16. Oktober (Sonntag)
„Wer Brasilien wirklich zu erleben weiß, der hat Schönheit genug für ein halbes Leben gesehen. Das Leben an sich ist hier wichtiger als Zeit. Ein Rausch von Schönheit und Glück überkam mich. So viel ich sah, es war ie genug.“ So Stefan Zweig in seinem Buch über Brasilien. Er schwelgt über die Natur und überhöht die Geschichte Brasiliens, so sehr, dass man bald begann, sich über das Buch lustig zu machen. Kein Wunder bei Sätzen wie „Ich wusste, ich hatte einen Blick in die Zukunft der Welt getan.“ Aber er war dankbar, weg von allem zu sein, von dem Krieg und von der Verfolgung durch die Nazis.
Bei mir mischen sich Vorfreude und Skepsis angesichts der Weite des unbekannten Landes. Meine erste Station ist Rio.
Der Name Rio de Janeiro beruht auf einem Missverständnis. Als die portugiesischen Entdecker in der Bucht von Guanabara ankamen, glaubten sie, die Mündung eines riesigen Flusses entdeckt zu haben. Den Beinamen bekam die der Fluss durch das Datum der Ankunft im Januar, am 1. Januar 1502. Als die ersten Siedler später den Irrtum entdeckten, hatte sich der Name bereits festgesetzt.
Von Lissabon geht es gleich über den Atlantik Richtung Südwesten. Wir kommen zwischen Madeira und Teneriffa her, haarscharf an der afrikanischen Westküste vorbei und über die Kapverdischen Inseln. Bei Recife kommen wir an die brasilianische Ostküste, und dann geht es über Belo Horizonte nach Rio, insgesamt 7689 Kilometer. Von all dem sieht man nichts, nicht nur weil wir über den Wolken sind, sondern auch, weil die Kabine nach dem Essen sofort abgedunkelt wird.
Während des Flugs wird mir beim Blick auf die Karte klar, wie viele Nachbarländer Brasilien hat. Es grenzt, bis auf Chile und Ecuador, an alle Länder Südamerikas: Uruguay, Argentinien, Paraguay, Bolivien, Peru, Kolumbien, Venezuela und die drei Guayanas. Es ist letztlich auch nur eins mehr als Deutschland hat, aber die Grenzen sind natürlich länger. Die längste Grenze hat es mit Bolivien. Wie groß Brasilien ist, kann man auch daran ermessen, dass es, wenn man Alaska nicht mitrechnet, noch größer als die USA ist.
Kleine sprachliche Umstellung: Im Portugiesischen sagt man em Lisboa und em Portugal, aber no Rio und no Brasil. In beiden Varianten.
Als wir ankommen, ist es noch hell, ein Himmel mit ein paar Wolken, 26°. Als wir aus dem Flughafengebäude kommen, ist es stockdunkel.
Von Rio sieht man nichts außer der Stadtautobahn und mehreren langen Tunnels und hohen Mietskasernen am Straßenrand. Zwischendurch eine hell erleuchtete neoromanische Kirche.
Wir folgen der Richtung Copacabana und kommen in ein anderes Viertel, eher ein Wohnvierte. Vor den Hausnummer 147 werde ich abgesetzt: Da ist es. Das ist mir nicht ganz geheuer, und ich frage den Fahrer, ob er mich nicht bis zum Eingang begleiten könne, um zu sehen, ob alles richtig ist. Da macht er. Auf das Klingeln antwortet keiner. Dann kommt eine kaum hörbare Stimme. Nee, hier sei das nicht. Hier wohne keine Mary. Ich bin froh, dass ich den Fahrer noch nicht entlassen habe. Der ist selbst verwirrt, zeigt mir die Adresse, ist dann aber selbst überrascht, dass da bei dieser Adresse noch ein anderer Name steht.
Er sucht in seinen Unterlagen, blättert im Handy herum und macht einen Anruf, den keiner beantwortet. Dann öffnet sich plötzlich die Tür und eine Frau erscheint. Sie debattiert eine Zeitlang mit dem Fahrer, gibt ihm ihre Nummer und holt mich dann rein. Noch mal Glück gehabt.
Die Begrüßung fällt dann aber doch ganz freundlich aus. Sie serviert mir einen Saft, der caju enthält. Kenne ich nicht. Doch, sagt sie, ich kenne es als Nuss, Cashewnuss. Die meisten wüssten aber nicht, dass die Pflanze außer der Nuss auch eine Frucht produziert. Und daraus wird Saft gemacht. Der Geschmack sei leicht bitter, deshalb habe sie ihn mit Birne und Ananas vermischt.
Es stellt sich heraus, dass Mary fließend Deutsch spricht. Sie habe, sagt sie, Portugiesisch erst mit 18 Jahren angefangen zu lernen. In dem Ort im Süden Brasiliens, wo sie aufgewachsen ist, wurde Deutsch gesprochen. Es gab nur wenige, die Portugiesisch konnten, und die konnten es nicht sonderlich gut.
Zu meiner großen Erleichterung kündigt sie an, dass sie uns – mich und einen weiteren neuen Schüler – am nächsten Morgen zur Schule begleiten wird. Da könnten wir auch gleich an einer Bank vorbeigehen. Sie ist sehr gut organisiert, die Schlüssel gibt es an einem Band, das man um den Hals trägt. Und für den Schlüssel wird eine Kaution von 50 Reais kassiert.
Dann lerne ich noch den zweiten Mitbewohner kennen, einen jungen Holländer namens Theis. Er ist schon länger hier.
Dann geht es über eine ganz enge Treppe nach oben. Hier sind wir alle drei untergebracht und teilen uns das Bad. Alles ist sehr einfach, aber es funktioniert.
3 Stunden Wartezeit am Flughafen, 10 Stunden Flug, 4 Stunden Zeitumstellung, 2 Stunden vom Flughafen bis zur Ankunft in der Unterkunft. Kein Bedarf mehr, rauszugehen.
17. Oktober (Montag)
Heute ist Feiertag. Feiertag der Verkäufer. Das bedeutet, alles geht seinen normalen Gang, nur die Geschäfte sind geschlossen. Die Restaurants sind geöffnet, Banken, Ämter und Schulen auch. Analog zu diesem Feiertag gibt es auch Feiertage für andere Berufsgruppen wie Frisöre oder Lehrer. Später bin ich überrascht, dass doch einige kleinere Läden geöffnet sind und auch die Drogerien, von denen es hier, im Gegensatz zu Portugal, an jeder zweiten Ecke eine gibt.
Beim Frühstück lerne ich den anderen Mitbewohner kennen, einen jungen Mann aus Schottland. Der ist schon in Brasilien herumgereist und erzählt von den Wasserfällen von Iguazú. Die seien eine Zeitlang gesperrt gewesen, weil es einfach zu viel geregnet hatte! Irgendwie paradox. Er war gerade am ersten Tag der Wiedereröffnung da gewesen und habe den Wasserfall sowohl von der argentinischen als auch von der brasilianischen Seite aus gesehen. Inzwischen sind die Wasserfälle schon wieder gesperrt. Im Internet sieht man dramatische Bilder von braunen Wassermassen, die über die Landschaft rauschen. Regen ist auch hier in Rio ein Thema. Sowohl Mary als auch unser Lehrer sagen, dass es den ganzen September über geregnet habe, und in den letzten Jahren überhaupt auffällig mehr als sonst.
Es stellt sich heraus, dass Mary fließend Spanisch spricht. Meine beiden Mitbewohner sprechen auch Spanisch.
Das Frühstück ist liebevoll zubereitet, und danach erweist sich Mary als perfekte Organisatorin. Sie sagt nicht einfach, hier sind die Schlüssel, sondern lässt jeden von uns jeden Schlüssel ausprobieren, mit genauen Instruktionen, welche Türen wie zu schließen sind.
Jetzt bei Tageslicht sieht man besser, wie es sich mit dem Haus verhält. Es ist zweistöckig, aber umstellt von viel höheren Gebäuden. Ihr Haus hat einen kleinen abgetrennten Innenhof, in dem riesige Palmen stehen. Dann ist man überrascht, wenn man in das niedrige, auf seine Weise ganz gemütlich eingerichtete Wohnzimmer kommt.
An jeder Straßenecke bleibt sie stehen und erklärt uns Dinge, an denen wir uns orientieren können. Sie kann sich gut in die Lage eines Neuankömmlings versetzen.
Alle Häuser sind durch ein Gitter nach außen geschützt, bei einigen gibt es zur Verstärkung noch einen elektrischen Draht oben auf dem Gitter.
Wir machen auch Halt in einer Bank, wo ich vergeblich versuche, Geld abzuheben. Die Schule will einen Teil des Betrags bar haben. Das hatte zu einigem Hin und Her bei der Anmeldung geführt. Ich bin beunruhigt, aber Mary meint, das passiere schon mal, wir würden es morgen wieder versuchen.
Die Schule befindet sich, genauso wie die Wohnung, in Ipanema, gleich neben der Copacabana. Von einer Straßenecke aus kann man kurz auf das Meer sehen.
Das Gebäude, in dem sich die Schule befindet, hat eine auffällig mit Bildern gestaltete bunte Fassade. Das kann man nicht verfehlen.
Drinnen ist viel los. Es wimmelt nur so von Menschen. Wer Lehrer und wer Schüler ist, kann man nicht so ohne weiteres unterscheiden. Ich werde mit dem Unterrichtsmaterial ausgestattet und nach oben geschickt.
Wir sind nur zu zweit. Es geht sofort los, dynamisch, kommunikativ, abwechslungsreich. Ein ganz anderes Unterrichten als in Lissabon. Wir diskutieren über Sport, machen etwas Grammatik, ein Quiz über Rio und Kommentare zu portugiesischen Sprichwörtern (von denen viele international sind). Dabei kommen nebenbei auch immer persönliche Dinge ins Gespräch. Der Lehrer, Damião, setzt oft das Internet ein, wenn es darum geht, eine unbekannte Person, eine unbekannte Aktivität oder ein unbekanntes Wort zu erklären. Er macht das schnell und mit großer Geschicklichkeit. Und verweilt meistens nicht zu lange dabei.
Auch die Grammatikeinheit macht er gut. Ein klares Tafelbild, mit verschiedenen Farben, Erklärungen, Beispiele, und dann schreiben wir Sätze über uns selbst, in denen wir die Struktur benutzen. Alles nicht neu, aber eine gute Übung.
Aus den Texten macht er viel zu wenig, und er macht viel zu viele Dinge selbst, statt uns ausprobieren zu lassen. Auch redet er etwas viel. Ich verstehe längst nicht alles, aber es schult doch irgendwie, wenn auch nicht gerade systematisch, das Hörverstehen. Was er an Methoden nicht drauf hat, macht er durch seine Dynamik wett.
An landeskundlichem Wissen fällt einiges ab, angefangen von der Einwohnerzahl von Rio, bei der wir beide drunter liegen, als wir schätzen sollten. Es geht auf die sieben Millionen zu, die Stadt Rio de Janeiro alleine wohlgemerkt, ohne den Bundesstaat Rio de Janeiro. Carioca, was wörtlich ‚Haus des weißen Mannes‘ bedeutet, bezeichnet jemanden, der in der Stadt geboren ist, Fluminense jemanden, der im Bundesstaat geboren ist. Parallel dazu kommt ein Paulistano aus der Stadt, ein Paulista aus dem Bundesstaat. Die anderen Herkunftsbezeichnungen sind kaum zu erraten und auch nicht so wichtig. Aber interessant ist noch Mineiro für die Einwohner von Minas Gerais.
Rio hat vier große konkurrierende Fußballvereine: Flamengo, Botafogo, Vasco nd Fluminense. Damião ist Anhänger von Fluminense.
Aus der Zeit der portugiesischen Könige, erfahre ich, ist in Petropolis noch ein Palast erhalten. Es liegt in den Bergen nördlich von Rio.
Die Zeit – es sind immerhin vier Stunden Unterricht mit einer Viertelstunde Pause – vergeht schnell, auch wenn ich zwischendurch den einen oder anderen Durchhänger habe.
Der andere Schüler, Joseph, hat eine ungewöhnliche Biographie. Er ist Palästinenser, ist christlicher Palästinenser, in Kalifornien aufgewachsen. Er spricht Englisch mit markantem amerikanischem Akzent. Brasilien kennt er schon sehr gut und ist auch schon mehrmals hier bei Caminhos gewesen. Er hat sogar eine Investition in Immobilien in Brasilia. Langfristig will er nach Brasilien umsiedeln. Zurzeit hat er noch, zusammen mit seinem Vater, ein Hotel in der Nähe von Jerusalem. Das soll verkauft werden, nur hat sich der Verkauf durch Corona hinausgezögert. Sein Vater will sich dann zur Ruhe setzen und er will in Brasilien einen Neustart hinlegen.
