Salerno (2016)

21. August (Sonntag)

„Nach der Mahlzeit schlummere du wenig oder auch gar nicht. Trägheit und Fieber, ein Schnupfen gar samt Schmerzen des Kopfes. Solches erblüht dir all vom faulen Schlafe nach dem Mittag.“ Auszug aus dem Regimen sanitatis Salernitanum, einem europäischen Bestseller, veröffentlicht von der berühmten Medizinschule in Salerno.

Bei der Ankunft in Neapel ist es sowieso noch zu früh für einen Mittagsschlaf. Es ist aber schon so heiß, als wenn es Mittag wäre. Unter dem wolkenlosen Himmel schleppe ich meinen Koffer von der Flughafenhalle zur Haltestelle des Alibus. Alles ist gut beschildert und organisiert, und der Bus steht abfahrbereit.

Unterwegs kaputte Bürgersteige, überquellende Mülltonnen, schwere Eisengitter, Bauzäune. Das ist nicht gerade einladend, aber so stellt man sich Neapel vor. Die Geschäfte sind geschlossen, kaum jemand ist auf der Straße. In einem einsamen Frisörsalon wird ein einzelner Kunde auf einem roten Plastikstuhl bedient.

In einer knappen Viertelstunde sind wir schon am Bahnhof. Gedränge, fliegende Händler, Bettler, Touristengruppen, enge Wege an Baustellen vorbei. Unübersichtlich. Für einen Moment ein Gefühl von Unsicherheit, auch noch, als ich am Automaten die Fahrkarte löse. Aber das legt sich bald. Alles in Ordnung.

Ich muss lange warten, der Automat hat den nächsten Zug übergangen. In der einzigen Cafeteria teile ich mir den einzigen freien Platz mit einem Mann, der die Repubblica liest. Ob ich alleine sei. Ja. Keine Frau dabei? Nein. Glückwunsch! Er selbst habe zwei Ehen hinter sich, beide Frauen hätten ihn verlassen. Der Mann hat, wenn ich das richtig verstehe, in den USA und in der Schweiz gearbeitet, für eine Versicherungsagentur. Er lege Wert auf Pünktlichkeit. Ob ich nach Ischia wolle. In Ischia wären viele Deutsche. Eine Frau vom Nebentisch mischt sich ein, in fließendem Deutsch. Neapolitanerin. 24 Jahre Aschaffenburg. Sie ist auf dem Weg nach Sizilien. Der Mann fragt mich, ob ich wisse, warum Frauen länger leben als Männer. Ich weiß es nicht, und ich weiß es immer noch nicht, denn seine Antwort verstehe ich nicht. Irgendetwas hat es zu tun mit dem Schleppen von Getränkekästen. Das müssten immer die Männer machen. Aber ob die Lebensdauer alleine davon abhängt? Das Gespräch zieht sich noch eine ganze Zeitlang hin, mal mit ihm, mal mit ihr. Dann ist es Zeit für den Zug.

Der ist sauber, pünktlich und schnell. In einer halben Stunde ist man in Salerno. Die Vermieterin des Apartments weiß nichts von mir, als ich mich am Telefon melde. Sie hat auch auf eine SMS nicht reagiert. Ich solle zur Wohnung kommen und schellen.

Es geht schnurstracks eine breite Einkaufsstraße hinunter, mit eleganten Geschäften. Ein Bekleidungsgeschäft heißt Doppelgänger. Zwei Geschäfte verkaufen Mozzarella. Die stammt von hier, aus Kampanien.

An einem Platz wird aus der breiten, regelmäßigen Straße plötzlich eine schmale, unregelmäßige. Die Häuser auf beiden Seiten sind oben manchmal durch einen Bogen verbunden. Statt die Häuser zu verbinden, sind sie vermutlich eher dazu da, sie auseinanderzuhalten.

Eins der Seitengässchen ist die ‚Schneegasse‘, dem Vicolo della Neve. Die Eingangstür sieht eher schäbig aus, und das Treppenhaus ist düster und eng. Es ist sofort geöffnet worden. Oben steht eine junge Deutsche, eine Mitbewohnerin, die mir die Wohnung zeigt. Alles ist modern und gut eingerichtet. Es gibt ein kompliziertes Mülltrennungsprogramm mit Abholzeiten an verschiedenen Wochentagen. Es gibt keinen „Restmüll“.

Ich mache mich sofort auf die Suche nach Vorräten für den Kühlschrank. Aber es ist nichts zu finden. Am Ende entdecke ich hinter einer Ecke einen Gemüseladen. Die Tür steht offen, niemand da. Ich sehe mich um und gehe ganz vorsichtig hinein, über die Schwelle. Ich will gerade rufen, als ein Mann aus dem Kämmerchen hinter der Theke erscheint und mich anherrscht: was mir denn einfalle, es sei geschlossen, er würde doch auch nicht unaufgefordert in meine Wohnung kommen usw. Ich versuche, mir dadurch nicht die Laune verderben zu lassen und hoffe, dass das hier nicht die normale Kommunikationsform ist.

Es bleibt mir nichts übrig: Ich muss noch mal zurück zum Bahnhof. Aber auch hier ist nichts zu finden. Am Ende bekomme ich in einem Kiosk wenigstens Wasser und ein Sandwich. Aber ich finde jetzt die erste Orientierung. Die große Einkaufsstraße ist der Corso Vittorio Emmanuele. Er läuft parallel zum Meeresufer, zum Lungomare. Zwischen den beiden verläuft, etwas unregelmäßiger, der Corso Garibaldi, und der geht in die Via Roma über.

Ich gehe zurück, um irgendwo eine Pizza zu bekommen. Pizzerien gibt es zu Hauf. Die Pizza ist schließlich eine neapolitanische Erfindung. Aber jetzt ist es so spät, dass die Pizzerien schließen, alle zusammen, wie auf Kommando.

Ich mache einen Spaziergang am Lungomare entlang, mit Palmen und einer durchgehenden Steinbank, auf der es sich viele bequem gemacht haben. Die Uferpromenade ist vom Verkehr durch einen breiten parkähnlichen Streifen getrennt. Das muss das Resultat der städtebaulichen Maßnahmen sein, die ein engagierter Politiker vor einigen Jahren initiierte, unter Einbeziehung international bekannter Architekten, um aus dieser verfallenden Stadt wieder etwas zu machen.

Dann geht es in einen Park. Das ist die Villa Communale, nicht der Giardino della Minerva, wie ich glaube. Der liegt weiter oben. Es gibt ein paar exotische Pflanzen, einen Brunnen und auf hohen Sockeln stehende Statuen von Menschen, deren Namen man noch nie gehört hat.

Von hier aus hat man einen guten Blick auf Bonadies, den Hausberg Salernos, eigentlich eher einen Hügel. Man sieht ihn auch vom Zentrum aus und vom Meer aus, aber immer nur einen Ausschnitt, und da er mehrere Kuppen hat, sieht er immer anders aus. Auf einer ist ein Kreuz, die andere hat eine Kerbe, und auf der dritten steht eine mächtige Festung. Von hier aus blickt man außerdem auf die auffällige, mit bunter Majolika verkleidete Kuppel einer Kirche.

Gleich vor dem Eingang zur Villa Communale steht das Teatro Verdi, zur gleichen Zeit angelegt wie der Park. Es werden das ganze Jahr über, außer im Sommer, Opern gegeben, nur italienische, die meisten von Verdi.

Ich komme noch zum Dom, eher zufällig. Der ist ganz in der Nähe des Apartments, in der Altstadt. Auf einer engen, steil ansteigenden Gasse öffnet sich ein Platz mit einer barocken Freitreppe. Die führt zu einem Portal, und das wiederum in einen Innenhof, der irgendwie ein bisschen maurisch wirkt. Am Rande des Innenhofs steht ein freistehender Campanile.

Als ich irgendwo doch noch ein Sandwich und ein Bier bekomme, lese ich in einem Reiseführer, was die Römer hierher gebracht hat. Sie kamen, um die einheimische Bevölkerung auf die rechte Bahn zu bringen. Die hatte nämlich ein Bündnis mit Hannibal gemacht, und das konnten die Römer nicht dulden. Und dann ist noch von einer weiteren Invasion die Rede, einer modernen. Salerno war im 2. Weltkrieg Schauplatz der Landung von 200.000 alliierten Soldaten, wonach Salerno für kurze Zeit Hauptstadt Italiens war.

Von der Lektüre lasse ich mich immer wieder ablenken durch ein Gespräch zweier Männer am Nebentisch. Ich verstehe nichts, aber das ist eindeutig Italienisch. Neapolitanisch.

22. August (Montag)

„Seduti intorno ad un tavolo siamo io, il vicesostituto portiere Salvatore Coppola, il dottore Passalacqua … ed un signore sconosciuto che essendo venuto poco prima a chiedere informazoni su di un apartamento libero, ha deciso di trattenersi.” Das ist gleich am Anfang von Così parlò Bellavista, das ich als Ferienlektüre dabei habe. Wie viele Personen sind da vertreten? Drei oder vier? Nur der Kontext erweist es: vier.

Und noch mal Zahlen: „The two consuls, who sat next to him, asked whether they might be graciously permitted to share in it“. Wie viele Konsulen gibt es? Es sind zwei. Das zeigt das Komma. Ohne Komma wären es mindestens drei. Das ist aus Robert Graves‘ I, Claudius.

Im Unterricht werden die typischen Einsatz- und Umwandlungsübungen gemacht. Es geht scheinbar um Oper und Theater, in Wirklichkeit aber um den Imperativ. Alles ganz gut, aber zu umständlich, zu wenig kommunikativ. Ob man jetzt außerhalb des Unterrichts den Imperativ schneller und besser gebrauchen kann?

Am interessantesten, wie so oft, ein Detail, das nur am Rande und in diesem Fall rein zufällig zur Sprache kommt: La Smorfia. Das ist der Titel eines Theaterstücks. Dahinter verbirgt sich aber eine besondere Bedeutung des Wortes. Es bezeichnet ein neapolitanisches Zeichensystem, bei dem jede Zahl von 1-90 für ein Konzept steht: 1 = Italien, 4= Schwein, 22= bekloppt. Und die 17 steht, wie immer in Italien, für Unglück. Wie es der Zufall will, komme ich später in der Altstadt an einer Pizzeria vorbei, die so heißt: La Smorfia.

Nach dem Unterricht gehen wir in Zada Hadids Stazione Marittima, dem neuen Fährterminal. Über die Architektur erfährt man wenig. Der Angestellte, der uns führt, erklärt dagegen mit Begeisterung die moderne Funktionalität des Gebäudes, so wie das Transportband, das das Gepäck der Passagiere gleich vom Eingang des Gebäudes auf unterirdischen Wegen auf das Schiff bringt. Irgendwie kann man sich das alles schlecht vorstellen, und eine belgische Studentin stellt die entscheidende Frage: Ist das Terminal denn überhaupt schon eröffnet? Eröffnet ja, aber noch nicht in Betrieb. Wir besichtigen also ein leeres Haus. In der Eingangshalle ist ein Informationsschalter, aber sonst gibt es hier noch nichts.

Das Gebäude ist weitgehend aus Beton  und Glas, und durch das Glas hat man schöne Blicke in alle Richtungen, auf den Bonadies, aufs Meer, auf den neuen, hinter dem Terminal entstehenden Platz. Innen hat man das Gefühl, das der Bau einem Schiff nachempfunden ist – ein Gang ist so uneben, dass man den Eindruck hat, man bewege sich auf dem bewegten Meer – aber aus der Ferne sieht der silbern glänzende Bau eher wie eine fliegende Untertasse aus. Die Architektin ist zwei Wochen vor der Eröffnung des Terminals gestorben.

Nach der Besichtigung versuche ich mein Glück in einem Supermarkt, aber der öffnet erst um 16.30 wieder. Also geht es zurück zur Schule zur Begrüßung der Neuankömmlinge. Das wird alles sehr professionell durchgeführt, alle sind sehr freundlich, aber der Informationswert ist eher gering.

Danach gehe ich in Richtung Giardino della Minerva. Man kommt in ein ganz eigenes Stadtviertel, obwohl das nur ein paar Minuten vom Lungomare entfernt liegt. Viel Graffiti an den Häusern, Müll an den Straßenecken, aber säuberlich getrennt, ein ovaler Brunnen, in den aus zwei rostigen Vasen Wasser fließt, zwischen denen eine kitschige Christusfigur steht. Beim Graffiti handelt es sich nicht oder jedenfalls nicht nur um Schmierereien, sondern auch um Zeichnungen, Sprüche und Gedichte, teils auf neapolitanisch. Da versteht man herzlich wenig, selbst geschrieben nicht. Unter den Zeichnungen besonders auffällig ein geflügelter Engel, der aus einem Fenster ein Papierschiffchen auf den Boden fliegen lässt.

Ein Aufzug geht zum Giardino della Minerva hinauf, und er funktioniert sogar. Aber der Garten hat montags geschlossen. Oben hat man wieder ein anderes Viertel. Hier ist es ganz ruhig, man sieht fast keine Zeichen von Alltagsleben.

Wieder in der Altstadt, komme ich noch an ein paar kleinen Geschäften vorbei, Handwerksbetrieben, die aus einer anderen Zeit zu stammen scheinen: ein Schneider, ein Hutmacher, ein Schuhmacher, die ihre Ware selbst herstellen.

23. August (Dienstag)

Der Wind hat seit Sonntag ständig zugenommen. Besonders in den engen Gassen ist er sehr heftig. Heute Nacht war er so stark, dass man die Fenster schließen musste. Die Lehrerin erzählt, ihr seien zwei Bettlaken vom Balkon geweht worden.

Gegenüber der Schule ist eine Osteria mit dem Namen Je, tu e iss. Da steht man ratlos davor.

Einer der Mitschüler, ein Schweizer, hat als Designer Möbel, Uhren und Parfüm entworfen, für weltbekannte italienische Marken. Er spricht mit großer Selbstverständlichkeit darüber, ohne Präpotenz, und zeigt uns Photos von den Produkten auf seinem Handy. Besonders die Lampen gefallen mir gut, elegant, modern, schlank, und auch die Stühle, die Uhren weniger. Er hat vor der Ausbildung zum Designer schon eine Ausbildung zum Ingenieur gemacht und hat schon in verschiedenen Ländern gearbeitet. Demnächst geht es nach Südamerika.

Mir fehlen Vokabeln an allen Ecken und Enden, aber ansonsten geht es gut mit der Kommunikation. Außerhalb der Schule versteht man meist nicht, gar nichts, wenn man nicht irgendwie selbst am Gespräch beteiligt ist.

Die Aufgaben sind meist einfach. Bei einer Übung benutze ich zwei Formen von andare in einem Satz. Falsch. Das sei unlogisch, wird argumentiert. Aber mir fallen Formen wie I’m gonna go and have a bath ein.

Eine der Lehrerinnen hat /s/ statt /z/ in cosa, usato, numeroso. Das ist vermutlich regionale Variation. Ist das vielleicht ein Erbe der spanischen Zeit? Oder ist das zu spekulativ? Bei einer anderen Lehrerin variiert das, mal /s/, mal /z/.  Beide ersetzen die Affrikate in dici, cinese, felice. Das klingt vermutlich cooler und ist unter jungen Italienern längst die Norm.

Nach dem Unterricht mache ich einen zweiten Anlauf, um den Giardino della Minerva zu sehen. Diesmal steht das Tor auf, aber es wird gerade für die Mittagspause geschlossen.

Unterwegs sehe ich, wie der Einkauf in einem Hochhaus in die obere Etage transportiert wird: An einem Seil wird ein Korb heruntergelassen, der wird beladen und dann oben vom Balkon aus hochgezogen.

Addò se vo‘ bene, là se more steht an einer Häuserwand. Auch das kann ich nicht entschlüsseln. Unter optischen Täuschungen bei den Wandmalereien fällt mir ein Fußballtor mit Netz auf. Erst wenn man ganz nahe dran ist, sieht man, dass es nicht dreidimensional ist. Auch gut ein alter, vermutlich verschlossener Durchgang mit einer Eisentür, auf der steht: Lasciare libero il passagio di idee. Die letzten beiden Wörter sind in Rot und nicht auf den ersten Blick zu sehen. Die Lektüre ändert sich, wenn man die ganze Nachricht liest.

Auch hier werden, wie in Griechenland, Trauernachrichten einfach an Wände oder an dafür vorgesehene Schwarze Bretter gehängt. Eine ist unterschrieben mit i tuoi cari nipoti. Das sind in diesem Fall Enkel, nicht Neffen. Das geht aber nur aus der Anrede hervor: caro nonno umberto.

Am Nachmittag gibt es ein Quiz in der Schule. Das Thema ist Italien. Die Fragen sind liebselig, aber man bekommt doch das eine oder andere mit: Sfolgiatello ist das beliebteste Dessert Kampaniens, und Ragù die wichtigste Speise, ein Vorspeise, die viele Stunden lang im Topf schmort. Pan d’oro ist nicht dasselbe wie Panettone, und beim Bier unterscheidet man zwischen rossa und bionda. Und was heißt essere al verde? Kein Geld haben. Blank sein!

Nach dem Quiz gehe ich zum Diözesanmuseum. Unterwegs komme ich durch das Quartiere dei Barbuti, das ‚Viertel der Bärtigen‘. Der Name, so heißt es, erinnere an die Herrschaft der Langobarden.

Das Diözesanmuseum hat eine Sammlung von Elfenbeintafeln, die wohl einzigartig ist. Es sind insgesamt 69 Tafeln aus dem Hochmittelalter, vermutlich von drei Künstlern hergestellt. Es gibt Szenen aus dem Alten Testament und Szenen aus dem Neuen Testament und Friese mit Ranken und Füllhörnern. Die Szenen aus dem Alten Testament sind horizontal angeordnet, immer zwei zusammen, die aus dem Neuen Testament vertikal, ebenfalls immer zwei zusammen. Die Darstellungen sind wunderbar, einerseits naiv, andererseits realistisch. Besonders das Thema der Arbeit kommt beim Alten Testament immer wieder vor: Arbeit auf dem Acker nach  der Vertreibung aus dem Paradies, der Bau der Arche, der Bau des Turms von Babel. Dabei sieht man, wie die Arbeiter sich nach oben strecken, um Speis und Steine anzureichen. Beim Bau der Arche sieht man Axt, Hammer und Säge, alle offensichtlich mittelalterlich. Bei  der Arbeit auf dem Acker sind Adam und Eva weit nach vorne gebeugt, so als würden sie eine Yoga-Übung machen. Die Szenen beim Alten Testament sind so figurenreich, dass kaum ein Zentimeter frei bleibt, vor allem bei der Brotvermehrung, bei der mehrere Reihen von Köpfen übereinander dargestellt sind.

Der Beschreibung zufolge haben die Künstler Anleihen bei apokryphen Schriften gemacht, vor allem beim Jakobevangelium, aber was das ist, wird leider nicht weiter ausgeführt.

Was für eine Funktion hatten die Elfenbeintafeln? Gehören sie alle zusammen? Die Frage habe ich mir schon die ganze Zeit gestellt. Am Ende gibt es eine Antwort, in Form von verschiedenen Hypothesen: Sie waren die Vorderwand einer Ikonostase, bildeten die Rückseite eines Altars, waren Teil eines Bischofsstuhls usw.

Das zweite Highlight des Museums sind Pergamentrollen, wieder mit biblischen Szenen bemalt, in leuchtenden Farben. Sie sind etwas jünger als die Elfenbeintafeln und wurden bei der Liturgie in der Osternacht eingesetzt: Wenn eine Textstelle vorgelesen wurde, wurden sie, passend zum Text, über dem Kopf des Vorlesers hinuntergelassen. Eine moderne Verbindung von Wort und Bild, wie bei einem Diavortrag oder einem Dokumentarfilm. Ob man wirklich viel erkennen konnte, spielte vielleicht keine so große Rolle. Es ging wohl auch um den Showeffekt.

Früher hatte man angenommen, dass es nur die Bilder gab. Aber es gab wohl auch die dazugehörigen Texte. Die sind aber verloren, bis auf einen, den Anfang des Exsultet. Das kann man hier sehen, in gotischer Schrift: Exsultet iam angelica turba caelorumFrohlocket, ihr Chöre der Engel.

Ich bin zu müde, um mir den Rest anzusehen und gehe lieber in ein kleines Café in der Via dei Mercanti, ganz in der Nähe des Apartments. Da habe ich beim Kaffee am Morgen vorbereitete Speisen gesehen, die verlockend aussahen. Ich nehme ein Stück von einem Auberginenauflauf mit einem frisch gezapften, lokalen Bier. Gut, aber viel zu teuer.

24. August (Mittwoch)

Am Morgen bekomme ich ein einer engen, düsteren Cafeteria, die zu allem Übel auch noch New York heißt, den bisher Cappuccino. Bisher habe ich es jeden Morgen woanders versucht. In einer Cafeteria hingen Bilder vom alten Salerno, eins davon ein Bild von Salerno mit verschneiten Straßen.

In der Schule hat die Nachricht die Runde gemacht, dass es ein Erdbeben gegeben hat, in Mittelitalien. Vor allem die Marken sind betroffen.

Nach dem Unterricht schaffe ich es noch gerade rechtzeitig zur Touristeninformation. Es gibt reichlich Material und gute Erklärungen von einer jungen Frau mit Brille und Zahnspange, die offensichtlich gelangweilt ist und froh, dass es etwas zu tun gibt.

