Saint Étienne

Ich stehe vor der Kirche in Saint Étienne Vallée Française und frage mich, wie wohl die Kirche von Saint Étienne Vallée Française heißt. Ja, wie heißt wohl die Kirche von Saint Étienne?

Der schönste Teil der Kirche ist der obere, steinsichtige Teil des Turms. Der muss romanisch sein, quadratisch, breit, gerade abschließend. Auch alles andere, auch innen, sieht romanisch aus, mit ganz leicht zugespitzten Rundbogenfenstern und einem Tonnengewölbe im Mittelschiff. Nur die langgezogenen, flachen Bögen, die das Mittelschiff von den Seitenschiffen abtrennen, deuten auf den barocken Ausbau hin, den es laut Inschrift gegeben hat. Offensichtlich hat der was mit dem Widerruf des Edikts von Nantes zu tun. Was genau verstehe ich nicht. Vermutlich wurden die Kapellen der Reformierten aufgelöst oder zerstört und die Gläubigen zwangskonvertiert. Also wurde eine größere Kirche erforderlich. Die Seitenschiffe wurden hinzugefügt, das Mittelschiff beträchtlich verlängert. In der Erklärung heißt es auch, die Kirche sei nie von den Protestanten angegriffen worden, ein Zeichen dafür, dass sie auch von ihnen, die hier die Mehrheit waren, geachtet wurde.

An der Straße befindet sich ein Schild, das den Stevenson-Trail zeigt. Er beginnt in Le Puy-en-Velay und endet in Alès. Saint Jean du Gard ist die zweitletzte Station. Stevenson hat diese gottverlassene Gegend durchwandert, mit einem Esel als Lastenträger, und hat darüber einen Reisebericht geschrieben. Die Tourismusindustrie der Cevennen nützt das weidlich aus.

In einer der Gassen um die Kirche herum gibt es einen Hinweis auf das Postamt, ganz versteckt im hinteren Winkel eines Grundstücks gelegen, das einen Kinderhort beherbergt. Es ist geöffnet. Die Atmosphäre ist die einer deutschen Amtsstube aus den sechziger Jahren. Die einzige Beamtin sitzt hinter einem Schalter. Es gibt hier nichts zu kaufen außer Briefmarken, und um die geht es mir. Die Beamtin ist sehr freundlich und spricht so, dass ich sie ohne Probleme verstehen kann. Die Briefmarken sind, wie fast überall, teurer als bei uns.

Es gibt einen kleinen Supermarkt, aber der hat französische Öffnungszeiten: Lundi au Samedi de 7h à 12h30 et de 16h à 19h30, Dimanche de 7h à 13h. Ich muss warten. In dem einzigen Café des Ortes mit dem schillernden Namen Un dimanche à la campagne bestelle ich einen Kaffee. Ich frage, ob es café au lait gebe, und bekomme, obwohl das bejaht wird, dann einen café longue, zu dem es etwas kalte Milch gibt. Nicht genau das, was ich erhofft hatte, aber wenigstens kann man sich hier aufwärmen. Und der Kaffee ist unschlagbar günstig: 1,50 €.

Wir haben gestern noch über die Nähe vom Französischen zum Italienischen gesprochen, und mir fällt jetzt das Wort für billig ein. Im Spanischen gibt es eine einfache Entsprechung, barato. Dagegen im Italienischen und im Französischen a buen mercato und bon marché.

Ich bin der einzige Gast. Die Toilette ist draußen auf dem Hof. Kein Klodeckel, aber immerhin Wasser. Der Weg führt vorbei an einer Art Küche, wo Ingredienzen für Speisen herumliegen, die hier wohl am Abend serviert werden, vermutlich Burger.

Als ich wieder ins Café komme, sind vier weitere Gäste eingetroffen. Die stehen an der Theke und überlegen, was sie bestellen sollen. Dann entscheiden sie sich: dreimal weiß, einmal rot.

An der Wand hängen zwei Räder eines alten Pferdewagens, deren Speichen als Aufbewahrungsort für Zigaretten dienen. Davor stehen ein Glas mit Korken von Weinflaschen und ein Becher mit Zuckertütchen. Weiter hinten steht der ausrangierte Teil einer Zapfanlage, darauf eine Würstchenzange und ein Putzmittel. Über der Theke ein Neonschild mit Bierreklame, und daneben ein Schwarz-Weiß-Photo, auf dem der Wirt vor der Theke posiert. Im hinteren Teil des Raums eine zusammengeklappte Stehleiter und eine Tiefkühltruhe mit den Emblem des französischen Äquivalents von Langnese. An der gegenüberliegenden Wand ein Fernseher, in dem Kloppo auf Englisch den Sieg seiner Mannschaft über Manchester City erklärt. Darunter eine alte, bräunliche Landkarte der Gegend, in der noch in altertümlicher Schreibweise von den Sevenes die Rede ist. Auf dem Tisch eine verstaubte Messingschachtel unbekannten Inhalts und eine Pappschachtel mit Spielkarten. In der Ecke ein vertrockneter Baumstamm als Schmuckelement, und am Ausgang ein runder Apparat, an dem man sich für einen Euro Nüsse oder Mandeln ziehen kann.

