Santorin (2015)

5. April (Sonntag)

Im Flugzeug von Heraklion nach Athen sind fast nur Griechen, im Flugzeug von Athen nach Santorin fast nur Ausländer, darunter viele Asiaten. Neben mir ein junges mexikanisches Paar, aus dem Norden Mexikos. Ihre Vorfahren stammen ursprünglich aus Deutschland. Für einen Moment habe ich geglaubt, sie sprächen abwechselnd Spanisch und Griechisch.

Am Flughafen auf Santorin wartet Iphigenia auf mich. Auf den letzten Drücker kam gestern das Angebot, mich abzuholen. Nach einem Moment des Zögerns erkennen wir uns wieder. Sie hat sich gut gehalten, ist ein bisschen rundlicher geworden und hat eine neue, jugendliche Frisur, mit rötlich schimmerndem Haar.

Die Strecke nach Megalochori kommt mir kürzer vor, als sie ist. Die Landschaft ist im Gegensatz zu Kreta geradezu langweilig: ein paar Hügel, in der Ferne das Meer, keine Hingucker.

Ifigenia hat sich für Megalochori entschieden, weil es hier ein Projekt gibt, das die Authentizität des Ortes bewahren will: keine großen Hotelkomplexe, Pflege des örtlichen Lebens, autofreies Ortszentrum. Ihre Schule war trotzdem willkommen, weil ihre Schüler als „Touristen der anderen Art“ gelten. Die Aufgabe der Schule in Athen hat etwas mit der Krise zu tun. Schüler, die früher zweimal pro Jahr kamen, kamen nur noch einmal pro Jahr, im Winter gab es kaum noch etwas zu tun, und die Miete für die große Wohnung war nicht mehr bezahlbar.

Für den merkwürdigen Namen des Ortes gibt es zwei verschiedene Erklärungen: Vielleicht war der Ort wirklich groß im Vergleich zu den Nachbarorten, vielleicht bezieht sich megalo aber nicht auf die Größe des Ortes, sondern auf die der Bewohner, entweder, was ihre soziale Stellung oder was ihren Wohlstand angeht. Der hat wohl etwas mit der Bodenbeschaffenheit zu tun. Ifigenia deutet auf ein Feld, an dem wir vorbeikommen. Da soll Wein angebaut werden. Man sieht aber keine Weinstöcke, sondern nur in den Boden eingelassene Rundungen, die irgendeine Funktion bei der Wasserversorgung haben sollen. Wasser ist hier ein rares Gut.

Die Pension sieht groß aus, hat aber nur drei oder vier Zimmer für Touristen. Unten wohnt die Familie des Eigentümers. Die betreibt außerdem irgendeine Werkstatt, und einige der anderen Zimmer sind für Wanderarbeiter dieser Firma reserviert.

Die Frau des Hauses, Kyria Evgenia, zeigt mir das Zimmer. Es ist sehr einfach. Nach vorne hin ist ein Balkon, an einer viel befahrenen Straße. Es gibt zwar einen Kühlschrank, aber keine Möglichkeit, sich einen Kaffee zu machen, kaum eine Steckdose, und der Tisch ist eher zur Dekoration geeignet. Internet scheint es zu geben, aber Kyria Evgenia kennt das Kennwort nicht. Da müsse sie die Kinder fragen.

Gleich gegenüber ist eine Bäckerei. Da riecht es wunderbar. Alles eigene Herstellung. Die freundliche Bäckersfrau zeigt mir das traditionelle Ostergebäck von Santorin, Melitini. Ich kaufe gleich eine ganze Schachtel. Schönes Mitbringsel für Ifigenia. Die hat für den Abend ein Begrüßungsessen vorgeschlagen.

Mit ziemlich vagen Erklärungen über den Standort der Schule werde ich zurückgelassen: ganz einfach, da vorne runter, immer geradeaus. Das ist natürlich nur für diejenigen einfach, die es kennen. Und hat zur Folge, dass ich eine geschlagene Stunde durch den Ort laufe und überall vergeblich frage. Ist aber eine gute Gelegenheit, einen ersten Eindruck zu bekommen.

Man merkt sofort, dass dies nicht Kreta ist, auch wenn es vielleicht gar nicht so einfach ist, zu sagen, woran das liegt. Der auffälligste Unterschied sind die weiß getünchten Häuser. Bei einigen sieht es so aus, als wären sie erst vorgestern frisch geweißt worden. Einige haben auch noch dunkelblaue Türen und Fensterläden, wie auf einem Tourismusprospekt. Die Gasse schlängelt sich zwischen weißen Mauern zu beiden Seiten stufenlos ins Dorf hinunter. Auch das ist ganz anders als auf Kreta. An dem fein herausgeputzten Dorfplatz steht eine überdimensionale Kirche, auch sie ganz in Weiß, und am Ortsrand noch eine, auch ganz in Weiß. Nur ganz vereinzelt trifft man auf jemanden.

Die Schule liegt außerhalb des Ortskerns, dort, wo sich die Gasse öffnet und man einen Blick in die Ferne hat. Hier scheint es eher normales, bäuerliches Leben zu geben. Für die Schule haben sie eine wirklich gute Lokalität gefunden, im zweiten Stock eines doppelstöckigen, langgestreckten Baus, der am Ende eines offenen Platzes liegt. Der ist einfach leer, und hat auch weiter keine Funktion. Es gibt ein großes Büro und ein paar kleine, modern eingerichtete Unterrichtsräume.

Ich lerne Rania kennen, eine andere Lehrerin. Der Name ist eine Kurzform von Urania. Sie kommt aus dem Peloponnes, hat in Athen Französisch studiert, dann aber gemerkt, dass Griechisch sie mehr interessiert. In Frankreich ist sie noch nie gewesen, wohl aber in Deutschland, in Aachen, auf einem Abstecher von Brüssel, wo ihr Cousin lebt.

Wir gehen zum Geromanolis, der lokalen Taverne, in einem Kellerraum untergebracht. Anhand der auf der Tischdecke abgebildeten Karte bekomme ich ein paar Informationen über Santorin: Megalochori liegt im Westen, etwas abseits der Küste, die Hauptstadt, Fyra, liegt etwas weiter nördlich. Der Flughafen ist in Kalami, an der Ostküste, in einem der zwei wichtigsten Orte für den Tourismus. Im Süden gibt es kilometerweite Sandstrände. Zu denen führt eine Straße direkt von hier aus. Ganz im Norden liegt der schönste Ort der Insel, Oia. Östlich von Santorin liegen ein paar Satelliteninseln, einige davon vulkanisch, mit schwarzen Sandstränden. Der eigentliche griechische und auch der offizielle Name von Santorin ist Thyra. Das ist der Name eines Königs der Dorer. Santorin ist dagegen die ‚Heilige Irene‘.

Ifigenia bestellt für uns alle zusammen. Das ist mir sehr recht. Verschiedene Vorspeisen und eine Fleischplatte mit Pommes frites. Ifigenia und ich schlagen ordentlich zu, während Rania sehr spärlich isst. Am Ende wird die Rechnung geteilt, auf eine nicht sehr griechische Art.

An jedem Tisch befindet sich an der Wand ein winziger Wasserhahn. Jedenfalls sieht der so aus. Es kommt aber Wein heraus. Man bekommt einen Krug und bedient sich selbst. Für jeden Krug macht man selbst einen Kreidestrich auf einer Tafel unter dem Wasserhahn. Darauf wird man mit einem Schild hingewiesen, das ich nicht verstanden hätte. Irgendetwas mit Vertrauen.

Wir brechen auf, denn Ifigenia hat noch Unterricht, eine Stunde am Netz. Das haben sie in den letzten Jahren systematisch ausgebaut.

Als wir aus der Taverne kommen, gegen halb neun, ist es dunkel. Der Himmel ist nicht so klar wie in Kreta.

6. April (Montag)

Die ganze Nacht über lauter, immer neu aufheulender Wind. Am Morgen Wolken und Regen. Ist ja mal was ganz Neues.

Beim Bäcker ist diesmal ein Mann hinter der Theke. Er hat ein halbes Jahr in Berlin gearbeitet und spricht etwas Deutsch.

Als ich draußen beim Kaffee sitze und den Laptop raushole, fasst mich ein Mann am Arm und sagt mir, ich solle nach Hause gehen. Dabei deutet er auf das Haus gegenüber. Ich setze zu einer längeren, überflüssigen Erklärung an, bis er mich unterbricht und sich vorstellt. Er ist der Mann von Evgenia, der Besitzer der Pension.

In der Schule ist alles bestens vorbereitet. Wir sind nur zu fünft, außer mir lauter Franzosen aus der Bretagne. Zu allem Übel sind wir noch auf drei Stufen verteilt. Ich bin mit einer Französin zusammen, die schon zum dreißigsten Mal in Griechenland ist und ihren siebten Griechischkurs macht. Sie hat eine tiefe Stimme, spricht gerne und viel und hat ein dreckiges Lachen, mit dem sie jeden ihrer eigenen Kommentare begleitet. Ihr Griechisch ist sehr gut, sieht spricht flüssig, hat sehr gute Grammatikkenntnisse und vor allem ein unglaubliches Vokabular. Zwischendurch wirft sie immer wieder mal ein Voilá, ein C’est ça, ein D’accord, ein Toute à fait ein. Sie ist, wie sie selbst sagt, eine Ordnungsfanatikerin. Das merkt man auch.

Wir fangen mit persönlichen Charakteristika an. Bei Ifigenia gehören Lehrerdasein als ihre „zweite Natur“ dazu, ihr Interesse an der Politik und ihre  Beziehungen zur Türkei. Sie war als Studentin Mitglied der Kommunistischen Partei, hat sie aber später verlassen, aber ihr Interesse an der Politik bewahrt. In der Türkei ist sie schon zwanzig Mal gewesen. Die Anregung dazu kam von Margarita Papandreou, der Frau des einen und Mutter des anderen Premierministers. Die war Amerikanerin und hat bei ihr einen Griechischkurs gemacht und sie dabei auf eine griechisch-türkische Frauenvereinigung aufmerksam gemacht. Wenn sie in die Türkei fährt, wird sie dort von den Frauen als „Freundin“ angeredet. In ihrer beruflichen Laufbahn hat sie immer auf Selbständigkeit gesetzt und dreimal ein Angebot für eine Stelle an einer öffentlichen Schule abgelehnt.

Die Französin erzählt von ihrer Allergie gegen Lamm. Die ist psychologisch bedingt und hat etwas mit dem Tod ihres Großvaters zu tun. Sie hat einen Allergiespezialisten aufgesucht, und der hat ihr gesagt, dass er absolut nichts für sie tun könne. Sie sagt, sie habe geradezu eine Obsession fürs Lernen. Das Lernen habe sie durch die schlimmsten Phasen ihres Lebens geschifft. Ihr ganz großes Lebensthema ist Europa. Wenn sie im Griechischkurs einzuschlafen drohe, spreche die Lehrerin immer irgendetwas mit Europa an. Dann sei sie immer gleich wieder bei der Sache. Sie ist sogar für einen Preis vorgeschlagen worden. Sie sollte Citizen of Europe werden (das erzählt nicht sie, sondern Ifigenia). Auch den Kurs hier macht sie über das Erasmus-Programm der EU. Sie muss ziemlich viel Energie und Geduld aufgewandt haben, um das durchzubekommen. Griechisch macht sie, wie alles andere, sehr systematisch. Auch das staatlich anerkannte Diplom für Griechisch als Fremdsprache macht sie mit einer Gründlichkeit, die ihresgleichen sucht. Sie macht immer die Prüfung gleichzeitig für zwei Stufen, ihrer jetzigen und der nächsten. Die erste besteht sie immer, bei der zweiten fällt sie meist durch. Die macht sie dann beim nächsten Mal und besteht. Unglaublich!

Das Thema für die nächsten Tage ist das griechische Bildungssystem. Gut gewählt. Eine der Fragen ist, ob Religionsunterricht obligatorisch ist. Ja, ist die Antwort, ist er. Für alle Griechen. Nicht für Ausländer. Die können am Religionsunterricht teilnehmen. Wenn sie es nicht tun, haben sie zu dieser Zeit frei. In dem Zusammenhang kommt die Rede auf die neue Regierung. Da haben zum ersten Mal einige Minister auf die Verfassung statt auf die Bibel geschworen. Tsipras sei vorher zum Patriarchen gegangen und habe ihm das erklärt. Er ist in einem sehr religiösen Haus aufgewachsen. Sein Vater war ein Förderer der Kirche und hat erhebliche Summen gespendet.

Die ganz große Herausforderung in Griechenland ist die Universitätsaufnahmeprüfung. National einheitlich zum gleichen Zeitpunkt abgehalten. Sie ist viel härter als die Universität selbst. Man hat drei Versuche im Laufe des Jahres, kann aber auch bei jedem Termin nur bestimmte Fächer ablegen.

Am Nachmittag führt uns Ifigenia durch Megalochori. Der gewundene Weg heißt Potamos, da muss wohl früher mal ein Fluss her geflossen sein. Megalochori hat nur gut 400 Einwohner. Es wirkt viel größer. Es hat aber zehn Lokale. Gleich zwei davon befinden sich auf dem Gelände eines Hotels, des Vedema. Da kann eine Nacht bis zu 5000 Euro kosten. Gar nicht so selten nisten sich Hollywoodstars dort ein, anonym. Lehrerinnen der Schule wollen Sharon Stone und Angelina Jolie gesehen haben, mit Sonnenbrille.

Am Dorfplatz neben der Kirche steht das Lazarus-Kreuz, für die Osterfeierlichkeiten errichtet, ein großes, weit über zehn Meter hohes Kreuz aus Holz mit Streben zwischen den vier Endpunkten, so dass das Kreuz von einem auf der Spitze stehenden Quadrat ergänzt wird. Dazu sind an allen fünf Schnittpunkten noch Kreise angebracht, aus Reisig geflochten. Das ganze Ensemble ist mit Rosmarinzweigen und Blumen geschmückt.

Wir kommen an weiteren Kirchen vorbei, und das führt zu der Frage, warum es denn in Griechenland so viele Kirchen gebe. Die Antwort ist verblüffend einfach: Es gibt öffentliche und private Kirchen. Die meisten Kirchen werden vom Staat finanziert, aber es gibt auch immer wieder Privatleute, die eine Kirche stiften und nicht nur den Bau, sondern auch die Kosten für die Aufrechterhaltung und die Bezahlung der Priester übernehmen.