Von dort geht es gleich zur Bushaltestelle. Das Ziel ist die Festung oben auf dem Bonadies. Des Wartens müde, gehe ich in die unscheinbare Bar gleich hinter der Bushaltestelle. Hier bekomme ich einen eisgekühlten Kaffee, Wasser, Erdnüsse, Chips und einen ganzen Teller mit schön zubereiteten Kanapees. Alles zusammen für 3 €. Im Unterricht lerne ich später, dass es sich bei den Kanapees um  stuzzichini handelt, und noch ein paar Tage später finde ich dann auch ein Lokal, das Stuzzicheria heißt.

Als ich schon fast entschlossen bin, es zu Fuß zu versuchen, kommt der Bus. Er quält sich die Landstraße hinauf, die in weiten Kurven zur Festung führt. Zwischendurch steigt ein Passagier aus. Wohin er will, ist nicht zu erkennen. Hier ist weit und breit kein Haus zu sehen.

An der Festung steigen nur Ausländer aus. Man muss noch ein gutes Stück zu Fuß gehen, bis man am Eingang ist. Der Empfang fällt eher verhalten aus. Und die Besichtigung ist eine ziemliche Enttäuschung. Man geht etwas verloren die Brüstung entlang und landet dabei immer wieder in einer Sackgasse. Beschriftungen gibt es gar keine, nur hier und da hängt in einem abgelegenen Raum ein Bildschirm, auf dem Bilder mit Erklärungen zur Festung erscheinen. Aber es gibt keine Sitzmöglichkeiten, und die ganze Sache ist einfach nicht sehr einladend. Von der Brüstung aus hat man einen guten Blick auf den Hafen, auf die Stadt und auf die Hügel der Umgebung oder die anderen Kuppen des Bonadies. Man sieht, dass der Eindruck von unten täuscht: Dies ist nicht die höchste Spitze. Die benachbarte Bergkuppe ist höher, und darauf steht noch ein einsamer Turm.

Die Festung heißt Castello Arechi, benannt nach einem langobardischen Fürsten. Die Langobarden riefen die Normannen zu Hilfe, gegen die Sarazenen, hatten aber nicht damit gerechnet, dass die Normannen danach keine Lust hatten, einfach wieder nach Hause zu fahren. Sie wollten ihre Belohnung. Aus Söldnern wurden Machthaber, die schließlich ihre Macht durch eine Heirat mit einer langobardischen Prinzessin konsolidierten.

Schon die Langobarden hatten die Festung nicht errichtet, sondern eine bereits bestehende byzantinische ausgebaut, und so hat die Festung ihr Aussehen immer wieder verändert. Die trapezförmige Grundform ist aber noch zu erahnen. Der graue Stein und die Lage hier ganz oben lassen die Festung abschreckend aussehen, und sie war hier ganz oben praktisch nicht zu erobern.

Da das Museum einen auch nicht gerade vom Hocker haut, trete ich den Rückweg zu Fuß an, immer der Landstraße entlang. Einen anderen Weg gibt es nicht. Der würde die Strecke viel kürzer machen. Hier oben gibt es Esel, Kühe und Ziegen. Die ruhen sich auf dem struppigen Gelände aus oder suchen unter einer Krüppelkiefer Schatten. Der Weg ist alles andere als schön und zieht sich hin. Unten steht neben einem achtlos weggeworfenen Müllbeutel eine riesige Ratte, die mit feindselig ansieht.

Mit Erleichterung komme ich an eine Kreuzung, aber hier geht es nicht richtig weiter. Die Straße geht zwar links weiter bergab, geht dann aber in eine Schnellstraße über. Also muss ich zurück. In der anderen Richtung gibt es nur einen kleinen Streifen, der mich von den Autos trennt. Glücklicherweise wird hier ganz zivil gefahren. Die Häuser sind direkt unter mir, aber man kommt irgendwie einfach nicht dahin.

Dann gibt es endlich einen kleinen Weg, der von der Straße wegführt. Es geht zwar noch eine ganze Weile hin und her und auf und ab, aber hier fühlt man sich sicher, und die Innenstadt rückt näher. Und dann stehe ich auf einmal vor dem Wegweiser zum Giardino della Minerva. Aller guten Dinge sind drei. Der ist auch diesmal geschlossen. Noch. In einer halben Stunde wird geöffnet. Ich komme mit einem Ehepaar aus Mailand ins Gespräch. Sie sind auf der Rückreise, haben aber noch eine Station in der Toskana, wo sie ein Ferienhaus besitzen. Sie sind sehr gesprächig und fragen interessiert nach meinen Plänen. Sie haben auch Deutschland bereist und wissen sofort mit Trier etwas anzufangen.

Ich lege noch eine Kaffeepause ein, gehe dann aber zum Giardino zurück. Der Garten ist terrassenförmig angelegt, auf vier Ebenen. Das Zauberwort hier ist Systematik. Alle Pflanzen haben einen wissenschaftlichen und einen volkstümlichen Namen und sind immer nur einmal vertreten. Die Bandbreite ist groß. Es geht von der Erbse über den Thymian bis zum Olivenbaum.

Die Systematik ist besonders ausgeprägt auf der unteren Ebene und folgt hier der mittelalterlichen Humoralpathologie. Die Pflanzen sind in vier Rabatten angelegt, die durch Wege voneinander getrennt sind. Die vier Rabatten entsprechen den vier Elementen – Feuer, Erde, Luft, Wasser – deren Namen in den Boden eingelassen sind. Den Elementen sind wiederum die vier Grundeigenschaften zugeordnet – feucht, trocken, warm, kalt – so dass jede Pflanze zwei Charakteristika hat. Die Rabatten sind wiederum durch Halbkreise in vier Teile geteilt, die den Grad der Beschaffenheit angeben, von I bis IV. So ist der Akanthus warm und feucht zweiten Grades, der Schierling – der tatsächlich nach Sokrates benannt ist – ist kalt und trocken dritten Grades.

Eine solche Systematik greift die Systematik der Medizinschule von Salerno auf. Deshalb sind hier unten nur Heilpflanzen vertreten. Mit denen war ein Heilmittel für alle Fälle vorhanden, d.h. für jeden der vier Humoraltypen – Sanguiniker, Phlegmatiker, Choleriker, Melancholiker – bei denen das Gleichgewicht verloren gegangen ist und mit den Heilpflanzen wiederhergestellt wird.

Man vermutet, dass sich die mittelalterliche Medizinschule in dieser Gegen befand und hat deshalb den Garten, der bis vor kurzem noch eine provisorische Müllhalde war, im Rahmen des städtischen Reformprojekts der letzten Jahre wiederbelebt.

In den oberen Etagen gibt es dann Pflanzen aller Art, die sich teils über die Gänge erstrecken, wie das ein Zuckerrohr tut oder ein Orangenbaum. Überall rauscht Wasser, aus teils offenen, teils hinter Pflanzen versteckten Brunnen. Und man hat von hier aus einen schönen Blick auf die Stadt und das Meer. Mit etwas mehr Schatten und einer offenen Cafeteria könnte man hier länger bleiben, aber ohne die geht es wieder zurück in die Altstadt zu einer kalten birra alla spina.

25. August (Donnerstag)

Die Schule ist ein einem hochherrschaftlichen Haus untergebracht, einem palazzo, mit einem enormen hölzernen Portal, Messingschildern an den Klingeln, einem großzügigen Treppenhaus, einer zweiläufigen Marmortreppe und einem alten, vergitterten Eisenaufzug. Der Eindruck von Großräumigkeit, Großzügigkeit vergangener Tage geht sofort verloren, sobald man in die kleinen, funktionalen Räume der Schule kommt, mit ihren Plastikmöbeln und Computern. Einzig auf den Balkonen stellt sich der hochherrschaftliche Eindruck wieder her.

Wir sind die Mozzarella-Klasse, lauter Bleichgesichter, einschließlich der Lehrerin. Einzig die junge Deutsche aus dem Apartment hat nach den vielen Wochen hier ein bisschen Farbe bekommen, aber sie gehört trotzdem dem gleichen Phänotyp an.

Hinter vorgehaltener Hand wird über die Exkursionen der Schule geschimpft. Die seien viel zu teuer, und das wiederum führe dazu, dass viele erst gar nicht stattfinden. Man solle lieber alleine fahren. Tatsächlich kostet Pompeji 40 €. Das kommt mir auch  teuer vor. Ärgerlich auch die verspätete Information.  Heute erfahre ich, dass es in den nächsten zwei Wochen sowohl zur Festung als auch in den Giardino della Minerva geht.

Außer dem vielgeliebten Konjunktiv steht heute das Thema Arbeit auf dem Programm. Bei allem, was die Lehrerin anführt, leuchtet es uns nicht so richtig ein, was daran typisch italienisch sein soll. Ein eigenes Haus, das sei ein italienischer Traum. Vielleicht. Es ist aber auch ein deutscher, ein Schweizerischer, ein belgischer Traum, ein britischer Traum, ein universaler Traum.

Gestern, als es um italienische Literatur ging, führte der Schweizer die Commedia dell’Arte an. Die Lehrerin wollte davon nichts wissen. Das gehöre nicht zur Literatur. Man hat den Eindruck, dass sie nicht weiß, worum es geht. Kann das sein?

Am Nachmittag gehe ich in die Pinacoteca Regionale, in einem pallazzo in der Altstadt untergebracht. Ich bin der einzige Besucher. Der Eintritt ist frei.

Es ist eine eher kleine Sammlung, und es gibt kaum Werke allererster Güte, aber es lohnt sich. In jedem Saal kann man etwas Schönes entdecken.

Im ersten Saal ein spätmittelalterliche Triptychon, mit einer Madonna im Zentrum, die ein Kind auf den Armen hält, das sie lächelnd ansieht. Die Madonna hat ein rotes Untergewand und ein blaues Obergewand. Das waren die beiden wertvollsten Farben. Die Heiligen an den Seiten, allesamt Mönche, tragen graue und braune Kutten. Einer hat ein dunkles Gesicht und sieht mit grimmiger Miene schräg auf den Boden. Ob es Franziskus oder Antonio ist, ist nicht auszumachen. Alle drei Mönche und der König, der sie ergänzt, halten ein Buch in der Hand, zwei geschlossene, zwei geöffnete. Da ist wie ein Studium der Darstellung des Buches. Die Perspektive ist voll gelungen. Die Bücher haben hölzerne Einbände und eiserne Klappen, mit denen man sie verschließen kann.

Die Wirkung der Bilder im nächsten Saal ist ganz anders. Die Bilder sind fast zwei Jahrhunderte jünger und auf Leinwand gemalt statt auf Holz. Auffällig ein alter Mann mit grauem Bart und Kappe, der sich über einem Topf die Hände wärmt. Die Hände sind rau und an einigen Stellen aufgeschürft. Es ist wie ein Portrait, aber die Beschriftung weist den Mann als Allegorie des Winters aus.

Im nächsten Raum kommen Stillleben, opulente Tafeln und Küchen. Besonders schön aber ein einfaches Stillleben mit einer aufgeschnittenen Melone, an der zwei Tauben picken. Am Rand zwei Zitronen, mit rauer Haut. Man glaubt, sie fühlen zu können.

Der letzte Raum hat abwechselnd impressionistische, realistische und romantische Bilder. Schön der Realismus einer Straßenszene eines Dorfs von der Küste, noch schöner der Ausschnitt eines alten Hauses. Man sieht nur eine Hälfte, ein kleines Fenster mit Dreipass, eine breite Treppe, die zur Haustür hinaufführt, eine Pflanze die sich an der Hauswand hinaufrankt, vor allem aber sieht man Wand. Den rauen Putz, die leicht changierende Farbe. Hinter dem Fenster brennt ein Licht, das nur durch einen fahlen Schimmer vertreten ist, und die Treppe liegt halb im Schatten, halb im Licht.

Als Ergänzung dazu zwei Portraits, die sich wiederum ergänzen, ein alter Fischer und ein alter Mann. Der Fischer, von dem nur die Büste zu sehen ist, mit festem Haarschopf und krausem Bart, sieht in die Ferne, vielleicht aufs Meer hinaus. Etwas trotzig, etwas stolz. Der muss in seinem Leben viel erlebt, hart gearbeitet haben. Der alte Mann, mit nacktem Oberkörper, ist zartgliedriger. Die Barthaare sind sehr fein, auch die auf der Brust. Man sieht die Venen an den Armen und die Rippen an der Brust. Der Blick geht vom Betrachter weg, in die Leere. Er muss viel ertragen haben in seinem Leben. Der Blick ist voller tiefer Traurigkeit. Aber ohne Resignation.

Nach dem Museum gehe ich noch ein bisschen durch die Straßen der Altstadt. Einige der Gassen, vor allem im oberen Bereich, sind heruntergekommen, die weiter unten sind belebter und besser in Schuss. In einem Café am Dom bestelle ich einen Granito de caffè und stelle fest, dass das kein Getränk, sondern eine Speise ist. Zerstoßene Eisstücke mit Kaffeegeschmack. Man löffelt sie aus. Wenn man lange genug warte, löst sich das Eis auf und man hat doch ein Getränk. Aber den Flüssigkeitsbedarf stillt das nicht, auch wenn es erfrischend wirkt. Und es ist viel zu teuer: 3,50 €.

Dann hat endlich auch das „Museum“ zu der Medizinschule von Salerno auf. Das Gebäude sieht sehr einladend aus und dürfte auch groß genug sein, aber drinnen bekommt man nur eine Art Diashow zu sehen. Die ist aber sehr informativ. Es funktioniert so, dass alte Abbildungen plötzlich lebendig werden. Der Dargestellte verwandelt sich in einen modernen Schauspieler, der die Rolle eines der an der Medizinschule Beteiligten spielt und sie erklärt.

Es geht um Diagnose und Behandlung. Die Ärzte der Medizinschule von Salerno machten keine Ferndiagnose. Sie gingen zum Patienten. Das war keine Selbstverständlichkeit. Die wichtigsten Diagnoseinstrumente waren der Puls und das Urin. Das Urin wurde, damit die Diagnose gestellt werden konnte, gefühlt, gerochen und getrunken! Zur Bestimmung des Krankheitsbilds gehörten auch der „Charakter“ und die „Leidenschaften“ des Patienten. Also eine ganzheitliche Methode. Wie das genau ablief, darüber hätte man gerne mehr erfahren.

Die Medizinschule von Salerno galt als ausgesprochen fortschrittlich. Sie war der Wegbereiter der modernen Medizin, und von hier aus wurden die Erkenntnisse nach ganz Europa gebracht.

Auch Frauen wirkten hier als Ärzte. Sie kümmerten sich in erster Linie um Frauen: Menstruation, Niederkunft, Stillen und Abstillen, aber auch Hautunreinheiten. Für alles wurden Salben und Flüssigkeiten verabreicht, aus einer Vielzahl von natürlichen  Ressourcen hergestellt. Weil Frauen nicht so viel ausschwitzen konnten wie Männer, hatten sie, so  war die Annahme, die Menstruation.

Bei den Behandlungsmethoden und den Instrumenten, die alle genau in den Traktaten der Zeit abgebildet sind, wird es einem ganz anders. Aber auf jeden Fall wurde alles in Angriff genommen, ob Auge, Zahn oder Darm. Zu den Behandlungsmethoden gehörten Aderlass und Schädeltrepanation. Manchmal waren gleich drei Behandelnde gleichzeitig am Werk. Von denen hielt einer den Patienten fest und ein anderer fing das Blut auf, während der Dritte  den Eingriff vornahm.

Es gab aber auch eine schon sehr modern anmutende Betäubungsmethode. Ein getränkter Schwamm wurde einem Patienten immer wieder auf das Gesicht gedrückt, bis er das Bewusstsein verlor. Die Wirkung war so stark, dass nach dem Eingriff ein mit anderen Substanzen gefüllter Schwamm eingesetzt wurde, um die Narkose zu beenden.

Die Fortschrittlichkeit von Salerno erwies sich auch in der Anatomie, die nicht nur betrieben wurde, sondern deren Studium, einem Erlass Friedrichs II. zufolge, eine Vorbedingung war, damit man als Arzt praktizieren durfte. Die anatomischen Studien wurden an Schweinen vorgenommen. Die, so wurde argumentiert, waren den Menschen anatomisch sehr ähnlich.

Zum Schluss finde ich dann wenigstens eine der Kirche des Zentrums, von denen bei der Touristeninformation die Rede war, geöffnet: San Giorgio. Die Kirche gehörte zu einem Kloster, das bei der Einigung Italiens geschlossen wurde. Die ehemaligen Klostergebäude nehmen heute, links der Kirche, die Carabinieri ein, rechts der Kirche das Finanzamt.

Das Kloster wurde hier eingerichtet, um alle Nonnen desselben Ordens, die auf ganz Salerno verteilt waren, zusammenzuziehen. Konzentration der Kräfte.

Die einschiffige Kirche mit vielen Seitenaltären ist durch und durch barock ausgestaltet, mit Putten, Engeln, Fresken, Stuck und Gemälden. Fast keine Fläche ist freigeblieben. Die Deckengemälde stellen Wunder des Hl. Benedikt dar, trotz des Patroziniums der Kirche. Von Georg gab es vermutlich nicht so viel zu berichten.

Eine japanische Schallplattenfirma hat hier eine besondere Aufnahme von Werken Robert Schumanns machen lassen. Der Anlass für die Auswahl der Kirche waren die gute Akustik und die vielen Abbildungen von Engeln mit Musikinstrumenten.

Am Abend geht es, nicht wegen des Essens, sondern wegen des Namens, in die Pizzeria La Smorfia. Tatsächlich sind an den Wänden des winzigen Lokals Zahlen mit Beschriftungen und teils Abbildungen angebracht, die die Bedeutung  der Zahl erklären: 42 = Kaffee, 24 = Pizza, 45 = Wein (o vino bbuono).

Die Kellnerin ist unfreundlich und sagt mir im Kasernenton, dass ich mich woanders hinsetzen soll. Erst ganz allmählich taut sie auf, spricht aber weiter in Einwortsätzen oder Zweiwortsätzen mit mir. Es gibt eine zweigeteilte Pizza, mit einer milden, mit Rucola gefüllten und einer würzigeren Seite mit Ziegenkäse. Dazu italienisches Bier in Flaschen. Die sind größer als bei uns: 0,66 Liter. Da ist eine Flasche zu wenig, zwei sind zu viel.

26. August (Freitag)

Den zweiten Teil des Unterrichts verbringen wir gemeinsam in einer Bar. Für die meisten ist heute der letzte Tag. Wir sitzen draußen. Es kommt in der ganzen Zeit keine Bedienung, und wir machen auch keine Anstalten, etwas zu bestellen.

Eine gute Einrichtung sind die Brunnen, die man in den Parks, aber auch auf Plätzen manchmal findet. Immer kühles, trinkbares Wasser. Ich mache es den Einheimischen nach und fülle hier meine Flaschen auf.

In der Schule gilt das kollektive Du. Eine ältere deutsche Frau, die mich anspricht, weil sie mit ihrer Unterkunft unzufrieden ist, siezt mich, wenn wir Deutsch sprechen und duzt mich, wenn wir Italienisch sprechen. Und das hört sich beides ganz richtig an.

Der Nachmittag geht mit der Suche nach Geldautomaten, Fahrkarten, Abfahrstellen und Fahrplänen drauf.

Am Abend sind die Stimmen, die aus dem Innenhof kommen, noch lauter als sonst. Irgendetwas wird mit Rufen und Gesängen gefeiert. Erst später geht mir auf, dass es sich nur um Fußball handeln kann. Es ist das Eröffnungsspiel der Saison in der Serie B. Der lokale Verein, US Salernitana, holt auswärts ein Unentschieden. Das wird bis in die Nacht hinein gefeiert.

27. August (Samstag)

Mit dem frühen Zug geht es nach Paestum. Alle Afrikaner, die auf dem Bahnsteig warten, steigen in den letzten Waggon ein. Der hat keine Klimaanlage. In Paestum steigen dann sie zusammen mit mir aus, und sonst kaum jemand. Sie tragen volle, blaue Plastiksäcke auf dem Buckel. Sie sind fliegende Händler, die ihren Posten in der Nähe der Sehenswürdigkeiten einnehmen.

Die Fahrt geht durch eine langweilige, flache, unansehnliche Landschaft. Am Rande ein Parkplatz für Mietautos, eine Fabrik für Kabeltrommeln und immer wieder Gewächshäuser. Nur das, was man sehen will, sieht man nicht, jedenfalls vom Zug aus: Wasserbüffel. Die gibt es hier. Wahrscheinlich haben die Langobarden sie schon mit sich gebracht, vor Jahrhunderten. Denn dies war eine sumpfige Gegend, und die Wasserbüffel waren genau richtig, um hier in der Landwirtschaft ihre Dienste zu tun. Heute ist der Sumpf längst trockengelegt, aber die Wasserbüffel tun immer noch ihre Dienste, als Lieferanten eines Frischkäses aus Büffelmilch: der Mozzarella! Bei dessen Herstellung werden faustgroße Stücke von einer Frischkäsemasse abgerissen. Und das erklärt auch den Namen des Käses. Er kommt von mozzare, ‚abschneiden‘!

Vom Bahnhof in Paestum ist es nur ein kurzes Stück bis zum Archäologischen Gelände. Man kommt aber vorher durch ein Stadttor, Teil einer mächtigen, fast ganz erhaltenen Stadtmauer. Die ist römisch. Man fährt nach Paestum wegen der griechischen Tempel, kommt aber in eine römische Stadt!