Nach dem Unterricht gibt es eine kleine Begrüßung für die Neuankömmlinge. Ziemlich bunt gemischt, England, USA, Spanien, vor allem aber Nigeria. Hätte nicht gedacht, dass es da so viel Nachfrage nach Portugiesisch gibt.
Es wird Kaffee und Kuchen serviert und ein Saft, den keiner von uns kennt, guaraná, sehr süß. Die Pflanze hat harte, runde Kapseln, und die Früchte, die aus diesen Kapseln herausspringen, sehen wie Augen aus.
Es gibt Informationen zum Freizeitprogramm. Da ist alles Mögliche vertreten, Yoga und Samba und Beachvolleyball und Hanggliding. Die für mich in Frage kommenden Aktivitäten finden alle am Mittwoch statt. Da muss ich eine Auswahl treffen.
Wir bekommen noch einen Studentenausweis, mit dem man hier und da Ermäßigungen bekommt, und eine Leinentasche mit dem Logo von Caminhos. All das hat es in Lissabon nicht gegeben.
Dann mache ich mich, ziemlich unsicher, auf den Rückweg. Es ist eben nichts vertraut, und auch die Sprache kommt jetzt hier zum ersten Mal im „richtigen“ Leben zum Einsatz. In einem kleinen Laden bekomme ich eine chamuça und eine Art Hot Dog zum Mitnehmen, und in einem Obstladen ein paar Mandarinen. Durch die Beschilderung werde ich an ameixa und abacaxi erinnert, die Wörter für ‚Pflaume‘ und ‚Ananas‘. Neben den Apfelsinen liegt die laranja lima, eine Pflanze, die ich nur aus dem Titel eines Kinderbuchs kenne. Außer Maniok (aipim) und der Süßkartoffel gibt es noch Rotebeete (beterraba) und ein Gemüse namens Chayote (chuchu). Und Wachteleier.
Es ist warm und ein bisschen schwül. Nach Regen sieht es im Moment noch nicht aus, aber der soll in den nächsten Tagen kommen.
Am Abend klopft es an der Tür und Mary bietet mir an, mir die Copacabana zu zeigen. Es geht los in die umgekehrte Richtung, und wieder hilft sie mir, Orientierungspunkte festzumachen, damit ich mich demnächst selber zurechtfinde.
Es geht über zwei, drei Straßen, und machen wir kurz Halt in einem Lokal, das eine Art deutscher Ausstattung hat, an Bildern und Uhren gut zu erkennen. Es wurde von einem Deutschen eröffnet und dann von einem Portugiesen übernommen, einem Mann aus Lissabon. Der ist der heutige Eigentümer. Sie stellt mich vor, und er erzählt etwas zu der Geschichte des Lokals.
Kurz danach erreichen wir das Ufer. Es ist dunkel, aber es sind noch viele Leute unterwegs. Es gibt eine breite Promenade. Zur einen Seite Imbissverkäufer mit Handkarren, zur anderen Kioske mit einer Terrasse. Dahinter der Strand und das Meer.
Links von uns eine vielspurige Straße und dahinter Hotelbauten. Ursprünglich, erfahre ich, ging das Meer bis hierher.
Musik gibt es auch an verschiedenen Stellen. Wir bleiben bei einer Sängerin stehen, die etwas vorträgt, das unverkennbar brasilianisch ist. Mary singt mit, das Lied hat einen Bezug zu Rio und zur Copacabana.
An einem der Handkarren wird Tapioka zubereitet. Der Vorgang ist genau der wie bei den Crepes bei uns. Die trockene Masse sieht wie Mehl aus, ist aber eine Stärke, die aus dem Maniok gewonnen wird und weitgehend geschmacklos ist. Der Geschmack kommt durch die Zutaten, in diesem Fall durch geriebenen Käse.
Losgegangen sind wir fast am Startpunkt der Copacabana. Wir gehen ein ganzes Stück in die andere Richtung. Dort kann man bei Tageslicht in der Ferne den Zuckerhut sehen. Der Strand zieht sich sechs Kilometer in diese Richtung.
Sie ist immer beunruhigt, wenn ich ein Photo machen will. Handy am besten zu Hause lassen. Das ginge ganz schnell, und das Handy sei weg. Es sind keine Gelegenheitsdiebe, die mal ein Handy klauen, sondern Spezialisten, die am Tag bis zu 50 Handys klauen. Die seien einfach das begehrteste Gut. Uhren sind out.
Wir verlassen den Strand, ich mit dem guten Gefühl, schon am ersten Tag an der Copacabana gewesen zu sein. Bei dem Erlebnis schwingt auch deren geradezu legendärer Ruf mit.
Wir gehen in ein Lokal, in das sie häufig geht. Gut, dass sie dabei ist und das Prozedere erklären kann. Man bekommt gleich am Eingang einen Zettel in die Hand gedrückt. Man geht dann zum Buffet, bedient sich selbst und lässt den Teller wiegen. Auf dem Zettel wird dann vermerkt, was man konsumiert hat, und beim Hinausgehen bezahlt man.
Es gibt wieder allerlei exotische Sachen, deren Erklärungen ich schon vergessen habe in dem Moment, wo ich sie gehört habe. Es ist alles ganz lecker, aber ins Schwärmen gerät man nicht unbedingt. Die bestimmende Geschmacksrichtung ist fade.
Wir haben uns inzwischen stillschweigend auf Deutsch geeinigt, und ich bin gar nicht böse darüber. Ich erfahre noch, dass sie in einem Chor singt, wo sie am Nachmittag eine Probe hatte. Der Chor ist so groß, dass in zwei Abteilungen geprobt wird, aber irgendwann diese Woche ist dann Generalprobe für einen Auftritt.
Sie hat früher als Stadtführerin gearbeitet, für Reiseunternehmen und für Firmen. Das sei mit Corona alles zusammengebrochen, und man wisse nicht, ob es noch mal wieder aufblühen werde.
Schüler von Caminhos hat sie fast das ganze Jahr über, daneben aber auch Gäste von Airbnb. Das seien meistens Portugiesen, und die würden sich immer sofort zurechtfinden, aber dafür blieben sie meist nur 3-4 Tage.
Am Ende bekomme ich noch ein bisschen Anschauungsunterricht in brasilianischer Landeskunde. Vor dem Haus stehen zwei Männer, die hier in der Gegend als Portiers arbeiten. Sie kommt ins Gespräch mit ihnen. Aber davon verstehe ich kein Wort. Später erklärt sie mir, das seien Leute aus dem Norden, nach Rio gekommen, um ein besseres Leben zu haben. Sie spricht sehr positiv von ihnen. Sie würden nie ihren Humor verlieren und seien immer freundlich, würden aber von vielen der Hauseigentümer von oben herab behandelt.
18. Oktober (Dienstag)
Mary begleitet mich noch einmal zur Bank. Diesmal klappt es, mit einem niedrigeren Betrag.
Im Unterricht hören wir kurz in unterschiedliche portugiesische Akzente rein. Für mich klingen sie alle gleich, Angola ist wie Portugal, Mosambik wie Brasilien. Einen deutlich anderen Klang hat nur das Portugiesisch der Kapverdischen Inseln.
Es werden Sportarten vorgestellt, die in Brasilien erfunden worden. Dazu gehören Hallenfußball und Fußballvolley. Wir werden gefragt, welche Sportarten in unseren Ländern erfunden wurden. Das ist für Joe einfach: Baseball und American Football. Mir fällt im ersten Moment nichts ein, dann kommt mir Handball in den Sinn. Stimmt sogar.
Interessant die Geschichte der Capoeira. Die war lange verboten, da sie als Kampfsport galt, ein Kampfsport, mit dem sich die schwarzen Sklaven zur Gegenwehr gegen die Sklavenhalter rüsten wollten. Damit es nicht zu offensichtlich wurde, integrierten sie die Bewegungen des Kampfsports in tänzelnde Bewegungen. Bis heute sieht die Capoeira wie eine Mischung aus Tanz und Sport aus.
Bei der Grammatik geht es um zusammengesetzte Zeiten. In den anderen romanischen Sprachen geht es bei den Verben immer um sechs Formen, beim Portugiesischen geht es in Portugal nur um fünf Formen, weil es die 2. Person Plural nicht gibt, in Brasilien nur um vier Formen, weil es auch die 2. Person Singular nicht gibt.
Nach dem Unterricht mache ich mich auf den Weg ins Zentrum, mit der Metro. Die Tickets gibt es nur an Automaten. Aber glücklicherweise stehen da freundliche Helferinnen daneben. Man kauft Einzelkarten, Vergünstigungen gibt es nicht. Mary hatte mir gesagt, dass ich als Senior sogar umsonst fahren könne, aber wie man das anstellt, ist mir nicht klar. Die Karten werden an dem Drehkreuz verschluckt, was mich erst verwirrt. Aber raus kommt man überall.
Die Wege in den Bahnhöfen sind lang, die Züge sind lang und die Wege zwischen den einzelnen Stationen sind auch lang.
Die Metro wurde, wie heute noch im Unterricht gesagt wurde, zu den Olympischen Spielen und erweitert und modernisiert. Dafür sind die Anzeigen nicht sonderlich klar, weder außerhalb noch innerhalb der Züge. Und es ist auch überall ziemlich schummrig.
Ich fahre Richtung Carioca, ins Zentrum. Nach ein paar Stationen steigen zwei Männer vom Sicherheitsdienst ein, ausgerüstet mit langen Gummiknüppeln, Handschellen, Funkgeräten und einem Brustpanzer. Sie platzieren sich zu beiden Seiten des Eingangs. An jeder Station tritt einer von ihnen auf den Bahnsteig und sieht nach, ob alles in Ordnung ist.
In den Metrozügen benutzen die Leute unbekümmert ihre Handys, auch ohne Sicherheitsdienst. Auch sonst sehe ich auf der Straße immer wieder welche, die das Handy benutzen, meist zum Telefonieren.
Wenn man in Carioca aussteigt, glaubt man, in einer anderen Stadt zu sein. Es ist viel ruhiger, die Leute sehen anders aus, geschäftsmäßiger, Moderne Wolkenkratzer bestimmen die Skyline, neben ziemlich unansehnlichen Hochhäusern. Das Gefühl der Unsicherheit von Ipamena verschwindet sofort.
Mein Ziel ist das Real Gabinete Português de Leitura, aber meine Aufmerksamkeit wird hier von einem anderen Gebäude angezogen, der neuen Kathedrale. Sie sieht aus wie eine oben abgeschnittene Pyramide, erinnert an die Pyramiden aus Mittelamerika.
Auf dem Platz vor der Kathedrale steht die Figur von Mutter Teresa, in bekannt gebückter Haltung. Daneben ein ambulanter Verkäufer, der Nationalmannschaftstrikots von Brasilien verkauft.
Die Atmosphäre innen hat etwas Besonderes. Schwer zu sagen, woran das liegt, vielleicht an dem Spiel von Dunkelheit und Licht.
Es handelt sich um einen zentralen Rundbau, die abgeschnittene Kuppel in der Vierung bildet ein griechisches Kreuz und ist eine der Lichtquellen. An allen vier Seiten ein die ganz Wand schräg hinunterlaufendes Glasfenster, auf allen Seiten mit unterschiedlichen Farben, sehr intensiven Farben. Es sind nur einige Embleme zu erkennen und ein paar Figuren, aber nur schemenhaft.
Im Süden steht, völlig unvermittelt, eine barocke Kutsche, ganz in Weiß, mit goldenen Beschlägen. Darin eine Statue des Hl. Sebastian. Man weiß nicht so recht, was das soll, aber die Kutsche ist auf jeden Fall ein Hingucker.
Im Süden sind ist das Portal zur Seite geschoben, und von hier dringt intensives Licht in die Kathedrale. In der Kirche steht vor dem Portal die moderne Figur eines Heiligen mit einem Vogel auf der Hand, vermutlich der Hl. Franziskus. Vor dem hellen Licht von außen kommt die besonders gut zur Geltung, und hinter ihr spiegelt sich in der Fassade eines modernen Geschäftshauses die Kathedrale.