Megalochori ist erst im 17. Jahrhundert gegründet worden. Es wurde aufgrund seines Weins bekannt, der vor allem nach Russland exportiert wurde. Vier von zehn Weinkellereien von Santorin befinden sich hier. Santorin ist bekannt für zwei Weine, von denen der eine – ich höre und staune – der Vin Santo ist. Zu seiner Herstellung werden die Trauben zuerst zehn Tage an der Sonne getrocknet. Der zweite Wein ist der Nichteri. Die Trauben werden noch in der Nacht nach der Lese zur Maische gemacht. Daher der Name.

Der Wein hat hier auch seinen eigenen Heiligen: Agios Averkios. Er war Chemiker und Önologe. Eine der Kirchen hat sein Patrozinium. Seit Festtag ist am 22. Oktober. Trifft sich gut. Das ist das Ende der Weinlese. Und da gibt es ein großes Weinfest.

Am Wegesrand sehen wir Kapern, wild wachsend. Es ist jetzt nicht ihre Zeit, aber es hängen noch ein paar Blätter am Strauch. Kein Zweifel: Die sehen genauso aus wie die, die wir zum Mittagessen bekommen haben.

Dann kommen wir oben am Ortsausgang zu einem Weinfeld. Jetzt erkennt man, was es mit den Rundungen auf sich hat, die wir auf der Fahrt vom Flughafen gesehen haben. Es sind Rebstöcke. Der Wind auf Santorin ist so stark, dass sie nicht aufrecht stehen können. Sie werden deshalb zu einer Art Wagenrad gedreht und auf den Boden gedrückt. Auch die Franzosen sagen, dass sie so etwas noch nie gesehen haben. Eigentlich hat Santorin nicht genug Wasser für Wein, aber hier hat die Natur ein Gegenmittel gefunden. Ifigenia drückt uns etwas in die Hand und fragt, was das ist. Steine, die einstimmige Antwort. Falsch, obwohl ihr Name auch in diese Richtung deutet: ελαφρόπετρα. Sie saugen das Wasser auf und bewahren es, und aus ihnen beziehen die Rebstöcke das Wasser während der Trockenheit. Wir wissen immer noch nicht, was das ist, bis Ifigenia erklärt, das werde auch von Frauen im Bad für ihre Füße benutzt. Bimsstein!

Anschließend macht Ifigenia einen Lichtbildervortrag über Santorin. Ich bekomme wenig mit, denn ich muss übersetzen, wobei ich schwarz mit weiß und Bewohner mit Ziegen verwechsle.

7. April (Dienstag)

Als ich mich am Morgen auf den Weg mache, treffe ich auf Kyria Evgenia. Auch sie klagt über den Wind – der ihr sichtbar roten Sand aus der Sahara auf die Fensterbank gestreut hat – und über den nicht enden wollenden Winter. Sie bietet mir einen Kaffee an. Ich nehme an. Ihr Mann ist auch da. Sie haben drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter. Von den beiden Söhnen wird stolz ein Bild gezeigt. Von der Tochter nicht. Hier hängt alles zusammen: Das Haus, in dem die Schule untergebracht ist, gehört seiner Schwester, und das Lokal, in das die anderen gestern Abend gegangen sind, gehört einem der beiden Söhne. Sie sprechen beide wie mit einem Anfänger mit mir. Sie können einfach die Sprachkenntnisse von Ausländern nicht einschätzen und verfallen in das Gegenteil von dem, was die meisten anderen tun. Es kommt die Rede noch auf die moderne Technologie. Da sagen sie genau das, was man von ihnen erwartet. Und von der Gesundheit ist die Rede. Beide müssen mächtig Tabletten schlucken.

In der Schule ist wieder alles sehr angenehm. Nur bin ich in der falschen Stufe. Das ist alles viel zu schwer für mich, auch wenn die Französin einen Dialog, den wir improvisieren, mit lautem Lachen und Begeisterungsstürmen feiert. Ifigenia lässt sich nichts anmerken, lässt mir aber immer bei einfachen Fragen den ersten Versuch und richtet die schweren gleich an die Französin. Es kommen am Rande zwei interessante Kleinigkeiten zur Sprache: Das griechische Wort für Albtraum ist von einer historischen Figur abgeleitet, Efialtis. Und jetzt habe ich auch ein griechisches Bespiel für ein Kontronym: διαγράφω. Es bedeutet sowohl ‚beschreiben‘ als auch ‚wegwischen‘.

Am Abend gehen wir zu einer Keramik-Werkstatt, betrieben von einem bärtigen Mann mit zerfurchtem Gesicht und seiner viel jüngeren Frau. Er stammt aus einer Töpferfamilie, fünfte Generation. Sie hat in der Akademie in Athen studiert. Dort hat auch er studiert und später auch zehn Jahre gelehrt. Sie haben sehr verschiedene Produkte, von Amphoren wie aus der Zeit der Minoer bis zu modernen Skulpturen. Bei den Amphoren legen sie Wert darauf, dass die genauso früher hergestellt und dass keine künstlichen Farben verwendet werden. Bei den Skulpturen, stark stilisierte Figuren von liegenden und sitzenden Frauen in nachdenklicher Pose, glaubt man gar nicht, dass es sich um Keramik handelt. Sie sehen aus wie aus Stein gehauen. Alles wird einmal bei 1000° gebrannt und dann gegebenenfalls nochmal bei 1150°, wenn die Gefäße eine Lasur bekommen. Sie sind zwölf Stunden im Ofen und müssen dann vierundzwanzig Stunden abkühlen. Sie haben aber noch einen zweiten Ofen. Der wird mit Propangas betrieben und ist für Keramik gedacht, die mit einer aus Korea stammenden Technik hergestellt wird. Wir sehen ein paar geglückte und eine paar halb verunglückte Exemplare. Die sind zu früh aus dem Ofen genommen worden. Dann entwickeln sie nicht all die Risse die ihnen das Muster geben. Wenn sie zu lange im Ofen sind, platzen sie vermutlich.

Die interessanteste Information bekomme ich rein zufällig, aus einer aus einer Laune gestellten Frage an die Frau, als sich alles um die Töpferscheibe versammelt: Wo kommt eigentlich der Lehm her? Aus Kreta! Der Boden in Santorin taugt nicht. Vulkanisch! Auch aus England wird Lehm eingekauft. Und hatte mir eingebildet, dass man mal schnell in den Garten geht, etwas Erde ausbuddelt und sie mit Wasser vermischt!

Dann stellen sich einige als Versuchskaninchen zur Verfügung und stellen unter seiner Leitung ein Gefäß her. Eigentlich finde ich das gar nicht so interessant, aber irgendwie hinterlässt es diesmal Wirkung auf mich, zu sehen, wie aus einem formlosen Klumpen Form entsteht, die Essenz von Zivilisation. Das geschieht im Laufe von gerade einmal ein paar Minuten. So leicht wie es aussieht, ist es nicht. Bei allen muss er darauf beharren, dass sie fest drücken und dann, dass sie es schön langsam gehen lassen sollen. Am Ende kommt eine Amerikanerin, die gestern in der Schule aufgetaucht ist und die Kenntnisse im Töpfern hat. Sie erzählt mir, er habe ihr neue Techniken beigebracht. Und man müsse sich erst an diese Position gewöhnen. Man sitzt hier seitwärts zur Töpferscheibe. Dann kann man das Objekt besser beobachten.

8. April (Mittwoch)

Im Unterricht geht es um das griechische Bildungssystem. Wir stellen Interessengruppen zusammen. Das alleine hilft schon zu verstehen, wie schwer es ist, etwas zu ändern. Wer denkt schon daran, welchen Einfluss die Schulbuchverlage haben, wenn es um Bildungsplanung geht. Iphigenia zieht Verbindungen zwischen den einzelnen Faktoren und nennt das zentrale Problem beim Namen: Frontistirio. Das ist das private Nachhilfeinstitut, in dem griechische Schüler nachmittags lernen. Das kostet natürlich Geld. Aber der Unterricht dort ist besser als der in der Schule und erhöht die Chancen, einen Platz an einer Universität zu bekommen. Der Zutritt zur Universität gilt in der der griechischen Gesellschaft ohne jeden Zweifel als erstrebenswert, und dafür tut man einiges. Der Misserfolg gilt als soziale Ohrfeige. Meine Frage, wie viele griechisches Schüler denn davon betroffen seien, erhält eine verblüffende Antwort: Jeder. Es gibt keinen, der ohne Frontistirio auskommt. Inzwischen gibt es sogar Frontistiria für arbeitslose Lehrer. Verrückt. Dafür gibt es einen historischen und einen aktuellen Grund. Der historische Grund liegt in der Zeit der Diktatur. Da wurden qualifizierte Lehrer aus den Schulen verbannt, wenn sie links waren. Die suchten ihr Heil im Frontistirio. Der zweite Grund ist die schlechte Bezahlung der Lehrer an öffentlichen Schulen. Wenn man gut ist, geht man eher ans Frontistirio. An diesen ganzen Komplex hat sich keine griechische Regierung seit 1974, trotz vieler guter Vorsätze und Pläne, richtig herangetraut. Wer das System in Frage stellt, wird nicht wiedergewählt. Aber ändern muss sich was. Das sagt auch die OECD in ihrem Bildungsbericht zu Griechenland.

Am Abend fahren wir nach Oia, im Norden der Insel, mit zwei Autos. Ifigenia fährt und Adele, die Amerikanerin. Die kennt sich in Santorin gut aus und ist schon oft hier gewesen. Über Ifigenias Wahl des Weges ist sie nicht begeistert. Die Hauptstraße gefällt ihr nicht. Hier werde ziemlich wild gefahren. Keine zwei Minuten später kommt uns ein Autofahrer entgegen, der sie mit aller Macht bestätigen will. Er kriegt die Kurve nicht, schleudert an einer Hauswand entlang und bekommt dann gerade noch das Auto wieder in den Griff. Keine aktuelle Gefahr, weil wir nicht ganz auf gleicher Höhe sind, aber respekteinflößend.

Die Fahrt führt durch Fira, die Hauptstadt, eine geschäftige Stadt. Danach wird es einsamer, und die Landschaft wird schöner. Dennoch: kein Vergleich mit Kreta. Man sieht erst schwarze, dann rote Erde am Straßenrand. Bald kommen wir nach Oia. Es ist eine Bilderbuchstadt, an einem Bergrücken am Meer gelegen. Wenn die griechische Tourismusindustrie Photos braucht, schicken sie bestimmt ihre Photographen hierher.

Oia hieß früher Apano Mera, der ‚Obere Teil‘, und heißt lokal auch heute noch so. Woher der Name Oia kommt, ist wird nicht verraten. Der Ort erlangte große Bedeutung im 19. Jahrhundert als Station auf dem Handelsweg zwischen Russland und Alexandria. Oia hatte bei 2.500 Einwohnern eine Handelsflotte von 130 Schiffen! Im Hinterland wurde qualitätsvoller Wein angebaut, der bis nach Frankreich exportiert wurde. Der Niedergang kam mit der Dampfschifffahrt und dem Ausbau von Piräus. Das heutige Aussehen und auch seinen Rang als Touristenort ist komischerweise teils auf diesen Niedergang zurückzuführen und teils auf ein Erdbeben von 1956. Viele der Häuser entstanden erst danach und wurden in die ehemaligen Höhlen der Reeder gebaut. Oder die Häuser der Seeleute wurden zu Pensionen für Touristen umgebaut.

Wir gehen in ein kleines Schifffahrtsmuseum, die Privatsammlung eines ehemaligen Kapitäns. Es gibt Schiffsmodelle, Seemannsknoten, Bugfiguren, Dokumente. Und eine Sammlung von Objekten, die wie zusammengeknotete Taschentücher aussehen. Keiner kommt darauf, was das ist. Iphigenia erklärt: Signale.

Dann geht es in das Atelier eines Ikonenmalers, etwas unter dem Straßenniveau gelegen. Er malt alte Ikonen nach, teils als Auftragsarbeiten. Die hängen und stehen an den Wänden. Daneben gibt es auch kleine, impressionistisch wirkende Ansichten von Oia. Sein Sohn ist damit beschäftigt, während er an Ikonen für eine Kirche arbeitet. Es ist eine kleine, einfache Kirche, für die er eine besondere Vorliebe hat. Die steht, glaube ich, auch auf unserem Programm für die kommende Woche. Der Künstler hat eine wunderbare, tiefe, seidene Stimme und langes, blondes Haar. Ifigenia kennt ihn offensichtlich und spricht länger mit ihm.

Dann kommen wir zu einer wunderbaren Buchhandlung. Die wurde von zwei Amerikanern gegründet, denen hier in Oia bei einem Urlaub der Lesestoff ausging und die entschieden, zurückzukommen und eine Buchhandlung zu eröffnen. Bald hatten sei ein Lokal gefunden, aber dann kam ein langer Kleinkrieg mit der griechischen Bürokratie. Am Ende hatten sei Erfolg. Die Buchhandlung ist jetzt seit mehr als zehn Jahren in Betrieb und weit über Griechenland hinaus bekannt. Alles hier ist unregelmäßig. Es fängt bei der Treppe an, die nach unten in das niedrige Gewölbe führt. Da ist jede Ecke ausgenutzt für immer noch ein weiteres, kleines Regal, die freien Wände sind mit Zitaten über Bücher und über das Lesen gefüllt, und überall hängt noch irgendein improvisierter Schmuck herum. Es gibt verschiedene „Abteilungen“, nach Sprachen getrennt, meist wohl Übersetzungen griechischer Texte, von Französisch bis Chinesisch. Der Raum hat etwas Märchenhaftes.

Dann streifen wir bei eisigem Wind durch die engen Gassen auf der Suche nach einem Lokal. Unterwegs erzählt mir Eva, die junge Französin, dass sie mal Indonesisch gelernt hat. Sie hat drei Monate in einer indonesischen Familie verbracht, dann aber die Flucht angetreten. Es sei eine schlimme Erfahrung gewesen. Rassismus überall, und zwar Rassismus gegen die Weißen! Gleichzeitig habe man sie zuhause praktisch eingesperrt. Und sie hat Heiratsangebote bekommen, unter anderem als Zweitfrau eines reichen Mannes, der ihr als Werbung einen Diamanten schenken wollte. Angenommen hat sie offensichtlich nicht. Sie erzählt dann von ihrer kleinen Schwester, die mit Begeisterung Deutsch lernt. Sie ist eine gute Schülerin und hält sich für noch besser als sie ist. Als sie eine neue Lehrerin bekam, habe sie behauptet, ihre Aussprache wäre besser als die der Lehrerin.