Was hatten die Griechen hier verloren? Die Antwort ist, wie ich später bei der Lektüre eines hervorragenden Reiseführers entdecke, komplexer als man meint, aber für den Moment begnüge ich mich mit der einfachen Antwort: Sie gründeten Kolonien. Zweck Handels. Wobei Paestum eine Pflanzstadt ist, die Kolonie einer Kolonie. Und mit wem trieben sie Handel? Mit den Etruskern! Deren Einzugsbereich ging genau bis hier. Dies war der äußerste Zipfel. Solche Kontakte erklären dann auch den kulturellen Austausch von Etruskern und Griechen, bei Zahlen und Schrift zum Beispiel, von dem dann wiederum die Römer profitierten. Das hat Folgen bis in die heutige Zeit, für uns.

Es ist hier nicht so voll wie erwartet, und das große Gelände kann die eine oder andere Besuchergruppe gut vertragen. Man kann ganz nah an die Tempel heran und in sie hinein gehen und sich alles in Ruhe ansehen. Die schönsten Ansichten gibt es, wenn man zurückschaut, zum Eingang hin. Dann hat man die Berge und den Dunst auf den Bergen mit dem Sonnenlicht als Hintergrund für die Tempel. Die schönsten Photos sind Teilansichten der Tempel, auf denen die Säulen Schatten auf den hellen Boden werfen.

Gleich hinter dem Eingang steht der Athene-Tempel. Der Poseidon-Tempel und die Basilika stehen weiter entfernt, gleich nebeneinander. Auch für den Laien wird der Unterschied zwischen den dreien deutlich sichtbar, selbst wenn man nicht weiß, aufgrund welcher Details der Eindruck so unterschiedlich ist. Teils ist es die Enthasis, teils der Säulenabstand, teils die Zahl der Säulen, schließlich aber auch der Erhaltungszustand. Die Basilika hat kein „Dach“ und wirkt überhaupt großräumiger, wurde auch lange gar nicht für einen Tempel gehalten. Es ist auch die Rede von einer Vermischung von ionischen und dorischen Elementen, aber ich kann nur ionische Kapitelle sehen, an allen drei Tempeln. Ich finde den Poseidon-Tempel am schönsten, er hat Kraft und beeindruckt mehr als der zierlichere Athene-Tempel. Er ist der jüngste der Tempel und der besterhaltene griechische Tempel aus der klassischen Periode überhaupt.

Gleich in der Nähe des Athene-Tempels stehen einzelne Säulen und Schäfte, und es ist nicht klar, ob die römisch oder griechisch sind. Aber dann wird es ganz eindeutig römisch, beim Amphitheater und beim Forum. Mauertechnik und Rundbögen sind Anhaltspunkte. Das Amphitheater ist nur halb ausgegraben. Der Rest liegt unter der Straße. Der Eingang hat einen Bogen und darüber eine Kuppel. Eine merkwürdige Konstruktion. Ob die original ist?

Hinten auf dem Gelände gibt es dann noch eine ganz gerade, quer durch das Ausgrabungsgelände laufende Straße, römisch, mit vermutlich originalen römischen Bodenplatten.

In der Nähe des Forums gibt es ganz regelmäßige Parzellen. An vielen Stellen kann man noch Farbreste erkennen. Die regelmäßigen Parzellen waren die Behausungen der römischen Soldaten. Hierin, nach Paestum, wurden pensionierte römische Soldaten geschickt, teils als Anerkennung ihrer Verdienste, teils, um weiterhin militärische Absicherung in dieser Grenzzone zu haben. Jedem Soldaten wurde ein gleich großes Stück Land und ein gleich großes Haus zugewiesen. So verwandelten die Römer die Stadt von Grund auf. Aus einer Handelsstadt wurde ein Zentrum der Agrarwirtschaft.

Dann gibt es doch noch einmal einen Zweifel: griechisch oder römisch? Ein Rundbau mit in den Hang eingelassenen Sitzbänken, für ein paar Dutzend Personen. Die Antwort: griechisch! Dies war eine Art Versammlungshalle, ein Raum, in dem die ekklesia von Poseidona (dem griechischen Namen Paestums) zusammenkam, um über Gesetze abzustimmen.

Das Museum, gleich gegenüber dem Ausgrabungsgelände, ist einem wenig einladend aussehenden postfaschistischen Gebäude untergebracht. Ausgerechnet Il Tuffatore, ein griechisches Fresko, das Prachtstück des Museums, fehlt; es wird restauriert oder ist auf Reisen. Es gibt aber eine Kopie, und auch auf der kann man sehen, wie wunderbar die elegante Körperhaltung des Tauchers dargestellt ist, mit leicht durchgedrücktem Rücken, erhobenem Kopf, weit nach vorne gerichteten Armen. Er springt von einem Turm in die Leere, jedenfalls ist unten nur ein schmaler Streifen Wasser. Dieses Fresko war auf der Abdeckplatte eines Grabes angebracht.

Aber auch die anderen Grabplatten sind vom Feinsten. Man sieht Pferderennen, bei denen man ein Gefühl von Bewegung bekommt, durch die fliehenden Rockschöße der Reiter und die erhobenen Schwänze der Pferde. Die Farben werden eingesetzt, um die beiden Pferde eines Gespanns, die im Profil hintereinander dargestellt sind, voneinander abzugrenzen. Die Farbauswahl ist sparsam – Rot, Ocker, Schwarz – aber irgendwie scheint alles zu stimmen.

Es gibt häusliche Szenen und Leichenzüge. Ein Opferstier wird an den Hörnern geführt, eine Frau trägt einen Tisch mit Broten auf dem Kopf, ein Flötenspieler  begleitet den Leichnam, Frauen drücken ihre Trauer aus, indem sie sich mit den Händen an den Kopf fassen. In einer ganz merkwürdigen Szene kommt ein affenähnliches Wesen mit einem überdimensionalen Kopf dem Toten in einem Boot entgegen.

Der andere Schwerpunkt des Museums ist die Bauskulptur, allen voran die Metopen eines Tempels aus der Umgebung (man hat den Eindruck, dass überhaupt das meiste nicht aus Paestum stammt). Die kann man von einem Zwischengeschoss aus sehr gut betrachten. Es werden u.a. die Taten des Herkules dargestellt. Besonders schön eine Szene, in der er zwei Jungen, die ihn geärgert haben, kopfüber auf einer Stange durch die Gegend trägt.

Es gibt viele Bauteile, die ich noch nie an einem Tempel gesehen habe und auch gar nicht erwartet hätte, Terracottafiguren zum Beispiel von grinsenden, zynisch lachenden, die Zunge herausstreckenden Fratzen. Auch Teile des Dachschmucks sind zu sehen, wie Wasserspeier aus Terracotta.

Von allen Ausstellungsstücken am besten gefällt mir eine weibliche Büste (ohne Kopf) mit betonten Formen und einer taillierten Bluse, mit rüschenähnlichem Ende an den Ärmeln und einem schönen Besatz am Kragen. Die Bluse hat als Muster rote Quadrate und schwarze Swastika.

Gleich neben dem Museum ist ein Restaurant, das im Reiseführer empfohlen wird, aber allenfalls durchschnittlich ist. Ich bin und bleibe der einzige Gast, und das Essen wird so schnell aufgetragen, dass es nach Schnellküche aussieht. Es gibt ein „Mediterranes Schnitzel“ mit Mozzarella und ein paar frittierte Paprika und Auberginen. Auf Kosten des Hauses gibt es als Vorspeise frittierte, mit Algen gefüllte Bällchen.

Die Hitze und die Besichtigung und das Bier haben ihre Wirkung und ich freue mich auf eine geruhsame Fahrt im Zug. Aber denkste. Der Zug ist rappelvoll. In dem kleinen Raum zwischen den Waggons bekommt man kein Bein auf die Erde. Und die Luft ist zum Ersticken. Ganz allmählich kämpfe ich mich in einen Waggon vor, und da ist es etwas besser. Vor allem kommt hier wenigstens etwas Fahrtluft in den Raum. Aber man muss bis Salerno stehen.

Dort angekommen, bestelle ich in einem Café einen caffé freddo. Haben wir nicht. Wohl aber crema di caffè. Die nehme ich. Das ist so etwas wie zähflüssiger Karamell, den man aus dem Glas löffelt. Muss nicht unbedingt wiederholt werden.

In der Altstadt komme ich an einer Kirche vorbei. Drinnen eine Hochzeit. Einige der Männer, elegant gekleidet, aber ohne Lederschuhe, stehen draußen und warten auf das Ende der Zeremonie. Vor den Geschäften sitzen die Eigentümer breitbeinig und mit kurzen Hosen auf einem Stuhl und warten auf Kundschaft.

28. August (Sonntag)

Am Morgen geht es mit dem Boot nach Amalfi. Vom Wasser aus kann man gut die geologische Situation erfassen, die die ganze Gegend prägt: Berge bis zum Meer. Es ist nicht viel Platz. Überall, wo die Küste etwas abflacht, gibt es einen Ort. Und auch auf allen ebenen Flächen in den Bergen.

Der erste Halt ist in einem pittoresken Ort, Cetara. Hier steigt kaum jemand aus. Später kommt ein weiterer Halt und dann, keine fünf Minuten später, schon wieder einer: Minori und Maiori. Die beiden sind nur durch einen Felsvorsprung getrennt. Aber problemlos wohl nur über das Wasser zu erreichen. Die Namen gehen auf die Antike zurück und beziehen sich auf die Flüsse der beiden Orte, Reginna Minor und Reginna Maior. Beide Flüsse können mächtig anschwellen und haben schon wiederholt Flutwellen verursacht. Beide Orte haben eher breite Küstenstreifen mit Sandstrand. Hier stehen schon die Sonnenschirme parat, wie Wachsoldaten aufgestellt, für den Wochenendausflug der Italiener.

Dann kommt Amalfi. Es sieht sofort ganz anders aus. Kein Sandstrand, sondern eine langgezogene Hafenmole. Cafés, Souvenirstände, Ausflugsbusse. Nepp. Ich bezahle später für eine kleine Flasche Wasser 2 €, zum Mitnehmen, in einem Kiosk. Die kosten sonst höchstens 1 €, eher 80 Cent oder auch 50 Cent.

Es ist aber um diese Zeit noch relativ ruhig. Durch ein Tor geht es in den eigentlichen Ort. Und da bleibt man mit offenem Mund stehen. Von einem kleinen, geschlossenen Platz führt eine riesige Freitreppe hoch zum Eingang des Doms mit einem freistehenden Campanile daneben. Und das in diesem „Kaff“. Aber das war Amalfi in der Vergangenheit überhaupt nicht. Amalfi war einst eine mächtige Seerepublik und hatte mal über 50.000 Einwohner. Heute sind es 5.000.

Der Dom befindet sich zu einer Seite des Platzes. Im Zentrum der Andreasbrunnen. Der Heilige mit dem typischen Kreuz in der Mitte, umgeben von Putten, die Fische halten, aus deren Mündern Wasser spritzt und von Frauen, aus deren Brüsten Wasser spritzt.

Oben an der Treppe wird man zuerst in den Kreuzgang geleitet, den Chiostro del Paradiso. Dank der frühen Zeit habe ich den praktisch für mich alleine. Er ist quadratisch, mit einer Folge von eng gesetzten Doppelsäulen auf allen Seiten, 120 insgesamt, glatt, weiß, basislos, mit Polsterkapitellen. Man kommt sich wie in Spanien vor, wenn nicht wie in Arabien. Irgendwie hat man den Eindruck, dass die Seiten verschieden sind, aber das scheint eine Täuschung zu sein.

An der Seite befinden sich Fragmente von Marmorplatten mit bunten Mosaiken, sehr schön. Sie stammen von den alten Kanzeln im Dom.

Von der dem Eingang entgegengesetzten Seite hat man einen schönen Blick durch die weißen Säulen hindurch auf den blauen Himmel und den oberen Teil des Campanile.

Der Kreuzgang war ursprünglich auch Bestattungsort der Adeligen des Ortes. Aus dieser Zeit stammen Sarkophage, die hier aufgestellt sind. Es sind antike Sarkophage. Einer erzählt in bewegten Reliefs die Geschichte vom Raub der Proserpina. Man sieht, wie Pluto sie sich unter die Arme packt und auf ein bereitgestelltes Pferd schleppt. Diese Sarkophage wurden dann wiederverwendet von den adeligen Christen. Die Geschichte wurde einfach umgedeutet als eine Allegorie auf die Wanderung der unsterblichen Seele in die Unterwelt! Aber was hat das mit dem Pferd zu tun, was mit Pluto, was mit dem Hund, der zu seinen Füßen sitzt, was mit der verschleierten Proserpina?

Die Sarkophage standen ursprünglich in Grabkapellen, die hier in die Wand eingelassen sind, mit Freskos in sehr unterschiedlichem Erhaltungszustand. Interessant eine Kreuzigungsszene mit noch nicht beherrschter Perspektive. Die drei Teilszenen scheinen übereinander statt hintereinander zu sein: oben die Kreuzigung selbst (mit Engeln zwischen Christus und dem „guten“ Schächer), dann die römischen Wachsoldaten auf Pferden (von denen man hauptsächlich die dicken Hinterbacken sieht), unten die Trauernden.

Vom Kreuzgang wird man in die Basilika geleitet, nicht den Dom, sondern eine andere (ehemalige) Kirche, die heute als Museum dient. Sie ist zweischiffig, ein Schiff ist, wenn ich das richtig verstehe, dem Kreuzgang zum Opfer gefallen.

Das Prunkstück des Museums ist eine französische Mitra mit 19.300 Perlen. Sie sind so aufgestickt, dass sie Blattmotive ergeben. Dazu kommen am unteren Rand  goldene Quadrate mit Perlen und Juwelen. Und an der Borte laufen auf beiden Seiten goldene Linien entlang.

Ein anderes Highlight sind drei Reliquiare aus glänzendem Silber. Sie sind aus zwei Teilen zusammengesetzt, so dass man sie öffnen kann. Am Hinterkopf sind mehrere Löcher angebracht, so dass man die Schädel der Heiligen berühren konnte.

Schöner ist ein Reliquiar aus Holz und Elfenbein, ein Reliquiar für Reliquien von Cosmos und Damian. Auf den Elfenbeinplättchen wird die Leidensgeschichte der Märtyrer dargestellt. Man sieht, wie sie erniedrigt, gegeißelt, gekreuzigt, ins Wasser geworfen und geköpft werden. Sicher ist sicher. In der Kreuzigungsszene stehen neben den Kreuzen noch Bogenschützen, die auf ihre Körper zielen. Besonders schön die Szene, wie sie vom Bord eines Schiffes ins Meer geworfen werden. Den einen hat ein Soldat unter dem Arm gepackt und ist bereit, ihn ins Wasser zu werfen, während der andere gerade kopfüber ins Wasser fällt.

Überrascht ist man, an einem Ende des Museums eine orientalische Sänfte zu sehen, schwarz, bemalt, mit profanen Motiven. Man sieht, wie ein Fisch von einer Angel in ein Netz gelegt wird und wie jemand, vor einem Haus stehend, den Hausherrn anspricht, der oben auf dem Dach sitzt. Alles sehr merkwürdig. Es wird vermutet, dass es sich um Motive aus einem Roman handeln könnte. Was hat so eine Sänfte in einem Diözesanmuseum zu suchen? Sie diente zunächst weltlichen Herren, diente aber später dazu, den Bischof durch die Gegend zu transportieren.

Am anderen Ende des Museums steht eine einfache, niedrige Orgel, aber in schönen Farben bemalte Orgel (XIX), die 691 Pfeifen hat. Das traut man ihr gar nicht zu.

Vom Museum geht es in die Krypta. Sie ist ganz mit buntem Marmor ausgestattet. Links eine Art Altar mit einer übergroßen Bronzefigur des Hl. Andreas, wieder mit seinem Kreuz, und darunter ein silberner Reliquienschrein.

Von der Krypta kommt man wieder auf die Galerie oben an der Freitreppe, die zum Dom führt. Der ist jetzt wegen Gottesdiensts geschlossen. Man kann sich aber die berühmten Bronzetüren ansehen. Sie sind byzantinischer Herkunft. Ganz so toll finde ich sie aber nicht. Die meisten Quadrate haben einfache Kreuze aus Bronze, nur in wenigen sind Abbildungen von Heiligen eingeritzt, in, wie es heißt, typisch byzantinischer Ritztechnik.

Auf dem Weg zur Papierfabrik kommt man an einer unendlichen Reihe von Souvenirgeschäften vorbei, aber es geht bergauf und plötzlich ist es vorbei mit ihnen. Man kommt in eine normale italienische Stadt mit etwas dörflichem Charakter. Unterwegs gehe ich einen überteuerten Kaffee trinken.

In der Papierfabrik, einer der ersten in Europa, wurde seit dem 13. Jahrhundert Papier hergestellt, ein kostbares Gut. Das Wissen war auf verschlungenen Wegen und unter Anwendung von „Industriespionage“ über die Araber von China nach Italien gekommen.

Hier wurde Papier von Hand gemacht, und zwar aus Lumpen. Man kann jeden Schritt verfolgen und sogar das Papier selbst schöpfen. Ein erhebendes Gefühl, wenn aus dem Wasser plötzlich ein Bogen Papier kommt, mit Wasserzeichen.

Man sieht die mächtigen, vom Wasser angetriebenen Hämmer, mit denen die Lumpen zerkleinert werden. Diese Hämmer sind aus Kastanienholz. Davon gibt es viel in der Gegend, und es ist besonders hart.

Die Lumpen oder besser die Fasern werden dann in einen Kübel mit Wasser gelegt, und mit einem Gitter, das auf einem Brett ruht, schöpft man das Papier. Das wird auf ein Tuch gelegt und bleibt überraschenderweise daran kleben, auch wenn man das Tuch senkrecht hält. Das Papier wird getrocknet, und das war’s. Fast. Das Papier, das man jetzt in der Hand hält, ist ganz rau. Es fühlt sich an wie Papier, das man im Zeichenunterricht in der Schule benutzte.

Um das Papier geschmeidiger zu machen, wird es in einer Lösung behandelt, die aus den Innereien von Kaninchen stammt. Das Ergebnis lässt sich sehen. Dann wird das Papier noch gepresst und gewogen.

Am hinteren Ende der Werkstatt ist eine holländische Maschine aufgebaut (XVI), die alle dieser Arbeitsschritte hintereinander erledigt. Was muss das für ein Aufschrei gewesen sein, als die eingeführt wurde.

Und dann gibt es noch ein, viel jüngere Maschine, größer, lauter. Die wurde eingesetzt, als man nicht mehr Lumpen, sondern Holz zur Herstellung des Papiers nutzte.

Am Ende werde ich noch nach draußen geführt, wo man den kleinen Fluss sieht, mit dessen Wasser die Maschinen angetrieben wurden. Er ist zweigeteilt. Das Wasser aus einem Teil diente der Papierfabrik, das aus dem anderen Teil wurde in den Ort weitergeleitet. Heute ist der Fluss unterhalb der Papierfabrik unter die Erde verlegt.

Obwohl es inzwischen sehr heiß ist, mache ich mich auf den Weg zum Cimiterio Monumentale, dem ganz oben auf einer Bergkuppe gelegenen Friedhof. 400 Stufen sollen raufführen. Unten am Dom gibt es ein Hinweisschild, nur verschwindet die Beschilderung schon nach der nächsten Kurve. Immer wieder verliert man sich in dem Gewirr der engen Gassen, die hier durch die Wohngegend führen. Manchmal landet man auch in einer Sackgasse. Immer wieder treffe ich auf Touristen mit den gleichen fragenden Gesichtern. Einige geben auf und kehren zurück. Dann treffe ich auf eine alte Dame, eine Ortsansässige. Sie zeigt mir den Weg, und von da an geht es mehr oder weniger direkt dem Ziel entgegen.

Oben angekommen, erscheint auch wieder ein Hinweisschild. Der Friedhof liegt hinter einer Tür. Eine Frau aus dem unmittelbar danebenstehenden Haus, der am Eingang ihres Hauses steht, sieht mich und sagt: „Chiuso“. Ich sehe auf das Schild an der Tür: Öffnungszeiten 9-12. Genau in diesem Moment beginnen die Glocken zu läuten. Es ist 12 Uhr.

Man wird entschädigt durch einen ausnahmsweise wirklich schönen Blick nach unten, auf die Berge, das Meer, die Stadt. Die Glockenklänge scheinen von den Bergen zu kommen. Aber da, wo sie herkommen, steht nur eine Ruine. Ob die Glocken hat? Erst beim Runtergehen merkt man, dass die Glockenklänge tatsächlich vom Dom kommen, aber vom Berg aufgenommen werden.

Vor der Abfahrt des Schiffs bleibt gerade noch Zeit für die Besichtigung der alten Werften, in denen jetzt ein Museum eingerichtet ist. Man sieht, welch ungeheure Bedeutung die Seerepublik Amalfi zu ihrer Hochzeit hatte. Eine Karte zeigt die Orte, in denen Amalfi Handelskontore unterhielt. Das geht von Sevilla bis nach Konstantinopel und Jerusalem. Bei jedem Ort sind die wichtigsten Waren abgebildet, mit denen an dem entsprechenden Ort gehandelt wurde. Im Falle von Sevilla war es das Papier.

Auf einer anderen Karte sieht man das Herrschaftsgebiet von Amalfi. Es ging an der Küste von Positano im Westen bis Cetara im Osten. Salerno gehörte nicht mehr dazu. Das Gebiet ging aber auch weit ins Landesinnere hinein.