Das war ein lohnender Abstecher. Auf dem Weg zu dem Real Gabinete Português de Leitura verändert sich die Szenerie wieder, hier ist es eher wie in Ipanema. Ich komme in eine Gegend, die irgendwie europäisch aussieht, vor allem der Platz vor dem Gabinete. Rechts ein ehemaliger Palast oder ein Patrizierhaus, mit verrosteten Eisenstäben, beschmierter Fassade und einigen zerschlagenen Fenstern, aber offensichtlich bewohnt. An dem zentralen Fenster steht eine Frau und blickt auf den Platz hinunter.
Dann geht es in das Real Gabinete Português de Leitura, in einem Haus mit einer historisierenden Fassade untergebracht. Drinnen sieht man nur den einen Raum, aber der ist wirklich beeindruckend. Und das empfinden auch die vielen Besucher, die erstaunlich leise, fast andächtig, vor dieser Pracht stehen. 369.000 Bücher mit Ledereinband, auf drei Etagen und auf alle vier Seiten verteilt. Die Treppen und die Bücherborde, alle aus Holz, sind schön verziert, mit hölzernen Streben und feinem Goldbeschlag. Man hat weniger den Eindruck, in einer Bibliothek zu stehen als in einem Ausstellungsraum für bibliophile Büchern. Ursprünglich hatten diese Bücher aber ihren Zweck, sie wurden tatsächlich gelesen. Die Sammlung geht zurück auf die Initiative einer Gruppe portugiesischer Kaufleute, die 1837, also erst 15 Jahre nach der Unabhängigkeit, den portugiesischen Residenten in Rio die Gelegenheit geben wollten, sich zu bilden und zu informieren. Mäzenatentum der besten Art.
Auf dem Rückweg komme ich an einen großen Platz mit einer Bronzestatue in der Mitte. Zu allen vier Seiten sind Flüsse Brasiliens dargestellt, die die Köpfe von Indios haben. Am Rande des ansonsten leeren Platzes sitzen junge Leute in kleinen Gruppen. Ich komme mir hier etwas verloren vor.
Dann komme ich über eine sehr geschäftige Straße. Hier sehe ich zum ersten Mal überhaupt eine Anspielung auf die bevorstehende Wahl. An einem Haus steht an der oberen Etage: Fora Bolsonaro. Kein Wunder, etwas später komme ich an einem modernen Haus vorbei, in dem eine Art Wahlbüro für Lula untergebracht ist.
Man muss auf alles gleichzeitig aufpassen, auf das Handy, auf das Portemonnaie, auf die Umgebung und auch auf den Boden. Die Bürgersteige haben immer wieder Löcher, in denen man gut ausrutschen kann oder sich die Haxen brechen. Ich sehe mich nach einem Café um, aber vergeblich. Vermutlich gehören Cafés nicht zu dem täglichen Bedarf der Bewohner dieses Viertels.
Nachdem ich eine Zeitlang umhergeirrt bin, finde ich einen ruhigen Platz vor der Presbyterianischen Kathedrale. Hier ist einem Prediger ein Denkmal gesetzt. Nicht nur der Predige selbst ist dargestellt, sondern auch die, die ihm zuhören. Sie sitzen auf drei Bänken vor ihm. Ich setze mich auf den freien Platz und ruhe mich aus.
Dann geht es zurück zum Largo Carioca. Am Rande des Platzes ein erstaunlich ruhiger Park. In so einem Park soll hier in der Nähe 1822 die Unabhängigkeit Brasiliens proklamiert worden sein, aber wo genau das war, ist nicht herauszufinden.
Dann laufe ich mir noch die Zehen wund auf der Suche nach Santo Antonio. Die soll eine der ältesten Kirchen Brasiliens sein. Stattdessen finde ich aber nur die Kirche eines Franziskanerklosters, und auch die erst nach einiger Sucherei. Und zwar deshalb, weil ich nicht nach oben gucke. Das Kloster liegt auf einem Hügel am Rande des durch hässliche Hochhäuser verunstalteten Largo Carioca, und es zieht sich ein ganzes Stück um den Hügel herum. Aber wie kommt man da rauf? Alles ist abgesperrt. Dann bemerke ich einen Tunnel, gehe mit etwas gemischten Gefühlen rein und stelle fest, dass es richtig ist. Am Ende des Tunnels ist ein Aufzug, mit dem man rauffährt.
Die einschiffige Kirche ist ganz schlicht, nur im Chor nicht. Der ist dicht mit Figuren bestellt, alle vergoldet. Ich habe keine Energie mehr, mir irgendwelche Details anzusehen. Jetzt geht es nur noch zurück.
19. Oktober (Mittwoch)
In der Nacht regnet es so stark, dass ich von dem auf die Dächer peitschenden Regen wach werde. Am Morgen ist es wieder trocken, aber die Straßen sind nass.
Beim Frühstück stellt sich heraus, warum Damião dieser Tage mein Wort reformado für Rentner so scharf zurückgewiesen hat. In Brasilien bezieht sich das nur auf Militärs, der normale Rentner heißt hier aposentado.
Joe, der junge Schotte, ist ausgebildeter Ingenieur und hat schon ein paar Jahre lang als Ingenieur gearbeitet, hat sich jetzt aber eine Auszeit genommen, um Südamerika zu bereisen. Er ist unter anderem auch in Peru gewesen. Er ist ein oder zweimal geflogen, meist aber mit dem Bus unterwegs gewesen.
Im Unterricht gibt es noch mal ein Brasilien-Quiz: Wie viel Einwohner hat Brasilien? 230 Millionen. Was ist die Hauptstadt von Brasilien? Brasilia. Welches sind die beiden bekanntesten Feste? Karneval und Festa Junina (kalendarisch unserem Mittsommer entsprechend, daher der Name). Welches ist das bekannteste Gericht? Feijoada. Welches ist das bekannteste Getränk? Caipirinha. Welche ist die bekannteste Süßigkeit? Brigadeiro. Welches sind die zwei bekanntesten Lieder? Mais que nada von Segio Mendes, A garota de Ipanema von Tom Jobim (kennt man wirklich beide).
Joseph hat schon für nächstes Jahr für den Karneval ein Apartment in Rio reserviert. Das ist auch nötig. Zur Zeit des Karnevals hat Rio eine bis anderthalb Millionen zusätzliche Besucher!
Es kommt auch noch mal die Rede auf die Fußballvereine. Der erfolgreichste der vier Vereine von Rio ist Flamengo. Deren schwarz-rotes Trikot, von Frauen wie von Männern getragen, ist tatsächlich überall präsent, das habe ich in den paar Tagen selbst schon feststellen können, im Zentrum genauso wie in Ipanema. Es gibt auch sprachlich einen interessanten Aspekt: Um die Vereinsfarben zu benennen, benutzt man weder das gängige Wort für ‚schwarz‘ noch das gängige Wort für ‚rot‘. Man sagt rubro-negro.
Wir sprechen auch über die Einwanderungen vom Beginn des 20. Jahrhunderts, nach der Aufhebung der Sklaverei. Da kamen Siedler aus Italien, Deutschland und vor allem Japan. São Paulo hat bis heute die größte japanische Gemeinschaft außerhalb Japans. Diese Siedler sollen bevorzugt behandelt worden sein, unter anderem, weil ihnen Land gegeben wurde. Dadurch kamen sie in eine privilegierte Position gegenüber den befreiten Sklaven, denen meist nichts anderes übrigblieb, als bei ihren alten Herrschaften zu bleiben.
Zum ersten Mal kommt die Rede auch auf die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen, die zweite Runde. Entscheidend sind, so ähnlich wie in den USA, die Ergebnisse der einzelnen Bundesstaaten. Rio de Janeiro ist fest in der Hand von Bolsonaro. Das Zünglein an der Waage ist Minas Gerais. Wer Minas Gerais gewinnt, heißt es, wird Präsident.
Am Wahltag sind die Wahllokale bis 17 Uhr geöffnet. So gegen 21 Uhr kennt man das in der Regel das Ergebnis. Wir bekommen noch eine Warnung mit auf den Weg: Am Wahltag zu Hause bleiben! Er selbst, Damião, geht nur schnell morgens zum Wählen und dann nach Hause.
Er spricht sehr positiv von Lula. Der habe erstens etwas gegen die Armut unternommen, zweitens etwas für die Bildung. Er habe neue Universitäten gegründet – daran kann man auch die Macht des Präsidenten ablesen – und habe es geschafft, mehr Menschen aus den unteren Schichten an die Unis zu bringen. Auch das Verhältnis von Schwarz und Weiß an den Unis sei inzwischen 50:50. Wobei ich mich frage, wer hier als „Schwarzer“ gilt.
Damião ist in seiner Familie das schwarze Schaf, der einzige, der Lula unterstützt. Alle anderen sind eingefleischte Anhänger von Bolsonaro. Religiös beeinflusst.
Nach dem Unterricht die große Enttäuschung. Die von der Schule organisierte Besichtigung der Favela fällt aus – mangels Interesse. Sie haben sich alle für Samba und Hanggliding eingetragen.
Enttäuscht gehe ich durch den einsetzenden Regen nach Hause. Mache aber einen Schwank zur Copacabana. Dabei finde ich mich gut zurecht, mit Hilfe der Orientierungspunkte, auf die Mary hingewiesen hat. Ich komme zum Strand und sehe zum ersten Mal den Zuckerhut. Er ist ganz in Dunst gehüllt.
Im Portugiesischen heißt der Zuckerhut Pão de Açúcar, also ‚Zuckerbrot‘. Das klingt fremd für uns, obwohl es ja das Original ist. Im Portugiesischen klingt es gar nicht absonderlich, weil pão de açúcar nicht nur den Berg, sondern auch den normalen Zuckerhut bezeichnet.
Ich gehe zu der Gastwirtschaft des Portugiesen, bei der wir dieser Tage Halt gemacht haben. Es heißt Garota Copacabana, in Anlehnung an den Liedtitel. Am Eingang zu dem Lokal lächelt mich eine junge Frau freundlich an. Ich glaube, sie sei eine Kellnerin, aber sie hat mit dem Lokal gar nichts zu tun. Ihr Lächeln hatte wohl einen anderen Zweck.
Ich bekomme einen Tisch drinnen, wo ich der einzige Gast bin. Draußen sitzt eine Gruppe von Männern an einer langen Bank unter dem Sonnenschutz, der jetzt Regenschutz ist.
Ich bekomme die Speisekarte und kippe fast aus den Latschen. Astronomische Preise. Noch rechtzeitig erinnere ich mich an ein Menu, das ich irgendwo draußen gesehen habe. Daraufhin bekomme ich die andere Speisekarte, und die hat „vernünftige“, brasilianische Preise.
Ich bestelle Hähnchen, vom Grill. Das heißt hier galeto. Wird mit Pommes und Reis serviert. Die sind beide in Ordnung, das Hähnchen schmeckt wunderbar. Dazu gibt es wieder das leckere Brahma, das einheimische Bier. Es gibt eine große Flasche. Das Bier wird in einem Sektkühler serviert.
Mich bedient eine hochschwangere junge Frau. Nachdem ich sie wohl etwas zu formal angesprochen habe, nennt sie ihren Namen: Andresa. Das Kind kommt im Januar.
20. Oktober (Donnerstag)
In der Nacht wird es laut. Stimmen, Schreie, Böllerschüsse, am Ende so etwas wie eine Explosion. Ist das Fußball? Aber dafür scheint es zu spät zu sein. Ist aber tatsächlich Fußball, wie sich am Morgen herausstellt: Pokalendspiel, im Maracanã ausgetragen! Mit Verlängerung und Elfmeterschießen! Am Ende gewinnt Flamengo 6:5. Das erklärt die ganzen schwarz-roten Trikots!
Schöner Tag heute, kein Vergleich zu gestern. Auf dem Weg zur Schule stehen viele dieser Bäume, die neue Wurzeln aus den Ästen schlagen. Die hängen dann lange als Streifen in der Luft, bis sie unten ankommen. In der freien Wildbahn bilden sie dann neue Wurzeln. Hier werden sie vermutlich beschnitten. Sie würden sonst die kompletten Bürgersteige für sich einnehmen.
Im Unterricht geht es um portugiesische Legenden bzw. Märchen. Eins handelt von einem Delfin, der sich in einen Mann verwandelt und immer einen Hut trägt, da er die Delle auf seinem Kopf verbergen muss. Er zieht durch die Lande und verführt einsame Frauen. Wenn sie schwanger sind, zieht er weiter und am Ende kehrt er ins Wasser zurück. Kinder, deren Väter unbekannt sind, nennt man deshalb filho de boto, Delfinkinder. Ziemlich merkwürdig für ein Märchen, man erwartet noch eine Wende, eine Art Bestrafung. Ein anderes Märchen, Curipipa, handelt von einem Kind, dessen Füße nach hinten zeigen. Es hinterlässt seine Spuren und verwirrt damit die Jäger und schützt die Natur. Dann gibt es noch eins über den typischen Lausbuben, der allerhand ausheckt und für viel Verwirrung sorgt, aber im Grunde gutherzig ist.
