ich hatte sie mit Pfirsichen verglichen, aber die Ähnlichkeit mit der Birne ist wohl größer. Wie die Frucht im Deutschen heißt, weiß ich immer noch nicht. Der Baum heißt auch Loquat, wie im Englischen.
Einige der Gewächshäuser werden jetzt gelüftet, was bei dem Wetter einleuchtend ist, andere aber nicht. Wir können durch einen Schlitz hineinsehen: Auberginen, Tomaten, Paprika, alle an Ranken hochwachsend, Apfelsinen dagegen an ganz normalen Bäumen. Warum sind sie in Gewächshäusern? Draußen scheinen sie auch prächtig zu gedeihen. Wir kommen in kein Gewächshaus rein. In einem sitzt ein Wärter, und der sagt, er sei nicht der Chef und habe keinen Schlüssel. Sonst ist weit und breit niemand zu sehen.
Gute Beobachtung: Hier sieht man weder Rollatoren noch Rollstühle. War mir auch noch nicht aufgefallen. Als ob er diese Beobachtung widerlegen wollte, kommt genau in dem Moment ein Rollstuhl um die Ecke. Aber es ist ein ausländischer Tourist. Der „zählt“ nicht. Hier benutzen die Alten, vor allem die Männer, weiterhin einen Stock.
Noch eine Frage, die ich mir noch nie gestellt geschweige denn beantwortet habe: Woher bekommen die Lokale in Myrtos ihren Fisch? Wir sehen einen Mann mit Angel an der Strandpromenade. Angeln sie selbst? Oder beauftragen sie jemanden damit?
Nach einem Kaffee an der Strandpromenade und Schuhwechsel klettern wir nach Pyrgos hinauf, der ersten Ausgrabungsstätte, die ich hier besucht habe. Über den ganz schmalen Pfad geht es über Felsen und an dornigen Büschen vorbei hinauf. An einer Stelle geht es auch zwischen den violetten Büschen her, die so dicht stehen, dass man fast dazwischen verschwindet. Oben hat man eine gute Aussicht in die Ferne, in beide Richtungen. Weit hinten im Landesinnern wird planiert. Straße oder Gewächshäuser? Oben fragen wir uns, welche Steine original sind und welche nicht. Gar nicht so einfach zu beantworten, zumal hier in verschiedenen Phasen gebaut wurde. Wir fragen uns auch, ob die Steine bearbeitet wurden. Bei dem flachen Vorhof mit farbigen Steinen scheint das nicht der Fall zu sein.
Am Nachmittag lerne ich Neues über Kreta, als Passagen aus dem Reiseführer vorgelesen werden. Einmal geht es um die Ikonen. Es heißt, sie würden mit Leinöl übergossen, und zwar ein Jahr nach der Fertigstellung der Malerei. Es entsteht ein Firnis, und der wird abgetragen, und übrig bleibt eine feine Schicht, die die Farben der Ikonen erhält. Ohne sie würden die Farben durch Austrocknen ihre Leuchtkraft verlieren.
In einer anderen Passage geht es um die Oliven in Kreta. Sehr kritisch wird angemerkt, dass es sich hier um einen vielfach subventionierten Betrieb handelt, der Monokulturen entstehen lässt und Raubbau am Wasser bedeutet.
Am Abend gehen wir in ein Lokal an der Strandpromenade. Wir werden von einer sehr freundlichen jungen Kellnerin bedient, die stolz darauf verweist, dass es sich um einen Familienbetrieb handelt. Die Mutter steht in der Küche, der Vater stelle Öl und Essig her, und die leckeren Bohnen stammen aus dem eigenen Garten in Symi. Sehr gut schmecken hier auch die warmen Dolmadakia, die wir als Vorspeise bestellen. Und der Raki, den es auf Kosten des Hauses zum Abschluss gibt, ist auch nicht zu verachten.
Wir fragen uns, ob es hier nicht ein Überangebot gibt, sowohl an Gastronomie als auch an Unterkünften. Es gibt neben der Apartmentanlage oben über dem Dorf ein Hotel an der Strandpromenade, eins am Ortseingang, dann das Mirtos in der Dorfmitte und noch eins ein kleines Stück vor dem Ortseingang. Und in jedem zweiten Haus werden Privatzimmer vermietet. Von all dem ist auch jetzt, im Mai, nur ein kleiner Teil besetzt. Kaum zu erwarten, dass im Juni plötzlich der ganz große Ansturm ausbricht. Dann ist die Saison wirklich kurz, zwei, vielleicht drei Monate. Und bei den Lokalen ähnlich. Die meisten an der Strandpromenade sind jetzt geöffnet. Viele haben zwei Reihen von Tischen draußen, einige auch noch Tische drinnen. Richtig voll ist es nirgendwo.
13. Mai (Mittwoch)
Auf dem Weg nach Heraklion fallen ein paar Tropfen, aber dabei bleibt es. Ein Tag mit Sonne und Wolken. Wir machen Halt am Denkmal in Ano Viannos und am dem Baum mit Wasserhahn. Die Fahrt ist schnell und unproblematisch.
Am Flughafen parken wieder Autos auf abenteuerliche Weise über dem Graben am Straßenrand, darunter ein deutscher mit dem Kennzeichen LIF-E 1000. Wir aber fahren ordnungsgemäß auf dem Parkplatz. Dort werden Autos abgeschleppt. Warum? Man kann doch hier parken, solange man will.
Trotz einer langen Schlange in der Abflughalle geht bei der Abfertigung alles schnell und komplikationslos. Der Abschied erfolgt in zwei Stufen, erst in der Abflughalle und dann noch mal mit einem Winken, als ich vom Parkplatz komme.