Das wichtigste Dokument der Geschichte Amalfis ist ein Codex, der hier in einer merkwürdigen Ausgabe zu sehen ist, links ein Faksimile des Originals, rechts eine moderne Schreibmaschinenversion. Die Sprache des Codex ist natürlich Latein, nicht Italienisch. Dieser Codex legte Regeln für den Schiffsverkehr und für den Handel fest, eine Art freiwillige Selbstkontrolle vermutlich. Der Codex blieb weit über Amalfi hinaus gültig, auch noch, als es die Seerepublik Amalfi längst nicht mehr gab.

Neben dem Codex liegen noch einige Handschriften, darunter eine Vita des Hl. Andreas. Hier scheint es sich um Originale zu handeln.

Interessant eine Bronzerelief, das von einer Statue des angeblichen Erfinders des Kompasses stammt, Flavio Gioia. Von dem weiß man aber nicht einmal, ob er gelebt hat. Die Legende soll auf einem Übersetzungsfehler beruhen, aber das stört die Stadt Amalfi nicht weiter. Sie strickt weiterhin an der Legende.

Das Relief zeigt eine typisch amalfitanische Galeere mit Ruderern. Unter der Galeere das wild rauschende Meer, darüber eine Stadtansicht von Amalfi. Das Relief hat zwei Löcher durch eine Bombe aus dem 2. Weltkrieg. Außerdem fehlen die Ruder. Sie sind das Opfer von Vandalismus geworden.

Auf dem Rückweg mache ich Station in Cetara, einem sympathischen, kleinen Ort mit Sandstrand. Italienische Sonntagsausflügler sitzen in Schlauchbooten und liegen auf Luftmatratzen und glauben, dass sie sich vergnügen.

In den Schaufenstern und auf den Speisekarten taucht immer wieder das Wort alici auf. Das ist die Spezialität von Cetara, Sardellen. Außerdem wird eine Paste beworben, colatura, die auch auf Sardellen basiert.

Die ganze Hauptstraße hinauf reiht sich ein Lokal an das andere. Ich bekomme in einem winzigen Lokal, das draußen nur drei Tische hat, von einer Kellnerin, die offensichtlich keine Italienerin ist, eine mittelmäßige Lasagne serviert. Polin? Russin? Ukrainerin?  Russin!

Vor der Abfahrt lese ich noch, dass in Cetara die Außenszenen von L’uomo, la bestia e la virtù gedreht wurden, mit Toto und Orson Welles, einem Film, der auf einer Erzählung von Pirandello beruht. Die Montage des Films lässt allerdings vermuten, dass Orson Welles, obwohl er in den Außenszenen erscheint, nie in Cetara war.

Am späten Abend im Apartment hört man wieder aus dem Innenhof einen Mann schreien, der jeden Abend einen Schreikrampf bekommt, offensichtlich mit seiner Tochter als Zielscheibe. Das kontrastiert mit dem Image des lebensfrohen, gutgelaunten Italieners, das im Kurs verbreitet wird. Damit kontrastieren auch die Menschen, die in den Bars, in Sehenswürdigkeiten und an Fahrkartenschaltern arbeiten. Sie sind durch die Bank unfreundlich, würdigen einen keines Blicks und sehen es überhaupt nicht ein, ihr Privatgespräch zu unterbrechen, nur weil da gerade jemand was will. Ähnlich, wenn man nach dem Weg fragt, kurz angebunden, kein Gruß, kein Lächeln, keine Mühe. Eine Ausnahme ist einer der Männer der Besatzung auf dem Schiff. Er lächelt freundlich und spricht mich auf meinen Reiseführer an. Ganz anders sein Kollegen. Der motzt ein junges Mädchen an, das es sich auf einer der Sitzbänke mit Plastikbezug bequem gemacht hat und eine Ruhepause im Liegen einlegt. Ihre Schuhe sind sauber und berühren den Bezug kaum. Die Mutter stimmt auch noch zu, statt vorher etwas zu sagen oder die Tochter in Schutz zu nehmen.

Immer wieder treffe ich auf das Wort cultura und frage mich, ob es nicht coltura ist. Es gibt tatsächlich beide Varianten. Teils werden sie unterschiedslos gebraucht, aber coltura ist eher im wörtlichen, cultura eher im übertragenden Sinne zu verstehen.

Schöne Passage im Reiseführer: Nach dem Krieg stimmten 80% der Neapolitaner stimmten für die Monarchie, gegen die Republik. Der nächste Satz: Erster Präsident der neuen Republik wurde ein Neapolitaner. Auch bei der Neapolitanischen Revolution, der kleinen Schwester der Französischen Revolution, kämpfte das Volk nicht etwa, wie die Adeligen und die Intellektuellen, gegen, sondern für den König und gegen die Parthenopäische Republik.

29. August (Montag)

Die Frau hinter der Theke beim morgendlichen Cappuccino ist überraschend freundlich. Sie lächelt, grüßt, dankt und fragt nach der Schule. Sie ist Polin. Perfektes Italienisch.

Die Dominanz der Schweiz hält an, aber es wird ein bisschen bunter. Im Kurs ist eine Taiwanesin, und beim Stadtrundgang spreche ich kurz mit einer Amerikanerin aus New Jersey, die acht Jahre in München gelebt hat, mit einem Holländer aus Limburg, der wie ein Italiener aussieht, und mit einer Frau aus Sao Paolo, die erst vier Wochen hier einen Sprachkurs macht, dann vier Wochen einen Kunstkurs in Florenz und dann vier Wochen einen Kochkurs in einem Ort in Zentralitalien, den ich nicht kenne. Im Kurs sind auch eine Rumänin und ein Slowake, die beide bei der EU in Luxemburg arbeiten. Denen brauche ich nicht zu erklären, wo Trier ist.

Zwei Schweizer sind am Wochenende im Fußballstadion gewesen, Neapel – Mailand: 4:2. Sie haben das große Los gezogen. Sechs Tore in einem italienischen Erstligaspiel! Wann gibt es das schon mal? Einer ihrer Freunde ist nicht mitgegangen. Es war ihm zu teuer. Die Eintrittskarte kostet 80 €, plus Zuschlag!

Der Kurs basiert weiterhin auf nutzlosen, kleinteiligen Übungen, aber die neue Lehrerin ist die wahre Königin der Stereotypten und der Verherrlichung der italianità. Da ist man sprachlos.

„Amerò la donna che non ci dividerà”, heißt es in einem italienischen Schlager. Interessant.

Am Nachmittag gibt es einen Stadtrundgang mit vorheriger Einführung in der Schule. Das ist alles ganz schön und gut, aber weitgehend substanzlos.

Es  werden alle Epochen der Geschichte von Salerno angesprochen, von prärömisch bis postfaschistisch. Der beste Anhaltspunkt für die wichtigsten Epochen sind die Gebäude: San Pietro a Corte für die Langobarden, der Dom für die Normannen, die Mole Manfredi für die Staufer (die hier Schwaben heißen) der Palazzo della Città für den Faschismus, aber auch für die Republik. Hier, im Palazzo dei Marmi, fand nämlich der erste Ministerrat am Ende des 2. Weltkriegs statt, als Salerno nach der Invasion der Alliierten für ein paar Monate Hauptstadt Italiens war.

Eine bewegte Geschichte, deren Höhepunkte im frühen Mittelalter lagen und deren Tiefpunkt die Zeit bis zur Einigung Italiens war. Neben fremden Invasionen gab es auch Überschwemmungen, Erdbeben und die Pest im Laufe der Jahrhunderte.

Neu war mir die Bedeutung des Ducato de Benevento der Langobarden, das einen großen Teil Unteritaliens einnahm, außer Kalabrien. Noch größer war das normannische Herzogtum Apulien, das wenig später die Grundlage für das Königreich Sizilien wurde. Die Namen, die im Zusammenhang mit der Geschichte Salernos immer wieder fallen, sind Arechi II für die Langobarden und Robert Guiscard für die Normannen.

Bei dem Rundgang gehen wir an ein oder zwei der genannten Gebäude vorbei, aber nirgendwo hinein, bis wir zum Dom kommen. Wieder ein toller Eindruck beim Betreten des Atriums durch das große Portal am Ende der Freitreppe. Das Atrium ist der schönste Teil des Doms. Hier werden wir auf die Säulen aufmerksam gemacht. Es sind antike Spolien, aus verschiedenen Materialien, aber mit einheitlich korinthischen Kapitellen. Die Bronzetür am Hauptportal gleicht ganz und gar der von Amalfi. Sie wurde in Byzanz hergestellt. Die meisten Rechtecke haben einfache Verzierungen in Form eines Kreuzes mit Nieten. Nur in einer Reihe finden sich eingeritzte, verzierte Bildnisse von namentlich gekennzeichneten Figuren, darunter Matthäus.

Wenn sich in Amalfi alles um Andreas dreht, dreht sich hier alles im Matthäus. Dessen Gebeine ruhen in der Krypta, die auch an die von Amalfi erinnert, aber noch größer und opulenter ist, barock, mit buntem Marmor an Pfeilern und Wänden. Auch hier ist der Apostel durch eine riesige, dunkle Bronzestatue über seinen Reliquien vertreten, aber diese Statue steht mitten im Raum. Das beeinträchtigt aber den Raumeindruck.

In einer Art Seitenkapelle wird in zwei Fresken ein Wunder des Apostels Matthäus erzählt: Feindliche Schiffe belagern die Bucht von Salerno, die Bewohner verstecken sich oder fliehen, aber einige gehen zum Apostel und bitten um Rettung. Auf dem zweiten Fresko sieht man dann, wie ein Sturm die feindliche Flotte zerstört.

Das Kircheninnere wurde nach einem Erdbeben barock restauriert, und diese Barockisierung wurde nach den Zerstörungen des Weltkriegs teilweise wieder zurückgenommen. Man sieht vor dem Chor eine alte Holzbalkendecke und im Mittelschiff zwei bunte Kanzeln mit Intarsienarbeiten aus Marmor. Die sind sehr schön, aber sonst ist das Innere nicht so umwerfend. Im nördlichen Seitenschiff ist die Grablege Gregors VII. der hatte den Dom höchstpersönlich geweiht, nachdem er im Investiturstreit ein Bündnis mit den Normannen geschlossen hatte, die bis dahin, wie die Sarazenen, als Erzfeinde und Ungläubige behandelt worden waren. Aber in der Tod frisst der Teufel Fliegen.

30. August (Dienstag)

Die Taiwanesin erzählt, bei ihnen würden sich alle Flipflops anziehen, sobald es anfängt zu regnen. Offensichtlich trägt man die immer bei sich, um sie bei Bedarf einsetzen zu können. Ob das auch für Geschäftsleute in Anzügen gilt, kann ich nicht herausfinden.

Als wir gefragt werden, was wir gestern Abend gemacht hätten, will ich von der Stadtbesichtigung berichten, da ich vom Abend nichts zu berichten habe. Die Lehrerin fällt mir ins Wort. Sie habe nach dem Abend gefragt. Ein Käsebrot gegessen. Sonst nichts? Nein, sonst nichts.

Die Lehrerin hat zu allem und jedem immer ein klares Urteil parat, auch zum Essen: Ketchup oder Mayonnaise? Unmöglich! Cappuccino nach 9 Uhr? Unfassbar! Spaghetti mit Löffel? Barbarisch!

Ich nutze die Pause, um mir San Pietro a Corte anzusehen, nur vormittags geöffnet. Das war die Kapelle der Palastanlage der Langobarden. Vom Palast sind nur noch eine Säule und ein Querbogen erhalten, die sich in der Gasse unterhalb der Kapelle befinden, an einem Durchgang, ganz und gar getrennt von der Kapelle.

Wenn man den Raum betrifft, ist man verdutzt. Es ist keine Kapelle, sondern eine Baustelle. Auf dem jetzigen Bodenniveau befindet sich gar nichts außer den Bretterböden für die Besucher. Man sieht ziemlich weit nach unten hinunter. Auf halber Höhe gibt es Pfeiler mit Fresken. Die gehörten zu der Kapelle. Weiter unten gibt es einen Boden mit Marmorplatten aller Art und Farbe, der gerade restauriert wird. Der ist römisch. Hier befanden sich römische Thermen. Das Äußere mit dem strammen, langobardischen Turm, original erhalten, hat etwas.

Nach der Pause geht es um das Thema Mann und Frau. Mir wird schon ganz anders, als es angekündigt wird. Wir werden ermutigt, Verallgemeinerungen zu machen. Als wir die dann machen, schreitet die Lehrerin ein und sagt, man solle nicht verallgemeinern. Und erzählt dazu eine umständliche Geschichte. Dann sagt sie, Frauen seien bösartiger als Männer. Ob das nicht auch eine Verallgemeinerung sei? Nein, das sei keine Verallgemeinerung.

Einen Ehemann vermisse sie nicht, sagt sie, wohl aber ein Kind. Es wäre doch schön, ein Kind zu haben. Man kommt nach Hause, öffnet die Tür und jemand ruft: „Ciao, mamma.“ Ein tolles Verständnis von Elternschaft.

Am Nachmittag geht es zum Museo dello Sbarco. Beim Verlassen des Hauses treffe ich den neuen Mitbewohner, einen Schweizer mit kroatischen Wurzeln, der wie Lukas Podolski aussieht. Er ist auf dem Weg zum Strand. Eine innere Stimme flüstert mir zu: „Geh mit!“, aber ich höre nicht auf sie.

Bei der Touristeninformation kennt man das Museum nicht. Und das, obwohl es auf der von der Touristeninformation herausgegebenen Liste der Sehenswürdigkeiten steht. Mit Öffnungszeiten. Das Mädchen muss nachgucken, welcher Bus dahin fährt. Die Linie 5.

An der Haltestelle sucht man unter den wenigen Bäumen Schatten, aber es ist kein Platz für alle. Ein Bus nach dem anderen kommt vorbei, aber keine 5. Zwei Mädchen besetzen auf einer Bank für vier Personen alle vier Plätze, jeweils einen für sich und ihre Taschen. Sie brauchen nicht aufzustehen, aber könnten sie nicht die Taschen wegnehmen? Ein alter Mann und eine Frau mit Einkaufstaschen stehen daneben.

Ich überlege mir, ob ich es zu Fuß versuchen soll, aber in der Hitze ist das auch kein Vergnügen. Irgendwann kommt eine Linie, bei der mir einer der Zielorte bekannt vorkommt. Vielleicht kann man die auch nehmen. Der Fahrer kennt das Museum auch nicht, aber das Novotel ja, da fährt er hin. Ich fahre mit.

Die Fahrt zieht sich unendlich hin. Dabei sollen es nur vier Kilometer sein. Dann kommt endlich die Haltestelle. Kein Schild zum Museum. Ich gehe bis zur nächsten Kreuzung. Kein Schild zum Museum. Dies ist eine ungastliche Gegend. Hohe Zäune, Fabrikhallen, parkende Autos, Militärgelände, kaum Menschen. Ich frage zwei Jungen, die auf dem Bordstein sitzen. Nie gehört. Dann geht es weiter. Irgendwo ist der Eingang zu einem Segelclub. Da sagt jemand, ja ein bisschen weiter, dreihundert Meter auf dieser Seite. Aber da ist nichts. Ich gehe wieder zurück, am Stadion der US Salernitana vorbei, komme über einen großen, leeren Platz, an eine Baustelle, an eine Möbelfabrik. Kein Schild, nichts zu sehen. Wieder auf der anderen Seite warte ich, bis ein Auto aus einem geschlossenen Gelände hinauskommt und halte den Fahrer an. Ja, in der anderen Richtung, auf der anderen Seite. Dreihundert Meter. Da ist ein Eingang zu einem Gelände, aber nicht zum Museum. In einer Kamikazeaktion stoppe ich eine Frau, die alleine in einem Auto sitzt. Erst guckt sie böse, dann sagt sie lächelnd, ja, gleich da, wo die Schilder sind. Ich gehe rein, obwohl auf den Schildern nichts von Museum steht und wende mich an den Portier: „Si, è propio qui, ma è chiuso adesso.“

Aus Frustration trete ich den Rückweg zu Fuß an, bis ich in ein Wohnviertel komme. Ich komme an einem der kleinen Läden vorbei, wo es Obst und Gemüse gibt und alles gut aussieht und intensiv riecht. Ich kaufe Tomaten, Pfirsiche und Pflaumen.

Dann nehme ich doch noch den Bus in die Innenstadt. Dabei sehe ich zum ersten Mal den Fluss von Salerno, den Irno, einen nichtssagenden, kanalisierten Fluss, der unter der Straße ins Meer mündet. Darauf soll der Name Salerno zurückgehen: salum, ‚salziges Meer‘ + Irnum, der Name des Flusses.

31. August (Mittwoch)

Ein interaktiver Sprachatlas, an dem sich Tausende beteiligen, zeigt sehr schön regionale Variation im Deutschen. Wo sagt man Buletten, wo sagt man Frikadellen, wo sagt man Fleischpflanzer, wo sagt man Klops, wo sagt man Fleischküchle? Interessant auch bolzen, pöhlen, schutten, kicken. Es gibt einige klare Grenzen, auf der Karte farblich abgesetzt, aber auch einige Gebiete, wo die Farben eher verschwommen sind. Das ist völlig einleuchtend. Komisch, wie  vertraut einem einige Wörter sind, obwohl man sie nicht benutzt, und wie fremd einem andere sind. Manchmal ist nicht klar, wie die Abgrenzung von dem Wort aus der Standardsprache und dem umgangssprachlichen Wort ist: Latschen kann man gut von Puschen und von Schlappen absetzen, aber wie von Pantoffeln? Da müsste man wissen, wie die Ergebnisse zustande gekommen sind.

Inzwischen habe ich Così parlò Bellavista beendet, von de Crescenzo, dem „Berufsneapolitaner“. Der wohnt seit vielen Jahren im noblen Rom und schreibt aus der Distanz Bücher, bei denen der Lokalkolorit Neapels – eines vermutlich weitgehend fiktiven Neapels –  der Protagonist ist. Da ist viel intellektueller Kitsch dabei. Epikur ist der Gewährsmann, der bei jeder Gelegenheit zitiert und so zurechtgebogen wird, dass er in die Weltsicht Bellavistas (d.h. der von der Crescenzo) passt. Die anderen sitzen zu seinen Füßen, lauschen ihm und machen gelegentlich kleine Einwürfe, um dann von dem Professor zurechtgestutzt zu werden. Zu den intellektuellen „Zuckerstückchen“ des Buches gehört die Behauptung, Aggression stamme vor allem von Völkern in kalten Gegenden. In warmen Gegenden werde die Aggression durch die Hitze abgebaut.

Durch die vielen Einschübe kann man immerhin etwas über die Besonderheiten des neapolitanischen Dialekts ableiten: un ist nu, adesso ist , und das Wort für ‚Kopf‘ ist cape, also das alte lateinische Wort, das im Standarditalienischen durch die testa, die ‚Scherbe‘ ersetzt worden ist. Das ist gar nicht so weit von unserem Kopf entfernt, das Haupt verdrängt hat und ursprünglich ‚Becher‘ bedeutete und mit engl. cup verwandt ist.

Auf jeden Fall will ich nach neuen Büchern sehen. Auf dem Weg zum Buchhandel komme ich an San Pietro in Vinculis vorbei, einer kleinen, in die Häuserreihe integrierten Kirche mit einer weißen Fassade mit Tympanon. Der Name ist hier Programm. Es geht um ‚Gefesselte‘. Die Kirche wurde nach dem Konzil von Trient zum Sitz einer Kongregation – wohl kein Orden im herkömmlichen Sinne – die sich um Strafgefangen kümmerte. Der Kongregation gehörten Männer und Frauen an. Am Tag von Mariä Geburt hatte jeder Angehörige der Kongregation das Recht, einen Gefangenen freizulassen, wegen „guter Führung“. Eine moderne Idee.

Die Kirche liegt gerade außerhalb der Altstadt. Die Buchhandlung ist nur ein paar Schritte weiter, auf dem Corso Vittorio Emmanuele. Die Bücher sind in das Untergeschoss verbannt, oben und im Erdgeschoss gibt es Geschenkartikel und Schreibwaren. Es gibt außer Sprachlernkursen wenig zu Sprache und Linguistik – da ist fast alles Umberto Eco – aber ich finde einen schmalen Band zur Etymologie. Außerdem kaufe ich nach langem Hin und Her einen Roman eines gewissen Fabio Volo, obwohl ich den Namen noch nie gehört habe.

Dann geht es noch zum Molo Manfredi. Fahrkarte kaufen für einen Ausflug am Wochenende. Ischia oder Capri? Eigentlich waren beide geplant, aber die Entfernungen sind doch größer als geglaubt, und die Preise haben es in sich. Ich entscheide mich für Capri, da es etwas näher und viel kleiner ist. Aber auch dahin braucht man fast zwei Stunden.

Diese Gegend, das heutige Kampanien (das nicht mit dem antiken identisch ist), war der nördlichste Teil von Magna Graecia. Überall in diesem Gebiet gab es griechische Kolonien. Die allerersten entstanden hier, in Kampanien. Und wie ich jetzt verstehe, ist es viel zu einfach, hier von „Handel“ als dem wichtigsten Motiv für die „Kolonisation“ zu sprechen. Die Gründung der Kolonien war eine unendliche Folge kleiner Eroberungskriege, bei denen die einheimische Bevölkerung entweder unterworfen oder ins Binnenland verdrängt wurde. Denn praktisch alle Kolonien lagen am Meer. Nach der Gründung wurde ein Mauerring zur Verteidigung errichtet, und dann ging es an die Verteilung von Land innerhalb und außerhalb des Rings. Und zwar durch Losverfahren. Das städtische und agrarische Land wurde zu gleichen Teilen an die Siedler vergeben. Dies ist vielleicht sogar der Ursprung des rechtwinkligen Straßensystems der Antike.