Wir bekommen zwar ein paar Exemplare in die Hand gedrückt, aber keine Möglichkeit, mal einen Teil des Textes zu lesen. Auch die Frage nach Märchen in unseren Ländern wird zwar gestellt, aber ihre Beantwortung geht in Damiãos Monolog unter.
Ähnlich geht es bei der Frage nach dem Glücklichsein. Auf dem Monitor erscheinen mehrere richtig gute Fragen: Sind religiöse Menschen glücklicher als nichtreligiöse Menschen? Kann man glücklich sein, indem man seine Probleme unterdrückt? Macht Geld glücklich? Zu all dem könnte man eine Menge sagen, aber die Fragen verschwinden wieder vom Bildschirm, ohne diskutiert worden zu sein. Vergebene Chancen. Immerhin haben wir alle drei die Gelegenheit, von einem Moment zu erzählen, in dem wir glücklich waren. Allerdings dauert Damiãos Schilderung dreimal so lange wie unsere.
Nach dem Unterricht fahre ich ins Maracana. Das hat eine eigene U-Bahn-Station, aber die liegt weiter weg. Unterwegs gibt es die Haltestellen Flamengo und Botafogo, beides Stadtteile von Rio und beides auch die Namen der Vereine, die im Maracana spielen.
Die Metro mag schnell und modern sein, aber benutzerfreundlich ist sie nicht. In den Bahnhöfen sucht man nach dem einzigen Streckenplan, der irgendwo aushängt, in den Zügen selbst gibt es nur über den Türen eine Anzeige, und die Durchsage ist wegen des Krachs nicht zu verstehen. Am schlimmsten ist aber, dass an den Bahnsteigen der Name der Station nur einmal erscheint. Wenn man den aus dem Zug hinaus verpasst, sieht man alt aus. Madrid und Lissabon gewinnen den Vergleich mit Rio mit Abstand.
Das Stadion liegt gleich vor der U-Bahn-Station. Über einen Flyover geht es durch die Mittagshitze zum Eingang. Ich bekomme wieder einen Rentnerrabatt, und die Führung soll in fünf Minuten schon losgehen.
Aber es gibt gar keine Führung. Man wird über eine Einbahnstraße durch die Ausstellung geschleust und sieht sich die Sachen selbst an. Das ist ganz gut, weil man es in Ruhe machen kann, aber man erfährt nichts über das Stadion selbst, die Planung und Architektur und die Umbauten. Jedenfalls ist das Fassungsvermögen jetzt auf das eines normalen großen Fußballstadions gestutzt, im Gegensatz zur Vergangenheit, wo von Zahlen zwischen 180.000 und 200.000, die Rede ist. Für die Zahlen gibt es aber keine Belege.
Von den Ausstellungsstücken sind die alten die interessantesten. Alte Fußbälle, aus Leder, mit Nähten und Ventil, alte Trikots und Eintrittskarten, darunter eine für das legendäre Endspiel von 1950 hier im Maracana, wo Uruguay in letzter Minute und entgegen allen Erwartungen Brasilien den Titel entriss. Brasilien hat seine fünf Weltmeisterschaften alle auswärts gewonnen.
Interessant auch das Trikot der brasilianischen Nationalmannschaft. Das war lange weiß. Hier ist eins von der WM von 1930 ausgestellt, das war noch weiß, später gab es dann einen Wechsel von Blau und Gelb.
Man kommt durch einen kleinen Pressekonferenzraum und durch mehrere Umkleidekabinen. Dort sind Trikots von bekannten Fußballern ausgestellt, und auf dem Weg die Fußstapfen von bekannten Fußballern. Fast ausschließlich Brasilianer. Die meisten Namen kennt man, aber viele sind auch wieder in Vergessenheit geraten. Für ein paar wie Pelé, Garrincha oder Ronaldinho gibt es Schautafeln, die die Erfolge auflisten. Dabei ist auch Zico, einer, der in der Erinnerung nicht so verankert ist wie er es verdient hätte. Es heißt, er sei einer von nur drei brasilianischen Fußballern, die in die Hall of Fame aufgenommen worden sei. Er ist als Spieler und als Trainer Weltmeister geworden.
Dann geht es ins Stadion hinaus. Was einem sofort auffällt, ist die Weite der Ränge. Die steigen nicht steil auf, sondern nur ganz sanft an. Sieht gut aus, aber wenn man ganz hinten sitzt, ist man doch verdammt weit vom Spielfeld entfernt.
Irgendwie ist das Stadion schlecht gealtert, mit all seinem Beton und den verblassten, oft verkratzten Sitzen. Ganz schlimm ein Trainingsfeld draußen direkt vor dem Eingang, mit einer verfallenden Tribüne und ungepflegtem Rasen.
Man muss wohl sagen, dass das Maracana in erster Linie von seinem Ruf lebt, von seiner Geschichte. Schon für uns als Kinder hatte das Wort Maracana etwas beinahe Mythisches. Dass ich das Stadion einmal selbst besuchen würde, wäre jenseits aller Vorstellungen gewesen. Das ist so, als wenn man die ägyptischen Pyramiden oder die Chinesische Mauer besucht.
Ich fahre danach noch mal zur Schule, um etwas nachzuschauen. Dabei komme ich mit Jascha ins Gespräch, einem Holländer, der mir in den letzten Tagen schon ein-, zweimal geholfen hat. Er gehört wohl zur Leitung der Schule, vielleicht so etwas wie ein Geschäftsführer. Sein Name erklärt sich daher, dass er Vorfahren aus Belarus hat. Er stammt aus Utrecht, und nach einiger Zeit in Rio ist er mit der Familie auch dahin zurückgekehrt. Wohl wegen der Einschulung der Kinder. Jetzt sind wohl Ferien, und sie sind vorübergehend wieder in Rio, wo er sich vor Ort um die Schule kümmern kann.
Ich mache mich auf die Suche nach einem Lokal, La Carioca Cevicheria. Das hat Damião empfohlen, als ich wegen Pisco Sour nachgefragt habe, einem Geheimtipp aus der Heimat. Es ist das peruanische Nationalgetränk.
Ich muss ein bisschen suchen und komme dabei durch das Viertel um die Schule herum. Das gewinnt auf den zweiten Blick, vor allem wegen der großen, schattenspendenden Bäume.
Das Lokal liegt an einer Kreuzung, ist klein und hat Tische drinnen und draußen. Ich frage nach dem Pisco Sour, bekomme eine positive Antwort und kann mich an einen der kleinen Tische draußen setzen. Es dauert eine Zeitlang, bis das Getränk kommt, kein Wunder, es ist eine Art Zaubertrank mit unendlich vielen Ingredienzien. Schon der Anblick ist verlockend. Der Pisco wird in einem Cocktailglas serviert, die obere weiße Schicht ist an einer Seite mit Pfeffer, an der anderen mit Zimt bestreut. Zu den Ingredienzien zählen Zitronensaft, rote Zwiebel, Koriander, Pfeffer und etwas, was hier als tiger milk bezeichnet wird. Es stellt sich heraus, dass das das geschlagene Eiweiß ist, das die obere Schicht des Piscos bildet.
Und dann folgt eine einzigartige Geschmacksexplosion. Ein wunderbares Getränk, für Zunge und Gaumen. Obwohl der Zitronensaft sehr dominant ist und der Pisco Sour seinen Namen wirklich verdient, ist der säuerliche Geschmack nicht unangenehm, weil von so vielen anderen Geschmacksnoten begleitet. Alkohol scheint keiner drin zu sein, aber wenn man es nicht anders wüsste, könnte man es meinen.
Inzwischen hat sich auch Hunger eingestellt. Ich bestelle lomo saltado, von Damião empfohlen. Es sind marinierte Rindfleischstücke, sehr zart, sehr schmackhaft. Es gibt Reis dazu und schmale Paprikastreifen ist der leckeren Soße.
Auf dem Weg nach Hause stehe ich am Ende einer kleinen Straße, in die zwei Straßen einmünden. Ist morgens, wenn noch wenige Autos unterwegs sind, noch nie ein Problem gewesen. Jetzt aber. Autos aus zwei Richtungen, kaum mal eine Lücke dazwischen, und dann Motorräder, die sich mit großer Geschwindigkeit dazwischen drängen und selbst hier noch überholen. Eine junge Frau, vermutlich auch Ausländerin, steht neben mir und sieht, halb erschreckt, halb kopfschüttelnd, wie sich die brasilianischen Fußgänger an unserer Seite ins Getümmel stürzen. Es geht zweimal ganz schön knapp zu. Wir atmen auf, als sich dann eine auch für Ausländer akzeptable Lücke ergibt.
Im Radio gehört: „Ich bin zerrissen und allein. Aber bereit, es zu sein.“ (Camus)
21. Oktober (Freitag)
Morgens beim Frühstück Unterhaltung mit den beiden anderen. Der Holländer ist ein ziemlicher Stinkstiefel, der Schotte ein Sonnenschein. Der Holländer ist immer kurz angebunden und weiß alles besser. Immerhin hat er später, nach dem Unterricht, die Größe, anzuerkennen, dass ich recht hatte mit meiner Behauptung, dass für heute ein Fahrradausflug auf dem Programm steht. Da weist er beim Frühstück noch barsch zurück.
Mit dem Schotten, Joe, geht es immer gut. Wir bleiben immer beim Portugiesischen, auch, wenn es mal hakt. Er erzählt, wie er bisher durch die Gegend gereist ist und dass er jetzt noch Brasilien entdecken will. Weihnachten reist er dann nach Costa Rica. Dort trifft er dann seine Familie.
Auf dem Weg zur Schule sehe ich an einer Kreuzung vor mir einen weißen VW-Käfer vor mir abbiegen.
Wieder gibt es Schwierigkeiten mit der Bank. Diesmal kann man höchstens 50 R$ abheben. Das sind gerade mal 10 €.
Im Unterricht geht es um Religionen und deren Verteilung in Brasilien. Neben dem Christentum sind der Buddhismus, das Judentum, Jehovas Zeugen und animistische Religionen vertreten. Afrobrasilianische Religionen sind mit 2% vertreten. 10 % sind Atheisten.
Am interessantesten ist aber die Verteilung der christlichen Konfessionen. Es gibt 50% Katholiken und 31% Protestanten (Evangelikale). Das Größenverhältnis zwischen den beiden hat sich in den letzten Jahrzehnten entscheidend verändert. 1940 waren es noch 90% Katholiken und 2,7% Protestanten. In wenigen Jahren werden sie pari sein.
Damião sagt, er betrachte sich als Protestanten. Da frage ich nach. Es stellt sich heraus, dass Religionszugehörigkeit kein offizieller Status ist, nirgendwo steht in irgendwelchen Dokumenten, ob man einer Religion angehört oder nicht und wenn ja, welcher. Alle Zahlen beruhen also auf Umfragen.
Wieder lässt er alle interessanten Fragen links liegen. Ein Unterricht mit lauter verpassten Chancen. Wir haben auch zweimal Hausaufgaben gemacht. Beide Male wurden sie nicht überprüft.
Beim Brasilienquiz kommen wieder ein paar interessante Details ans Licht. Was sind die beiden größten Wälder Brasiliens? Amazonas und Tijuca. Wofür stehen die Sterne in der brasilianischen Flagge? Für die Staaten Brasiliens. Was steht auf der brasilianischen Flagge? Ordem e Progresso. Was ist cachaça? Das ist die Spirituose, aus Zuckerrohr gewonnen, die die Grundlage für Caipirinha ist. Umgangssprachlich heißt sie auch pingo oder 51.
Ich frage nach, wie man nach einer Quittung fragt. Es geht mir und die Stellung des Personalpronomens. Ich biete ihm drei Vorschläge an. Nur eine ist richtig: Pode-me dar o recibo? Das schlägt alles in den Wind, was ich in Portugal gelernt habe. Die Verwirrung ist komplett.
Zum Schluss sehen wir noch auf Netflix einen Ausschnitt aus einem Film, in dem alte Motive aus einem brasilianischen Märchen in moderner Form als Krimi verarbeitet werden. Wir gucken zwanzig Minuten lang zu, dann macht er eine paar Kommentare dazu. Dabei bleibt es. Keine Frage zum Inhalt, keine Frage zur Sprache. Keine Frage zum Verstehen und kein Versuch, Hilfestellung zu leisten. Den Film hätten wir uns genauso gut zu Hause ansehen können, ohne Lehrer.