Am Ende werden wir fündig. Wieder ist es ein Kellergewölbe, aber das Gegenstück zu der Buchhandlung. Hier ist alles weiß getüncht und weitgehend schmucklos. Man findet in dem vollbesetzten Lokal tatsächlich irgendwo am hinteren Ende Platz für uns. Die Bedienung ist freundlich, aber das Essen nur durchschnittlich – was die anderen aber nicht davon abhält, in Begeisterungsstürme zu verfallen – und der Preis hoch. Hier hat man auch die griechische Sitte, eine kleine Vorspeise oder einen kleinen Nachtisch zu servieren, aufgegeben. Es wird Wein getrunken, aber auch Bier, lokales Bier, das typischerweise Vulkan heißt.

Auf dem Rückweg herrscht gute Stimmung. Adele bringt uns praktisch bis vor die Haustür. Sophie, die verrückte Französin, liest auch hier mit einer Funzel bewaffnet, begleitet von unseren spöttischen Bemerkungen, griechische Verbtafeln. Die Klasse Gamma Vier bereitet ihr noch Schwierigkeiten. Dann fragt sie mich nach englischer Literatur. Sie hat in England studiert und ein Diplom von der London School of Economics. Nach dem halben Liter Wein fällt mir nicht viel ein und ich nenne George Eliot, in Erinnerung an alte Zeiten. Sowohl sie als auch Rania behaupten, sie zu kennen, aber Rania macht in ihrer bescheidenen Art sofort einen Rückzieher, als ich sage, es gäbe oft eine Verwechslung mit T.S. Eliot. Sophie beharrt aber weiter darauf, George Eliot zu kennen. Sie nennt verschiedene Titel, aber es sind immer andere Autoren. Dann ist sie ruhig und plötzlich kommt es: Scenes of Clerical Life. Ich kann’s nicht glauben. Es stimmt. Zum ersten Mal treffe ich außerhalb Englands jemanden, der ein Werk von George Eliot kennt.

9. April (Donnerstag)

Die Buchhändlerin in Oia hatte gestern für die Nacht einen Sturm angesagt. Sie sollte recht behalten. Am Anfang der Nacht ist es noch ruhig, dann wird es immer wilder, bis zum frühen Morgen. Immer wieder ist es zwischendurch eine Minute ruhig, und man glaubt, der Spuk wäre vorbei, und dann geht es mit voller Kraft wieder los.

Am Morgen werde ich wieder zum Frühstück bei den Vermietern eingeladen. Sie haben nur ein Thema: das Wetter. Kyria Evgenia sagt mir, sie wolle für die nächste Nacht irgendwelche Vorkehrungen treffen, damit die Tür besser schließt. Sie hat es selbst gehört, wie meine Tür während der ganzen Nacht Krach schlug. Sie bedauern mich, weil ich so leicht gekleidet bin und suchen mir einen alten Pullover raus. Der passt und ich nehme ihn gerne an.

Im Laufe des Tages legt sich der Wind ganz langsam, aber es bleibt kalt und es fängt an zu regnen. Was für ein Jahr! Aus Trier kommt die Nachricht, dass der Frühling da ist, und aus Valmalle in den französischen Pyrenäen, dass man im Fluss badet.

Am Nachmittag gibt es einen Vortrag zu Osterbräuchen. Dem griechischen Wort für Ostern, Pascha, sieht man noch deutlich das hebräische Erbe an. Pascha bedeutet so etwas wie ‚Übergang‘, griechisch Πέρσαμα.

Man sieht bei dem Vortrag irgendwo eine viergeteiltes Quadrat mit vier Symbolen und den Wörtern: Fast – Prepare – Give – Pray.

Während der gesamten Fastenzeit gibt es keine Hochzeiten. Die Ausnahme ist der 25. März. Da fällt auch das Fasten aus.

Am Palmsonntag darf Fisch gegessen werden. Der ist sonst auch gestrichen. Der Tag des Lazarus ist am Samstag vor Palmsonntag. Da wird das Lazarus-Kreuz errichtet. Am Gründonnerstag werden Eier gefärbt und es wird Tsureki gebacken. Das ist der klassische Osterkuchen. Silvie, die darauf steht, hat gleich am ersten Tag ein Exemplar vom Flughafen mit in die Schule gebracht. Am Ostersamstag gibt es in der Kirche eine Lichtschau. Dabei werden oben Kerzen in Schwingung gebracht, so dass die Wirkung eines Erdbebens erzeugt wird, in Anlehnung an die Bibel. Am Ostersonntag geht man mit der Osterkerze aus der Kirche nach Hause und versucht, dass sie nicht ausgeht. Dann wird mit dem Rauch der Kerze ein Kreuz an der Haustür angebracht. Wenn man dann nach Hause kommt, gibt es die berühmte Magiritsa, eine sämige Suppe aus Innereinen vom Lamm, die für diejenigen, die gefastet haben, der richtige Übergang zur Rückkehr zur Normalität ist. Dann gibt es noch regionale Traditionen, mehr oder weniger lustig. Irgendwo werden große Amphoren von Balkonen auf die Straße geworfen, irgendwo beschießen zwei Pfarreien den Kirchturm der anderen mit selbstgemachten Raketen, irgendwo wird die Puppe des Judas verbrannt. Was immer man davon hält, man muss sagen, dass es eine reiche Ostertradition gibt. Am Ostersonntag gibt es dann den berühmten Braten vom Spieß, Lamm auf dem Festland, aber eher Zicklein in der Ägäis. Dazu, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, gibt es Kokoretsi. Das sind wieder Innereien, mit Zitronen, Öl und Oregano angemacht. Deren Zubereitung ist durch eine Regelung der EU verboten. Daran hält man sich aber nicht immer.

10. April (Freitag)

Einen Wecker braucht man hier nicht. Das Wecken übernehmen die Hähne. Aber auch die braucht man nicht. Der Wind sorgt dafür, dass man immer wieder wach wird. Er ist mal stark, mal schwach und nimmt dann richtig Anlauf und weckt einen mit einem hohen Pfeifton.

Wieder werde ich zu den Vermietern hereingerufen. Heute gibt es Tee statt Kaffee. Eine Wohltat. Er ist mit frischen Oregano aus dem eigenen Garten gewürzt und wärmt den ganzen Körper. Sie meinen, Frau Merkel wäre böse auf Griechenland und schicke den Griechen Regen, Sturm und Kälte.

Am Fernseher läuft die Karfreitagsliturgie. Die Übertragung kommt aus Thessaloniki. Ich sage, da sei ich noch nie gewesen (was nicht ganz stimmt), und sofort wird das als Gelegenheit genommen, ein Loblied auf die Schönheit Thessalonikis zu singen. Dann kommt fast resigniert der Stoßseufzer: Ganz Griechenland ist schön.

Ich kämpfe mich gegen den von Frau Merkel gesandten Sturm bis zur Schule durch. Da hat man die Heizung aufgedreht, und es ist wenigstens warm.

Im Unterricht geht es noch einmal um Bildung. Diesmal der Text eines „Wutbürgers“, der sagt, er könne die ewigen Klagen nicht mehr hören. Es sei doch alles in Ordnung. Zugegeben, die Infrastruktur sei schlecht: Bibliotheken, Computer, Labors, da mangele es an allen Ecken und Enden. Aber der griechische Schüler sei geradezu ein leuchtendes Vorbild für den Rest Europas: gebildet, kritisch, engagiert. Er habe umfassende Kenntnisse der Weltgeschichte, der Philosophie, der Geographie, er schreibe Gedichte, interessiere sich für Politik und könne kritisch reflektieren. In Griechenland würden noch Aufsätze geschrieben und ganze Texte gelesen, in den anderen Ländern lese man nur Auszüge und beantworte Multiple-Choice-Fragen. So kann man sich auch die Wirklichkeit zurechtbiegen. Zu beiden Seiten. Ich würde gerne mal einen griechischen Schüler zur Geschichte Japans oder des Kamerun oder zur englischen Philosophie befragen.

Im Grammatikunterricht kommt ein Gedicht vor, das viel zu schade ist, um für Grammatik ausgebeutet zu werden, zumal das grammatische Phänomen einen nicht gerade vom Hocker reißt. Das Gedicht, von einem Autor namens Kavanis,  beschreibt das Leben als eine Reihe von Kerzen, die vor einem und hinter einem stehen. Die hinteren flackern nur noch ein bisschen oder sind verlöscht, viele sind krumm und schief. Die Distanz zu den ganz frühen Kerzen ist groß, und man mag nicht zurückblicken, gerade wenn man sieht, das vor einem nicht mehr so viele Kerzen stehen.

In einem Nebensatz erklärt Ifigenia, dass Hypokrit ursprünglich einen Schauspieler bezeichnete. Die negative Bedeutung entwickelte sich erst später, und zwar ganz logisch daraus. Ein Heuchler ist ein Schauspieler.

Am Nachmittag fahren wir nach Perissa. Das liegt an der Küste. Wir setzen uns in ein Café mit Blick auf das wütende Meer. Schwarzer Sandstrand mit Tamarisken, wie auf Kreta. Das Café wird von Ausländern betrieben und ist alternativ angehaucht, mit einem großen Poster von Che Guevara. Wie viel wissen die, die es aufgehängt haben, wohl vom Che? War es hier oder woanders? Irgendwo ist sind die Toiletten mit Bildern von Huhn und Hahn gekennzeichnet.

Zum ersten Mal komme ich mit Robert, dem älteren Franzosen, ins Gespräch. Ein interessanter Gesprächspartner. Er macht eine halbe, völlig ausreichende Bemerkung zum Mittagessen, die mich sofort mit der Sache versöhnt. Tatsächlich haben mich die Franzosen dabei durch Gespräch und die Bestellung etwas außen vor gelassen. Er spricht zögern Englisch, sucht nach Wörtern, kommt aber zurecht. Er habe fast nie Gelegenheit, Englisch zu sprechen, und die angelsächsische Welt ist ihm fremd. Am besten verstehen kann er den Akzent von New York. Da habe er sich auch wohlgefühlt. Er spricht auch Spanisch und erzählt begeistert von den Reisen mit seiner Frau nach Mexiko. Deutschland kennt er nur von Geschäftsreisen. Er hat noch die alte Sitte kennen gelernt, zum Bier immer auch einen Schnaps zu bestellen. Da habe dann immer einer mit dem Schnapsglas auf den Tisch geklopft, und auf das Zeichen hin hätten alle den Schnaps auf Ex ausgetrunken.

Ich frage danach, wie es gestern gewesen sei. Am Abend sind die anderen noch in die Kirche gegangen, um beim Schmücken des Epitaphs zuzusehen. Er winkt ab, nicht so berauschend, er und seine Frau seien nach einer Viertelstunde gegangen. Aber was ihn erstaunt habe: Volle Kirche, alle Altersklassen vertreten. Das sei in Frankreich ganz anders. Hier in Griechenland ist Kirche Teil der nationalen Identität, wie sonst vielleicht nur noch in Polen oder Irland. Er macht auch einen Kommentar zur Macht der orthodoxen Kirche. Der gehörten zwei Drittel des griechischen Bodens! Bei der katholischen Kirche, findet er, sei Europa nicht mehr im Zentrum. Die habe ihre Festungen in Amerika und Afrika. Er weiß aber auch, wie stark sich dort die evangelikalischen Kirchen postieren, von den Mormonen bis zur Pfingstkirche. Auch da spiele Geld eine zentrale Rolle.

Später erfahre ich von Ifigenia, dass Robert Schriftsteller ist oder nach seiner Pension geworden ist. Er ist der Verfasser eines dicken historischen Romans, der in Griechenland spielt. Ich habe dieser irgendwo in der Schule darin geblättert, ohne zu ahnen, dass der Autor ein paar Meter weiter stand und Kaffee trank.

Dann hört man von Ferne Krach. Für den sind wir hierhergekommen. Er stammt von einer Art „Prozession“. Gemessen an der Ankündigung ist es eine bescheidene Angelegenheit, aber authentisch. Es gibt nur noch ein Handvoll Zuschauer außer aus. Die Prozession, lauter Männer, wird angeführt von einem Fahnenträger und einem Laternenträger, die mächtig mit dem Wind zu kämpfen haben. Dahinter Männer mit Trommeln und improvisierten Instrumenten wie Eisenstangen, die mit einem Knüppel geschlagen werden. Mit denen wird ein betont einfacher, monotoner Rhythmus erzeugt. Die Vorstellung dahinter ist, dass Christus von den Toten erweckt werden soll. Man zieht einmal durch das Dorf und dann in die Kirche zurück, wobei immer wieder Halt an einem Ouzo-Stand oder an einem Raki-Stand gemacht wird, in einem Fall direkt vor einem Nachtclub. Dort wird aufgetankt. Auch uns bietet man überall freundlich ein Gläschen an. Dann gelangt die Prozession zur Kirche. Da hat man ein Postkartenmotiv: strahlend weiße Kirche mit blauer Kuppel am Rande des Meers und vor hohem, kahlem Berg, in dem irgendwo eine winzige Kapelle steht. Wenn man ein Photo machen will, muss man aber aufpassen, dass der Sturm einem nicht die Kamera entreißt. Ein Mann redet in Ausländer-Griechisch auf mich ein. Er zeigt stolz auf die Eisenstange und will mir wohl sagen, dass die jedes Jahr zum Einsatz komme. Dann deutet er auf den Berg und sagt immer wieder etwas von Freitag. Aber das ist doch heute? Später erfahre ich von Ifigenia, dass es am Freitag nach Ostern da oben im Berg nochmals eine österliche Zeremonie gibt.