Aber warum wurden die Kolonien gegründet, wenn es erst einmal nicht um Handel ging? Aus purer Not. Schon Hesiod klagt über das Schicksal verarmter Bauern im griechischen Kernland. Das befand sich in einer umfassenden Krise, ausgelöst durch Missernten, der fortschreitenden Ungleichheit zwischen Arm und Reich, Rechtlosigkeit, Schuldknechtschaft, der Zergliederung des Ackerlands durch Erbteilung. So verließen die Griechen bestimmter Orte, meist unter der Führung eines Aristokraten, massenhaft ihre Heimat und ließen sich als Koloniegründer in der Schwarzmeerregion, in Kleinasien, in Nordafrika und eben in Unteritalien nieder, meist nach einer gefährlichen Seereise. Zuvor hatte man sich oft noch einen „Tipp“ bei dem entsprechend instruierten Orakel geholt, wohin man sich denn wenden sollte.

Regeln und Institutionen aus der Mutterstadt wurden zwar mitgenommen, aber insgesamt blieben die Bindungen gering. Es entstand ein neues Griechenland. Auch die Mythen wurden hier entsprechend erweitert: Herkules verschlug es nach Spanien, die Argonauten ans Schwarze Meer, und Hephaistos hatte seinen Sitz nicht auf dem Olymp, sondern auf dem Ätna!

Auch im Entstehungsprozess der römischen Kultur spielte Kampanien eine bedeutende Rolle. Und auch hier kam es nach der Assimilation der griechischen Mythen, zu deren Erweiterung: Hier vollendete sich der Trojanische Krieg, indem Äneas genau dort an Land ging, wo auch Odysseus es getan hatte, hier war die Heimat der Sybille, hier befand sich der Eingang zur Unterwelt. Und Italien rückte aus seiner einstigen Randlage ins Zentrum.

Im Gegensatz zu den Griechen erschlossen die Römer die gesamte Region, durch Straßen, Aquädukte, Tunnels, Häfen, Brücken, alles zunächst für militärische Zwecke. Und anders als die Griechen bauten die Römer für die Ewigkeit. Unsere Vorstellung ist von den erhaltenen Quader- und Säulenbauten der Griechen wie den Tempeln von Paestum bestimmt, aber die meisten ihrer Bauten waren aus Holz oder Lehmziegel und sind längst verschwunden. Anders bei den Römern. Und das ist vor allem der Erfindung des opus caementitium zu verdanken, ein dem heutigen Zement ähnlicher Baustoff, der flüssig und deshalb beliebig formbar, unbegrenzt belastbar und in jeder Menge herstellbar war. Dazu kam die massenhafte Verwendung gebrannter Ziegel. Das Resultat waren Nischen, Gewölbe, Kuppeln, Vorsprünge. Der Zement bildete den Kern, und der wurde mit Ziegeln, Marmor, Travertin verkleidet. Der Impuls für diese neue Technik kam aus Kampanien: Die Erde aus den Vulkangebieten war der wichtigste Grundstoff des römischen Zements.

Die technische Revolution bedeutet auch eine soziale Revolution. Während für die griechischen Großbauten hochspezialisierte Handwerker vonnöten waren, ließ sich mit dem Zementguss ein großes Bauvolumen erzeugen. Dabei kamen in der Hauptsache ungelernte Hilfskräfte zum Einsatz, beim Transport, bei der Zementherstellung, bei der Ziegelherstellung. Die wichtigsten Arbeitskräfte waren Tagelöhner und Sklaven.

1. September (Donnerstag)

Interessantes Detail aus dem Buch zur Etymologie: negozio ist eine Verneinung von otium, ‚Muße‘. Interessant auch der Wegfall des ursprünglichen lateinischen Wortes wie bei ignis, ‚Feuer‘, und os, ‚Mund‘.  Das neue Wort für ‚Feuer‘ wurde von focolare abgeleitet, ‚Feuerstelle‘. Lateinisch bucca bezeichnete ursprünglich die Wange und hinterließ hier eine Lücke, die von einem germanischen Wort geschlossen wurde, *wankja (heute guancia). Oder wurde nicht vielleicht bucca von *wankja verdrängt und suchte sich eine neue Beschäftigung? Ähnlich der Verlust von femur für ‚Schenkel‘. Das wurde ersetzt von coxa (heute coscia), das ursprünglich ‚Hüfte‘ hieß, und wieder sprang ein germanisches Wort ein, um die Lücke zu schließen, *hanka (heute anca).

Im Unterricht, nicht ganz neu, aber technisch gut gemacht, ein Text, in „Versen“ geschrieben, der einen ganz anderen Sinn ergibt, wenn man ihn von unten und wenn man ihn von oben liest, eine optimistische Lesart und eine pessimistische Lesart. Man ist hin- und hergerissen zwischen den beiden, aber eine klingt doch reifer, ehrlicher. Die Diskussion verliert sich aber sofort in ein paar Belanglosigkeiten, gewürzt von den persönlichen, starren, Meinungen der Lehrerin.

Nach dem Unterricht geht es nach Neapel. „Neapel sehen und dann sterben“, das ist mir schon immer als ein ziemlich blöder Ausspruch vorgekommen. Und Neapel fördert bei mir keine Vorstellungen von irgendeiner konkreten Sehenswürdigkeit hervor, kein Platz, kein Gebäude, keine Szene. Aber es gibt wohl einiges zu sehen.

Neapel war bis 1900 die größte Stadt Italiens! Das zeigt die pure Not, die in der ganzen Gegend herrschte, letztlich noch eine Folge des Risorgimento, das alte feudale Strukturen zerstörte und durch nichts ersetzte. In diese Lücke stießen letztlich auch Mafia und Camorra. In diesen Jahren wanderten 10 Millionen Menschen aus Süditalien nach Amerika aus. Andere flüchteten vom Land in die Städte.

Die Atmosphäre ist heute, an einem Werktag, ganz anders als am Tag der Ankunft. Es ist viel mehr Bewegung, viel mehr Volks unterwegs. Etwas hektisch, etwas chaotisch, aber auch nicht anders als in vielen anderen Städten.

Dennoch macht sich das negative Image bemerkbar. Ich blicke mich alle paar Schritte um, weiche aus, sehe nach, ob noch alles da ist.

Ich lasse mich aber treiben und komme über weiträumige Plätze und durch breite Straßen, die so etwas wie frühere Größe erkennen lassen, aber alles andere als „schön“ sind.

Irgendwie fühlt man sich unwohl. Man will nicht dahin, wo es voll ist und auch nicht dahin, wo es leer ist. Am Ende taucht irgendwo ein Schild zum Diözesanmuseum auf, und dem folge ich aufs Geratewohl.

Zum ersten Mal hole ich die Kamera heraus. Ganz oben über der Straße hängt irgendwo die Wäsche, durch einen hohen Torbogen hat man einen Blick weit eine Straße hinunter.

Allmählich ändert sich die Atmosphäre. Man ist geradezu erleichtert, als die ersten Souvenirläden auftauchen. Ich bin auf eine enge, schurgerade verlaufene Straße gekommen, Spaccanapoli, den ‚Neapelteiler, eine Straße, die die Altstadt in zwei Teile teilt und dem ganzen Viertel ihren Namen gegeben hat. Sie verläuft über den alten römischen Decumanus. Neapel ist, nachdem es im 13. Jahrhundert anstelle von Palermo die Hauptstadt der Anjou wurde und ein Bauboom ausbrach, in die Höhe gewachsen. Das merkt man heute noch. Die Häuser sind viel zu hoch für die schmale Gasse, es kommt kaum ein Sonnenstrahl bis nach unten. Das ist jetzt, bei der Hitze, ganz angenehm.

Dann mündet Spaccanapoli in eine großen Platz, mit einer mehrstöckigen, viel zu großen Marienstatue im Zentrum, eine Mischung aus Obelisk und Siegessäule. Tatsächlich stand hier früher die Statue eines der habsburgischen Könige. Dies ist die Piazza del Gesù. An einer Seite befindet sich die auffällige Fassade der Jesuitenkirche, die auf den ersten Blick gar nicht auf Kirche schließen lässt, ganz und gar übersät mit grauen Diamantquadern.

Was man hier nicht so oft sieht: eine moderne Plastik. Hier taucht eine auf, in einem kleinen, eingezäunten Areal gegenüber der Kirche, leicht erhöht: ein geöffneter Verpackungskarton aus Eisen.

Auf diesem Platz gibt es eine Touristeninformation und dort einen Stadtplan und ein paar Tipps. Ganz in der Nähe ist der Kreuzgang von Santa Chiara. Die Kirche selbst hat eine einfache, fast abweisende Fassade, hinter einem Tordurchgang verborgen, aber der Kreuzgang, der Chiostro delle Maioliche, ist ein Kleinod und kommt auch gerade recht, denn in diesem Moment beginnt es zu regnen.

Ich setze mich auf die Steinbank, die den ganzen, großzügig angelegten Kreuzgang umgibt und sehe dem Regen zu. Der wird immer stärker. Und es spritzt bis zu mir hin. Man muss sich in eine der vier Ecken verdrücken, um trocken zu bleiben.

Wie die Kirche stammt der Kreuzgang in seinem Ursprung aus der Zeit der Anjou, wurde aber im 18. Jahrhundert völlig umgebaut, und zwar auf Initiative von Amalie von Sachsen, der Ehefrau von Karl III., dem spanischen Bourbonenkönig. Die Sitzbänke um den inneren Teil des Kreuzgangs wurde über und über mit bemalten Majolika-Kacheln ausgeschmückt, die Farben von Weinranken und Zitronen aufnehmend. Es werden Genreszenen dargestellt, die in einem den Glauben an eine bessere Welt aufkommen lassen: Fische, Schiffe, Kirchlein inmitten der Landschaft, eine Ruine, ein Wasserfall, Angler, Türme, Vögel, Felsen, alles scheint harmonisch und friedlich, selbst die Jagd auf die Flugenten, die vom Himmel fallen. Das Zentrum des Kreuzgangs ist durch Wege in vier Teile geteilt, mit Hecken und Zitronenbäumen, und entlang der Wege stehen Säulen (die früher vielleicht mal eine Funktion hatten), die wiederum mit Majolika-Kacheln geschmückt sind.

Die Arkaden sind so hoch, dass sie kaum als Trennung zwischen dem Innenraum und dem Umlauf empfunden werden, ein ganz anderer Eindruck als zum Beispiel in Amalfi. An den Seitenwänden sind Malereien mit biblischen Motiven angebracht, aber auch die sehen eher wie Genreszenen aus, wie die Szene von zwei fröhlichen, nackten Kleinkindern, die in einem Bach gebadet werden.

Als der Regen nachlässt, mache ich mich auf den Weg zu Napoli Sotteranea. Nicht ganz leicht zu finden. Dort wird man in das unterirdische Neapel geführt. Es geht vierzig Meter in die Tiefe, und hier unten ist es ziemlich kühl. Als erstes kommen wir in eine Kammer, in der die Situation aus der Zeit der antiken Griechen nachgestellt ist. Die nutzten das unterirdische Neapel als Steinbruch. Sklaven hauten mit Spitzhacken Quader aus dem Tuffstein – gepresste Vulkanasche, die hier aber nicht vom Vesuv, sondern von einem anderen Vulkan stammt – bearbeiteten die Quader hier vor Ort und transportierten sie dann mit einer Art Flaschenzug durch ein Loch in der Decke nach oben. Mit diesen Quadern wurden griechische Tempel und Stadtmauern gebaut.

Das war der Anfang des unterirdischen Neapels. Die vielen unterirdischen Kammern der Griechen wurden dann von den Römern miteinander verbunden und allmählich entstand ein Labyrinth von Gängen und Kammern, das insgesamt 450 Kilometer umfasst! Lange wurde es als illegale Müllhalde genutzt, und noch heute ist ein Teil davon eine Tiefgarage, aber seit einigen Jahren bemüht sich eine studentische Initiative darum, es als Kulturraum neu zu erschließen. Es hat dabei die verschiedensten Vorschläge gegeben, was aus dem Raum werden soll: ein unterirdisches Wasserwegesystem, um den Verkehr von Neapel zu entlasten, ein unterirdisches Spielparadies für Kinder, ein unterirdischer botanischer Garten. Aber zurzeit ist wohl alles noch offen.

Wasser gab es hier früher schon mal, und in einer engen Passage hat man die Gänge wieder mit Wasser aufgefüllt, um die Sache nachvollziehbar zu machen. Aquädukte führten das Wasser aus verschiedenen Quellen der Umgebung in die unterirdischen Kanäle. Die waren wiederum mit Brunnen verbunden, an denen sich die Bevölkerung, und zwar bis in das 19. Jahrhundert, mit Wasser versorgte. In einem Schacht sieht man in die Wand gehauene Stufen, über die pozzari nach unten stiegen, um die Wasserleitungen zu warten und das Wasser zu reinigen.

Im Laufe der Jahrhunderte hatte das unterirdische Neapel aber auch immer wieder andere Zwecke. Im 2. Weltkrieg diente es als Bunker und als Zufluchtsort für die Partisanen Neapels, die, wie hier stolz berichtet wird, die ersten waren, die sich selbständig, ohne die Hilfe der Alliierten, gegen die deutsche Besatzung auflehnten.

Am Ende sehen wir noch einen ursprünglich von dem Rest des Wegesystems abgetrennten Weinkeller, mit einem Lüftungsschacht, durch den Luft von oben in den Keller geleitet wurde, um für die Zirkulation der Luft zu sorgen. Dieser Weinkeller wurde von den Nonnen eines Ordens für Wein aus eigener Herstellung genutzt. Das Klostergebäude befand sich oben auf dem Platz über dem Weinkeller.

Auf diesen Platz steigen wir jetzt auch wieder rauf. Er war, wie es scheint, das Zentrum der römischen Stadt. An einer Seite steht erhöht die mächtige Kirche San Paolo Maggiore. Am Eingangsportal stehen zwei große Säulen. Sie sind römisch und stammen aus dem Vorgängerbau, einem Dioskurentempel.

Wir gehen in eine Seitenstraße, ohne recht zu wissen, was uns erwartet. Wir warten vor einem Hauseingang, und dann werden wir hineingelassen. Es ist die Wohnung im Untergeschoss eines mehrstöckigen Hauses, lichtlos, ebenerdig, ohne Verbindung zu den anderen Wohnungen des Hauses. Es gibt kein Treppenhaus, man steht sofort mitten in der Wohnung. Das sind die berühmten bassi Neapels, die Wohnung des niederen Volkes, der Armen, viel gepriesen, berüchtigt. Die ehemaligen Bewohner dieser Wohnung sind evakuiert und entschädigt worden, so dass man Besuchern zeigen kann, was die Bewohner selbst nicht wussten: Sie wohnten in einem römischen Theater! Das war natürlich längst zerstört oder überbaut worden, aber jetzt hat man einige der Wände und Bögen wieder freigelegt. Man sieht typisch römische Mauertechnik.

Durch eine Bodenluke steigen wir in den Keller hinab. Hier ist noch etwas mehr zu sehen, und hier befand sich die Bühne. Auf dieser Bühne hatte u.a. Nero seine Auftritte. Es sind auch Teile der Zugänge zu sehen, und ein unterirdischer Gang, durch den Schauspieler sich zu verschiedenen Seiten der Bühne bewegen konnten.

Hier gibt es noch eine zweite Mauertechnik zu sehen, und zwar eine, die zur Stabilisierung der Häuser beitrug. Vielleicht so etwas wie ein Vorläufer von Bauweisen zur Vorbeugung gegen Erdbeben? Die Backsteine schauen mit ihrer äußersten Seite, spitz gestellt, aus der Mauer heraus. Nach hinten verjüngen sie sich. Dazwischen ist Mörtel. Wenn jetzt Druck auf die Steine kommt, geben sie nach und der Mörtel bröselt heraus, aber die Struktur bricht nicht zusammen.

Zum Schluss werden wir noch in einen anderen basso geführt, wo die handgefertigten neapolitanischen Krippen hergestellt werden. Es sind Szenen, die theatralisch aussehen und oft kaum eine Verbindung mit den biblischen Motiven haben. In den Szenen tritt auch Pulcinella auf, die Figur des Volkstheaters, die für Neapel steht, mit Pluderhose und schwarzer Halbmaske.

Wieder auf mich gestellt, suche ich den Weg zu der Capella Sansevero, auch in der Touristeninformation empfohlen, aber als ich ankomme, ist die schon geschlossen. Ich verliere mich noch etwas in den Gassen. Dabei stoße ich immer wieder auf Maradona, Benedetto Croce und Sofia Loren, die drei Helden der Neapolitaner. Ein Teil von Spaccanapoli ist nach Croce benannt, und da ist auch irgendwo der Sitz der Historischen Vereinigung, die er gegründet hat. Sofia Loren hat Neapel bald den Rücken gekehrt und die kalte Schulter gezeigt, aber das scheint man ihr nicht übel zu nehmen. Und Maradona? Lange her, aber der Ruhm hält an.

Nochmal muss ich mich vor dem Regen in ein Café flüchten, bevor es mit einem bequemen, pünktlichen, schnellen IC nach Salerno zurückgeht. Dort gehe ich in die Osteria La Nonna Maria, von dem kroatischen Schweizer empfohlen. Hier gibt es keine Pizza. Da Motto ist „Römische Küche“. Dazu zählen Kutteln und Ochsenschwanz. Ich bestelle Spanferkel und Pasta. Das beste Essen bisher in Salerno, bei weitem. Vor allem die Pasta ist wunderbar: harte, lange, runde Nudeln, so etwas wie spaghettone mit einer Sauce aus Schweinebacke, Zwiebeln, Ei und verschiedenen Käsen.

Auf der Rechnung steht: Post prandium stabis, post coenam ambulabis. Aber ich habe keine Kraft mehr, dem Ratschlag zu folgen. Man merke: Man kann auch Latein verstehen, weil man Italienisch kann und nicht umgekehrt.

2. September (Freitag)

Im Unterricht lernen wir ein Trinklied auf die Melodie von Lily the Pink. Das man hier vermutlich für ein italienisches Lied hält.

Bei dem wöchentlichen Test sind wir vier Männer alle noch beschäftigt, als die vier Frauen längst abgegeben haben.

Einer der wenigen Fälle, wo mir eine grammatische Erklärung hilfreich zu sein scheint: perché mit Indikativ leitet einen Kausalsatz ein, perché mit Konjunktiv leitet einen Finalsatz ein, mit dem entsprechenden Bedeutungsunterschied. Es ist, als wenn es zwei verschiedenen Konjunktionen wären.

Eine Frage, die die Linguisten des Italienischen umtreibt, ist die „Unvollendete“. Es geht um einen Lautwandel. Italienisch hat systematisch /v/, wo Latein /b/ hat, in intervokalischer Position: cavallo aus caballus, cervello aus cerebellum, dovere aus dobere, avere aus habere, favola aus fabula. Es gibt natürlich „Ausnahmen“, aber die haben, ganz im Sinne der Junggrammatiker, ihre eigenen Regeln. Ich finde zwar nicht, dass alle Ausnahmen regelhaft sind, aber sei’s drum. Das Problem ist, dass dieser Wechsel bei /k/ zu /g/ viel weniger systematisch ist. Mann hat zwar luogo aus locus, segare aus secare, ago aus acus, lago aus lacus, aber man hat auch amico, cieco, fuoco, fico. Warum?  Darüber streiten sich die Gelehrten. Nicht erwähnt wird, dass Spanisch amigo, ciego, fuego und higo hat. Kann das vielleicht ein Hinweis sein?

Am Nachmittag geht es mit Juraj, dem slowakischen Luxemburger, nach Vietri, dem Nachbarort, Vietri sul Mare, zum Strand. Er hat seine Mutter und seine Tante im Schlepptau. Die Verständigung mit den Damen ist etwas holprig, ein paar Brocken Deutsch, ein paar Brocken Englisch, ein paar Brocken Russisch.

Die Verständigung mit Juraj ist dagegen gut. Wir sprechen durchgehend Italienisch, auch wenn sein Deutsch besser ist als sein oder mein Italienisch. Er hat auch Spanisch vor Italienisch gelernt und wir verbessern unsere Fehler gegenseitig ohne Scheu.

Obwohl er für das Europäische Parlament arbeitet, sitzt er in Luxemburg und ist damit nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Er hatte nach dem Mauerfall und einem Erststudium und dann einem weiteren Diplom als Übersetzer eine harte Zeit zu überleben in Bratislava. Die Stelle in Luxemburg hat er bekommen, als er zuhause gerade durchgestartet war. Die Trennung von Slowakei und Tschechien sei eine Entscheidung der Politiker gewesen, sagt er, eine Folge der Unfähigkeit, Macht zu teilen. Ein Referendum, glaubt er, hätte eine Mehrheit für den Erhalt der Einheit gebracht. Jetzt gehe es der Slowakei viel besser als vor ein paar Jahrzehnten, findet er, in jeder Beziehung.