Der angekündigte Ausflug mit dem Rad fällt aus, weil der Park, in dem wir fahren wollten, geschlossen ist. Das erklärt mir Davi, derjenige, der für das Freizeitprogramm verantwortlich ist. Wir machen einen Spaziergang.
Wir stehen an einer Bushaltestelle und irgendwie ist von dem Fahrpreis die Rede. Ich glaube, wir führen mit dem Bus, aber man hat zwei Wagen über Uber gebucht. Eine der Teilnehmerinnen, eine Kolumbianerin, hat die Wagen gebucht. Außerdem dabei sind ein Argentinier, der Holländer und ein junger Schweizer, aus Bern, mit dem schon vor der Schule beim Warten ins Gespräch gekommen bin. Er ist schon länger an der Schule, konnte noch kein Portugiesisch, als er herkam. Dafür hat es richtig gute Fortschritte gemacht. Er will in den Amazonas reisen. Wie genau das ablaufen soll, hat er noch nicht entschieden. Auf jeden Fall ist die Anlaufstation Manaus. Irgendwo habe ich gelesen, dass man von dort aus eine siebentägige Schiffsreise durch den Amazonas machen kann.
Jetzt stehen wir aber erst mal im Stau auf der Avenida de Libertade, der breiten Straße, die an dem Strand von Copacabana entlangführt. Wir fahren bis zum Fuß der Festung am äußersten Ende des Strands. Die hatte Mary dieser Tage schon mal erwähnt.
Wir erfahren nur, dass das hier heute noch als Kaserne dient, irgendwelche Hintergründe werden nicht erklärt. Aber macht nichts. Ist auch so schön.
Wir kommen beim Aufstieg bei dem schwülen Wetter ganz schön ins Schwitzen. Aber der Weg ist wunderbar, auf einem breiten Kopfsteinpflaster mit dichtem Wald zu beiden Seiten geht es nach oben. An den Baumstämmen klettern kleine Affen hoch. Sie sind ständig in Bewegung. Es sind Schwarzbüschelaffen (mico estrela). Auffällig das Gesicht, das mit weißen Haaren bedeckt ist und sich von dem dunklen Körper absetzt. Auffällig auch ihre Ohrbüschel. Aus den Ohren wachsen dichte, schwarze Haare. So möchte man selbst lieber nicht aussehen, aber für einen Affen ist es in Ordnung.
Von der Umgebung ist die ganze Zeit nichts zu sehen, da die Bäume die Sicht versperren. Ich bin gerade dabei, den Schweizer nach dem Cristo Redentor zu fragen, als wir oben ankommen. Ich sage ihm, ich hätte ihn bisher noch nicht einmal gesehen. Da zeigt er einfach nach vorne. Da ist er, in der Ferne. Und wenn man in den andere Richtung sieht, bekommt man den Zuckerhut gleich dazu.
Die Aussicht hier oben ist phantastisch, denn sie kommt im Doppelpack. Vorne die Copacabana mit dem Berg, der mir gestern Abend im Dämmerlicht so gut gefallen hat, und rechts oben davon der Cristo Redentor, nach hinten der Zuckerhut und wieder das Meer, aber ganz anders, verzweigt, so dass ich erst an eine Lagune denke. Es ist aber das offene Meer. Dahinter noch mehr Berge. Für mich sind zwei Dinge erstaunlich: wie gebirgig es hier ist und wie grün es hier ist. Wenn man von hier aus ein Photo macht, ohne Cristo Redentor und ohne Zuckerhut, würde kein Mensch wissen, dass das Rio ist.
Ich bitte Davi, mir auf der Karte zu zeigen, wo wir sind. Wir sind am äußersten südwestlichen Ende von Rio.
Auf einmal erscheinen hier auch noch drei große, schwarze Vögel. Sie lassen sich einen Moment auf dem Geländer nieder und sind dann wieder weg. Der Schweizer meint, es wären Reiher. Mir kommen sie eher wie Geier vor.
Beim Abstieg nimmt mich die Kolumbianerin in Beschlag. Sie ist aus Bogota, hat aber auch an der Grenze zu Venezuela und in Peru gelebt und ist überhaupt weitgereist. Jetzt fliegt sie nach Lissabon, dann nach Madrid und nach Rom – wo wie überall Freunde zu haben scheint – und dann nach Ägypten. Ob das ein Sabbatjahr sei, will ich wissen. Nein, sagt sie, sie arbeite die ganze Zeit, online. Sie ist bei einer Finanzbehörde angestellt. Das wäre so ziemlich das letzte, worauf man kommen würde.
Sie ist schon seit April hier und nimmt Portugiesischunterricht, Privatstunden, macht aber nicht den geringsten Versuch, Portugiesisch zu sprechen. Nee, sie habe nur das gelernt, was sie so für den Alltag brauche, Essen bestellen und Reisen organisieren. Sie spricht mit allen unterschiedslos Spanisch, mit einer Affengeschwindigkeit und fröhlich drauflosredend. Sie fragt mich, ob ich geschieden, verwitwet oder Single sei und ob ich Kinder hätte und erzählt frank und frei von ihren letzten beiden Beziehungen und warum aus denen nichts geworden sei. Das Thema Kinderkriegen beschäftigt sie, sie ist 39, aber das geht sie mit großer Gelassenheit an. Wenn es sich ergebe, dann ja, wenn nicht, dann nicht. Als wir unten ankommen, kenne ich ihre halbe Lebensgeschichte.
Unten trennen wir uns. Die drei anderen fahren zur Schule, wo es heute Caipirinha gibt, von Davi selbst zubereitet, ich gehe mit dem Argentinier und dem Schweizer den langen Weg an der Copacabana entlang.
Die beiden haben es etwas näher. Ich gehe noch weiter und gelange zu den gelben Häusern, Marys Orientierungspunkte. Hier muss man abbiegen. És fängt an zu regnen. Danach sah es den ganzen Tag schon aus, aber wir haben Glück gehabt.
Diesmal finde ich das Lokal, in dem wir dieser Tage waren, das Grill Inn. Die Abläufe kenne ich jetzt ja. Es gibt eine große Auswahl, und ich bin so ausgehungert, dass ich von allem etwas nehme: Quiche, Empanada, Lasagne, Boeuf Stroganoff, Kroketten. Dazu Salat mit sehr gut schmeckenden Tomaten. Und das wunderbare, eisgekühlte Brahma.
22. Oktober (Samstag)
Seit Tagen frage ich mich, warum die Vögel am Morgen so vielstimmig und laut singen. Die Antwort ist einfach: Es ist Frühling.
Beim Frühstück frage ich vorsichtig nach der Reinigung. Ja, kein Problem, könnten wir sofort erledigen, wir könnten zusammen gehen. Und auf dem Weg dann auch gleich in die Bank gehen.
Ich bin froh, dass sie mir den Weg zeigt, denn der ist nicht so einfach zu finden. Als wir an der Reinigung ankommen, sehen wir, dass sie noch geschlossen hat.
Es ist schon und schwül, obwohl es noch früh ist. Wir gehen in eine Bank, dann in noch eine, dann in noch eine, nirgendwo kann man mit ausländischer Kreditkarte Geld abheben. Am Ende kommen wir zur Santander. Hier klappt es. In der Bank ist es so kalt, dass Mary Reißaus nimmt. Sie beschwert sich zurecht, dass man überall so stark herunterkühlt. Auch in den Supermärkten und vor allem in der Metro ist das so.
Wir machen einen zweiten Versuch bei der Reinigung, aber die hat immer noch geschlossen. Mary sagt aber, sie wolle sich selbst später darum kümmern, da sie weiß, dass ich zur Stadtführung will. Nehme ich dankbar an.
Als ich mich auf den Weg machen will, sagt sie, sie wolle mich begleiten. Sie will mir zeigen, wie ich gratis mit der Metro fahren kann. An dem Drehkreuz steht eine Frau. Die sieht sich meinen Ausweis an und lässt mich umstandslos durch. Ohne zu bezahlen. Diese Mary ist Gold wert.
Ich komme zu früh an dem Treffpunkt an. Der ist genau an dem Platz, auf dem ich dieser Tage gewesen bin, dem Largo Carioca. Man trifft sich unter der Uhr. Die ist ein Werk von 1911, schön geschmiedet, mit vier gleichen Zifferblättern zu allen vier Seiten. Unten vier Frauengestalten, mit entblößter Brust, die Attribute der Industrie in den Händen halten, ein Zahnrad, eine Fackel, einen Anker.
Ich gehe noch an einen kleinen Imbissstand und bestelle ein Wasser und lass mir erklären, welche Kleinigkeiten es sind, die da zum Essen ausliegen, meist getoastete Brotscheiben. Das Prozedere ist kompliziert. Man kann nicht direkt bestellen, sondern muss erst zur Kasse und bezahlen und dann mit der Quittung zurück zur Theke. Ich setze mich an einen Tisch, und sofort kommt ein Bettler, mit nackter Brust. Er bittet um eine Spende. Sofort kommen ein paar Uniformierte, die ihn wegjagen.
Dann kommt ein Kellner und legt noch eine Tüte mit Käsebällchen auf meinen Tisch. Die habe ich wohl bestellt, ohne es gemerkt zu haben.
Ich gehe zur Uhr, wo inzwischen schon eine ganze Menge Leute wartet. Es kommt ein Bettler und zeigt auf die Tüte mit den Käsebällchen. Er nimmt zwei. Den Rest gebe ich einer alten Frau, die unter einem Baum auf dem Boden liegt.
Obdachlose und Bettler sieht man an jeder zweiten Ecke, nicht in großer Zahl, aber nicht zu übersehen. Meist sind es kleine Gruppen von 4-5 Leuten. Man sieht auch viele ärmlich aussehende Menschen auf der Straße. Nicht die Mehrheit, aber doch eine ganze Menge.
Inzwischen hat sich eine große Gruppe hier angesammelt, so um die 60. Man kann teilnehmen, ohne sich anzumelden und bezahlt am Ende das, was einem die Tour wert ist.
Es stehen drei Führer bereit, und dann stellt sich heraus, dass sie drei verschiedene Sprachen anbieten: Englisch, Portugiesisch, Spanisch. Ich gehe mit der spanischen Gruppe. Unser Führer, Fernando, stammt aus Ecuador. Er hat einen langen Pferdeschwanz, einen buschigen Schnäuzer, du trägt Hut und Brille. Er hat außerdem alle möglichen Dinge um die Hüfte geschwungen.
Wir beginnen mit einer Vorstellung. Fünf Mädchen aus Madrid, alle spindeldürr, mit leichtem Sommerkleid und Sonnenbrille, eine junge Frau aus Logroño, ein Ehepaar aus Argentinien und eine Kolumbianerin.
Fernando macht seine Sache gut, vom Anfang bis zum Ende. Hier, erfahren wir, um den heutigen Largo Carioca herum, entstand seinerzeit ein neues Zentrum, weil man weiter von der Küste und den Piratenangriffen entfernt sein wollte.
Zu der Zeit entstanden auch die beiden Kirchen oben auf dem Hügel. Es sind wirklich zwei, Santo António und São Francisco, unmittelbar nebeneinander. Warum ich Santo António dieser Tage nicht gefunden habe, verstehe ich nicht.
In unmittelbarer Nachbarschaft das moderne Bürogebäude von Petrobrás, in Form eines Kubus. Das ist mir dieser Tage schon aufgefallen. Es heißt, die Architektur des Gebäudes greife die Form einer Ölplattform auf. Nicht der Tourismus ist die wichtigste Einnahmequelle Brasiliens, es sind Gas und Erdöl.
Unsere erste Station ist ein Café in einer schmalen Seitenstraße, die Confeitaria Colombo. Von der hat Mary schon gesprochen. Es ist rappelvoll hier, die Leute stehen Schlange, um einen Platz zu bekommen, aber wir dürfen trotzdem rein und uns umsehen. Die Madrileninnen nutzen die Gelegenheit, um sich die typischste aller Süßigkeiten des Cafés zu besorgen, deren Namen mir entgeht. Sehen wie Rumkugeln aus. Die Mädels werden jetzt sicher drei Tage lang nichts mehr essen.