Dann geht es weiter nach Pyrgos. Ein schöner Ort, mit einem entscheidenden Nachteil: Er liegt ganz oben auf einer Bergkuppe. Wenn wir bisher gedacht haben, wir wüssten, was Wind ist, werden wir jetzt endgültig eines Besseren belehrt. Hier kann man sich nur Schritt für Schritt gegen den Wind zum Ortseingang vorkämpfen. Es ist der reine Wahnsinn. Die Gassen sind proppevoll, hierher kommen Besucher aus ganz Santorin, und man hört fast so viel Englisch wie Griechisch. Wir zwängen uns durch die engen Gassen nach oben. Dann kommen die Franzosen auf die Idee, sich in einem winzigen Souvenirladen Mützen zu kaufen, eine Aktion, die andauert. Derweil stehen wir draußen und frieren uns einen Ast ab. Dann geht es endlich weiter nach oben. Es tut sich aber noch nichts. Dann sieht man jemanden auf ein Dach klettern. Das erste Licht wird angezündet. Es ist ein Wunder, dass das bei dem Wind überhaupt geht. Das Licht ist einen runden, eisernen Behälter mit Zacken, in dem vermutlich Öl ist. Das Licht wird mit einem riesigen, professionellen Gerät angezündet. Dann wird ein Licht nach dem anderen angezündet, auf Dächern, auf Mauern, auf Türmen. Das gibt ein sehr schönes Bild. Allerdings könnte man das von unten vermutlich besser sehen. Und bei den wild in der Gegend herum stiebenden Funken kann einem ganz anders werden. Da sich weiterhin nichts tut, flüchten wir uns in eine Kapelle zum Aufwärmen. Da ist viel Laufkundschaft. Menschen aller Altersklassen kommen rein, küssen das Kreuz, bekreuzigen sich mit ausladenden Bewegungen und zünden eine Kerze an. Ich versuche, Robert und seine Frau nicht aus den Augen zu verlieren. Aber dann hört man von Ferne ein Klopfen, es kommt Bewegung in die Sache, und sie sind weg. Irgendwo muss die Prozession entlang laufen. Ich verlaufe mich, komme ich ganz verlassene Gassen, weiß nicht mehr, wo ich bin und komme dann nach einigem Umherirren zu dem Lokal, wo wir uns treffen wollten. Da sitzen sie alle ganz entspannt beim Essen. Keiner scheint mich vermisst zu haben. Sie haben natürlich die Prozession mitbekommen. Ich kriege aber zur Entschädigung noch ein paar Bissen mit und eine versöhnlich stimmende Karaffe Weißwein.

11. April (Ostersamstag)

Der erste Sonnenstrahl seit einer Woche. Aber keine Entwarnung: Es ist immer noch windig und kalt.

Wieder werde ich zum Tee eingeladen. Diesmal ist auch der Sohn, der „Kleine“, mit seiner Freundin vertreten. Er guckt ziemlich grimmig und versucht auch vergeblich, die Internetverbindung herzustellen. Nach einiger Zeit taucht er dann auf und fragt, aus welcher Stadt ich käme. Trier? Klar, kennt er? Wirklich? Ja. Eintracht Trier! Ich biege mich vor Lachen. Er selbst hält zu Panathinaikos.

Seine Freundin hat eine alberne Stimme, stellt sich aber als interessante Gesprächspartnerin heraus. Ihre Mutter ist Polin, sie selbst ist in Polen geboren, spricht Polnisch und kehrt auch häufig zu Besuchen in die Heimat zurück. Sie kommt aus Danzig. Wir sprechen auch über meine Reise nach Krakau und den Besuch von Auschwitz. Auf einmal sagt sie ganz nachdenklich machende Sätze mit ihrer albernen Stimme.

Am Fernsehen läuft mal wieder die morgendliche Liturgie. Der leiernde Singsang der Priester füllt den ganzen Raum. Endlich greift jemand zur Fernbedienung. Und stellt den Fernseher lauter! Man sieht, wie die Priester durch die Kirche ziehen und Blätter unters Volk werfen. Was denn das ist, will ich wissen. Lorbeer. In Santorini werden Blumen geworfen. Die Kyria Evgenia zeigt mir welche, in ein Taschentuch gehüllt. Im Fernsehen sieht man glückstrahlende Gesichter der Gläubigen, die sich zu reinem Entzücken verändern, wenn sie ein Lorbeerblatt auffangen. Eine geradezu kindliche Freude. Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen, ob man sie bedauern oder beneiden soll.

Die Frau des Hauses drückt mir ein Buch in die Hand. Zum Behalten. Für dich. Es ist ein Reiseführer, auf Deutsch, über Santorin.

Der Hausherr kommt rein und fragt, was wir gestern gemacht hätten. Ja, Pyrgos, als er vor Jahren zum ersten Mal da gewesen sei, habe es dort nicht einen Lufthauch gegeben. Und jetzt? Stürme. Die Welt sei aus den Fugen. Sie sieht es auch nicht viel anders. Aber sie hat einen Schuldigen: Schäuble. Der verdiene ordentlich ‚Holz‘ – Prügel!

Auf dem Weg zur Schule kaufe ich noch einmal Meletini. Wieder eine ganze Schachtel. Der Preis ist in die Höhe geschnellt seit letzter Woche: statt 10€ jetzt 17€. Aber die Lehrerinnen haben es sich verdient, und man will es gar nicht gegen die endlos vielen Tassen Tee aufrechnen, die wir in den Pausen verdrücken.

Wir fahren nach Akrotiri. Ifigenia will sich (von uns) erholen. Kann man verstehen. Also soll ich fahren. Als wir gerade los sind, sagt Robert zur Ermutigung, die sei das schlimmste Land, das er je kennen gelernt habe, was das Autofahren angehe. Seine Frau findet, Polen sei genauso schlimm. Das stimmt er zu. Aber selbst Algerien sei besser.

Wir kommen trotzdem heil an und fahren gleich zur Ausgrabungsstätte. Das ist die Stadt, die durch den Ausbruch des Vulkans zerstört worden ist, der Vulkanausbruch, der lange auch für die Zerstörungen der Paläste von Kreta verantwortlich gemacht wurde. Auf die Idee kam, weil man in Knossos Bimsstein gefunden hatte. Der musste von auswärts kommen. Kreta, heißt es, kann man von hier von der Küste aus sehen.

Das Ausgrabungsgelände liegt unter dem heutigen Ort, nicht weit vom Meer. Es ist erst ein Drittel ausgegraben worden. Es muss eine große Stadt gewesen sein. Es gibt alle möglichen Parallelen zu den Palästen auf Kreta, obwohl es sich um eine ganz andere Kultur handelte: zwei- bis dreistöckige Häuser, Wandmalereien, die denen von Kreta im Stil ähneln, große Pithoi (von denen einige hier an Ort und Stelle gelassen wurden), Lichtschächte und sogar das Doppelhorn. Auch hier wurde Holz für die Pfeiler verwendet, und auch hier gab es eine Toilette mit Abwasserkanal. Das Wasser war Brachwasser oder sogar Meerwasser und deckte den Wasserbedarf für die Hygiene ab. Man weiß aber nicht, wo das Trinkwasser herkam. Das ist auch heute noch ein Problem auf Santorin. Wir verwenden zum Teekochen immer nur Wasser aus der Flasche. Man hat einige Wasserrohre gefunden, die nicht zu den anderen passen und vermutet, dass es ein Aquädukt gegeben hat, der von Profitis Ilias hierher führte. Dort gibt es eine Quelle am Fuß des Berges.

Auch die Ausgrabungstechnik hat Ähnlichkeiten mit Knossos. Hier wurde freigebig mit Beton gearbeitet. Es gibt eine hohe Hauswand und das eine oder andere Fenster. Dabei fragt man sich, ob das original ist oder rekonstruiert.

Insgesamt bleibt die Sache mir aber etwas fremd. Was wie passiert ist, weiß ich, als ich rausgehe genauso wenig wie vorher. Ist die Stadt unter Asche oder Lava begraben worden? Wie hat sie ausgesehen? Irgendwo stehen zwei Holzgestelle rum, die wie Bettgestelle aussehen. Da klebt irgendeine Masse dran, die wie Lava aussieht. Auch zwischen den Steinen klebt etwas. Aber das kann auch Mörtel sein.

Wir gehen in eine Fischtaverne zum Essen. Ich wäre lieber ein bisschen durch den Ort gestreift als in die Taverne gegangen, obwohl man hier schön sitzt, direkt am Strand, mit ein paar Sonnenstrahlen und nicht mehr so starkem Wind. Außerdem gibt Rania in ihrer ruhigen Art mit reichlich Gelegenheit, Griechisch zu sprechen. Es wird Fisch wie wild bestellt, aber es gibt auch genug Vorspeisen, mit denen man satt werden kann. Ich fahre dann mit Rania zurück zur Schule. Auf dem Weg machen wir ganz kurz Halt am Straßenrand und machen ein Photo von dem Vulkan. Der ist nur ein verkohltes Stück Insel in der Bucht. Ursprünglich war Santorin rund, oder vielleicht eher oval, man kann die Linie noch ganz gut anhand der Satelliteninseln ergänzen. Wenn man sich die ursprüngliche Gestalt vorstellt, merkt man erst, was da alles „fehlt“. Eine gewaltige Explosion, einer der größten, die es in Europa überhaupt jemals gegeben hat. Was ich bei der Ansicht des Vulkans noch nicht wusste: Die Bewohner konnten flüchten, weil sie vorgewarnt waren: Es hatte vorher ein Erdbeben gegeben, und das wurde als Signal für den bevorstehenden Vulkanausbruch gedeutet!

Die ursprüngliche runde Gestalt gab Santorin sogar ihren alten Namen: Strongyle, [Στρογγύλη]. Das hieß einfach die ‚Runde‘. Im Altertum hieß es außerdem Kalliste [Καλλίστη], die ‚Schöne‘. Und die Türken nannten sie Dermetsik, ‚kleine Mühle‘. Noch heute sieht man überall die Stümpfe alter Mühlen herumstehen. Bei dem Wind eine sinnvolle Einrichtung. Zu dieser Namensvielfalt passt die heutige Variation Santorin [Σαντορίνη] und Thira [Θήρα]. Dazu kommt noch die Variation Santorin (Französisch und Deutsch) gegenüber Santorini (Englisch und Spanisch). Der Name wurde vermutlich von Kreuzfahrern aus dem Heiligen Land mitgebracht.  

Am Abend, als wir auf die anderen warten, habe ich noch einmal Gelegenheit, mich mit Rania zu unterhalten. Auch sie hat zwei Bücher veröffentlicht (das weiß ich allerdings von Ifigenia), zwei kurze Romane, Erzählungen. Sie sind online frei verfügbar. Meine Frage, wo denn die Romane spielen, bringt sie in die Bredouille. Nirgendwo. Sie haben keinen spezifischen Schauplatz. Das ist ja auch eine Antwort auf die Frage und sagt schon einiges über die Eigenart der Bücher. Sie hat zweimal gefastet, die volle Version, nur so, nicht aus religiösen Motiven. Sie und ihr Mann seien nicht religiös. Das hört man selten aus dem Mund eines Griechen. Das Fasten sei ihr gar nicht sonderlich schwergefallen, sagt sie.

Dann kommen die Franzosen. Sie kommen mal wieder vom Essen, vom ausgiebigen Essen. Sie sind sehr angetan von dem Mousiko Kouti, dem Lokal des Sohns meines Vermieters. Es ist inzwischen spät geworden, und dann erfahre ich, dass die Fahrt nach Profitis Ilias ausfällt. Die zweite Fahrerin, die Amerikanerin, hat abgesagt. Schade. Wir gehen in die Kirche hier im Ort. Die Kirche ist voll, aber nicht so voll, wenn auch nur annähernd alle 400 Einwohner drin wären. Robert und ich begehen gleich den ersten Fauxpas, indem wir uns auf die falsche Seite, die linke, stellen. Wir müssen nach rechts, das ist es gemischt. Er herrscht Kommen und Gehen, die Leute begrüßen sich und sprechen unablässig miteinander. Zwischendurch werden sie immer wieder zur Ordnung gerufen und aufgefordert, ruhig zu sein. Gleichzeitig sind draußen schon Böllerschüsse zu hören, so laut, dass sie die Fenster der Kirche erschüttern. Dann gehen die Lichter aus. Das soll der vielbeschriebene magische Moment sein, in dem nur noch das aus Jerusalem importierte Licht der Kerze des Popen leuchtet, das dann nach und nach an alle Gläubigen weitergereicht wird. Das elektrische Licht geht aber vorzeitig wieder an, wohl aus Versehen, und man hört Lachen und Gemurmel statt Schweigen. Dann werden die Kerzen angezündet, der Popen schreitet mit einer kleinen Prozession nach draußen und kommt wieder rein. Alle drängen sich um ihn und versuchen, das goldgerahmte Buch und eine Standarte zu küssen, die er in der Hand hält. Über dem Epitaph erscheint ein Christus aus Pappmaché mit einem Gewand. Das alles ist reine Folklore und hat mit Spiritualität nichts zu tun. Die Griechen glauben, dass es eine religiöse Zeremonie ist.

Wir versuchen, unsere Kerzen bis zum Geromanolis zu bekommen, ohne dass sie ausgehen, müssen aber immer wieder bei den anderen Hilfe suchen. Die anderen gehen nach Hause und lassen mich mit Rania und Ifigenia die Magiritsa essen. Schmeckt nicht schlecht, eine sämige Suppe mit viel Grünkraut und ein paar Würfeln von Innereien vom Lamm, vermutlich Nierchen.

Danach machen wir das Spielchen mit den Eieranticken.  Meins ist als erstes dahin, an beiden Seiten. Strahlende Siegerin ist Rania. Die Griechen kennen ein paar Tricks: Der Winkel spielt eine Rolle und auch die Größe der Eier.

Die Wirtin erzählt mit besorgtem Gesicht etwas von einem Unfall und bekreuzigt sich dabei. Ich verstehe aber nicht, was passiert ist. Ifigenia und Rania erklären: Der Sohn hat sich beim Abbrennen der Knaller die Hand verletzt. Er ist in Athen im Krankenhaus. Auf Santorin gibt es kein Krankenhaus. Man wird in Notfällen nach Athen geflogen! Kurz darauf kommt die Wirtin wieder und sagt, ihr Mann habe gerade mit ihrem Sohn telefoniert. Es gehe ihm gut, er habe keine Schmerzen, wohl aber Angst.

Eva, die noch bei uns sitzt und auf ihr Taxi wartet, erzählt, auch zu Entbindungen werde man nach Athen geflogen. Auf der Insel gebe also gar keine richtigen Insulaner. Alle seien Athener.

12. April (Ostersonntag)

Endlich ein schöner Tag, sonnig, warm und wolkenlos, schon am Vormittag, als wir uns auf den Weg zum Töpfer machen. Dort wird heute das Osterlamm geschlachtet. Oder besser gesagt, gegrillt. Das Tier hängt schon am Spieß, komplett, von Kopf bis Fuß. Die Aktion findet draußen statt.

Der Hausherr dreht den Spieß. Als er fragt, ob jemand übernehmen will, zögere ich keinen Moment. Und bin ganz enttäuscht, als ich irgendwann doch wieder abgeben muss. Das hätte ich noch den halben Tag machen können.