Mit dem Bus ist man in einer Viertelstunde in Vietri. Hier ist alles Keramik. Die Keramik soll schon mit den Etruskern hierhergekommen sein, die den Ort auch vermutlich gegründet haben. Schon gleich an der Bushaltestelle taucht ein großes, modernes Haus im Gaudí-Stil auf, das eine ungewöhnliche Keramikdekoration hat.

Im Zentrum geht es dann aber etwas biederer zu. Hier geht es um Kacheln, bunte Kacheln, die liebliche Motive haben, an der Grenze zum Kitsch. Diese Motive wurden von deutschen Kunsthandwerkern entwickelt, die sich hier zwischen den Kriegen niederließen und ihre eigenen Werkstätten eröffneten.

Der Ort ist ganz schön, mit wunderbaren Aussichten in die Umgebung, aber den Damen ist es zu heiß. Sie wollen zum Strand.

Der Strand ist passabel, die frei zugängliche Zone ist etwas eng, der Sand etwas kiesig und gräulich, aber das Wasser ist sauber, wenn auch nicht glasklar, und hat die richtige Temperatur. Man kann ein ganzes Stück herausschwimmen.

Der Vorteil ist, dass man sich abwechseln und auf die Sachen aufpassen kann. Als wir dann gegen Abend wieder aufbrechen, kommen wir an einer Kachel mit einem Esel vorbei, dem emblematischsten Motiv der Keramik von Vietri. Jurajs Mutter ruft ganz begeistert: Somaro. Wie es der Zufall  will, ist das slowakische Wort für ‚Esel‘, somar, dem italienischen fast deckungsgleich, ebenso wie strega und striga für ‚Hexe‘.

3. September (Samstag)

Pompei ist nicht gleich Pompeji. Jedenfalls kann man mittels der Schreibweise die moderne Stadt von der alten, vom Vesuv zerstörten Stadt unterscheiden. Wie man sich denken kann, hat die eine viel mehr Besucher als die andere. Viel mehr  Besucher als das alte Pompeji hat nämlich das moderne Pompei, ganz anders als man vermuten sollte. Die Wallfahrtskirche Madonna del Rosario in Pompei hat jährlich vier Millionen Besucher, mehr als die berühmte Ausgrabungsstätte. Es ist damit nach Rom, aber noch vor Assisi das wichtigste Pilgerziel Italiens.

Herculaneum und Pompeji sind weiter voneinander und weiter vom Vesuv entfernt, als ich dachte. Der Zug braucht von Pompeji aus noch fast eine halbe Stunde nach Herculaneum. Er fährt direkt an der Küste entlang. Bald kommt zum ersten Mal der Vesuv in Sicht. Er hat die Form eines Kegels, aber eines abgeschnittenen Kegels. Bei der Eruption von 1904 büßte der Vesuv seine Spitze ein und verlor 200 Meter an Höhe. Noch um 1900 sieht man auf Abbildungen, wie Rauch aus der Spitze des Vulkans tritt. Dagegen ist das heute Bild eher undramatisch.

Aus verschiedenen Gründen hatte ich mich gegen Pompeji und für Herculaneum entschieden. Aber wie kommt man dahin? Das Mädchen in der Touristeninformation hatte diesmal wohl recht: Es gibt keinen Zug nach Herculaneum, von Salerno aus. Auf der Fahrkarte steht zwar Ercolano, aber die Station heißt Portici-Ercolano, und der Bahnhof ist tatsächlich in Portici. Von hier aus ist es noch ein ganzes Stück nach Ercolano.

Auf dem Weg kommt man sozusagen mitten durch das Schloss von Portici. Das steht zu beiden Seiten der Straße, und die Straße ist gleichzeitig die Durchfahrt durch das Schloss. Heute ist es eine Dépendence der Universität Neapel.

Durch ein Tor geht es in Ercolano auf das Ausgrabungsgelände. Man sieht von oben auf die Stadt hinab. Um diese frühe Zeit sieht sie grau aus und ein bisschen wie eine Favela. Alles kaputt.

Auf einem Plan kann man sehen, dass die Stadt zwar in ganz gleichmäßige Rechtecke – insulae – eingeteilt war, dass aber die einzelnen Häuser sehr verschieden sind in Grundriss und Größe.

Da, wo man steht, bevor man die Stadt betritt, war früher das Meer. Das kann man sich ganz und gar nicht vorstellen. Heute ist hier eine große Mauer. Die Küstenlinie hat sich bei dem Vulkanausbruch der Antike um einen Kilometer verschoben.

Herculaneum war anders als Pompeji: kleiner und ärmer vor allem. Hier wohnten vor allem Fischer, keine Kaufleute, es gibt keine Villen, keinen Luxus, weniger Betriebe und Werkstätten. Vor allem wurde Herculaneum anders (und auch einen Tag später) zerstört als Pompeji, nämlich durch eine Schlammlawine.

Man geht in Ruhe, völlig ungestört, die ganz regelmäßig angelegten, etwas abschüssigen Straßen entlang und sieht sich die Häuser an, die am Wege liegen. Die Häuser haben Namen, die nicht historisch sind, sondern sich auf die Grabungsgeschichte beziehen, z.B. Casa del Squeletto nach einem Skelett, das dort gefunden wurde. Die Casa del Albergo galt lange als eine Herberge, wegen der vielen Parzellen, in die sie eingeteilt ist. Tatsächlich handelte es sich aber um eine Umbaumaßnahme: Nach dem vorherigen Erdbeben, dem von 62, wurde ein Einfamilienhaus zu einem Mietshaus umgebaut. Der Umbau war noch im Gange, als der Vulkan ausbrach.

Leider sind viele der Häuser gesperrt, und man kann nur von außen hineinsehen. Das ist anders bei dem Collegio degli Augustali, einem Versammlungsraum der Priester, die hier einen Augustus-Kult betrieben. Hier kann man hineingehen und die gut erhaltenen Fresken von nahe sehen. Nirgends fühlt man sich so in der Antike wie hier, in dem Raum mit seinen schwarzgerahmten, erdfarbenen Fresken. Man hat aber nicht das Gefühl, in einem zerstörten Haus zu sein, sondern in einem seit Jahrzehnten verlassenen.

Das Collegio degli Augustali liegt an einer Straßenecke, am hinteren Ende des Ausgrabungsgeländes. Wenn man hier um die Ecke biegt, kommt man auf eine Straße, die irgendwie anders aussieht, breiter, mit höheren Häusern. Das ist der Decumanus Maximus. Aber was macht der hier, am äußersten Rande der Stadt? Ganz einfach: Es ist nicht der äußerste Rand der (antiken) Stadt. Es ist das Zentrum. Die andere Hälfte liegt noch unter der modernen Stadt verborgen, ist noch nicht ausgegraben worden.

Nach einiger Suche finde ich endlich verkohlte Teile, zuerst einen verkohlten Türpfosten, dann ein paar nicht identifizierbare Objekte in einem schmutzigen Schaukasten und dann ein paar Treppenstufen, die zwar verkohlt, aber perfekt erhalten sind. Wie muss man sich das vorstellen? Vielleicht war es so, dass die Glut die Objekte angegriffen hat, aber dann ihr Werk nicht vollenden konnte, was alles unter der Schlammlawine begraben wurde.

An einigen Fenstergittern sieht man tatsächlich Reste von Schlamm. Er ist hart wie Beton. Hier überhaupt etwas auszugraben muss Schwerstarbeit gewesen sein.

In einem Haus ohne Hauswand steht eine Steinbank, in die verschiedene tiefe Löcher eingelassen sind. Auch anderswo sehe ich so etwas nochmal. Ich dachte an eine Töpferwerkstatt, aber es ist eine Küche, ein Garküche, eine Art Schnellimbiss. In den Löchern wurden die Speisen warm gehalten.

In einem verschlossenen Haus sieht man hinter dem Fenster eine ganze Reihe von spitz zulaufenden, großen Amphoren stehen, hintereinander gestaffelt, schräg an die Wand angelehnt. Die waren für den Wein da. Das Haus war eine Kneipe. Man hat fast den Eindruck, der Wirt würde gleich wiederkommen.

Neben den Malereien gibt es auch einige schöne Mosaike. Die befinden sich in der Regel hinten im Haus, in einem Raum ohne Dach, in dem im Sommer gespeist wurde.

Irgendwo soll es hier auch ein Lupanar geben, ein Bordell, aber ich kann es nicht finden. In Pompeji gab es wohl mehr, wegen der Vielzahl der auswärtigen Besucher. Die Prostituierten bezeichnete man als lupae, ‚Wölfinnen‘. Und das wirft ein ganz anderes Bild auf den Gründungsmythos von Rom. Romulus und Remus wurden von einer Wölfin aufgezogen!

Über eine Treppe gelangt man dann noch in einem tiefer gelegenen Teil der Stadt, zu einer größeren Plattform, die ehemals aufs Meer hinausging. Dort steht eine Reiterstatue mit zwei Putten, die eine nach unten gerichtete Kerze in der Hand halten, ein Zeichen von Trauer. Hier befand sich das Grabmal für Nonius Balbus, den prominentesten Bewohner von Herculaneum.

Zum Schluss kommt noch eine Enttäuschung. Der Padiglione della Barca ist geschlossen, ohne Angabe von Gründen. Schade. Hier werden die Reste eines verkohlten Holzschiffes präsentiert, das man kopfüber am ehemaligen Strand von Herculaneum gefunden hat.

Von Herculaneum geht es, gerade als die ersten großen Besuchergruppen eintreffen, schnurstracks nach Ercolano. Das ist eine lebendige Stadt mit lautem Verkehr, hier spielt im täglichen Leben Herculaneum keine Rolle. Es geht, dem Gefühl nach, die Straße rauf, und dann kommt man irgendwann zum Bahnhof der Circumvesuviana. Von dort fahren die Busse zum Vesuv ab. Es wird abkassiert:
10 € für den Bus, 10 € für den Eintritt, 10,20 € für ein Sandwich mit einem Glass Wasser!

Die Fahrt dauert ihre Zeit. Ercolano liegt zwar am Fuße des Vesuvs, aber doch nicht so nah dran. Auch daran kann man die Wucht der Eruption ablesen, dass sie eine so „weit“ weggelegene Stadt völlig zerstört hat. Heute gibt es noch eine ganze Reihe von Siedlungen, Villen, Dörfern, die noch viel näher am Vulkan liegen. Die müssen wir erst passieren, bevor es dann in den Naturpark geht, wo keine Häuser mehr stehen. Erst ist dichter Wald neben uns. Erst ganz zum Schluss wird es kahler. An einigen Stellen kann man zwischen den Bäumen Vulkanasche und Lava sehen. Die stammen vom letzten Ausbruch, 1944.

Auf der anderen Seite eröffnet sich uns eine phantastische Aussicht auf die Bucht von Neapel, besser als die, die wir oben bekommen, denn da ist es, wie oft in dieser Gegend, irgendwie diesig, und das, obwohl kaum eine Wolke am Himmel ist. Man sieht das Meer, die Inseln und die weite, weite Ebene, in der sich Neapel ausbreitet, bis zum Horizont.

Oben geht es zu Fuß weiter, über einen grauen Weg. Jacke und Wanderschuhe wären nicht nötig gewesen. Nach gut zwanzig Minuten kommt man an den Krater. Das ist mäßig interessant, aber nicht aufregend. Der Vulkan sieht friedlich aus. Man kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er noch einmal ausbricht. Im Krater grau-weißer Stein, eine graue Schneise, wie eine Skipiste aussehend, gräuliche Felsbrocken, ganz oben Moos auf den Felsen.

Die Zeit bis zur Rückfahrt ist genau richtig bemessen. Man kann sich in Ruhe umsehen, aber mehr gibt es hier auch nicht zu tun. Man kann den gesamten Krater nur mit Sondergenehmigung umwandern, wir kommen etwa ein Drittel herum, aber auch das machen die meisten gar nicht ganz mit. Man fragt sich, was eigentlich auf der anderen Seite des Vulkans ist, der Ostseite. Die wird von Touristen wohl nur wenig besucht. Es sieht auch so aus, als seien die Orte auf der Ostseite nie vom Vesuv zerstört worden. Warum, weiß ich nicht.

Von Ercolano aus fahre ich mit der Circumvesuviana, einer S-Bahn, nach Torre Annunziata. Was es hier zu besichtigen gibt, vom Reiseführer wärmstens empfohlen, ist die Villa Oplontis. Sie wird auch manchmal Villa di Poppea genannt, nach der  zweiten Ehefrau Neros, der sie gehört haben soll. Der Ort Oplontis ist nur von der mittelalterlichen Kopie einer antiken Straßenkarte bekannt, auf der Wege, aber auch monumentale Gebäude verzeichnet sind. In dieser Straßenkarte taucht Oplontis mit seiner Villa auf, nicht aber Pompeji!

Die Villa Oplontis wurde auch bei dem Vesuvausbruch verschüttet. Nur der ausgedehnte Wohntrakt wurde ausgegraben. Wie die Villen von Herculaneum öffnete sich die Villa Oplontis mit Balustraden zum Meer hin. Dieser Blick ist leider Gottes verloren gegangen.

Die Villa ist wie ein Labyrinth, in dem man sich verlieren kann. Immer wieder stoße ich auf ein Paar, ein Italiener mit einer fließend Italienisch sprechenden Ausländerin, vermutlich einer Deutschen, die vor Entzücken kreischt und ihren Mann herbeiruft, wenn sie mal wieder etwas entdeckt hat, vor allem ein Detail in der Wandmalerei.

Die kann man teils sehr gut sehen, vor allem in den Fluren, wo man unmittelbar davor steht. Dabei entdeckt man ganz fein ausgemalte Stillleben, auf rotem Grund, etwa das von einem Vogel, der an einer Frucht herumpickt, während er zwei andere liegen lässt.

Wichtiger sind aber die Wandmalereien in den Salons, vor allem im ersten, und die kann man nicht ganz so gut sehen, weil man den Salon nicht betreten darf. Hier wird der ohnehin große Raum durch illusionistische Architektur an den Wänden optisch erweitert, durch Treppenstufen, Türen, Säulen. Alles ist mit Liebe zum Detail ausgemalt. Die Türen haben metallische Beschläge, auf den Treppenstufen steht eine Fackel. Alles ist in leuchtenden Farben erhalten.

Neben der Malerei ist auch die technische Ausstattung, die man zumindest erahnen kann, beeindruckend. Es gibt Bäder, eine Latrine (deren Funktionsweise mir verborgen bleibt, obwohl man eine ganze Reihe von architektonischen Details sieht), einen Säulenhof und ein Wasserbecken olympischen Ausmaßes (61 x 17). Eine der technischen Leistungen besteht darin, dass das Schwimmbad eine leichte Neigung nach Süden hin aufweist, die den Abfluss des Wassers erlaubt!

Nach der Besichtigung muss ich von diesem Torre Annunziata in das andere Torre Annunziata. Denn nur von dort fährt die reguläre Eisenbahn. Von hier aus nur die Circumvesuviana. Das hatte ich nicht auf der Rechnung. Unendlich lange zieht sich die schattenlose, öde Landstraße hin. Am Ende komme ich, mit Blasen an den Füßen, ausgelaugt, verschwitzt, in das andere Torre Annunziata, aber da sind keine Hinweisschilder auf den Bahnhof. Und der Ort ist wie ausgestorben. Schließlich treffe ich auf eine Frau mit Kinderwagen. Die will mich nach Pompeji schicken, oder zurück in das andere Torre Annunziata. Glücklicherweise mischt sich im letzten Moment ein Mann in das Gespräch ein. Der Bahnhof ist gleich um die Ecke!

Allerdings fährt vorläufig kein Zug nach Salerno. Die Wartezeit verbringe ich in dem schattigem Hof des Bahnhofcafés, mit Kaffee, Wasser und einem warmem Teilchen, alles für 2,50! An einem langen Tisch sitzen junge Italiener, neun an der Zahl, lauter Männer. Fast alle tragen einen Bart, mehrere eine Brille mit einem auffälligen dunklen Gestell. Sie spielen etwas. Erst werden Zahlen, dann werden Namen aufgerufen. Jemand hat ein Smartphone, ein anderer eine Liste. Hört sich wie eine Versteigerung an. Es geht äußerst diszipliniert zu, ruhig, und trotzdem engagiert. Hin und wieder wird nachgefragt, die Frage wird in Ruhe beantwortet, und weiter geht’s. Ich kann sie ungeniert beobachten, denn sie beachten mich nicht. Ob sie glücklich sind? Ob sie sich die Frage stellen? Im Moment scheinen sie jedenfalls ganz in der Gemeinschaft und in dem Spiel aufzugehen.

Am Nachbartisch sitzen zwei Italiener, jeder mit Smartphone beschäftigt. Sie richten kein Wort aneinander. An einem anderen Tisch sitzen zwei Männer, die sich ruhig unterhalten. Keine theatralischen Gesten, kein Geschrei, kein Getue, kein Unterbrechen. Die ganze Szene hat nichts, aber auch gar nicht gemeinsam mit dem stereotypen Vorstellungen von Italienern, wie sie im Unterricht ständig vorgeführt werden.

Zeit für den Zug nach Salerno. Der ist wieder pünktlich, schnell und sauber. Im Zug habe ich Gelegenheit, noch etwas über die Wandmalereien der Villa Opltonis zu lesen.

Die Malerei der Villa Oplontis gehört zum zweiten (von vier) Stilstufen der römisch-pompejanischen Malerei. Die vier Stilstufen entwickelten sich über einen Zeitraum von ca. 250 Jahren, bis zur Zerstörung von Pompeji. Auf allen vier Stufen wird Architektur imitiert, aber diese Architektur befindet sich in fortschreitender Auflösung, auch für den Laien gut zu erkennen. Der erste Stil ist realitätsnah, der zweite ist illusionistischer, ist perspektivisch arrangiert, ohne reale Architektur zum Vorbild zu haben, der dritte steigert die Illusion durch Durchblicke auf Häuser, Gärten und Meer, wirkt zerbrechlich, im vierten Stil ist die architektonische Struktur bis zur Ornamenthaftigkeit aufgelöst. Ähnliche Entwicklungen hat es in der Geschichte der Kunst vermutlich immer wieder gegeben. Und vielleicht lässt sich das sogar auf andere Disziplinen übertragen.

Interessant ist auch die Polemik Vitruvs gegen die Wandmalerei und ihren illusionistischen Charakter: „Das alles existiert nicht, kann nicht existieren und hat niemals existiert“. Das kommt einem nicht unbekannt vor.

In Salerno versuche ich, Briefmarken zu kaufen. Bei drei Tabakhändlern versuche ich es vergeblich. Gibt es einen Engpass? Eine Verkäuferin deutet an, dass die Post das Geschäft nicht mehr mitmacht. Beim vierten Tabakhändler habe ich aber Erfolg. Die Briefmarken sind unverhältnismäßig groß und unverhältnismäßig teuer.

Die Besitzer (oder Angestellten) von der Pizzeria gleich gegenüber der Wohnung sitzen jeden Nachmittag vor den offenen Türen des noch geschlossenen Lokals und unterhalten sich. Ob sie sich langweilen? Ob sie sich manchmal fragen, ob es noch was anderes im Leben gibt? Oder genießen sie das? Oder bilden sie sich ein, dass sie das genießen?

4. September (Sonntag)

Capri ist eine schöne Insel, aber doch nicht so schön, um all die Schwärmerei und die Bezeichnung „Perle des Mittelmeers“ zu rechtfertigen. Von verschiedenen Stellen aus hat man Aussichten, die an Schönheit kaum zu übertreffen sind, aber die wiederholen sich: Steilküste, Felsen, blaues Meer, weiße Schiffe. Das ist ein bisschen Postkartenmotiv.

Komischerweise hat Capri die Reisenden des 18. Jahrhunderts kalt gelassen. Für Goethe war es nur ein Gefahrenherd, eine Felseninsel, auf die man auflaufen konnte. Erst mit der „Entdeckung“ der Blauen Grotte durch den Erfinder der Heinzelmännchen, August Kopisch, kam Capri wieder ins Visier der Reisenden, und mit den „Capri-Fischern“ ging es dann in der Nachkriegszeit so richtig los.

In den Reiseführern steht, ein Berg teile die Insel in zwei Teile. Vom Schiff sieht es so aus, als teile eine Ebene zwischen zwei Bergen die Insel in zwei Teile. In der Ebene bewohnte Orte, auf den Bergen, meist ganz oben auf der Felskante, das eine oder andere Haus, eher Villen als Wohnhäuser. Vom Schiff aus sind unten die Marina Grande, der Hafen, und oben Capri, die Stadt, zu sehen.

Schon bei der Ankunft an dem Kai der Marina Grande wird mir ganz anders. Es ist so voll, dass kaum ein Durchkommen ist. Wir, die Touristen, sind offensichtlich alle zur gleichen Zeit, um 10 Uhr, aus allen möglichen Richtungen eingetroffen, und zwar mit Fähren und mit Kreuzfahrtschiffen.

Dem Rat einer Italienkennerin folgend, kaufe ich sofort unten an der Marina mehrere Fahrkarten. Die gelten für Bus, Standseilbahn und Seilbahn. Es soll auf direktem Weg nach Anacapri gehen. Aber die Schlange an der Bushaltestelle ist so lang, dass ich bald aufgebe.