Ich habe noch eine Rechnung offen mit Lychnostatis, dem Freilichtmuseum an der Nordküste, in Chersonissos. Die Stadt ist auch jetzt trostlos, daran können auch Touristen in Hawaiihemden und Life Spice, der Erotikladen, nichts ändern. Aber das Museum liegt außerhalb des Ortes, gleich am Meer, sehr ruhig. Und ist geöffnet.
Alles ist sehr schön arrangiert, aber die Information ist trotz Audioguide völlig unzureichend. Aber man kann sich das auch so ansehen. Es gibt einen Obstgarten, einen Kräutergarten, eine Kapelle, eine Zwergschule, das Wohnhaus einer wohlhabenden Familie, eine Windmühle, eine Ölmühle, ein Bienenhaus, ein Herbarium, eine Keramikwerkstatt, eine Weinpresse und vieles anderes.
Unter den vielen Obstbäumen sind nur zwei, die Früchte tragen, ein Zitronenbaum und ein Granatapfelbaum, und deren Früchte sind noch in einem ganz frühen Stadium. Auch die Mispel, die in der Natur jetzt überall voll von Früchten ist, hat hier keine. Einen ganz besonderen Platz hat man dem Johannisbrotbaum eingeräumt. Neben ihm stehen Säcke mit Schoten und eine große Johannisbrotbaummühle mit rotierenden löchrigen Walzen. Das Johannisbrot war für die Nahrung von Tier und Mensch auf Kreta ganz wesentlich. Aus den Samen wurde Mehl gemahlen und aus den Schoten gewann man ein Getränk und einen Sirup, der als Süßstoff diente.
Interessant auch die Färberei. Hier berichtet eine alte Frau, die von ihrer Mutter das Weben lernte, wie sich als Autodidakt zu einer Expertin fürs Färben wurde. Sie versuchte es einfach, immer wieder, und machte dabei die Entdeckung, dass nicht alle Pflanzen färben. Sie fügte dem Wasser, in dem Garn schwamm, eine Pflanze hinzu, wartete auf das Ergebnis und legte sich so im Laufe der Zeit eine Datenbank an, mittels deren sie alle möglichen Farbschattierungen herstellen konnte. Unter anderem verwendete sie den Granatapfel für Rot, Walnussschalen für Braun und Zwiebeln für Beige. Dem Wasser wurde auch noch Salz und Essig beigefügt.
Das kurioseste Ausstellungsstück ist das erste Wassermotorrad, in Chania erfunden. Es ist ein Tandem, mittels dessen ein Motor angetrieben wird, der wiederum eine Art Katamaran antreibt.
In dem schön angelegten Kräutergarten fällt ein gelbes Kraut auf, eine der vielen gelben Pflanzen, die vor Ostern hier blühten und die ich nie identifizieren konnte. Dass es sich dabei um ein Kraut handelt, hätte ich nicht gedacht. Dies wäre natürlich der richtige Ort, das zu erfahren, aber diese Pflanze ist nicht etikettiert. Im Vorbeigehen höre ich, wie bei einer Führung für Kinder auf eine Lavendel-Art hingewiesen wird, die angeblich das Geheimnis von Coca-Cola enthält. Sie riecht stark und angenehm, aber nicht nach Coca-Cola.
Ich mache mich auf den Rückweg nach Myrtos und komme dabei durch eine Umleitung auch noch durch Malia, ein Ort, der Chersonnissos Konkurrenz macht als Rummelplatz, trotz seiner historischen Bedeutung.
Kurz vor Ierapetra mache ich noch ein Photo von der ganz oben, völlig isoliert auf einer Bergspitze liegenden Kirche, weit von der Straße entfernt liegend und leicht zu übersehen. Wir haben sie dieser Tage bei der Hinfahrt entdeckt.
14. Mai (Donnerstag)
Am Tag vor der Abreise zeigt sich Myrtos sommerlich: heller Sonnenschein, keine Wolke am Himmel, schön warm. Ein bisschen windig ist es aber. Die Flagge weht jedenfalls im Wind, nicht wie vorgestern, als sie ausnahmsweise mal schlapp vom Flaggenmast herunterhing.
Zum Laufen ist es fast zu warm, aber fürs Meer gerade richtig. Unterwegs sehe ich zum ersten Mal Ziegen ganz oben auf der Bergkuppe stehen. Sie sind wirklich sehr wendig. Ich höre sie auch zum ersten Mal meckern und frage mich, ob ich das im Blindtest vom Blöken eines Schafs unterscheiden könnte.
Im Dorf sehe ich zum ersten Mal einen Stau und zum ersten Mal Touristen mit Rollkoffern. Wird Zeit, dass ich hier wegkomme.
15. Mai (Freitag)
Auch die Fliegen sind rechtzeitig zurückgekehrt und wollen mir sagen, dass es Zeit zum Aufbruch ist. Und der Wind bläst heute wieder so stark, als wollte er einen persönlich nach Hause schicken.
Bei einem letzten Kaffee an der Strandpromenade habe ich ein letztes nachhaltiges Erlebnis. Etwas von mir entfernt sitzt ein Mann mittleren Alters. Er sitzt in der Sonne, die kann ihm offensichtlich nichts anhaben. Er ist lässig, aber nicht nachlässig gekleidet, hat volles, lockiges Haar und einen Schnäuzer, der ihm sehr gut steht. Er trägt eine Brille, die alles andere als gewöhnlich, aber nicht extravagant ist. Auch die passt gut zu seiner Erscheinung. Er ist über ein dickes Buch gebeugt und sieht aus, als ruhe er in sich selbst. Von den Göttern verwöhnt, geht es mir durch den Kopf. Mit dem hat das Schicksal es gut gemeint, denke ich voller Neid. Als ich aufstehe, sehe ich, dass er im Rollstuhl sitzt.