Das Tier ist nur mit Salz und Pfeffer und Knoblauch gewürzt worden, erfahre ich. Es kommt von einem Bekannten, der eine Herde hat. Es entwickelt sich ein interessantes Gespräch mit dem Töpfer, der neben mir sitzt und mir zustimmend zunickt, während er die anderen später immer wieder auffordert, nicht so schnell oder nicht so langsam zu drehen. In größeren Abständen nimmt er einen Hammer zur Hand und schlägt auf die eiserne Aufhängung. Die Entfernung vom Lamm zum Feuer wird verringert. Um halb acht, sagt er, hätten sie angefangen. Sie haben Reisig gesucht, der zusammen mit Kohlebriketts für das Feuer sorgt, wobei Feuer eigentlich nur Wärme und etwas Rauch ist. Eine Flamme ist nicht zu sehen.

Gleich vom Beginn an wird Raki getrunken, und ich lasse keinen aus. Dazu werden immer wieder neue kleine Häppchen aufgetischt. Leute kommen und gehen, bringen etwas mit oder trinken einen Raki und verschwinden wieder. Dies ist wohl eine eher profane Gesellschaft, und man hört kaum einmal Christos Anesti (dabei haben wir extra die Antwort gelernt), uns Fremden gegenüber sowieso nicht, sondern eher Kalo Pascha und natürlich Xronia Polla. Das passt zu jeder Gelegenheit.

Einige wenige der Griechen sind sehr freundlich und interessiert, andere lassen uns links liegen und wieder andere ignorieren uns. Selbst Sylvie wird einmal mit ausgestreckter Hand und ihrem Begrüßungsspruch auf den Lippen stehen gelassen. Später schafft sie es dann aber doch, ein paar Griechen um sich zu scharen und ihnen ihre Lernbiographie in allen Einzelheiten darzulegen. Wenn sie enthusiastisch wird, kommt ihr französischer Akzent stärker durch, und sie fängt an, alle Wörter auf der letzten Silbe zu betonen.

Irgendwann werfe ich einmal die Frage nach der Mietung einer Wohnung ein. Die einhellige Antwort: schwer, sehr schwer.

Die Sache zieht sich doch ziemlich in die Länge, und als endlich aufgetischt wird, ist es fast drei Uhr. Bis dahin hat es ordentlich Raum für Raki gegeben, und den hat der Hausherr am besten ausgenutzt. Jetzt geht es mit Wein weiter. Es ist alles sehr einfach, aber dezent. Ein paar Tapeziertische werden zusammengestellt, es kommen Tischdecken drauf, und das Besteck wird von Hand zu Hand verteilt. Zum dem Lamm gibt es Salat und geröstete Kartoffeln. Das Lammfleisch ist ganz zart, aber nicht sehr intensiv im Geschmack. Das hätte ein paar Gewürze und Kräuter mehr vertragen können. Man würde nicht jeden Tag fünf Stunden darauf warten wollen.

Am Nachmittag fahren wir nach Perissa. Dort wird Judas getötet. Dieser Brauch wurde im Programm der Schule als „Killing the Jew“ angekündigt, und so heißt es auch im Griechischen. Ich habe damals die Klappe gehalten, aber im Auto sage ich jetzt, dass so eine Aktion in Deutschland wohl nicht sehr ratsam wäre, und unter diesem Namen schon gar nicht. Die Franzosen stimmen lachend überein und sagen, in Frankreich könne das nur Jean-Marie Le Pen machen. Aber die Griechen hätten eben einen Sonderstatus. Die könnten sich das leisten.

In Perissa ist mächtig Betrieb. Auch viele Ausländer sind vertreten. Die Atmosphäre ist die eines Volksfests. Der Jude hängt als Puppe an einem Seil über der Straße, das an Strommasten befestigt ist. Und darunter steht die Dorfjugend, mit Gewehren und Pistolen bewaffnet. Schon bald geht die Knallerei los. Alle ballern gleichzeitig auf den Stofffetzen los, einige stehend, andere kniend. Bald ist von dem Juden nur noch das Drahtgestell übrig, an dem er hing.

Wir sichern uns schnell einen Platz in einem Café am Strand. Robert sagt, die Aktion gehöre zu den Top 5, den Top 5 der unnötigsten Gebräuche der Welt. Recht hat er.

Iphigenia kennt den Besitzer, einen Libanesen, der eine ganze Reihe solcher Lokale auf Santorini besitzt und steinreich ist, aber ganz einfach geblieben sein soll. Bei mir im Kopf entsteht ein anderes Bild, als ich ihn und seine Freunde sehe, alle mit gegeltem Haar, spitzen Schuhen und Sonnenbrille, und Ifigenia scheint meine Gedanken zu lesen: Sieht schon irgendwie mafiös aus.

Als dann der Besitzer herüberkommt und Ifigenia begrüßt, steht Sylvie sofort auf, hält ihm die Hand an, spricht ihn mit Namen an und stellt ich mittels ihres auswendig gelernten Monologs vor. Die Frau hat keine Scheu.

Als wir aufstehen und zum Auto gehen, ist es ganz plötzlich kühl. Ohne Ankündigung sozusagen.

13. April (Ostermontag)

Auch heute ist Feiertag, zumindest sind die Geschäfte geschlossen, aber wir haben trotzdem Unterricht. Vor dem Unterricht lerne ich Simeon kennen, den Besitzer und Erbauer des Hauses, in dem die Schule untergebracht ist. Er hat Iphigenia gefragt, ob sie nicht einen Deutschen in der Schule hat. Er habe da eine Frage. Er ist ein sehr warmherziger, freundlicher Mann, so in meinem Alter. Er fragt nach einer Stadt namens Freudenberg. Er möchte gerne wissen, wo die ist. Er habe eine Karte davon. Ich muss passen, sage ihm aber, dass es vermutlich mehrere Orte dieses Namens gibt und erkläre ihm die Bedeutung des Ortsnamens. Es stellt sich aber heraus, dass das wohl nur ein Vorwand ist. Er möchte einfach plaudern. Er selbst stammt aus Thessaloniki, hat lange Jahre in Athen gearbeitet und dort seine Frau kennen gelernt. Die stammt hierher. Also sind die dann, vor etwa zwanzig Jahren, hierher gezogen. Damals war Santorin arm, es gab noch so gut wie keinen Tourismus. Dann habe man den Hafen ausgebaut, den Flughafen gebaut und die Ausgrabungen gestartet. Er ist irgendwie ganz froh, all diese Entwicklung mitgemacht zu haben. Gleichzeitig ist dann allmählich das Haus entstanden. Jetzt ist es fertig, für „die Kinder“. Er selbst ist handwerklich geschickt und macht alle möglichen Kleinarbeiten für die Bewohner des Ortes, ein Mann für alle Fälle. Der Kontakt mit Deutschland kommt aus der Zeit in Athen. Da hat er für eine deutsch-griechische Firma gearbeitet. Den Namen kenne ich nicht, sie machen irgendwelche Kleinteile aus Eisen und Aluminium für Baufirmen. Er kennt noch die Namen seiner zwei langjährigen deutschen Vorgesetzten. Mit denen sei jeder Kontakt abgebrochen, sagt er mit Bedauern. Sie hätten sich immer gut verstanden, obwohl er kein Deutsch sprach und sie kein Griechisch. Ein griechischer Kollege, der in Deutschland gearbeitet hatte, diente als Übersetzer, und sonst erfolgte die Verständigung eben mit Hand und Fuß. Er sagt mir, ich könne jederzeit wiederkommen. Ohne anzuklopfen.

Im Unterricht noch einmal das Bildungssystem. Wir haben für ein „Projekt“ außerhalb des Unterrichts Antworten zu einigen Fragen finden müssen und vergleichen jetzt unsere Ergebnisse. Das Interessanteste: Wir haben teils ganz falsche Informationen bekommen. Meine Familie hat gemeint, der Religionsunterricht für griechische Schüler sei nicht mehr verpflichtend und es gebe private Universitäten. Beides stimmt nicht. Sylvie hat die Tochter der Taverne gefragt. Die glaubt, 12 Jahre Schule seien Pflicht. Es sind aber nur 9. Man kann sich das gut vorstellen. Die Eltern planen, dass ihre Tochter das Abitur macht und also 12 Jahre zur Schule geht. Aus ihrer Sicht ist das die Schulpflicht.

Dann lesen wir einen Text über eine Lehrerin, die das morgendliche Vater Unser, angesichts der muslimischen Schüler und der Handvoll Nichtgläubige, durch ein Gedicht von Ritzos über den Morgenstern ersetzte, ein im weiteren Sinne durchaus „religiöser“, aber kein kirchlicher Text. Erwartungsgemäß begannen Eltern, dagegen Sturm zu laufen. Sie wandten sich an das Ministerium, und die Lehrerin wurde entlassen.

Noch eine zweite Sache kommt zur Sprache, die mir bezeichnend erscheint: Die muslimische Kinder wollen auch das Vater Unser beten. Sie wollen nicht außen vor bleiben und von den anderen Kindern durch das Fenster beobachtet werden. Einige muslimische Eltern sind aber dagegen. Besonders sind sie dagegen, dass die Kinder das Kreuzzeichen machen.

Am frühen Abend geht es zu einem Agronomen, einem kleinen, drahtigen Mann, ein Berufskollege von Robert also. Er betont, er sei nicht nur Agronom, sondern auch Lehrer, vermutlich an einer Art Berufsoberschule. Santorin sei ein ganz besonderer Flecken Erde. Er könne das sagen, denn er stamme nicht von hier. Er kommt aus Nordostgriechenland, von der albanischen Grenze.

Er führt uns auf ein Feld und spricht von den Besonderheiten von Santorin: trocken, warm, wasserarm. Er selbst vermarktet seine Produkte unter dem Namen Anydro – ‚Wasserlos‘.

Er führt uns auf ein Feld. Die Erde ist reiner Sand. Das ist gut und schlecht gleichzeitig. Es bedeutet wenige Nährstoffe, aber auch keine Krankheitskeime. Und es bedeutet auch, dass der Geschmack der Produkte sehr intensiv ist. Das Wasser beziehen die Pflanzen, wie uns auch schon Ifigenia erklärt hatte, aus dem Bimsstein. Es bedeutet auch, dass der Anbau, fast unfreiwillig, biologisch ist.

Wir sehen ein Feld, auf dem Zwiebeln angebaut werden. Es sind die gleichen Zwiebeln, die man auf dem Ausgrabungsfeld von Akrotiri gefunden hat, 3500 Jahre alt. Später sehen wir ein Feld, auf dem Tomaten angebaut werden. Es ist so staubtrocken, ohne einen Grashalm, dass man kaum glauben kann, dass hier etwas wächst. Er gräbt im Staub herum und stößt etwas zehn Zentimeter unter der Erde auf die Aussaat. Da sieht die Erde feucht aus. Das ist aber eine Ausnahme, weil es dieses Jahr so viel geregnet hat. In einem Jahr fiel der letzte Regen am 6. Februar, und die Ernte war gut! Erstaunlich. Es ist die umgekehrte Vorgehensweise zu Kreta, wo einfach viel gewässert wird. Allerdings ist die Ausbeute hier auf Santorin auch eher mager: Nur 5% des Bedarfs wird durch die eigene Landwirtschaft gedeckt. Dafür aber, wie er immer wieder betont: erste Klasse!

Die Kommunikation gestaltet sich schwierig, vor allem die zwischen den beiden Agronomen. Der griechische gibt viel zu spezifische Informationen, der französische ist ein Umständlichkeitskrämer. Er überlegt seine Antwort erst lange, weiß dann nicht, ob er auf Griechisch, Französisch oder Englisch antworten soll und antwortet dann in einem Kauderwelsch, das keiner versteht. Der Grieche verliert die Geduld, wenn wir nicht sofort verstehen und fängt dann jede Erklärung auf Englisch an, um beim zweiten Satz zu merken, dass sein Englisch nicht reicht und dann wieder zum Griechischen wechselt.

Die endlose Diskussion über jährliche Regenmengen wird zu einem Lehrbeispiel für nicht gelungene Kommunikation. Der Grieche sagt, hier auf Santorin regne es weniger als einen Meter pro Jahr. Er will wissen, wie viel es in der Bretagne regnet. Der Franzose kann mit der Mengenangabe aber nichts anfangen und beginnt eine Diskussion über die Art und Weise, wie man Niederschlag berechnet. Irgendwann macht er sich dann an das Rechnen und kommt mit einer Zahl heraus: etwas über einem halben Meter. Fatal! Als ich die Antwort höre, bekomme ich einen inneren Schreikrampf. Das will der doch nicht hören! Selbst wenn es stimmt. Er will uns doch sagen, wie toll das ist, dass sie in Santorin überhaupt etwas anbauen, obwohl es so wenig regnet. Sag ihm doch einfach: dreimal so viel! Tut er aber nicht.

Eine Besonderheit von Santorin ist die Tomatenpaste. Die Tomaten, die besonders klein sind, werden im Juli geerntet und dann vier Tage lang in der Sonne getrocknet. Dann wird daraus eine Paste bereitet.

Auch Rosmarin und Oregano baut er an. Beide haben einen sehr intensiven Geruch. Außerdem baut er noch Kapern an. Aber die bekommen wir nur fertig im Glas zu sehen.

Von dem Weinfeld aus sieht man auf die wundervolle Szenerie des Meers mit grünen Hügeln und den von der Erosion bizarr ausgehöhlten Felsfänden. Erosion ist ein großes Problem. Das sieht man auch auf einigen Felder, auf denen das Wasser riesige Furchen gerissen hat. Auch werden wir gewarnt, nicht zu nahe an den Rand des Feldes des erhöht gelegenen Feldes zu gehen. Hier kann jederzeit etwas wegbrechen.

Schließlich geht es zur Kostprobe, in ein von ihm selbst in den Berghang gebauten Kellergewölbe. Nach etwas umständlichen Erklärungen gibt es Tomatenpaste, süße Tomaten und eine Marmelade aus einer Art Kaktus zur Probe. Schmeckt alles sehr intensiv. Die Franzosen mögen die Tomatenpaste am liebsten, mir schmeckt die Marmelade am besten.