Also beschließe ich, nach Capri zu fahren. Dahin führt die Standseilbahn. Aber da ist die Schlange noch länger. Also zu Fuß. Das ist keine schlechte Idee. Es gibt einen schmalen, asphaltierten Weg mit einer Mauer zu beiden Seiten, aber der Aufstieg ist sehr beschwerlich. Der Weg ist steil, die Hitze groß. Als ich oben ankomme, bin ich zum ersten Mal am heutigen Tag verschwitzt und außer Atem.

Warum liegt Capri so hoch? Aus Verteidigungsgründen, das leuchtet ein. Aber gegen wen musste man sich verteidigen? Gegen Feinde von außen, ja, auch, aber in erster Linie gegen den „Feind“ von innen: Anacapri. Die beiden Orte verbindet seit jeher eine große Aversion. Bis heute gibt es keine gemeinsame Verwaltung, es handelt sich um zwei völlig getrennte Gemeinden, und das Tor, das nach Anacapri führt, hat den bezeichnenden Namen Porta della Discordia. Anacapri gilt als die mittellose, eher bäuerliche Schwester des reichen, mondänen Capris.

Capri ist eigentlich kein Ziel des Massentourismus, sondern des Tourismus der Elite. Die zieht sich aber in den Sommermonaten angesichts des Ansturms der Tagestouristen zurück. Hinterlässt aber ihr Erbe in Form der Preise. Die sind nicht einfach hoch, sondern schlichtweg unverschämt. Ich verweigere mich dem, soweit ich kann und konsumiere nur einen Eistee für 4,50 € und zwei Flaschen Wasser.

Auf dem schmucken, kleinen Platz in Capri, der piazetta, sind die Cafés schon vollbesetzt. Stofftischdecken, uniformierte Kellner und Speisekarten ohne Preise.

Hier fällt die Orientierung noch schwer, es geht in verschiedene Richtungen rauf und runter, aber bald bin ich auf dem richtigen Weg zum Arco Naturale. Das ist einer der empfohlenen Wanderwege. Vom Arco Naturale aus kann man gleich noch andere Ziele ansteuern. Schöne Keramikschilder weisen den Weg.

Es wird immer einsamer, je weiter es geht, und als ich am Arco Naturale ankomme, bin ich ganz alleine. Auf Capri, in der Hochsaison. Allerdings gibt es zwei Enttäuschungen, nachdem man einen Moment das Postkartenmotiv mit dem tief unter einem liegenden Meer genossen hat: Der Arco Naturale, ein Felsen, der tatsächlich einen natürlichen Bogen bildet, ist eingerüstet –  irgendwie paradox, ein Naturwunder bedarf des Eingriffs des Menschen – und der Weg ist gesperrt. Hier ist Schluss.

Es geht zurück und dann zur Villa Jovis. Zum dritten Mal geht es heute bergauf. Und wie. Aber auch hier ist man weit von der Menschenmenge entfernt, auch wenn es nicht ganz so einsam ist wie am Arco Naturale.

Immer wieder glaubt man, endlich da zu sein, aber dann kommt doch eine Wegbiegung und es geht noch ein bisschen weiter bergauf. Zum Capri der Antike. Bevor es jahrhundertelang vergessen war, war Capri nämlich schon einmal ganz bedeutend. Es war nichts weniger als der Sitz des römischen Kaisers, zehn Jahre lang, die letzten Regierungsjahre von Tiberius.

Dabei war Tiberius selbst gar nicht der Entdecker Capris. Das war Augustus, der ganz zufällig, hier Station machte nach der Rückkehr von der bedeutenden Seeschlacht gegen Mark Anton. Er zog sich später immer mal wieder nach Capri zurück, und er ist der eigentliche Erbauer des Palastes.

Dessen Palast steht hier ganz oben, an der äußersten Spitze der Insel, auf dem höchst gelegenen Felsen dieses Teils der Insel. Es sind beträchtliche Rest da, aber man kann sich kaum vorstellen, dass hier mal ein luxuriös ausgestatteter Palast stand. Aber so war es. Was aber heute noch beeindruckt, ist die Ingenieurskunst, einen großräumigen Palast an diese ungeeignete Stelle zu setzen. Planierungen, Terrassierungen, Stützmauern ermöglichten die Errichtung dieses gigantischen Bauwerks. Zu den  wichtigen Details gehört auch eine riesige Zisterne, fast im Zentrum der Anlage, eine wichtige Einrichtung in dem grundwasserlosen Capri.

Von hier oben sieht man mehrere Felsvorsprünge, die Kandidaten für den Salto de Tiberio sind. Das ist der Felsen, direkt über dem Meer, von dem aus Tiberius ungeliebte Mitmenschen persönlich heruntergestoßen und ins Jenseits befördert haben soll. Keiner der Felsen ist aber als solcher bezeichnet. Zurecht. Denn es handelt sich ziemlich sicher um ein Gerücht. Tiberius hatte in Rom eine schlechte Presse, schon zu Lebzeiten, später noch schlechter, und es wurden ihm allerlei böse Motive für den Wechsel von Rom nach Capri unterstellt. „Kein Bock zum Regieren“ ist noch die mildeste davon. Aber Capri war gar nicht so schlecht zum Regieren. Die römische Flotte lag ganz in der Nähe, in XXX, und die Getreidelieferungen aus Ägypten kamen hier an. Tiberius selbst soll oft genau nachgeprüft haben, ob hier alles mit rechten Dingen zuging und Maßnahmen gegen betrügerische Verwalter ergriffen haben. Er hinterließ sein Reich in einem guten Zustand, sagt man, und mit vollen Kassen. Aber in Rom wurde das natürlich nicht so gesehen. Hier unterstellte man dem Kaiser, sich hierher wegen seiner Lustbarkeiten zurückgezogen zu haben. Wilde Orgien seien hier, versteckt von der Öffentlichkeit, gefeiert worden.

Diesen „Ruhm“ machten sich die Künstler und Adeligen der Neuzeit zu eigen, um ihre eigenen Ausschweifungen zu rechtfertigen. Sie sahen sich in der Nachfolge der Antike und der römischen Kaiser und ließen sich Villen bauen, die denen der Antike nachempfunden waren. Die emblematischste dieser Villen ist die Villa San Michele in Anacapri, erbaut von dem schwedischen Modearzt Axel Munthe. Er baute auf den Fundamenten eines römischen Palastes – davon soll es auf Capri zwölf gegeben haben, eine für jeden Monat des Jahres – ebenfalls auf einem exponierten Hanggrundstück. Bei dem Bau des Domizils galt das Motto „Licht, Licht, Licht“. Ironischerweise wurde Munthe im Laufe der Jahre immer lichtempfindlicher und erblindete fast. Er konnte das Haus nicht mehr bewohnen und baute sich ein zweites Domizil, wo er ein Buch über die Villa Michele schrieb, das ihn weltberühmt machte. Aber das mit der Erblindung ist nur eine Version der Geschichte.

Die zweite hat mit einer weiteren Villa zu tun. Ich wollte eigentlich auch dahin wandern, aber ich schaffe es nicht mehr. Ich schaffe es nicht einmal, von irgendwo her einen Blick auf sie zu werfen, obwohl sie auch ganz oben an einer exponierten Stelle liegt. Das ist Malapartes Casa come me. Malaparte, der Paradiesvogel, mit ständig wechselnden, aber immer radikalen politischen Entscheidungen, sah selbst seine Villa als sein größtes Werk an. Sie hat einen markanten Treppenaufgang, der auf das Dach führt und ist in markantem Rot gehalten, das sich von dem grauen Felsen absetzt. In seinem Roman Die Haut erzählt Malaparte von einer Begegnung mit Rommel. Der war ihm von Muthe anvertraut worden. Als Rommel ihn fragte, ob er die Villa gekauft oder selbst geplant habe, sagte Malaparte, nicht wahrheitsgemäß, er habe sie fertig gekauft. Und zeigte dann mit einer weiten Geste in die Gegend und sagte: „Ich habe die Landschaft entworfen.“

Des Weiteren erzählt Malaparte in dem Buch, Munthe habe ihn gebeten, ihn nach Schweden zu begleiten. Er wolle sich von Capri endgültig zurückziehen. Um Malaparte zu erweichen, sagte er, er sei schließlich blind und könne nicht alleine reisen. Malaparte sagt, er habe gewusst, dass Munthe, trotz seiner schwarzen Brille, nicht blind war. Die Blindheit sei nur ein wohlberechnete Erfindung gewesen, ein Marketingtrick, um die Leser für sein Buch empfänglicher zu machen. Er hätte sehr gut sehen können, wenn es darauf ankam.

Als ich wieder in Capri bin, inzwischen mit Blasen an den Füßen, nehme ich doch noch einen Bus, und zwar zur Marina Piccola, aber nur, um sofort wieder zurückzukehren und die schreckliche Rückfahrt in dem stickigen Bus, an dem man kaum ein Bein auf den Boden bekommt, schnell hinter mich zu bringen.

Wieder in Capri, folge ich noch den Schildern zu den Giardini di Augusto, einer terrassierten Anlage mit wiederum spektakulären Ausblicken. Die Gärten sind mir ein bisschen zu proper. Sie gehörten früher zum Besitz von Friedrich Alfred Krupp, dem Capri-Enthusiasten, der sich hier eine Villa baute und, so wird und wurde kolportiert, sich seinen homosexuellen Eskapaden widmete. Er setzte den Bau einer wunderbaren, aber völlig nutzlosen Straße von Marina Piccola nach Capri durch. In kühnen Windungen führt sie zur Villa Krupp rauf. Von hier aus, von den Gärten, hat man einen tollen Blick auf die Serpentinen, die durch den braunen Fels laufen.

Im Garten der Villa Krupp, heute ein Hotel für die Betuchten, steht das Denkmal eines Mannes, den man hier am wenigsten erwarten würde: Lenin. Der hielt sich mehrmals, ganz Proletarier, als Gast von Gorki in Capri auf und wohnte in der Villa Krupp.

Capri hat viele Geschichten zu erzählen. Und ist für mich passende Gelegenheit, ein italienisches Wort nachzuschlagen: buggeratura. Das bedeutet ‚Nepp‘. Am Ende werde ich dafür belohnt, dass ich den ganzen Tag über widerstanden habe und in keins der teuren Lokale gegangen bin. Ich einer Salumeria bekomme ich ein Stück monacone, ein capresisches Gericht, benannt nach einem der Felsen der Insel. Es ist eine Art Auflaufgericht, in Blätterteig, mit Auberginen und anderen Gemüsen, mit Ei und Käse. Schmeckt phantastisch.

Auf dem Weg nach unten komme ich dann noch an einem Einfamilienhaus vorbei mit einem Keramikschild, auf dem steht: „Attenzione al cane … e al padrone.“ Mit zwei Bildern: einem Hund und einer Pistole.

Unten sehe ich an einer Apotheke, dass in Italien das englische Pendant zu farmacia immer noch chemist’s ist, das in England immer mehr verschwindet und in den USA kaum noch vorkommt.

Auf der Rückfahrt treffe ich auf der Fähre wieder auf Jerome, den Holländer aus der Schule. Es sieht aus die aus dem Ei gepellt. Ich sehe dagegen so heruntergekommen aus, dass selbst die Marktschreier vor den Restaurants der Marina Grande mich in Ruhe gelassen habe. Er erzählt, er sei in der Blauen Grotte gewesen, eine völlig überflüssige Aktion, mit langen Wartezeiten, dreifachem Abkassieren und sehr kurzem Aufenthalt in der Grotte.

5. September (Montag)

Im Unterricht gibt es ausnahmsweise mal einen guten Text. Ein italienischer Linguist hat Text von Schülern aus einem Dorf in Kampanien gesammelt und unverändert herausgegeben. Toll, wie unverfälscht, oft unfreiwillig komisch, sie ihre Welt beschreiben.

Andrea, die Rumänin aus Luxemburg erzählt, anders als die meisten, ganz begeistert von Neapel. Vor allem die Fahrt zum Castello hoch habe ihr gut gefallen. Sie hat auch einen besonderen Kaffee probiert: Caffè Spaccanapoli.

Immer noch nicht probiert habe ich die Pizza fritta, die arme Schwester der Backofenpizza, offensichtlich eine Erfindung der Nachkriegszeit, als es an Holz für den Ofen mangelte und auch an Ingredienzien für die Pizza, auf die hier wohl verzichtet wird.

Oft sieht man auch ein Schild, das cuoppo bewirbt. Lange weiß ich gar nicht, was das ist, dann lese ich es irgendwo, und dann sehe ich auch ganz in der Nähe des Apartments, in der Via Mercanti, eine Cuopperia. Ein cuoppo ist eine mit frittierten Fischen gefüllte Tüte, wohl so etwas wie das neapolitanische Fish & Chips.

Auf einer Karte entdecke ich zufällig, dass Eboli ganz hier in der Nähe ist, das Eboli von Levis Cristo si è fermato a Eboli. Das Buch spielt allerdings in der Basilicata, nicht in Kampanien. Bis Eboli war die Zivilisation ja noch gekommen.

6. September (Dienstag)

Der Schweizer Mitbewohner erzählt, dass sie gestern hier ins Stadion gegangen sind, US Salernitana gegen Hellas Verona. Auf dem Hinweg hätten sie eine halbe Stunde auf das Taxi warten müssen und auf dem Rückweg erfahren, dass aus Sicherheitsgründen alle Busse und Taxen ihren Dienst einstellen mussten. Sie haben zwei Stunden für den Rückweg gebraucht. Das Stadion ist da, wo ich so lange nach dem Museo dello Sbarco gesucht habe.

Manja, die Berlinerin, erzählt im Unterricht, sie habe kaum ein Auge zugemacht, wegen des Windes. Die junge Spanierin sagt, der Wind habe immer wieder ihre Türe zugeschlagen, aber sie sei zu faul gewesen, aufzustehen. Da habe ich mit meinem Zimmer Glück gehabt. Das geht auf den Innenhof hinaus. Und das Fenster war geschlossen. Es ist nicht mehr so heiß wie vorher.

Castel Nuovo, Castel Sant‘Elmo, Castel dell’Ovo, Castel Capuano, (und das nicht mehr existierende Castello del Carmine), warum gibt es in Neapel so viele Kastelle? Das liegt an den wechselnden Fremdherrschaften. Immer wieder neue Verteidigungsmodelle an immer wieder neuen Orten waren gefragt. Die Kastelle stammen von den Normannen, von den Anjou, von den Aragonesen. Die Konzentration auf die Festungsbauten hat dazu geführt, dass sich in Neapel kein eigentliches innerstädtisches Zentrum herausgebildet hat. Das spürt man auch heute als Tourist noch.

Vom Bahnhof fahre ich mit der Metro nach Montesanto, aber die Metro (die Linie 2) ist gar keine Metro, sondern ein Vorortzug. In Montesanto geht es mit der Standseilbahn auf den Vomero rauf. Hier oben erwartet einen ein großbürgerliches Viertel.

In einem Schnellimbiss bekomme ich was für den schnellen Hunger auf die Hand, eine Art Spaghetti-Torte, wie ein Auflauf, der mit Speck und kleingeschnittenen Spaghetti gefüllt ist.

Danach erreicht man bald das Castel San Elmo. Es scheint von vorne spitz zuzulaufen, ist aber wohl tatsächlich die Form eines sechsstrahligen Sterns. Von hier aus sieht man die mächtige Umfassung und die abgeschrägten Stützmauern, ein Kastell, das uneinnehmbar scheint.

Gleich darunter Kartause, die Certosa e San Martino. Von der Aussichtsterrasse gleich vor der Kartause hat man einen eindrucksvollen Blick in die Ferne, mit Vesuv und Neapel. Die meisten Häuser sind in Weiß und Gelb gehalten und zwar hoch, aber keine Hochhäuser oder gar Wolkenkratzer.

In der Kartause selbst gibt es dann noch eine zweite Aussichtsterrasse. Von hier aus hat man einen ähnlich spektakulären Blick aufs Meer mit Capri und Ischia.

In der Kartause ist man gewohnt unfreundlich. Dazu ist es teuer. Dafür aber schlecht beschildert. Ausgerechnet die Veduten von Neapel, um die es mir ging, finde ich nicht. Dafür gibt es Karossen, Schiffe, Sänften, alles repräsentativ und prachtvoll.

Die ganze Anlage ist ein barockes Gesamtkunstwerk, mit Kirche, Kreuzgang, Gärten, Innenhof, Mönchszellen. Von der ursprünglich mittelalterlichen Anlage ist praktisch nichts mehr zu sehen.

Viel Wert wird auf die Gärten und deren Pflanzen gelegt. Sie verweisen einmal auf den Hl. Bruno und seine kleine Einsiedlergemeinschaft, andererseits stellen sie das materielle Gegenbild zur spirituellen Welt dar. Alle Pflanzen, heißt es, seien nur einmal vertreten, und jede hätte ihre eigene Symbolik, aber was das genau ist, erfährt man nicht, und die Gärten sehen auch nicht so verlockend aus.

Enttäuscht mache ich mich auf den Weg nach unten, in die Innenstadt, über einen ruhigen, abgeschiedenen Fußweg mit breiten, flachen Treppen. Dann kommt man plötzlich auf den Corso, der den Vomero ziemlich brutal von der Altstadt abschneidet. Es geht ein ganzes Stück den Corso Vittorio Emmanuele entlang, der eher wie eine Landstraße wirkt und dann ist man plötzlich in einem Altstadtviertel mit kleinen Gassen und dann plötzlich mitten im modernen Großstadtgetriebe auf der Piazza del Plebiscito. Dieser Spaziergang mit der wechselnden Atmosphäre in den abrupt ineinander übergehenden Stadtteilen bleibt als eine der typischen Erscheinungen von Neapel in Erinnerung.

Unterwegs kommt mir eine kleine Frau mit Stock und riesigen Zahnlücken entgegen, die mir den Weg weist und Buona vacanza!

Kurz darauf, auf dem Corso, kommt durch eine Häuserlücke auf der anderen Straßenseite eine merkwürdige Kirche vor einer Felswand und hinter schmutzigen Straßenschildern zum Vorschein, wie ein Genregemälde.

Im Altstadtviertel dann ein weiteres Photomotiv: Das Neonschild einer Trattoria, der Trattoria Zia Rosi, mit Angabe von Namen, Telefonnummer, typischen Gerichten usw. hängt auf dem Kopf.

Die weitläufige, eigentlich etwas zu große Piazza del Plebiscito (bis vor wenigen Jahren noch ein Parkplatz) ist der größte und repräsentativste Platz Neapels. An der Stirnseite die Basilika San Francesco di Paola und gegenüber der Palazzo Reale, an den anderen Seiten weitere Paläste. Die Basilika erinnert an das Pantheon, und auch bei den Kolonnaden hat Rom Pate gestanden. Man kommt sich vor wie auf dem Petersplatz. Die Säulenhallen, die auf die überkuppelte Kirche zulaufen, ist die ins Große übertragene Version der Villen Palladios. Wo in Rom Brunnen stehen, an den Schnittpunkten der Ellipse, stehen hier zwei Reiterstandbilder, die aber den großen Platz nicht ausfüllen können.

Mangels Bänken setze ich mich auf die Betonumfassung eines Baums am Rande des Platzes und versuche mich zu orientieren. Ich frage eine Frau, ob die Kuppel, auf die man ganz in der Nähe sieht, die des Doms sei. Sie sagt nein und wendet sich ab. Dann wendet sie sich wieder zu mir und erklärt mir, dass das die Galleria sei. Das ist die Galleria Umberto I. Nix wie hin.

Da glaubt man, in Mailand zu sein. Auch hier ein Dach aus ornamentiertem Glas, durch das das Licht nach unten dringt, auch hier vier Achsen, auch hier eine Kuppel über dem Schnittpunkt der vier Achsen. Während ich von Mailand aber nur exquisite Modegeschäfte und ein paar elitäre Cafés in Erinnerung habe, gibt es hier ganz volkstümliche Cafés und Bars und ein paar ganz unscheinbare Läden. In einem kaufe ich zu einem Schleuderpreis einen Notizblock, der den alten ersetzt, den ich durch die Waschmaschine gejagt habe.

Von hier aus sind es nur wenige Minuten bis zum Castel Nuovo, einem der Wahrzeichen Neapels. Hat für mich aber keinen Wiedererkennungswert. Taugt aber sehr als Wahrzeichen aufgrund seiner ganz auffälligen Form. Die verdankt sich vor allem den Rundtürmen. Die sind so dick, dass man nicht den Eindruck hat, sie wären die Ausläufer der Fassade, sondern sie wären die eigentliche Fassade und die Mauer nur so dazwischen geklemmt. Das wird noch dadurch verstärkt, dass an der Frontseite gleich drei dieser Rundtürme stehen.

Über eine Zugbrücke nähert man sich der Fassade. Ein spanisches Ehepaar steht davor und versucht, die Inschrift zu entziffern: „Hat das denn mal zu Spanien gehört?“ Ich reiße mich zusammen und halte den Mund. Ja, das hat mal zu Spanien gehört.

Auf den eisernen Türen des Triumphtors, das in die Burg führt, sind Reliefs zu sehen, die, wenn ich das richtig verstehe, den Kampf um Troja darstellen, aber die Kämpfer sehen aus wie mittelalterliche Ritter und sitzen auf Pferden. Darüber ein Relieffries aus weißem Marmor, in dem detailreich der Einzug Alfonsos in Neapel dargestellt wird. Damit begann die Herrschaft des Hauses Aragon und die der spanischen Vizekönige. Alfons vereinigte die Königreiche Neapel und Sizilien in ein neues Reich. Immer wieder im Laufe der Geschichte wurde Sizilien mit Unteritalien vereinigt und dann wieder abgetrennt. Aber Neapel, also ganz Unteritalien, bliebt spanisch, auch unter den Bourbonen, bis zu Napoleon.