Der Boden ist belegt mit einem abgenutzten, roten Teppichboden, auf dem ein Ensemble unterschiedlicher Sessel und Stühle stehen. Noch bunter ist die Mischung aus Lampen an Wänden und Decken. Eine davon gibt in diesem Moment den Geist auf. Neben ihr lugt ein Elektrokabel aus der Decke. Ich verlasse das Café und bedauere, dass ich nicht zeichnen kann.

Neben dem Café steht auf einem Parkplatz eine bunt bemalte Ente mit dem Motto All you need is love zwischen Blumen auf dem Heck. Es gibt sie also noch. Auf der anderen Seite des Cafés stehen zwei vorsintflutlich aussehende Zapfsäulen. Ob sie noch in Betrieb sind?

Jetzt hat das Geschäft auf. Es gibt frisches Obst und Gemüse und ansonsten alles, was man so braucht, wenn auch in bescheidener Auswahl. An der Theke liegt bei Brot und Backwaren eine Art Stange. Ich erfahre, dass es ein sacristain aux amandes ist, ein Gebäck, eine regionale Spezialität. Als ich gerade überlege, wie man wohl Bon auf Französisch sagt, kommt mir die Verkäuferin zuvor, die meinen verwirrten Blick richtig deutet und fragt: „Ticket?“ Im Französischen gibt es ein englisches Lehnwort, wo wir ein französisches haben (das aber aus unerfindlichen Gründen in letzter Zeit dem Zettel weichen muss).

In einem immer geschlossenen Geschäft stehen im Schaufenster lokale Spezialitäten, vor allem Konfitüre. Aus Feigen, Zwiebeln und, natürlich, Kastanien.

Auf dem Weg in den Ort hinunter bin ich an verschiedenen vereinzelt gelegenen Gehöften vorbeigekommen. An einem weist ein Schild darauf hin, dass die Hunde friedfertig sind. Man wird aber gebeten, sie auf den Hof zurückzuscheuchen, damit sie einem nicht nachlaufen: Promeneurs: Chiens gentils, mais repoussez-les pour qu’ils ne vous suivent pas. Merci. Scheinen kontaktfreudige Hunde zu sein. Jedenfalls mache ich diese Erfahrung auf dem Rückweg. Zwei mächtige Hunde hängen sich an mich und begleiten mich bis ans Ziel. Er erfordert einige Telefonate und die Einschaltung des Rathauses, um einen von ihnen wieder zu seinem Herrchen zu bringen. Der ist dankbar, betont aber, dass es sich nicht um zwei Deutsche Schäferhunde handelt, sondern um einen Deutschen Schäferhund und einen Schweizer Schäferhund.

Besonders schön auf dem Weg sind die Mauern am Wegesrand, in früheren Zeiten von unendlich fleißigen Händen errichtet, um die Gegend bewirtschaften zu können. Zwischen den flach übereinanderliegenden, moosbewachsenen Schieferplatten findet sich immer wieder ein farbig schimmernder Granitbrocken, eigentlich der Statik geschuldet, aber auch was fürs Auge. An verschiedenen Stellen tröpfelt Wasser zwischen den Schieferplatten hervor. An anderen Stellen trifft man immer wieder auf kleinere Wasserfälle. Solche Mauern heißen, wie ich jetzt erfahre, im lokalen Dialekt bancels, und es gibt in der Nähe auch einen Ort, der Les Bancels heißt.

An einem Abhang steht ein offener, herrenloser Jeep, der so aussieht, als würde er im nächsten Moment den Hang hinunterrollen. Wer ihn warum hierhergestellt hat, bleibt offen.

Auf dem Rückweg hält ein Auto im Regen neben mir. Der Fahrer fragt freundlich, ob er mich mitnehmen könne. Ich schaffe es so gerade, ihm zu bedeuten, dass ich absichtlich zu Fuß gehe und kriege dann gerade noch, bevor er die Scheibe hochkurbelt, ein „Vous êtes très gentil“ hin.

Von unten, vom Dorf aus, hat man einen schönen Blick auf die Berge mit dunklen und hellen Wolken, zwischen denen der eine oder andere Sonnenstrahl hervorkommt. Ein fast mystisches Bild. Es entschädigt ein bisschen für die Kälte und den Regen. Beides hatten wir Mitte April hier, in den Cevennen, nicht mehr auf der Rechnung gehabt.

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