Am Abend erinnere ich mich an ein Poster, das ich in der kleinen Buchhandlung in Oia gesehen habe: Do you have a problem? No? Then don’t worry. – Do you have a problem?  Yes? Can you solve it? Yes? Then don’t worry. – Do you have problem? Yes? Can you not solve it? No? Then don’t worry. Bleibt nur die Frage, was man macht, wenn man nicht weiß, ob man ein Problem lösen kann.

14. April (Dienstag)

Am Morgen fällt mein Blick auf eine Packung Kekse. Die habe ich schon öfter gekauft. Die Marke, aber darauf habe ich bisher noch nie geachtet, ist ΠΤΙ ΜΠΕΡ. Das sieht ganz merkwürdig aus, eher wie eine Abkürzung. Jetzt lese, ganz ohne Vorsatz, die einzelnen Buchstaben laut, und plötzlich ergibt sich der Sinn: PETIT PERE.

In einer Biographie von Kolumbus ist ein Auszug aus einem von zwei Autoren verfassten Drama über Kolumbus abgedruckt. Der Text gefällt mir gut. Am nächsten Tag kommt er mir wieder in den Sinn. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass einer der beiden Autoren Hasenclever war. Den Namen des anderen habe ich vergessen. Am Abend sehe ich nach. Es ist Tucholsky. Am nächsten Tag kann ich mich erinnern, dass einer der Autoren Tucholsky ist, aber an den Namen des anderen kann ich mich nicht mehr erinnern. Ist das Altersschwäche? Oder funktioniert unser Gedächtnis so?

Auf Kreta sieht man manchmal Geschwindigkeitsbegrenzungen von 20 km/h. Das ist schwer genug mit dem Auto. Hier gibt es sogar 10 km/h.

1998 gab es nach dem Bericht der OECD eine Liste von Vorhaben der griechischen Regierung hinsichtlich des Erziehungswesens. Einige wurden verwirklicht, andere nicht. In der Grundschule ist jetzt der Unterricht nur noch vormittags. In allen anderen Schulen ist der Unterricht weiterhin abwechselnd, eine Woche vormittags, eine Woche nachmittags. Auf diese Weise können zwei Kohorten bedient werden. Es wurden öffentliche Frontistiria eingeführt, um den privaten mit ihren horrenden Preisen Konkurrenz zu machen. Da wird der Unterricht aber von denselben Lehrern durchgeführt, die auch den eigentlichen Unterricht machen. Damit ist natürlich nichts gewonnen. Die guten Lehrer sind weiterhin bei den privaten. Iphingenia nennt die Summen, die man dort verdienen kann. Das kommt uns geradezu unglaublich vor. Und dann stellt sie selbst die Frage, die mir auf der Zunge liegt: Woher nehmen die Griechen das Geld für die Bezahlung. Erstens haben viele mehr als eine Anstellung. Ihr Bruder arbeitet morgens als Fahrer bei einer Firma und nachmittags als Gelegenheitsfahrer für einen reichen Unternehmer. Da sind da auch schon mal mehrtätige Fahrten in andere Gegenden Griechenlands dabei. Am Wochenende arbeitet er als Diskjockey. Und in der Freizeit berät er Bekannte beim Kauf von Autos und Klimaanlagen. Der zweite Grund ist, dass viele Griechen noch Verwandte auf dem Land haben und von denen mit Fleisch, Öl und Käse versorgt werden. Der dritte Grund ist, dass viele Grieche Verwandte im Ausland haben, die sie unterstützen, vor allem in den USA und Australien, aber auch in England, Belgien und Deutschland. Der vierte Grund ist der, dass ohne Quittung abgerechnet wird. Und der letzte Grund ist das Plastikgeld. Viele Griechen sind verschuldet, da Firmen und Banken ihnen viel zu leicht Geld leihen.

Nach der Mittagspause gehe ich zu Simeon hinüber. Er begrüßt mich wie den verlorenen Sohn. Er habe schon den ganzen Morgen nach mir Ausschau gehalten. Er holt eine uralte Karte von Europa hervor, noch mit SU und DDR und erklärt mir dabei den griechischen Ursprung vieler europäischer Ortsnamen,  so als ahnte er, dass ich mich damit beschäftige. Unter diesen Städten sind auch Odessa und Sewastopol. Das hat das griechische πόλη, ‚Stadt‘, am Ende. War mir noch nicht aufgefallen. Ganz interessant ist sein Hinweis auf Pontos, das alte Wort für ‚Meer‘. Daher der Nachname von Pilatus, Pontius. So nannten die alten Griechen alle, die von weit her kamen, von jenseits des Meers. Auch die Griechen aus Kleinasien heißen bis heute Pontoi.

Am Nachmittag geht es um griechische Musik. Die Vorbereitung ist wieder beispielhaft. Alle bekommen ein schön gestaltetes Heft mit den Texten und einer CD mit der Musik, zum Mitnehmen. Die CD enthält ganz unterschiedliche Lieder, auch griechischen Rock und Pop, aber auch traditionelle Volkslieder. Und die beiden traditionellen Musiksparten Rembetiko und XXX. Der Rembetiko, der „griechische Blues“, hatte verschiedene Zentren mit verschiedenen Ausprägungen, darunter Smyrna und Piräus. Es ist die Musik der Armen, aber nicht der vom Lande, sondern der der Städte.

Wir hören und singen drei Lieder unterschiedlicher Machart, von denen das zweite, eine Ballade, mir am besten gefällt. Dass das mit dem Singen überhaupt klappt, finde ich erstaunlich. Schließlich sind Texte und Melodien für uns neu, und das fremde Alphabet ist eine weitere Hürde. Aber wir ziehen und einigermaßen aus der Affäre. Iphigenia und Rania ziehen und kräftig mit. Ich hätte als Lehrer nur den Refrain einstudiert, und den dafür intensiver, so dass was hängen bleibt.

Dann geht es nach Fira, der jetzigen Hauptstadt Santorins. Ursprünglich war die Hauptstadt ein ganz hoch gelegener Ort. Dann, als die Gefahr von den Piraten nachließ, verlegte man die Hauptstadt hierher, mach Fira, immer noch ein erhöht gelegener Ort.

In der Beschreibung gibt es einen schönen, doppelten Übersetzungsfehler: The Fira is a small lively town in Santorini. Fira is the capital of Santorini and are in the northwestern part of the island. Fira ist im Griechischen Plural und hat, wie alle Städte, einen Artikel.

Auf der Fahrt erklärt Eva, sie fühle sich in erster Linie als Bretonin und erst dann als Französin. Vorher, in der Schule, hat sie mir die bretonische Flagge gezeigt. Die trägt sie tatsächlich mit sich herum. Es ist eine elegante Flagge, ganz in Schwarz und Weiß, mit Streifen und Lilien. Deren Anzahl steht für die alten Bischofssitze. Das weiß sie aber nicht, das sagt Robert. Die anderen Franzosen mag sie nicht so, obwohl sie Marseille gut findet. Sie hat überhaupt nichts für die Pariser übrig. Die hielten sich für etwas Besonderes und seien schrecklich unfreundlich. Ich muss ein bisschen schmunzeln über ihre Diatribe. Sie wundert sich, dass ich mich nicht wundere. Es ist das alte Spiel Provinz gegen Hauptstadt. Die Hauptstädter sind hochnäsig und unzugänglich, die Provinzler sind hinterwäldlerisch und ungehobelt.

Als wir in Fira ankommen und in einer Seitengasse einen Parkplatz finden, stehen wir gleich neben einer Blumenwiese: Margaritas, sagt Ifigenia. Wo, fragt Eva. Ich zeige nach rechts, auf die Blumen. Ach so, Blumen, sagt Eva, ich hatte an Alkohol gedacht.

Der Ort wirkt ziemlich groß und sehr lebendig und ist ganz anders als alles andere, was wir bisher gesehen haben. Auch spät am Abend, als es schon längst dunkel ist,  sind noch Kioske, Lebensmittelläden, Buchhandlungen und Optikergeschäfte geöffnet. Es sieht auch alles sehr touristisch aus, Andenkenläden an allen Ecken und Enden und Cafés, die nichts Griechisches an sich haben. Das macht den Ort ziemlich austauschbar. Ich habe das Gefühl, in Paphos zu sein. Es gibt allerdings eine auffällige Kirche mit einer großen Kuppel. Die sieht mit ihren arkadenförmigen Vorbauten etwas wie eine Moschee aus. Da stehen wir vor der Rückfahrt und blicken auf das Meer und die erleuchtete Meeresfront.

Vorher müssen aber ein paar Besorgungen gemacht werden, und dann gehen wir essen. Ifigenia hat wieder gut vorgesorgt und uns einen Tisch reserviert in dem einzigen Lokal weit und breit, das kein typischer Touristenschuppen ist, in einer der schmalen Gassen. Die Einrichtung ist einfach, und es gibt griechische Hausmannskost. An der Wand hängen Bilder, Gemälde, Interieurs, die irgendwie deutsch aussehen. Das sind Bilder, erklärt Ifigenia, von griechischen Exilanten. Griechische Maler seien eine Zeitlang nach München gegangen und hätten die Münchner Schule mitgeprägt. Später seien sie dann eher nach Paris gegangen.

Der Wirt hat lange in Monaco gelebt, spricht fließend Französisch und flirtet ungeniert mit den Französinnen. Rania bekommt ein Lob für ihre griechische Aussprache. Ifigenia ist hier schon bekannt, und das zahlt sich aus. Es gibt Nachschub beim Wein und den ganzen Nachtisch auf Kosten des Hauses.

Monaco das europäische Disneyland, sagt der Wirt. Das habe er gelernt, was das Wort Snob bedeute.

Die Amerikanerin bestellt, noch bevor wir uns setzen, ein Wasser, nur für sich alleine. So dringend ist es. Das Wasser kommt dann ein paar Sekunden vor unserem. Wir entscheiden: Vorspeisen gemeinsam und ein Gericht für jeden. Die Amerikanerin möchte aber zwei Gerichte für sich. Ifigenia spricht mit ihr wie mit einem kleinen Kind und überzeugt sie, doch nur eins zu bestellen. Das bekommt sie dann nicht auf und lässt es sich einpacken. Dann will sie den Weißwein, den es auf Kosten des Hauses gab und den nur sie trinkt, in eine Wasserflasche füllen und mitnehmen. Im letzten Moment wird sie noch davon abgehalten. Als wir dann aufbrechen, entscheidet sie sich, noch nicht zurückzufahren. Damit fehlt uns eine Rückfahrgelegenheit. Wir müssen uns aufteilen, die Franzosen fahren mit dem Taxi zurück. Ich muss mich schwer zusammennehmen, um keinen Kommentar zu machen. Dieser Tage hat sie schon in Akrotiri für die gesamte Gesellschaft Fisch bestellt, ohne Rücksicht auf zwei, die keinen Fisch essen, den dann aber mitbezahlen mussten, obwohl er nicht aufgegessen war. Am Ende, als sie merkt, dass sie den Fisch nicht runterbekommt, bietet sie ihn uns an. Als wir dann dezent auf unsere Fischallergie hinweisen, findet sie das urig. Ach, sie habe auch einen Freund mit Fischallergie. Und einen mit Zwiebelallergie. Ist sie einfach begriffsstutzig? Den Namen ihrer Lehrerin, Rania, kennt sie nach einer Woche noch nicht. Sie nennt sie Riana.

15. April (Mittwoch)

Das Griechische, angeblich die zweitreichste Sprache der Welt, hat kein Wort für Kater, für den Kater nach einer durchzechten Nacht. Die Frage kam auch, weil Eva einen Kater hat.

Im Unterricht ergibt sich am Rande, dass ungültige Wahlstimmen in Griechenland der größten Partei zugeschlagen werden. Man kann also gar nicht ungültig wählen.

Am Nachmittag wird gemalt. Wir fahren ein Stück aus dem Ort heraus und kommen an eine absolut geeignete Stelle. Völlige Ruhe. Wir stehen direkt am Kraterrand und blicken auf den Vulkan vor uns und die Berge im Hintergrund. Neben dem Vulkan ein weißes Schiff, auf den beiden Bergen im Hintergrund jeweils eine Häuserreihe, ganz oben auf dem Bergkamm, bei dem weiter entfernt liegenden kaum noch als Häuser auszumachen.

Wir haben zwei Malerinnen unter uns, und Ifigenia und Sylvie versuchen sie unter deren Anleitung an einem Bild. Es wird mit Acrylfarben gemalt. Die trocknen schnell. Das ist gut, wie sowohl die Amerikanerin als auch die Französin betonen.

Die Amerikanerin stellt sich zuerst an die Staffel. Man brauche nur die Primärfarben und Schwarz und Weiß. Schwarz gebrauche sie so gut wie gar nicht, nur um nachträglich etwas abzudunkeln.

Am Anfang solle man nur auf die Formen achten, nicht auf die Details. Das leuchtet ein. Ich hätte mich ganz auf den Vulkan und das Schiff konzentriert. Die ignoriert sie völlig. Sie zeichnet einfach die Konturen der Berge ein. Sie nimmt Schwarz dazu, antwortet aber auf Nachfrage, das sei ganz egal. Tatsächlich kann man alles ganz leicht übermalen. Und tatsächlich kommt nach weniger Minuten nur mit den schwarzen Umrissen die Szenerie aufs Bild. Erstaunlich. Dann fügt sie die Häuserzeilen an, rein kubisch. Auch das sieht gut aus. Dann kommen mehr und Himmel in verschiedenen Blautönen. Sie versucht sich dann an dem Schiff, übermalt es aber wieder. Das Bild ist wirklich gut, aber dann macht sie sich daran, es schlechter zu machen. Es wird amerikanischer. Rosa, Grün und Gelb, die viel zu stark dominieren. Es gibt wirklich im Vordergrund eine Blumenwiese und etwas Gras auf einem der Abhänge, aber die nimmt man insgesamt kaum wahr. Es ist fast alles grau und blau in verschiedenen Abstufungen. Das hat Iphigenia begriffen. Sie beschränkt sich auf diese Farben. Aber das hat zur Folge, dass ihr Bild wie eins vom Nordpol aussieht, wie vom Eismeer. Eva sagt ihr das auch, ich habe es für mich behalten.

Dann kommt die Französin. Sie macht erst eine Vorzeichnung, mit Bleistift. Dann trägt sie die Farben auf, mit einem kleinen Spachtel. Das man damit überhaupt malen kann. Es entsteht ein wirklich gutes Bild. Sie hat viele kleine Farbtupfer, nicht so viele Flächen wie die Amerikanerin. Da bringt’s. Es ist eindeutig das beste Bild. Das schlechteste ist das von Sylvie, aber sie ist blutige Anfängerin und sichtlich zufrieden. Keine Spur von Selbstzweifel. Beneidenswert. Sie hat recht. Für eine Anfängerin ist es vermutlich nicht schlecht. Stolz posiert sie neben den anderen mit ihrem Bild.