Das Café stammt aus dem 19. Jahrhundert, ein langgestreckter Raum mit großen Spiegeln an beiden Seitenwänden. Alle Materialien wurden aus Europa importiert, der Marmor aus Italien, die Leuchter aus Belgien, die Azulejos aus Portugal. Das einzige Material, das aus Brasilien stammt, ist das Holz, pau brasil, Brasilholz, das Holz, das dem Land seinen Namen gab. Die Bäume, aus denen das Holz gewonnen wurde, gibt es nicht mehr, jedenfalls nicht in freier Wildbahn. Hier in Rio kann man es noch im Botanischen Garten sehen.
Wir kommen auf die Rúa Primeiro de Março. Sie ist eine der ältesten und wichtigsten Straßen Rios. Der Name bezieht sich eigentlich auf das Datum des Endes eines Kriegs mit Paraguay, aber da es zufällig auch das Datum der Gründung von Rio de Janeiro ist, wird es heute meist so verstanden.
Hier sieht man eine Reihe älterer Häuser. An einer Fassade sieht man einen Davidstern, sicheres Zeichen dafür, dass Rio keine rein portugiesische Angelegenheit ist sondern dass Juden, Muslime, Franzosen stark an der Entwicklung der Stadt beteiligt waren.
Man sieht hier wie an anderen Stellen immer wieder ein Nebeneinander von Alt und Neu. Ein schmales neoklassisches Wohnhaus neben einem riesigen modernen Bürogebäude, die Kirche der Könige neben einem modernen Glasbau.
Kirchen gibt es hier reichlich. Das erklärt sich daraus, dass jede gesellschaftliche Gruppe ihre eigene Kirche hatte, die Kirche des Hofs neben der Kirche des Militärs, der Kirche der Kaufleute usw.
Dann kommen wir auf eine ruhige Seitenstraße mit dem kuriosen Namen Rúa Ouvidor. Das bedeutet so etwas wie die Straße des Hörers. Der Hörer war ein Abgesandter der Regierung, der in diesen Vierteln die Anliegen und Klagen der Leute entgegennahm und sie an die zuständigen Stellen weitergab. Ein gutes, ganz modern klingendes Konzept.
In der Rúa Ouvidor reiht sich ein Lokal an das andere. Die Tische draußen sind schon gedeckt. Die ersten Gäste dürften bald eintreffen. Es wird in verschiedenen Lokalen Feijoada angeboten. Traditionellerweise wird sie nur an einem bestimmten Wochentag gegessen, dem Führer zufolge am Freitag.
Wir kommen auf die Travessa do Comércio. Hier gibt es ein Theater, das Berühmtheit erlangte durch Carmen Miranda, einer portugiesischen Sambatänzerin, die nicht nur durch ihre Interpretation bestach, sondern auch wegen ihres Aufzugs. Sie führte den Tutti-Frutti-Hut ein.
Durch einen niedrigen Bogen gelangen wir auf die Praça 15 de Novembro. Ihr Name bezieht sich auf das Datum, an dem 1889 der erste Präsident Brasiliens, die Republik ausrief. Auf dem Platz findet heute ein Antiquitätenmarkt statt.
Wir gehen in den Paço Imperial. Hier etablierte Dom João VI. nach seiner Flucht aus Portugal seinen Sitz in Rio.
Wir setzen uns kurz im Innenhof und bekommen dann die Gelegenheit, uns etwas zu trinken zu besorgen. Ich kaufe in der kleinen Cafeteria eine Flasche Wasser. Als mich die Kassiererin um Kleingeld bittet, halte ich ihr, weil ich mich mit den Münzen noch nicht auskenne, einfach mein Portemonnaie hin. Sie bedient sich und legt das Geld an die Seite. Dann macht sie sich mit einem charmanten Lächeln weiter an meinem Portemonnaie zu schaffen. Erst verstehe ich nicht genau, worum es geht, dann fällt der Groschen: Sie will noch mehr Kleingeld für die Kasse. Am Ende gibt sie mir für das Kleingeld einen Geldschein. Und es bleibt noch eine einzige Münze übrig.
In dem Paço Imperial gibt es eine Ausstellung zu den Entwicklungen nach der Verlegung des Königshofs von Lissabon nach Rio. Trotz aller Bemühungen Fernandos kann ich die ganze Sache nicht richtig entwirren, wer welcher Pedro mit welcher Bedeutung ist, wird mir nicht klar. Aber eins wird mir doch klar: Brasilien ist einen Sonderweg gegangen. Die anderen südamerikanischen Länder sind nach der Unabhängigkeit sofort Republiken geworden, Brasilien war erste eine von Portugal unabhängige Monarchie.
Wir kommen zu dem Ausläufer des Platzes. Von hier sieht man den Hafen in der Ferne. Das Terrain, auf dem wir stehen, ist dem Meer abgerungen. Wenn man es weiß, erahnt man noch, wie weit es ursprünglich ging. Dort befindet sich heute noch eine steinerne Abgrenzung.
Hier fährt eine moderne Straßenbahn entlang. Die fährt über eine Trasse, die aus Anlass der Olympischen Spiele geschaffen wurde und zwei wichtige Stadtteile miteinander verbindet.
Wir kommen zu dem Palácio Tiradentes, dem heutigen Sitz des Landesparlaments. Rio war früher nicht die Landeshauptstadt, das war Niteroi. Wohl aber war es Hauptstadt Brasiliens, bis Brasilia es wurde.
Auf diesen merkwürdigen Namen Tiradentes bin ich schon mehrmals gestoßen. Jetzt bekomme ich die Erklärung. Vor dem Parlament steht die große Figur eines gewissen Joaquim José da Silva Xavier, mit Sitznamen Tiradentes. Er war Anführer einer frühen Revolte gegen die portugiesischen Herren und landete auf dem Schafott. Er geriet praktisch in Vergessenheit, wurde dann aber wieder ans Tageslicht geholt, nachdem Brasilien unabhängig geworden war und als Held verklärt. Er hatte als Bürger verschiedene Berufe und war als Barbier auch fürs Zähneziehen zuständig. Daher der Name Tiradentes. Wie er aussah, weiß kein Mensch, die Abbildung bei der Statue ist also rein imaginär.
Wir kommen nach Lapa, einem Viertel, das vor allem für sein Nachtleben bekannt ist. An der Ecke des Platzes, auf dem wir stehen, steht eine portugiesische Kirche mit Azulejos an der Fassade. Der Name Lapa, obwohl er heute bei Brasilianern andere Assoziationen hervorruft, ist fromm und auch portugiesischen Ursprungs. Er nimmt Bezug auf eine Madonna mit dem Namen Maria da Lapa.
Weiter hinten sieht man die Arcos da Lapa, die weißen Arkaden eines ehemaligen Aquädukts, aus dem 18. Jahrhundert stammend. Dass es eine Wasserleitung war, kann man noch an dem leichten Gefälle ablesen. Heute ist der Aquädukt Teil der Strecke, die eine alte einwagige Straßenbahn abfährt, zu reinen Vergnügungszwecken. Fernando empfiehlt eine Fahrt mit der Straßenbahn sehr. Genau in diesem Moment sehen wir eine Straßenbahn über das Aquädukt fahren.
Die Kräfte lassen langsam nach, und das, obwohl Fernando immer dafür sorgt, dass wir im Schatten stehen und nach Möglichkeit sogar sitzen können, während er die ganze Zeit in der Sonne steht.
Heute sieht man überall die schwarz-weiß gekleideten Anhänger von Vasco da Gama. Bei ihnen geht es um den Wiederaufstieg in die Erste Liga. Drei der vier großen Clubs von Rio, darunter auch Vasco, wurden als Rudervereine gegründet. Das war damals der beliebteste Sport. Teils ist das noch an den Vereinsemblemen abzulesen.
Aber wir kommen noch zu einem wichtigen Platz, Cinelândia. Hier befanden sich früher die großen Kinos. Die mussten weichen, teils wegen Umbauarbeiten bei der Erweiterung der Metro, teils weil sie in die neuen Shopping Centers integriert wurden, wo sie entsprechend modernisiert auftraten.
Am Kopfende des Platzes, der einen sehr französischen Eindruck macht, steht das Theatro Municipal, Art Déco in Reinform. Daneben das imposante Gebäude der Nationalbibliothek, die von jedem in Brasilien veröffentlichten Buch ein Exemplar aufnimmt. Dazu noch zwei palastartige Gebäude, die beide Museen beherbergen.
Als wir über den Platz laufen, höre ich eine Stimme hinter mir, fühle mich aber nicht angesprochen. Ich bin aber gemeint. Ein Mann hat es auf die Plastikflasche abgesehen, die ich gerade entsorgen will. Auf die scheint es Pfand zu geben. Kann er gerne haben.
Unsere letzte Station ist die Escadaria Selaron, das bemerkenswerte Werk eines chilenischen, in Brasilien ansässigen Künstlers, Jorge Selaron. Er begann 1990, einige Stufen der völlig heruntergekommenen Treppe, die an seinem Haus vorbeiführte, auszubessern und sie mit bunten Kacheln zu verzieren. Anfangs stieß die bizarre Zusammenstellung der Farben auf viel Verwunderung, aber im Laufe der Zeit kam immer mehr Zustimmung. Für Selaron selbst, für den die Treppe erst eine Art Freizeitbeschäftigung neben seiner Malerei war, wurde die Aufgabe allmählich zur Obsession. Heute ist die Treppe, ausgestattet mit Kacheln und Motiven aus allen möglichen Ländern und knalligen Farben, eine der fünf wichtigsten Sehenswürdigkeiten Rios. Zu denen gehört auch das Nationalmuseum. Wir sollen raten, was die anderen drei sind: Cristo Redentor, Zuckerhut und Maracana. Und damit geht eine sehr unterhaltsame und informative Führung zu Ende.
Ich mache einen Fehler, indem ich einfach in eine Richtung laufe, in der Hoffnung, auf eine Metrostation zu treffen. Das sollte man in Rio nicht tun. Dazu liegen die Stationen zu weit auseinander und decken auch nicht alle Teile der Innenstadt ab. Ich laufe und laufe, und komme irgendwann wieder da aus, wo ich schon mal gewesen bin. Als ich endlich eine Metrostation finde, habe ich mich zwei Stationen von unserem Ausgangspunkt entfernt.
In der Metro wird mir zweimal ein Platz angeboten. Man sieht, dass man mich für einen Senior hält. Selbst will ich meinen Platz einer älteren Dame anbieten, die hereinkommt, aber der Mann neben mir ist schneller. Auf jeden Fall spürt man hier viel Respekt, was ganz mit der völligen Absenz jeder Form von Höflichkeit im Alltag kontrastiert. Man drängt sich vorbei, bedankt sich nicht, wenn man durchgelassen wird, Kassiererinnen und Kellner vollziehen ihre Arbeit sehr geschäftsmäßig. Kaum mal ein Lächeln, kaum mal ein Dankeschön.
An unserer Station, General Osorio, mit der ich jetzt schon ein bisschen vertraut bin – obwohl die Eingänge weit auseinander liegen – gehe ich über den großen Platz mit einem Park in der Mitte, auf Suche nach der von Damião empfohlenen Casa de Feijoada. Was immer man von ihm als Lehrer hält, als Hinweisgeber auf gastronomische Highlights hat er sich bewährt.
Nach einigem Suchen, als ich schon dabei war, aufzugeben, finde ich das Lokal, etwas versteckt am Rande des Platzes gelegen, doch noch. Ja, es gibt Feijoada, auch zu dieser Tageszeit. Ist nicht ganz billig, aber gut und absolut komplett. Zu dem Menu gehören auch ein kleiner Aperitif, eine Art Caipirinha, sehr gut schmeckend, eine Art Bratensaft, den man auch als Getränk serviert bekommt und ein Nachtisch mit drei winzigen Kleksen von einer süßen Masse, mit Bananen-, Kokos- und Milchgeschmack. Könnte aus der Molekularküche stammen.
Am Nebentisch diskutieren eine Frau und zwei Männer über die bevorstehenden Wahlen, offensichtlich kontrovers. Leider verstehe ich nichts.
Die Feijoada besteht aus dunklen Bohnen, dem Namensgeber des Gerichts, einem Fleischtopf, in dem auch Ochsenschwanz, Schweineohr und Zunge vertreten sind, dazu Reis, Maniok, einem Kohl und Apfelsinenscheiben, die erstaunlich gut dazu schmecken. Ist ein tolles kulinarisches Erlebnis und auch ein Stück Landeskunde. Nur schade um all das Essen, das wieder zurückgeht. Von der Portion hätten auch zwei oder drei satt werden können.
Als ich wieder nach Hause komme, liegt die Wäsche auf dem Bett, komplett gewaschen und gebügelt. Unglaublich!