Der bedeutendste der spanischen Vizekönige war Pedro de Toledo. Nach ihm ist die Via Toledo benannt, die eigentliche Hauptstraße Neapels, die sich in ziemlich geradem Verlauf von der Piazza del Plebiscito im Süden bis zur Piazza Dante im Norden erstreckt. Eine Fußgängerstraße mit edlen Geschäften. Da gehe ich bis zur Metrostation Toledo entlang, und wo da geht es wieder zurück zum Bahnhof.

Wieder in Salerno kaufe ich in einer in einem historischen Gebäude untergebrachten Apotheke Blasenpflaster. Es ist genau das, es bei uns in Drogeriemärkten gibt, ist aber viel teurer. Dabei ist es ein französisches Produkt, hergestellt von einem amerikanischen Pharmariesen.

Die Hosteria Il Brigante liegt versteckt in einer Seitenstraße oberhalb des Diözesanmuseums. Die würde man nicht finden, wenn man es nicht wüsste. Sie ist ein Tipp der Lehrerin. (Ich hatte vorher im Internet vergeblich unter Osteria gesucht). Ich bin zu früh. Geöffnet wird erst um halb neun.

Bei einem Spaziergang durch die Gegend höre ich, wie jemand Aspetta! ruft, und zwar mit neapolitanischen Aussprache: Aschpetta!. Davon hat Andrea heute in der Pause gesprochen. Im Rumänischen ist es ähnlich.

Ich entdecke einen kleinen, neu eröffneten, aber auf traditionell getrimmten Laden: La Bottega di Nonna Vanna. Draußen hängen Jutetaschen mit Aufschriften. Auf einer steht: „Vita orrenda, che mi piaci tanto.“ Auf einer anderen: L’uocchie so‘ peggio de scuppettate.“

Die Hosteria ist rustikal. Man sitzt an langen Holztischen, die Speisekarte ist handgeschrieben, die Pasta selbstgemacht, überall liegt etwas rum. Das Essen ist gut, aber der Service eine Katastrophe. Hier regiert die Unfreundlichkeit. Ich verlasse am Ende kopfschüttelnd das Lokal.

7. September (Mittwoch)

Im Unterricht wird ein Auszug aus einem Buch von Natalia Ginzburg gelesen. Außerdem gibt es eine Zusammenfassung von Lessico Familiare. Das hört sich sehr verlockend an.

Die Lehrerin empfiehlt auch Oriana Fallaci, trotz ihrer oft kontroversen Meinungen und der schonungslosen Art, mit der sie vorging bei ihren Recherchen und Interviews. Sie war eine Kennerin der arabischen Welt. Andrea hat als einzige ein Buch von ihr gelesen.

In der Pause frage ich die Taiwanesin, die sich mit Italien gut auskennt, wie ein Kaffee heißt, den an einem entfernten Tisch zwei Damen bestellt haben. Sie weiß es nicht, geht aber sofort dorthin und erfragt es. Als wir wieder in der Schule sind, haben wir das Wort aber schon wieder vergessen.

Die beiden Schokoladen-Hauptstädte Italiens sind Turin und Perugia. Andrea ist die einzige, die Baci Perugina kennt. Sie kennt sie schon aus Rumänien vor dem Mauerfall. Sie wurden von Ungarn über die Grenze geschmuggelt. Erst Jahre später hat sie entdeckt, dass sie baci heißen und italienisch sind.

Manja hat auch schon mal in Bologna einen Kurs gemacht. Sie glaubt aber, dass es nicht dieselbe Schule war wie meine. Dort hatte sie den Eindruck, dass man sich mehr um die Schüler kümmert und ein besseres Freizeitprogramm hat.

Neapel im Regen. Das trifft mich unvorbereitet. Und schlecht vorbereitet. Ich habe genau die Schuhe an, mit denen man auf den regennassen Steinen der Altstadt am besten ausrutscht.

Angesichts des Regens kann man aber auch das unterirdische Neapel besichtigen, in diesem Falle die Metrostationen. Einige Stationen sind von bekannten Künstlern gestaltet worden. In Toledo gibt es über der Rolltreppe ein Mosaik aus blauen und weißen Steinchen mit einem Krater in der Mitte, der ins Unendliche zu gehen scheint. In Dante gibt es in einem Geschoss Mosaike in knalligen Farben, die wie Pizzateige aussehen und rund oder oval aus der Wand heraustreten. Der komplette Kontrast dazu im nächsten Geschoss: Ganz in Graubraun sind einzelne Schienenstränge an der Wand angebracht, hinter denen Schuhe und andere Objekte, aber hauptsächlich Schuhe stecken. Die Schienen drücken die Schuhe an die Wand. In Garibaldi sind auf einer breiten Spiegelwand lebensgroße Photographien von Reisenden angebracht, wartenden und eilenden. Die vermischen sich in dem Spiegel mit den wirklichen Reisenden, die hier die Rolltreppe nehmen. Man kann nicht mehr unterscheiden, was wirklich und was nicht wirklich ist. Und man kann damit spielen, dass man sich selbst im Spiegel zusammen mit den unwirklichen Reisenden photographiert.

Der Regen  hat nicht nachgelassen, sondern zugenommen, und die Capella Sansevero ist auf der Piazza Dante nicht ausgeschildert. Zwei freundliche Männer vor einem Laden schicken mich durch ein Tor in die Altstadt, nicht ohne mich vorher zu warnen: Uhr abnehmen, auf Wertsachen aufpassen, Rucksack vor der Brust tragen. Mache ich alles.

Die kleine Kapelle ist gerappelt voll, und es wird ordentlich abkassiert. Ich hatte mir nicht vorgestellt, dass sie so bekannt ist.

Die Kapelle ist ein Kleinod des Barock. Die Kapelle, wie man sie heute vorfindet, ist das Resultat der Umgestaltung, die der Prinz von Sansevero hat vornehmen lassen, ein Exzentriker mit vielen Begabungen.

Der zentrale Anziehungspunkt ist der Cristo Velato, eine Skulptur, die im Zentrum der Kapelle steht. Der tote Christus liegt, auf weichen Kissen gebettet, auf dem Rücken, ganz über mit einem hauchdünnen Schleier bedeckt. Der Schleier ist aus Marmor und lässt die Konturen des darunterliegenden Körpers, bis zu der Vene auf der Stirn, genau erkennen. Neben der Figur liegen die Dornenkrone und eine Zange, mit der die Nägel vom Kreuz entfernt wurden.

Über der Figur erstreckt sich, das ganze Tunnelgewölbe des Zentralraums entlang,  ein Deckengemälde mit illusionistischer Architektur in leuchtenden Farben, mit einem Heiligen Geist, der in einer wahren Farbexplosion über allem schwebt.

Es gibt an beiden Seiten kleine Seitenkapelle, zwischen denen jeweils eine Figur steht, die jeweils eine Eigenschaft, eine Tugend verkörpern: Bildung, Ehrlichkeit, religiöser Eifer, Erkenntnis usw.

Auffällig ist die Figur der Erkenntnis, eine Figur, die dem Vater des Prinzen gewidmet ist. Die Figur ist in einem Netz gefangen, einem Fischernetz mit dicken Knoten und Strängen, ist aber gerade dabei, sich darauf zu befreien. Mit einer Hand entfernt er das Netz und hat schon Gesicht und Brust davon befreit. Ihm entgegen tritt ein geflügelter Genius mit einer Flamme an der Stirn. Der steht für die Erkenntnis, für den Intellekt, und der hilft dabei, aus dem Netz der Unkenntnis zu entfliehen. Diese Deutung würde jedenfalls der aufgeklärten, freimaurerischen Gesinnung des Prinzen entsprechen. Die Szene ist aber auch interpretiert worden als Erkenntnis Gottes, in Anspielung auf die Hinwendung zum Glauben, die der Vater kurz vor seinem Tod vollzogen haben soll.

Gegenüber, auf der anderen Seite, steht die Figur, die der Mutter des Prinzen  gewidmet ist. Sie ist früh verstorben. Der verkümmerte Lebensbaum an ihrer Seite und die zerbrochene Tafel in ihrer Hand deuten darauf hin. Auch sie ist verschleiert, aber die Figur ist ungeheuer sinnlich. Dennoch steht sie für die Schamhaftigkeit.

Kurios auch die Figur der Bildung, einer Frau mit entblößter Brust. Daran soll vermutlich der Zögling an ihrer Seite gestärkt werden, allerdings, wie eine Inschrift besagt, unter Aufbringung von „Disziplin“. Der Junge hält ein geöffnetes Buch in  einer Hand, dessen Seiten und Rücken sich wunderbar biegen.

Auf dem Weg nach unten hat man einige moderne Fliesen mit dem Muster eines Labyrinths verlegt. Die erinnern an den Boden, den einst die gesamte Kapelle hatte. Das Labyrinth steht für die Schwierigkeiten auf dem Weg der Erkenntnis. Auch das kann man religiös deuten, muss man aber nicht.

Unten erwartet einen dann noch eine echte Sensation. In zwei Schaukästen stehen zwei Skelette, das eines Mannes und das einer Frau, aber Skelette, die fast komplett mit Venen und Arterien ausgestattet sind. Man weiß bis heute nicht, wie diese Figuren zustande gekommen sind. Man munkelt, der Prinz habe zwei Dienern bei lebendigem Leib eine Flüssigkeit injiziert, welche die Blutbahnen versteinern ließ. Ob das stimmt, kann man bezweifeln. Aber das Motiv dürfte eher das Bemühen um Erkenntnis sein als die Freude am Makabren.

Gerade trocken geworden, mache ich mich wieder durch den Regen auf den Weg zu meinem nächsten Ziel, dem Teatro San Carlo.

Auf dem Weg kommt mir die Aktion eines Ladenbesitzers sehr entgegen. Er verbietet nicht etwa den Besuch seines WCs, wenn man kein Kunde ist, sondern bietet es auf einem Schild vielsprachig an: 1 Euro.

Hier gibt es eine Führung. Die ist interessant, lässt aber die gesamte Aufführungsgeschichte außen vor. Kein Sänger, kein Dirigent, kein Komponist wird genannt, mit Ausnahme von Verdi. Man erfährt noch nicht einmal, mit welcher Oper das Theater eingeweiht wurde.

Man erfährt aber, dass es das älteste noch im Betrieb befindliche Theater Europas ist (an anderer Stelle ist sogar von dem ältesten Theater der Welt die Rede), wobei mit Theater wohl Oper gemeint ist. Das Theater wurde 1737 eröffnet, Jahrzehnte vor der Scala und dem Teatro La Fenice. Eröffnet wurde es am 4. November, dem Namenstag des Königs, und daher hat es seinen Namen: San Carlo. Karl V. von Neapel war der Auftraggeber. Er soll auch den Bau eines geheimen Tunnels vom naheliegenden Palazzo Reale veranlasst haben, um sich auf seinem Weg ins Theater nicht mit dem Volk mischen zu müssen.

Das alte Theater wurde in Rekordzeit, in wenigen Monaten, errichtet. Durch einen Brand wurden 1816 große Teile des ursprünglichen Theaters, das aus Holz war, zerstört. Das, was man heute sieht, ist das Resultat des Neubaus.

Das Theater ist eine wahre Schatztruhe, jedenfalls der Innenraum. Die Führerin bezeichnet es als das schönste Theater der Welt. Solche Superlative sagen aber nichts aus. Auf jeden Fall ist die Gesamtschau beeindruckend schön.  Alle Stühle und der Vorhang und die Seiten der Logen sind in leuchtendem Rot, die Balustraden der Logen in Weißgold. Rot und Weiß sind die Farben des Hauses Savoy. Die haben mit dem Theater nichts zu tun, ließen aber das bourbonische Blau und Weiß nach ihrer Thronbesteigung und der Einigung Italiens entfernen. Auch das Wappen der Bourbonen über der Bühne ließen sie entfernen oder, richtiger gesagt, zudecken. Es kam dann bei dem Erdbeben von 1980 wieder zum Vorschein, nachdem eine Gipsverblendung abgebröckelt war, hinter der sich das Wappen verbarg. Jetzt sehen sich das bourbonische Wappen über der Bühne und das Wappen des Hauses Savoy über der königlichen Logen in die Augen.

Das Theater ist hufeneisenförmig angeordnet und hat fünf Ränge und den „Taubenschlag“ ganz oben. Der ist ausschließlich für Experten, Musiker und Musikkritiker reserviert, die so in der Nähe der hölzernen Klangkammer unter der Decke sitzen. Die Klangkammer ist bedeckt mit einem 500 m2 großen Leinentuch, das Minerva (als Sonne) in der Präsenz von drei Dichtern, Dante, Vergil und Homer.

Umstritten ist die moderne Hinzufügung einer Klimaanlage, erkennbar an Gittern unter den Stühlen, die die Luftzirkulation ermöglichen. Die Klimaanlage hat das Ende der Saison von Mai auf den August verschoben, hat aber bei einigen Dirigenten Unmut ausgelöst, weil sie fanden, dass die Akustik Schaden genommen habe. Die gute Akustik ist auch dem abfallenden, hölzernen Boden zu verdanken, wird uns erklärt.

Über der Bühne hängt eine stark verzierte Uhr mit einem Zeiger. Der Zeiger ist der Finger der Figur des Kronos neben der Uhr. Nicht der Finger bewegt sich, sondern das Ziffernblatt.

Nach der Führung mache ich mich, da der Regen inzwischen nachgelassen hat, auf die Suche nach der Pizzeria da Michele, der traditionsreichsten Pizzeria Neapels. Hier wird die „echte“ neapolitanische Pizza gemacht.

Die Pizzeria liegt in einer Seitenstraße, unweit des Bahnhofs. Aber schon von weiten sieht man die Schlange, jetzt, um halb sieben! Hier essen oder kaufen die Neapolitaner ihre Pizza. Man muss eine Nummer ziehen, wie auf einer Bank, um sich in die Schlange einzureihen. Ich verzichte.

Das hat dann wiederum was Gutes. Inzwischen ist eine Anfrage von Manja gekommen, ob man nicht zusammen etwas in Salerno essen könne. Das tun wir, in der Pizzeria Sant’Andrea, in der Altstadt. Das erweist sich als eine gute Wahl, obwohl ganz zufällig getroffen. Endlich gibt es mal einen Kellner, der freundlich und hilfsbereit ist. Er warnt mich sogar, als es um die Wahl der Vorspeise geht. Ich will die „salernitanische Spezialität“ probieren, die auf der Speisekarte steht: Milz. Ich tue es trotzdem und muss ihm im Nachhinein Recht geben. Etwas „stark“ im Geschmack ist sie schon, in der Konsistenz nicht viel anders als Leber, aber stark gewürzt ist sie auch, mit einem ganzen Kranz von Pfeffer. Ich schaffe nur eine Scheibe. Der Rest ist Normalität: Pizza, Wasser, Wein.

Wir schaffe es, den ganzen Abend bei Italienisch zu bleiben. Manja ist von der Schule enttäuscht, nicht nur vom Unterricht, bereut aber nicht, nach Salerno gekommen zu sein, andere Ecke von Italien, übersichtlich, viel zu entdecken in der Umgebung, und aufregende Natur. In diesem letzten Punkt gibt sie Salerno den Zuschlag im Vergleich zu Bologna.

8. September (Donnerstag)

Andrea und Juraj haben früher miteinander Englisch gesprochen. Jetzt sprechen sie Italienisch miteinander.

Andrea erzählt im Unterricht, ihr größter Wunsch als Mädchen sei es gewesen, auf die Universität zu gehen. Der Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Sie hat in Cluj studiert, der zweitgrößten Stadt Rumäniens. Noch schöner als Cluj sei Sibiu. Beides sagt mir nichts. Juraj kennt aber auch die deutschen und ungarischen Namen von beiden. Die Deutschen Namen sind Klausenburg und Hermannstadt.

Seit gestern geht es im Unterricht um particelle, endlich mal was, womit man was anfangen kann. Das sind, wie es aussieht, Diskursmarker (werden auch marcatori genannt). Zu ihnen gehören mica, addiritura, anzi, magari. Aber methodisch ist das so schlecht, dass man am Ende nur verwirrt ist. Jede der particelle hat mehrere Funktionen, und hier wird man nur mit Erklärungen und Beispielen bombardiert. Schade.

Die junge Spanierin, eine Überfliegerin, die nebenbei zwei Instrumente spielt und Gesangsunterricht am Konservatorium erhält, geht in Madrid auf die Italienische Schule. Immer wieder wird sie mit der Frage konfrontiert, warum sie denn Italienisch lerne. Das könne man doch so verstehen. Immer wieder muss sie dementieren.

Nach dem Erdbeben von 1980 sind die Häuser der Altstadt von Salerno wieder hergerichtet und teils neu ausgestattet worden. Die Immobilienpreise seien allerdings seitdem drastisch in die Höhe gegangen, sagt die Lehrerin. Andererseits gebe es jetzt eine gute Mischung von Alteingesessenen und Neuzugezogenen. Die hätten, im Gegensatz zu den Alteingesessenen, eine modernere Ausstattung in ihren Häusern, teils sogar einen Aufzug. Diese Mischung aus Alt und Neu, aus Einfach und Anspruchsvoll erkennt man auch bei den Läden in der Altstadt.

Ich kann mich zu einer weiteren Fahrt nach Neapel nicht entscheiden und gehe stattdessen durch den Regen in das viel bescheidenere Archäologische Museum von Salerno. Aber das lohnt sich. Es gibt sehr schöne Exponate, und die sind gut präsentiert, in einem alten Dominikanerkloster mit Arkaden in grau-weiß abgesetzten Steinen im Untergeschoss.

Zu den ältesten Fundstücken gehören der Femur eines Nashorns und  die beeindruckenden Kiefer eines Elephas Antiquus. Ganz grob geschätzt, sind beide 100.000 Jahre alt.

Die Fundstücke sind chronologisch und dann nach Fundorten geordnet. Alle stammen aus der Provinz Salerno. Ich sehe mir aber einfach die auffälligsten Stücke an.

Am Abend gehe ich in das von der Lehrerin und von dem Schweizer Mitbewohner empfohlene L’Archetto, einem ganz bescheidenen Familienbetrieb, wo die Mutter kocht, der auf Pantoffeln schlürfende Vater serviert und der Sohn abräumt. Ich bestelle einen Teller mit mariniertem Gemüse, kalt serviert, und Penne alla Siciliana, mit Basilikum und Auberginen. Schmeckt gut, aber der Wein ist eine Katastrophe. Obwohl es gut schmeckt, wäre hier wohl Pizza die bessere Wahl gewesen. Am Nebentisch, wo eine italienische Großfamilie sitzt, haben alle Pizza bestellt. Sie schneiden die Pizza in Segmente, klappen die Segmente zu und essen sie mit der Hand. Alle machen das so.

Auf dem Heimweg komme ich noch an Je, tu e iss vorbei, der Osteria auf der Via Roma. Inzwischen habe ich von Juraj erfahren, dass das neapolitanisch für Ich, du und er ist.  Die Speisekarte ist hier zweisprachig. Ein Gericht ist auf der englischen Speisekarte teurer als auf der italienischen, aber das ist vermutlich nur ein Versehen.

Dann sehe ich noch ein neapolitanisches Zitat, das man entziffern kann, auch weil es eine Volksweisheit ausdrückt: A superbia va a cavall e torna a per.

9. September (Freitag)

Am letzten Unterrichtstag gibt es nochmal ein paar negative Höhepunkte, aber auch eine schöne Geschichte von einer Frau, die sich ärgert, dass ein unbekannter Mann im Zug neben ihr sich ohne Bedenken an ihre Kekse heranmacht, die auf dem Sitz zwischen ihnen stehen. Sie sagt nichts, kann sich aber vor Wut kaum beherrschen. Als sie dann aufsteht, merkt sie, dass ihre Kekse noch unverbraucht in ihrer Handtasche sind. Die Kekse zwischen ihnen waren die des Mannes. Der hat, als nur noch ein Keks da war, den in zwei Hälften geteilt und ihr eine Hälfte überlassen.

Am Nachmittag gebe ich noch einmal richtig Geld für Bücher aus. Ich kaufe Lessico familiare und Niente di vero tranne gli occhi, einen von der Lehrerin empfohlenen Krimi; außerdem ein Buch über Latein mit einem schönen Untertitel und ein Buch über Grammatik, das keins ist: Viva il latino. Storia e belleza di una lingua inutile und Di grammatica non si muore.

Sardellen werden in dieser Gegend entweder eingesalzen oder, wie ich es bereits in Cetara gesehen habe, zur colatura di alici verarbeitet. Hausfrauen machen sie selbst. Man kann es aber auch bequemer haben und ein Glas kaufen. Das tue ich in der Bottega di Nonna Vanna. Ein Glas hält lange vor, denn die Soße (oder vielleicht besser Paste) hält lange vor. Und hat eine lange Geschichte. Schon in der Antike diente sie dem Würzen von Gemüse-, Fleisch- und Fischgerichten. Damals hieß das Zeug Garum und wurde fabrikmäßig hergestellt. Das ist meine letzte Aktion in Salerno, bevor am Abend der Aufenthalt mit einem internationalen Abendessen zu Ende geht.

Das Wetter wird langsam wieder besser. Die anderen haben Glück. Ab nächste Woche soll es wieder richtig schön werden.

 

 

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