Die Amerikanerin, als Malerin, die ständig in Griechenland ist Wein trinkt, scheitert immer noch an den Wörtern für Farben. Selbst Rot und Weiß kriegt sei nicht auf die Reihe. Eva, gerade mal eine Woche in Griechenland, kennt schon die meisten Farbwörter, obwohl sie im Unterricht noch gar nicht vorgekommen sind. Sie bindet sie in den Alltag ein, zeigt auf meinen Pullover, auf ein Haus, auf den Wein und sagt: kitrino, aspro, kokkino. Mit Blau hat sie Schwierigkeiten, weiß das aber und fragt bei der nächsten Gelegenheit noch mal nach oder versucht, sich eine Eselsbrücke zu bauen.

Sylvie ist mit sich und der Welt zufrieden. Sie sagt bestimmt zwanzigmal „J’adore“ und noch öfter „Génial“. Sie sagt das, ohne falsche Bescheidenheit, meint aber im Wesentlichen nicht ihr eigenes Bild, sondern die Erfahrung, die Gelegenheit. Es ist das erste Mal überhaupt, dass sie etwas gemalt hat.

Das Malen eine tolle Beschäftigung ist, sagen aber alle vier. Alle gebrauchen das Wort „relaxing“. Aber das ist es doch gerade nicht! Es ist das Gegenteil, Konzentration auf eine Sache. Ein Bier auf dem Balkon trinken oder auf dem Massagestuhl liegen, das ist Relaxing. Hier, beim Malen, ist man dagegen richtig gefordert. Gerade das erzeugt die Wirkung.

Und noch ein Missverständnis. Die Amerikanerin sagt Sylvie, die strukturiert vorgehen will, sie solle nicht strukturiert vorgehen. Sie solle alle Regeln vergessen. Das ist blühender Unsinn. Sie selbst hat doch lauter Regeln vorgegeben – Farbe, Farben, Motive, Vorgehen – und gerade das war so erfolgreich. Die künstlerische Spontanität, die sie sich jetzt zuschreibt, ist Wunschdenken. Und erlaubt es, sich als „Künstler“ zu gebärden.

16. April (Donnerstag)

Ich mache heute blau und fahre alleine nach Fira. Zuviel Gesellschaft und zu viel Grammatik in letzter Zeit. Bei der Gelegenheit habe ich das griechische Wort für Schwänzen gelernt: κάνω κοπάνα.

Auf den Bus warten, obwohl es keinen Fahrplan gibt – eine schöne Geduldsprobe für unruhige Geister. Jedes größere Fahrzeug im flickenden Licht am Ende der Straße entpuppt sich beim Näherkommen als Lieferwagen oder Transporter oder einfach als Scheinriese, der schließlich als ganz normaler PKW ankommt. Mehrmals kommt ein Taxi vorbei, dessen Fahrer Kundschaft wittert und auffordernd in meine Richtung schielt. Eins bleibt sogar vor der Bäckerei stehen, aber ich wehre alle inneren Impulse ab, es mir bequem zu machen und höre auf die Stimme, die mir vor ein paar Tagen eingeredet hat, eine Busfahrt gehöre unbedingt zur Erfahrung im Ausland dazu.

Als der Bus dann tatsächlich kommt, verpasse ich ihn fast, weil ich wartend vor der Fahrertür stehe. Man steigt aber in der Mitte ein. Das kapiere ich dann doch noch. Der Fahrer deutet mit dem Kopf nach hinten, als ich mit gezücktem Portemonnaie neben ihm stehe. Ich drehe mich um: ein Schaffner! Ich bezahle meine 1,60 und finde einen der letzten Plätze in dem vollbesetzten Bus. Der sieht wie ein alter Reisebus aus, nicht wie ein moderner Linienbus. Selbstverständlich gibt es weder Ansagen oder Anzeigen.

An der nächsten Haltestelle steigen weitere Passagiere zu. Eine alte Dame mit altmodischem Schmuck findet keinen Platz mehr. Ich stehe auf und biete ihr meinen Platz an. Sie nimmt wortlos an. Als ich gerade stehe, steht ein junger Mann auf und bietet mir seinen Platz an. Ich zögere einen Moment und nehme an. Daraufhin nimmt eine Frau ihr Mädchen auf den Schoß und lässt den jungen Mann neben sich Platz nehmen! Als wir in Fira aussteigen, sieht die alte Dame mich mit einem freundlichen Lächeln an und bedankt sich nachdrücklich.

Am Busbahnhof in Fira frage ich eine junge Frau nach dem Weg zum Archäologischen Museum. Mit einem charmanten, offenen Lachen sagt sie, sie selbst sei auch fremd hier. Dann kommen wieder die typischen einsilbigen Antworten von griesgrämigen Menschen, die den Weg zum Museum weisen. Das liegt ganz oben. Es geht durch die engen Gässchen der Stadt. Diesmal merke ich, dass es hier nicht nur Ramsch gibt, sondern auch teure Konfektionsgeschäfte und Juweliere.

Das Archäologische Museum ist eins der alten Art, mit standardisierter Präsentation in Vitrinen und völlig unzureichender Beschriftung. Und das Highlight des Museums, in der Broschüre laut angekündigt, ein 450 kg schwerer Stein mit einer Inschrift, die besagt, wer ihn gehoben hat, ist nicht zu sehen. Das erfahre ich aber erst auf Nachfrage.

Es lohnt sich aber trotzdem. Die meisten Funde stammen aus dem alten Thira, aus Grabstätten. Es geht zwar bis in die römische Zeit, aber das meiste ist älter, etwa 7.-5. Jahrhundert vor Christus. Man kann ganz deutlich zwei Phasen unterscheiden. Die älteren Funde gehören zur Geometrischen Periode, die neueren sehen ganz „griechisch“ aus, mit rot- und schwarzfigurigen Vasen, auf denen kämpfende Männer und Pferde vor dem Wettkampf dargestellt werden. In der Geometrischen Periode gibt es kaum figürliche Darstellungen und überhaupt keine Menschendarstellungen.  Höchstens Tiere, meist Vögel, darunter Reiher und Flamingos. Die Gefäße, meist Amphoren, sind matt, nicht poliert, wie später. Die geometrischen Motive sind unendlich: Dreiecke, Zick-Zack-Linien, verschlungene Bänder, Meander, Schachbrettmuster und immer wieder das Hakenkreuz.

Es gibt auch ein paar Statuetten, Delphine, Sphingen, Äffchen darstellend und eine Eidechse in Lauerstellung. Eine Statuette stellt eine Trauernde dar, mit einem Kasperlegesicht und mit beiden Händen an einer Seite des Kopfes. Das ist wohl eine Trauergeste. Eine Statuette, ein Pan mit Hörnern, wildem Bart, offenem Mund und erigiertem Glied auf einem Pferd, erweist sich als Trinkgefäß!

Im Zentrum stehen Bruchstücke von riesigen Statuen, darunter ein Kouros, der von hinten, mit dicken, bis auf die Hüfte herabfallenden Zöpfen trotz seines mächtigen Brustkorbs wie eine Frau aussieht.

Ich habe Glück: Gleich neben dem Archäologischen Museum ist die Treppe, die zum Hafen hinunterführt. Die wollte ich eigentlich suchen. Von oben hat man einen phantastischen Blick auf die Bucht. Die Treppe ist eigentlich gar keine, sondern eine getreppter Gehweg aus Pflastersteinen, mit mehr als 500 Stufen. Am Anfang geht es zwischen Lokalen hindurch, aber weiter unten ist man dann plötzlich ganz allein und kann den Blick und den Sonnenschein genießen. Es ist der vierte schöne Tag in Folge und sollte der schönste der Tage auf Santorin bleiben. Die Felsen, die aus der Ferne braun aussehen, erweisen sich aus der Nähe als kohlrabenschwarz. Das hat der Vulkan getan. Vor mehreren tausend Jahren. Sieht so aus, als wenn letzte Woche hier ein Großbrand gewesen wäre.

Unterwegs sehe ich nur zwei Amerikanerinnen. Unten am Hafen dann mal wieder eine asiatische Reisegruppe. Die beherrschen hier die Szenerie. Für Japaner sind sie zu laut, aber die Sprache hört sich nicht nach Chinesisch an. In den Restaurants sind die Speisekarten aber oft auf Chinesisch.

Unten am Hafen warten Esel auf Kundschaft. In großer Zahl. Ihre Dienste sind im Sommer wohl sehr gefragt. Jetzt vertreiben sie sich die Zeit damit, mit den Schwänzen um die Wette zu wedeln und die Ohren zu drehen.

Unten bestelle ich in einem Café bei einem sehr freundlichen Kellner einen Kaffee und lasse mir die Internetverbindung geben. Hier mache ich dann endlich auch ein Photo von einem Schild, das einen in Griechenland überall hin begleitet, das Schild auf der Toilette, das darauf hinweist, dass man kein Papier ins WC werfen darf. Dafür gibt es eigene Behälter. Gewöhnungsbedürftig.

Dann geht es die 500 Stufen wieder rauf und ins Prähistorische Museum. Das ist ganz anders als das Archäologische, modern, mit ausführlichen Beschriftungen. Hier sind vor allem die Funde aus Akrotiri ausgestellt, aus dem Ausgrabungsfeld, das wir zusammen besucht haben.

Vorher gibt es Fossilien von den äußeren Schichten des Kessels, mit Blättern von Oliven und Palmen, nahezu einzigartig, 60.000 Jahre alt! Die sind ausgesprochen „schön“ und zeigen, dass das Klima hier über all diese Zeit relativ stabil war, gemäßigt, mediterran.

Man erfährt auch, dass der wassergefüllte Kessel schon vor dem berühmten Ausbruch existierte. Es gab vermutlich eine Verbindung mit dem Meer.

Es geht mit den typischen kykladischen Figuren los, dann kommen die Schnabeltassen, wie man sie auch auf Kreta findet.

Dann kommt Akrotiri, und es geht gleich mit einem Paukenschlag los: Gipsmodelle von einem Stuhl und einem Tisch, mit geschwungenen Beinen, ornamentierten Füßen, die aussehen wie Barockmöbel.

Viel prosaischer, aber verblüffen praktisch ist ein kleiner tragbarer Ofen aus Lehm! Dann gibt es Gerätschaften wie eine „Pfanne“ mit gerilltem Griff und ziseliertem Teller, die tatsächlich ein Weihrauchgefäß ist. Auch sehr schön eine Bronzewaage, mit runden Tellern, die sicher ganz geeignet waren, sehr genau zu wiegen.

Auch hier gibt es die riesigen Pithoi wie in Kreta. Aber die Erklärung für die aufgezeichneten Muster ist anders: keine Dekoration, sondern Information. Wasserpflanzen bedeuten, der Inhalt ist Wasser!

Der Höhepunkt sind die Wandmalereien, genauso gut, aber viel besser erhalten als in Knossos. Es wurde sowohl al secco als auch al fresco gemalt, die Grundformen al fresco, die Details al secco. Es wurden verschiedene Schichten auf die Wand aufgetragen, die letzte davon feuchter Putz. Dann wurden Schnüre in den Putz gezogen, um Felder abzustecken. So hatte man ein Raster!

Hier sieht man aus dem sog. Haus der Damen eine Landschaft mit Erdhügeln und rhythmisierten Papyruspflanzen, die zwei Seiten eines Raums einnehmen. Und eine nach unten gebeugte weibliche Figur, schlank und üppig gleichzeitig, mit entblößter Brust, einfach, aber geschmackvoll gekleidet, die einer anderen, nicht mehr vorhandenen Figur etwas darreicht.

Dann gibt es Gefäße, in großer Zahl, praktische und rituelle. Die praktischen Gefäße dienten der Zubereitung, dem Auftragen und der Konservierung von Nahrung. Besonders angetan hat es mir ein erdfarbenes trichterförmiges Gefäß mit allen möglichen geometrischen Mustern. Man fragt sich, wozu es gedient haben könnte, und hier gibt die Beschriftung Bescheid: als Trichter!

Bei den Amphoren gibt es zwei Dekorationstypen, die nie vermischt auftreten: agrarische Erzeugnisse wie Trauben und Gerste und natürliche Pflanzen wie Lilien, Krokusse und Efeu.

Trinkgefäße, erst auf den zweiten Blick als solche erkennbar, sind als Wildschwein oder als Löwe ausgestaltet. Der, mit einem naiven, vertrauenerweckenden Gesichtsausdruck, ist besonders gelungen.

Die Keramikgefäße stammen zu 85% aus eigener Produktion, zu 15% wurden sie importiert, aus Kreta, vom Festland und von den Dodekanes. Die importierte Ware ist aufgrund der besseren Tonqualität hochwertiger. Merkwürdigerweise sieht man das. Mein Blick fällt auf ein paar Tassen, und ich denke mir: wie in Kreta. Und tatsächlich kommen sie aus Kreta.

Am Schluss der Ausstellung gibt es dann noch einen ganz ungewöhnlichen Fund, einer, der ganz für sich alleine steht: ein vergoldeter Steinbock. Er wurde in einer Holzschachtel in einem Larnax gefunden und ist in bestem Erhaltungszustand. Innen ist er hohl. Die Körper ist einfach gestaltet, mit rundlichen Formen, aber die geschwungenen Hörner und die Füße wie der Schwanz, alle nachträglich angelötet, sind genau ausgestaltet.

Beeindruckt verlasse ich das Museum und sehe mich in der Gegend um. Gleich in der Nähe ist die weiße Kirche mit den Arkaden. Aber sie ist geschlossen. Da ich das auch von den anderen Kirchen vermute, mache ich mich auf den Weg nach Imerovigli, einen Ort, auf dessen kuriosen Namen ich aufmerksam gemacht worden war: Er setzt sich aus ‚Tag‘ und ‚Wächter‘ zusammen und bezieht sich auf den Wachturm, der hier oben in Piratenzeiten die Beobachtung der Gegend ermöglichte.