23. Oktober (Sonntag)
Beim Frühstück habe ich zum ersten Mal die Muße, mir die Einrichtung des Wohnzimmers anzusehen. Die Wände sind weiß verputzt, bis auf eine Seite, die original erhalten ist, in Backstein. Die leicht gekrümmte Laibung der Decke oben ist in Feuerrot von den weißen Wänden abgesetzt.
An den Wänden hängen Bilder verschiedener Herkunft, darunter eins mit einer Straßenszene im Regen, das mir außerordentlich gut gefällt.
Auf dem Boden liegen Teppiche und Läufer gleich nebeneinander, die unterschiedlicher kaum sein könnten.
Es gibt zwei schwere Sessel mit hölzernen Lehnen. Die sind beide nach orientalischer Tradition abgedeckt, damit sie keinen Staub fangen. Ebenso ein Sofa und ein Tisch.
Auf einer Kommode und in einer Vitrine allerlei Figuren, Puppen und Vasen. An Ausstattung mangelt es in dem kleinen Raum auf jeden Fall nicht.
Sonntag Ruhetag, nach einer kräftezehrenden Woche. Meinen geschundenen Füßen biete ich eine Wassertherapie. Es geht immer an dem Strand der Copacabana entlang, mit nackten Füßen, immer so nah am Meer, dass die Füße ins Wasser kommen. Das Wasser ist nicht kalt, aber es sind relative wenige Personen im Wasser, obwohl der Strand ziemlich voll ist. Schwimmen tut hier niemand, es geht eher darum, die heranschwappenden Wellen auf sich zukommen zu lassen.
An einem Kiosk sehe ich einen Werbespruch, der mit né? endet. Scheint sehr brasilianisch zu sein.
Auf dem Rückweg fällt mir zufällig ein kleines, graues Gebäude auf. Ich muss hier schon öfter vorbeigekommen sein. Das Gebäude ist baufällig, offensichtlich soll es restauriert werden. Man kann kaum sagen, welche Funktion es hatte. Von der Form her könnte es eine Burg, eine Kirche oder ein Wachturm sein.
Im Radio gehört: „Jeder Mensch ist ein Abgrund. Es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.“ (Büchner)
24. Oktober (Montag)
Beim Frühstück zeigt mir Mary ein Faltblatt einer Reiseagentur. Mit der sollte ich nach Petropolis reisen. Tagestour, alles enthalten, da bräuchte ich mich um nichts zu kümmern. Keine schlechte Idee.
Der Unterricht geht mit einer neuen Lehrerin weiter, Celi, blutjung, freundlich. Sie macht keinen Versuch, ihre stämmigen Oberschenkel zu verbergen, sondern trägt ganz kurze Shorts.
Es geht gut los, mit einer bewährten Übung: Wahr oder Falsch? Wir schreiben drei Sätze über unsere Hobbies und drei über unsere Lieblingsorte, drei Sätze, von denen einer falsch ist. Wir beide, Joseph und ich, liegen bei ihr, Celi, bei beiden Themen richtig, sie liegen bei mir bei beiden Themen falsch. Am meisten freut mich, dass sie mich als begabten Heimwerker einschätzen.
Dann sehen wir ein Video über Maria Carolina de Jesus, eine schwarze brasilianische Schriftstellerin – sie benennt sich selbst als Schwarze – die aus der Favela stammt und entdeckt wurde, als ein Journalist eine Reportage über ihre Favela drehte. Sie ernährt sich und ihre Familie dadurch, dass sie die Müllberge nach brauchbaren Dingen durchsucht und diese verkauft.
Celi macht, ganz anders als Damião, durch ein paar Fragen daraus eine halbwegs vernünftige Hörverständnisübung. Und lässt uns dann ein zweites Mal hören, um mehr zu verstehen.
Dann lesen wir noch einen Auszug aus einem ihrer Bücher. Darin schildert sie, wie sie aus dem Geburtstag ihrer Tochter trotz der misslichen Lage noch einen gelungenen Tag macht.
Unser Gespräch kommt auch auf Reisen, und Joseph berichtet von einem ganz besonderen Ort in Kolumbien, die Ciudad Perdida, eine Ruinenstadt, hoch gelegen, die mehrere Jahrhunderte lang in Vergessenheit geraten war. Man kann sie heute nur noch auf einer mehrtägigen Trekkingtour erreichen. Joseph hat so eine Tour gemacht und berichtet begeistert davon.
Nach dem Unterricht kaufe ich mir ein paar Kleinigkeiten für unterwegs in einem Supermarkt. Tüten und Plastikbehälter gibt es immer ungefragt und reichlich dazu, und die Kassiererinnen verpacken die Artikel für gleich selbst für die Kunden.
Ich fahre nach Cinelândia zur Nationalbibliothek. Es gibt Führungen, aber nur auf Portugiesisch.
Ich muss noch eine halbe Stunde warten und kann mich in der Zeit ein bisschen unten umsehen. In einer Vitrine sieht man die Partitur eine Oper von einem gewissen Carlos Gomes, wohl dem berühmtesten brasilianischen Opernkomponisten. Vor dem Theater gleich nebenan steht eine Statue von ihm.
Daneben ist das Modell des Schiffs ausgestellt, mit dem Dom Joao VI. nach Brasilien kam. Auf diesem Schiff kam auch das mit, was bis heute den Grundstock der Nationalbibliothek bildet.
Dann gibt es einen originalen Plan von der Schlacht von Tuyutí (1866), der, wie es heißt, blutigsten Schlacht in der Geschichte Südamerikas. Brasilien und Argentinien, traditionelle Feinde, befanden sich mit Uruguay in einer Tripleallianz gegen Paraguay. Die Kriege führten zu einer erheblichen Reduzierung des Territoriums von Paraguay, und die Schlacht beinahe zur Auslöschung von Paraguay. Davon wissen wir in Europa kaum etwas.
In einer anderen Vitrine ist ein Exemplar von Cultura e Opulência do Brasil ausgestellt, das Werk eines italienischen Jesuiten (1711) mit einer detaillierten Schilderung des Landes. Sie handelt vom Anbau von Zuckerrohr und Tabak, von der Viehzucht, vom Brasilholz, von den Bergwerken, aber auch von Machtgier, Unterwerfung, von der Stellung der Frau und von der Sklavenhaltung.
Dann beginnt die Führung. Sie wird von einer Frau durchgeführt. Auf eine schöne brasilianische Frau kommen 99, die es nicht sind. Unsere Führerin gehört zu dem einen Prozent, die vier Frauen, die an der Führung teilnehmen, zu den anderen.
Unsere Führerin spricht schnell und deutlich. Ich verstehe längst nicht alles, vielleicht die Hälfte, und die verstehe ich, weil sie so klar artikuliert. Den Rest verstehe ich nicht deshalb nicht, weil sie schnell spricht, sondern einfach, weil ich zu wenig Übung im Hörverstehen habe und auch noch keine Strategien entwickelt habe.
Es geht mit dem Bau selbst los, ein fünfstöckiger Prachtbau mit einer flachen Kuppel im Zentrum und schweren Säulen in den Geschossen. Auf den ersten Blick würde mach klassizistisch denken, aber unsere Führerin betont, das sei es gerade nicht, es sei Art Nouveau. Das erkennt man am ehesten an den geschwungenen Geländern, den schmiedeeisernen Leuchten und den farbig bemalten Glasdächern der Kuppeln. Materialien wurden aus verschiedenen europäischen Ländern importiert, aus Italien, aus Frankreich, aus Portugal und aus Deutschland. Was wie Marmor aussieht, ist kein Marmor, sondern Gips. Später in den Lesesälen sehen wir Regale und Tische aus Eisen, die aber wie dunkles Holz aussehen.
Der Baubeginn war 1905, und 1910 war der Bau schon vollendet. Erstaunlich. Bis dahin wurden die Schätze in einer Musikhochschule hier in der Nähe aufbewahrt.
Die Bibliothek hat 10 Millionen Einzelbände und ist damit die größte Südamerikas und eine der größten der Welt. Die Regale haben, wenn ich das richtig verstanden habe, eine Länge von unglaublichen 66 Kilometern. Jedes neu publizierte Buch ist mit einem Exemplar vertreten.
Zuerst sehen wir, an einem Bildschirm, drei besondere Schätze der Bibliothek: eine Originalausgabe der Lusíadas, ein noch auf Pergament geschriebenes Evangelium aus dem 11. Jahrhundert und eine Gutenbergbibel. Darüber erscheint der Name Mogúncia. Die Führerin weiß, dass das auf Deutsch Mainz ist. Es stellt sich heraus, dass eine der Besucherinnen Mainz kennt und auch Berlin und Heidelberg. Sie war sehr angetan von ihrer Tour.
Wir sehen dann verschiedene Lesesäle, zuerst den der Zeitschriften. Dort stehen schwere eiserne Tresore. Sie enthalten die Zeitschriften als Mikrofiche. Allmählich werden sie alle digitalisiert, aber es wird auch, wenn ich das richtig verstanden habe, alles Digitalisierte noch mal als Mikrofiche gespeichert, zur Sicherheit. Später wird an einem Gerät vorgeführt, wie man so einen Beitrag auf Mikrofiche liest. Erinnerung an lang zurückliegende Studentenzeiten.
Dann kommen wir zum eigentlichen Lesesaal. Dort sieht man aber keine Bücher, sondern nur Karteikästen. Man konsultiert die, um zu sehen, ob ein gesuchtes Buch vorhanden ist, geht dann zu einem Mann, der an einem Computer sitzt, und der bestellt dann das Buch, das daraufhin über einen Aufzug aus den oberen Etagen in den Lesesaal kommt.
Dann kommt der ikonographische Saal. Hier ist alles aufbewahrt, was im weitesten Sinne mit Bildern zu tun hat, Landkarten, architektonische Entwürfe, Kunstdrucke, Bildbände. Dann sehen wir noch den Saal, in dem es um die Bibliothek selbst geht, Verwaltung, Leitung, Rechtsabteilung, und dann noch den schönsten Saal, der, in dem die besonderen Schätze der Bibliothek aufbewahrt werden.
Damit endet die Führung. Allerdings ist die Führerin noch dabei behilflich, den besten Platz für ein Photo zu finden. Und sie bietet auch gleich an, die Photos selbst zu machen.
Am Abend esse ich in einer Lanchonete. Von denen gibt es an jeder Ecke eins. Sie sind mehr als eine Imbissbude und weniger als ein Restaurant. Von meinem Platz aus sehe ich, wie eine Frau vor dem Eingang zur U-Bahn Aufkleber verteilt, für Lula: Lula – sem medo a ser feliz.
25. Oktober (Dienstag)
Im Unterricht geht es um vir und ver und deren Formen. Wunderbar. Genau das, was ich brauche. Aber ach, am Ende bin ich so klug als wie zuvor. Wir machen ein paar Übungen, aber am Ende ist mir genauso rätselhaft wir vorher, was ve, vem, veem und vêm sind. Ich erfahre nur noch, dass zu allem Übel vimos das Präsenz von ver und die Vergangenheit von vir ist.
Danach geht es um Ghosting. Jedenfalls ist das die Ausgangsfrage. Dann weitet sich das Gespräch schnell aus auf die Benutzung und den Sinn und Zweck von Plattformen zum Kennenlernen. Da sind die beiden in ihrem Element. Sie können auf persönliche Erfahrungen mit den verschiedenen Plattformen zurückgreifen und zeigen sich gegenseitig, wie sie sich auf denen präsentieren und wie sie die Kandidaten bewerten. Sie sind sich fast immer einig, und es dauert kaum ein paar Sekunden, bis jemand erwählt oder ausgesondert ist. Es gibt einen kulturhistorischen Aspekt, und erst auf Nachfrage wird eindeutig geantwortet: nach links wischen ist weg, nach rechts ist bleibt. Also rechts ist gut, wie es in der europäischen Kulturgeschichte immer gewesen ist.
Was das Ghosting angeht, führe ich an, dass es das immer gegeben habe, vor allem, wenn man in verschiedenen Städten lebt. Die Intervalle zwischen Briefen und Telefonaten wurden immer länger, irgendwann blieb nur noch die Karte zu Weihnachten oder die zum Geburtstag, und dann wurde auch der vergessen und am Ende wusste keiner mehr so recht, wer den Kontakt abgebrochen hatte.
Nicht viele Freunde mache ich mir mit der Frage, warum solche Plattformen in Ländern wie Brasilien denn überhaupt nötig seien. Die Brasilianer sind doch nach eigener Einschätzung so offen und so kommunikativ, dass man zigmal pro Tag die Möglichkeit haben müsste, jemanden kennenzulernen, ohne auf elektronische Medien zurückgreifen zu müssen.