Nachdem ein Hinweisschild mich in die Irre führt, frage ich eine freundlich lächelnde Verkäuferin vor einem Juweliergeschäft nach dem Weg. Bei der Erklärung wechselt sie zwischen Griechisch und Spanisch hin und her. Sie kommt aus Puerto Rico. Auf die Frage nach Imerovigli reagiert sie entgeistert. Das sei viel zu weit. Ich sage, auf einem Schild hätte ich gesehen, dass es dreißig Minuten Fußmarsch sind. Sie sagt, nein, es dauere viel länger, bestimmt eine halbe Stunde. Davon lasse ich mich aber nicht abhalten und folge ihren Anweisungen, immer der Hauptstraße entlang. Hier sieht man, wie überall, immer wieder die breiten, vierrädrigen Motorräder, die wirklich ganz putzig aussehen, aber nicht gerade praktisch sind und alles andere als ungefährlich sein sollen. Auf Griechisch, habe ich von Rania gelernt, heißen sie Schweine. Die Parallele erschließt sich aber nicht sofort.

In Imerovigli gibt es eigentlich nichts zu sehen, aber der Weg lohnt sich doch, vor allem wegen der Photomotive: ein paar Häuschen mit ungewöhnlichen Formen, die Begrenzungsmauer aus schwarzem Vulkanstein und die Durchblicke durch Gitter und Portale aufs Meer. Der Rückweg ist auch viel angenehmer, denn jetzt finde ich den Weg abseits der Hauptstraße, ein schmaler Weg entlang ganz oben über dem Meer.

In Fira komme ich dann zur katholischen Kirche. Es gibt ein richtiges katholisches Viertel, und hier befinden sich auch alle die Pizzerien. Die Kirche ist auf. Italienischer Barockkitsch zum Rauslaufen. Aber es ist ruhig und kühl und im Hintergrund läuft leise gregorianische Choralmusik. Ich setze mich und entdeckt allmählich schöne Stücke in Ausstattung und Architektur, die Sprossenfenster des Tambours der Kuppel, die ovalen Fenster des Chors, zwei Messinghalter für Kerzen, ein von der Decke herabhängender venezianischer Leuchter, drei von der Decke herabhängende fein ziselierte Weihrauchgefäße. Wichtiger ist aber die Atmosphäre, eine Atmosphäre, die dazu angetan ist, für Seelenruhe zu sorgen.

Man kann hier aber auch linguistische Studien betreiben. Auf zwei Bannern steht auf Griechisch und auf Englisch ein österlicher Text: Αναστήθηκε από τους νεκρούς ο Κυριος, όπως προείτε. Ας χαρούμε όλοι και ευφρανθούμε, διότι αυτός βασίλευει αιώνια. Αλληλούια. – The Lord has risen from the dead, as he foretold. Let there be happiness and rejoicing for he is our king forever. Alleluia. Könnte im Satzbau unterschiedlicher kaum sein.

Ich gehe dann in ein sündhaft teures Café und esse ein sündhaft gehaltvolles Törtchen. Auch hier gibt es Internetverbindung. Dann setze ich mich auf eine Bank an den Kraterkessel und lese in dem Führer, den mir die Wirtin gegeben hat. Ich hätte keine bessere Stelle wählen können. Von hier aus sieht man genau auf die großen Kreuzfahrtschiffe und den Vulkan hinunter. Und um beide geht es in dem Führer. Die Kreuzfahrtschiffe machen nicht im Hafen fest, einfach deshalb, weil sie nicht ankern können. Das Wasser ist zu tief, ca. 350 Meter! Das liegt daran, dass es nicht das offenen Meer ist, sondern der mit Wasser vollgelaufene Kraterkessel. Das erklärt wohl auch das ungewöhnlich intensive, dunkle Blau des Meeres. Und was den Vulkan angeht, korrigiert der Führer eine Vorstellung, die hier stillschweigend immer vorausgesetzt wird, nämlich, dass es sich um den Vulkan handelt, also den Vulkan, der damals halb Santorin in die Luft gejagt hat. Hier handelt es sich aber um einen anderen Vulkan, der sich erst später, in römischer Zeit, formiert hat. Was mit dem alten Vulkan passiert ist, weiß ich allerdings nicht. Vielleicht hat er sich selbst gleich mit in die Luft gesprengt.

Am Busbahnhof, wo die Information wie immer dürftig ist, verpasse ich dann wirklich den Bus, obwohl ich mehr als rechtzeitig da bin. Also nehme ich ein Taxi. Ich handele den Preis auf 8 € runter. Der Fahrer rächt sich dafür, indem er mit 120 km/h über die Landstraße und durch die Dörfer jagt und keine Gelegenheit zum Überholen auslässt. Es geht aber gut.

Am Abend bebt die Erde, kurz, aber fühlbar. In Kreta hat es, wie mir Dimitra am nächsten Tag schreibt, richtig gerummelt. Erdbeben von einer Stärke von 6,1 auf der Richterskala. Es scheint aber kein Unglück gegeben zu haben. Das Epizentrum lag außerhalb von Kreta, im Meer, etwa 60 km östlich.

17. April (Freitag)

Im letzten Moment erfahre ich, dass heute jeder ein Gedicht in seiner Sprache vortragen und vorstellen soll. Ich habe nur die Pause zur Vorbereitung. Geht dann aber ganz gut. Die Loreley. Neben Heine gibt es auch Blake und Baudelaire.

Am Nachmittag sehen wir einen Film, Never on Sunday, mit englischen Untertiteln. Der Film, in dem ein Amerikaner, der die griechische Klassik liebt, zum ersten Mal nach Griechenland kommt, ist aber ohnehin zur Hälfte auf Englisch. Es ist der Film mit der Szene, in der Melina Mercouri das Lied singt, das es in allen Sprachen gibt, bei uns unter dem Titel „Ein Schiff wird kommen“. Der Text des Liedes will aber gar nicht zu dem Film passen. Die Protagonistin sehnt sich nicht nach einer bürgerlichen Existenz mit Häuschen, Kindern und Ehemann. Komisch.

Den Titel erklärt Ifigenia vorher. Die Protagonistin, eine Prostituierte, „arbeitet“ sonntags nicht und auch nicht an Feiertagen und an den Tagen des Theaterfestivals.

Alle finden den Film gut. Nur ich nicht. Als ich das am Ende, auf Nachfrage, vorsichtig sage, entsteht ein merkwürdiges Schweigen. Dabei sage ich gar nicht, wie schlecht ich den Film eigentlich finde. Schon die Grundidee des Films ist falsch: Der amerikanische Besucher, Bewunderer der griechischen Klassik, steht für die falsche Vorstellung der Ausländer von Griechenland, sie steht für das wirkliche Griechenland. Dabei wird eine falsche Vorstellung durch eine genauso falsche korrigiert: Körperlichkeit und Leichtlebigkeit als Synonyme für Griechenland, dass ich nicht lache! Genau das Gegenteil ist der Fall. Aber auch seine Vorstellung von der Klassik ist falsch. Ständig ist von der „reinen Seele“ die Rede. Die griechischen Klassiker würden sich mit Schaudern abwenden, wenn sie das heutige Piräus sähen. Unsinn! Die waren den körperlichen Freuden, auch der Prostitution, durchaus zugetan. Der Amerikaner schwafelt ständig von den „größten Denkern aller Zeiten“. Das hören die Griechen gerne, aber kein ernsthafter Wissenschaftler sagt so einen Unsinn. Und kein Wissenschaftler, der sich mit der griechischen Klassik beschäftig, reduziert sie auf Sokrates, Platon und Aristoteles, und keiner wirft sie alle drei in denselben Topf. Die Widersprüchlichkeit und Vielfalt der griechischen Klassik fällt völlig unter den Tisch. Die Handlung ist vorhersehbar. Am Ende kehrt der Amerikaner natürlich bekehrt nach Hause zurück. Es gibt kein Drama, ein inneres schon gar nicht. Die ganzen Männer, die sich immer um sie scharen, sind Statisten, reine Claqueure, ohne Individualität. Ebenso ihre Berufskolleginnen. Sie selbst wird auch typischerweise nie „bei der Arbeit“ gezeigt. Mit einer Ausnahme. Sie empfängt einen russischen Seemann, und sie entscheiden sich, lieber miteinander zu sprechen als ins Bett zu gehen. Das ist die griechische Sinnenfreude. Die Slapstick-Szenen in den Hafenkneipen sind nicht witzig, sondern lächerlich. Sie zeigen besonders, wie der Film in die Jahre gekommen ist. Und die Schauspieler? Ifigenia wundert sich, dass Melina Mercouri keinen Oscar bekommen hat. Dafür gibt es aber einen guten Grund: Sie ist einfach keine gute Schauspielerin. Ihre Mimik besteht eher aus Grimassen, ihre Bewegungen sind kantig, ihre Stimme hat wenig Variation. Wenn sie sich beeilt, sieht sie aus wie eine Schauspielerin, der man gesagt hat, tu mal so, als müsstest du dich beeilen, nicht wie jemand, der es eilig hat. Und wenn sie tanzt, steif und unelegant, dann fragt man sich, wie sie überhaupt Schauspielerin geworden ist und wer auf die Idee gekommen ist, ihr diese Rolle zu geben. Und eine Schönheit ist sie auch nicht gerade. Alles an ihr ist zu groß: die Nase, die Hände, das Gesicht, nur der Busen nicht. Der ist zu klein.

Die Franzosen, die jeden Tag zweimal zum Essen ausgehen und sich dabei Zeit lassen, schwärmen seit Tagen vom Mousiko Kouti, der ‚Musikbox‘. Heute, am letzten Abend, habe ich auch das Vergnügen. Ich kann ihnen nur recht geben. Das beste Essen der gesamten zwei Wochen. Eine unglaubliche Vielfalt. Verschiedene Salate, verschiedene kleine Aufläufe, mehrere Gerichte mit kleingeschnittenen Fleischstückchen mit Soßen in allen Geschmacksrichtungen, darunter eine mit karamellisierten Zwiebeln. Ein Gedicht! Es gibt auch eine typisch kretische Fleischsorte, von der ich noch nie gehört habe! Wir teilen diesmal alles. Alles kommt in die Mitte. Alle probieren von allem. Wunderbar. Dass das französische Urteil dennoch differenziert ausfällt, zeigt sich beim Nachtisch: Sie bevorzugen den französischen Nachtisch. Da gebe es mehr Variation.

18. April (Samstag)

Am Vormittag gehe ich zum Bezahlen runter. Nach den üblichen Klagen über Wehwehchen klären wir umständlich den Preis und die Zahl der Tage, und dann rechnet sie umständlich den Betrag aus und dann stellt sie noch umständlicher eine Quittung aus. Da ist jeder Buchstabe eine Herausforderung.

Eher aus Langeweile mache ich einen Spaziergang durchs Dorf. Am Ende wird daraus ein Spaziergang bis nach Akrotiri! Den Muskelkater in den Waden von den Treppen aus Fira merkt man nur, wenn es bergab geht.

In Akrotiri folge ich den Hinweisen zur „Caldera View“. Das lohnt sich. Auf einem Felsvorsprung abseits der Straße sitzt man in einem vieleckigen Café und hat einen atemberaubenden Rundblick in den Kessel. Das Handy liegt zum Aufladen zuhause, aber den Blick könnte man sowieso nicht einfangen. So wird er im Kopf gespeichert.

Ich frage das Mädchen, das mich bedient, was was ist. Dabei stellt sich heraus, dass das, was ich für Fira gehalten habe, den Ort hinter dem Vulkan, schon Oia ist. Man sieht also praktisch die ganze Insel. Fira mit seiner beeindruckenden Reihe von weißen Häusern liegt ein paar Felsen weiter rechts, und dann kommt Megalochori, und dahinter erhöht Pyrgos, und links von hier Akrotiri. Ich erinnere mich an die Beschreibung in dem Reiseführer, die zwei Typen von Orten auf Santorin unterscheidet: die hochgelegenen mit Verteidigungsanlagen wir Pyrgos oder Akrotiri und die am Rand des Kraterkessels wie Oia oder Fira.

Das Café ist eine große bedeckte Terrasse. Im Sommer kann man die Fenster öffnen. Sie werden dann ganz nach oben geklappt. Ich bin ganz alleine. Die Preise hier sind astronomisch. Sowohl für den Kaffee als auch für das „haarige“ süße Gebäck wird ordentlich abkassiert. Das Gebäck mit zerstoßenen Nüssen und Sirup, das ich schon ein oder zweimal probiert habe, heißt Kataifi, wie ich jetzt erfahre. Ist bestimmt auch türkisch. Das griechische Wort, Κανταΐφι, hat sowohl Trema als auch Akzent auf dem <i>.

Am Nachmittag bringt mich Ifigenia nach Athinios, dem Hafen von Santorin, auf unserer Seite, also der dem Flughafen gegenüberliegenden Seite. Es herrscht ziemlicher Betrieb, weil gerade eine große Fähre eingelaufen ist. Überall wird man angesprochen, ob man ein Mietauto, ein Taxi, ein Hotelzimmer oder einen Kaffee haben will. Als die Fähre wieder weg und die Ankommenden entsorgt sind, wird es plötzlich unheimlich ruhig. Ich trinke einen Kaffee und entdecke dann irgendwo einen Hinweis, dass eine Fähre ausfällt. Wie immer, ohne weitere Hinweise. Das Büro des Unternehmens ist geschlossen. Irgendwann macht man da aber wieder auf und es stellt sich heraus, dass unsere Fähre ganz normal verkehrt. Ich scheine aber der einzige Passagier zu sein, bis eine ganze Horde Asiaten eintrifft. Die ganze Ankunftshalle füllt sich, aber auf dem Schiff verliert sich das alles.

Das Schiff ist nur für Passagiere, und es geht sehr schnell zu. In knapp zwei Stunden kommen wir schon in Heraklion an. Das Schiff fährt 42 Knoten, das sind ca. 80 km/h. Um es geht auch ganz glatt.

Vom Hafen zum Flughafen ist es nicht weit, und ich komme noch bei Tageslicht zum Auto. Auf dem Heimweg verscheucht mich ein Auto hinter mir mit dauernder Lichthupe von der linken Spur, obwohl ich selbst noch überhole. Als er vorbeifährt, zeige ich ihm auf nicht gerade sehr höfliche Weise, was ich davon halte. Daraufhin zieht er unvermittelt rechts rüber und tritt auf die Bremse. Ich aber auch. Er bleibt einen Moment stehen und zieht dann wieder los, so schnell, dass es nach ein paar Sekunden schon hinter der Kurve verschwunden ist.

In Myrtos ist es voller als vorher, und auf unserem Hang steht jetzt eine ganze Reihe von Autos. Es riecht nach Sommer, aber warm ist es nicht.

 

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