Am Nachmittag leiste ich mir einen reinen touristischen Programmpunkt, eine Fahrt mit der Bonde. Dazu muss ich wieder einmal nach Carioca. Auch in der Metro sehe Leute mit Aufklebern für Lula an Hemd oder Bluse. Und eine Frau mit Lula 2022 als Aufdruck auf dem T-Shirt. Später sehe ich auch noch Werbung für Lula an Häuserfassaden. Für Bolsonaro scheint hier niemand zu werben.
In Carioca stehe ich plötzlich unversehens vor einem Schreibwarengeschäft. Genau das, was ich brauche. Ich gehe rein und frage nach einer Karte von Rio oder von Brasilien. Die junge Verkäuferin muss irgendwo aus der äußersten Ecke ein am Boden liegenden Packen hervorkramen und zeigt mir dann, was sie hat. Von Rio gar nichts. Von Brasilien hat sie Karten, aber die sind riesengroß und nicht sehr detailliert. Sie eignen sich eher zum Aufhängen im Klassenraum. Sie ist sehr freundlich und versteht, warum ich damit nichts anfangen kann. Sie verweist mich auf den Kiosk gegenüber.
Dort ist auch ein freundlicher Verkäufer. Der verweist mich auf die Schreibwarenhandlung. Dann findet er aber doch etwas, eine Karte von Rio, für touristische Zwecke. Auch die etwas unhandlich, aber immerhin. Hätte nicht gedacht, dass man mit solch alltäglichen Besorgungen seine Schwierigkeiten haben würde.
Dann geht es zur Bonde. Das ist die elektrische Straßenbahn der alten Art, die aus teils nostalgischen Gründen weiterhin zwischen Carioca und einen Ortsteil namens Santa Teresa verkehrt.
Hier komme ich mit meinem Seniorenrabatt nicht durch. Der gelte nur für Brasilianer. Ich muss wie jeder andere 20 R$ zahlen.
Die Straßenbahn besteht nur aus einem Wagen, ist zu beiden Seiten offen und hat Sitzbänke aus Holz. Es passen vielleicht 20-30 Personen rein.
Wir fahren gleich über das Aquädukt, aber das hat keinen besonderen Reiz, weil man einfach das Aquädukt nicht sieht. Man hat aber von hier oben einen guten Blick auf die Plätze und Häuser unter einem.
Dann geht es auf die Straße, und die wird bald enger und kurviger, und es geht stets bergauf. Es ist gerade noch Platz für die beiden Straßenbahnschienen.
Man sieht auf Wellblechhütten und auf verlorene Hinterhöfe hinab. Dann geht es an Häusern vorbei, die schon bessere Zeiten gesehen haben, Häuser mit verzierten Portalen und steinernen Figuren auf den Portalen.
Die Stützmauer auf der linken Seite ist fast durchgehend bemalt, teils mit szenischen Motiven, teils mit Motiven der Antifa. Besonders schön ist eine Häuserreihe auf der rechten Seite, mit blauen Fensterläden und blauen Fenstern. Auf der anderen Seite hat sie ihr genaues Pendant – aber gemalt.
Erstaunlich die Vegetation, es wuchert einfach überall wild. Wärme kombiniert mit Regen – da lässt sich die Natur nicht zweimal bitten.
Rechts am Wegesrand steht ein goldgelber, bunt bemalter VW-Käfer, und links ein Bully, auf den man Santa Kombi gepinselt hat.
Die Bonde dient zwar in erster Linie touristischen Zwecken, aber nicht nur. An allen Haltestelle steigen auch ganz normale Fahrgäste aus und ein, mit Einkaufstasche statt Handy. Sie grüßen den Fahrer freundlich beim Aussteigen.
Es geht immer weiter rauf. Gelegentlich sieht man am Wegesrand, erhöht gelegen, burgenähnliche, in romantisierendem Stil gebaute Villen, in denen die Reichen wohnen.
Weiter oben öffnet sich der Blick plötzlich nach rechts. Man sieht unten die Wolkenkratzer von Rio und vor sich eine Favela, die sich den ganzen Berg hinaufzieht. Schön ist der Ausblick nicht, romantisch schon gar nicht.
Oben in Santa Teresa kann man sitzen bleiben, wenn man will. Die Bänke werden umgeklappt, damit man wieder nach vorne guckt.
Ich fahre nach Hause zurück und esse wieder in einem kleinen Imbiss auf dem Weg nach Hause. Hier hängen handgeschriebene Schilder, dass man am kommenden Sonntag aus irgendeinem vorgeschobenen Grund geschlossen habe. Da bringt man sich vor der Wahlschlacht in Sicherheit.
25. Oktober (Dienstag)
Der Nachname der Lehrerin endet auf –i, ein fast untrügliches Zeichen dafür, dass er aus der Tupi-Sprache kommt. Und so ist es auch. Sie ist auch dabei, Tupi zu lernen. Ihrer Darstellung zufolge bevölkern die Tupi keine bestimmte Region von Brasilien, sondern sind überall vertreten.
Im Unterricht geht es um vir und ver und deren Formen. Wunderbar. Genau das, was ich brauche. Aber ach, am Ende bin ich so klug als wie zuvor. Wir machen ein paar Übungen, aber am Ende ist mir genauso rätselhaft wir vorher, was ve, vem, veem und vêm sind. Zu allem Übel ist vimos das Präsenz von ver und die Vergangenheit von vir.
Danach geht es um Ghosting. Jedenfalls ist das die Ausgangsfrage. Dann weitet sich das Gespräch schnell aus auf die Benutzung und den Sinn und Zweck von Plattformen zum Kennenlernen. Da sind die beiden in ihrem Element. Sie können auf persönliche Erfahrungen mit den verschiedenen Plattformen zurückgreifen und zeigen sich gegenseitig, wie sie sich auf denen präsentieren und wie sie die Kandidaten bewerten. Sie sind sich fast immer einig, und es dauert kaum ein paar Sekunden, bis jemand erwählt oder ausgesondert ist. Die Lehrerin, selbst mit Tätowierungen an verschiedenen Körperteilen, sagt, sie wische jeden sofort weg, der keine Tätowierung hat. Ich hoffe, dass ich das missverstanden habe.
Es gibt einen kulturhistorischen Aspekt, und erst auf Nachfrage wird eindeutig geantwortet: nach links wischen ist weg, nach rechts ist bleibt. Also rechts ist gut, wie es in der europäischen Kulturgeschichte immer gewesen ist.
Was das Ghosting angeht, führe ich an, dass es das immer gegeben habe, vor allem, wenn man in verschiedenen Städten lebt. Die Intervalle zwischen Briefen und Telefonaten wurden immer länger, irgendwann blieb nur noch die Karte zu Weihnachten oder die zum Geburtstag, und dann wurde auch der vergessen und am Ende wusste keiner mehr so recht, wer den Kontakt abgebrochen hatte.
Nicht viele Freunde mache ich mir mit der Frage, warum solche Plattformen in Ländern wie Brasilien denn überhaupt nötig seien. Die Brasilianer sind doch nach eigener Einschätzung so offen und so kommunikativ, dass man zigmal pro Tag die Möglichkeit haben müsste, jemanden kennenzulernen, ohne auf elektronische Medien zurückgreifen zu müssen.
Am Nachmittag leiste ich mir einen reinen touristischen Programmpunkt, eine Fahrt mit der Bonde. Dazu muss ich wieder einmal nach Carioca. Auch in der Metro sehe Leute mit Aufklebern für Lula an Hemd oder Bluse. Und eine Frau mit Lula 2022 als Aufdruck auf dem T-Shirt. Später sehe ich auch noch Werbung für Lula an Häuserfassaden. Für Bolsonaro scheint hier niemand zu werben.
In Carioca stehe ich plötzlich unversehens vor einem Schreibwarengeschäft. Genau das, was ich brauche. Ich gehe rein und frage nach einer Karte von Rio oder von Brasilien. Die junge Verkäuferin muss irgendwo aus der äußersten Ecke ein am Boden liegenden Packen hervorkramen und zeigt mir dann, was sie hat. Von Rio gar nichts. Von Brasilien hat sie Karten, aber die sind riesengroß und nicht sehr detailliert. Sie eignen sich eher zum Aufhängen im Klassenraum. Sie ist sehr freundlich und versteht, warum ich damit nichts anfangen kann. Sie verweist mich auf den Kiosk gegenüber.
Dort ist auch ein freundlicher Verkäufer. Der verweist mich auf die Schreibwarenhandlung. Dann findet er aber doch etwas, eine Karte von Rio, für touristische Zwecke. Auch die etwas unhandlich, aber immerhin. Hätte nicht gedacht, dass man mit solch alltäglichen Besorgungen seine Schwierigkeiten haben würde.
Dann geht es zur Bonde. Das ist die elektrische Straßenbahn der alten Art, die aus teils nostalgischen Gründen weiterhin zwischen Carioca und einen Ortsteil namens Santa Teresa verkehrt.
Hier komme ich mit meinem Seniorenrabatt nicht durch. Der gelte nur für Brasilianer. Ich muss wie jeder andere 20 R$ zahlen.
Die Straßenbahn besteht nur aus einem Wagen, ist zu beiden Seiten offen und hat Sitzbänke aus Holz. Es passen vielleicht 20-30 Personen rein.
Wir fahren gleich über das Aquädukt, aber das hat keinen besonderen Reiz, weil man einfach das Aquädukt nicht sieht. Man hat aber von hier oben einen guten Blick auf die Plätze und Häuser unter einem.
Dann geht es auf die Straße, und die wird bald enger und kurviger, und es geht stets bergauf. Es ist gerade noch Platz für die beiden Straßenbahnschienen.
Man sieht auf Wellblechhütten und auf verlorene Hinterhöfe hinab. Dann geht es an Häusern vorbei, die schon bessere Zeiten gesehen haben, Häuser mit verzierten Portalen und steinernen Figuren auf den Portalen.
Die Stützmauer auf der linken Seite ist fast durchgehend bemalt, teils mit szenischen Motiven, teils mit Motiven der Antifa. Besonders schön ist eine Häuserreihe auf der rechten Seite, mit blauen Fensterläden und blauen Fenstern. Auf der anderen Seite hat sie ihr genaues Pendant – aber gemalt.
Erstaunlich die Vegetation, es wuchert einfach überall wild. Wärme kombiniert mit Regen – da lässt sich die Natur nicht zweimal bitten.
Rechts am Wegesrand steht ein goldgelber, bunt bemalter VW-Käfer, und links ein Bully, auf den man Santa Kombi gepinselt hat.
Die Bonde dient zwar in erster Linie touristischen Zwecken, aber nicht nur. An allen Haltestelle steigen auch ganz normale Fahrgäste aus und ein, mit Einkaufstasche statt Handy. Sie grüßen den Fahrer freundlich beim Aussteigen.
Es geht immer weiter rauf. Gelegentlich sieht man am Wegesrand, erhöht gelegen, burgenähnliche, in romantisierendem Stil gebaute Villen, in denen die Reichen wohnen.
An einer Stelle hat jemand aus alten Autoteilen zwei Skeletts gebastelt und die auf ein Vordach postiert. Sehen wirklich eindrucksvoll aus, fast furchterrend.
Weiter oben öffnet sich der Blick plötzlich nach rechts. Man sieht unten die Wolkenkratzer von Rio und vor sich eine Favela, die sich den ganzen Berg hinaufzieht. Schön ist der Ausblick nicht, romantisch schon gar nicht.
Oben in Santa Teresa kann man sitzen bleiben, wenn man will. Die Bänke werden umgeklappt, damit man wieder nach vorne guckt.
Ich fahre nach Hause zurück und esse wieder in einem kleinen Imbiss auf dem Weg nach Hause. Hier hängen handgeschriebene Schilder, dass man am kommenden Sonntag aus irgendeinem vorgeschobenen Grund geschlossen habe. Da bringt man sich vor der Wahlschlacht in Sicherheit.
26. Oktober (Mittwoch)
Der exotische Vogel, dessen Schrei man morgens hinter dem Zwitschern der anderen Vögel hört, ist ein Kakadu. Mary weiß sofort, was ich meine, als ich danach frage.
Überall wird ständig gewischt und gefegt. Schon am Morgen hört man schon den Nachbarn, wie er die heruntergefallenen Blätter vom Hof fegt. Gestern habe ich ihn zum ersten Mal in Person gesehen, beim Heimkommen, bis dahin habe ich immer nur seinen Besen gehört. Auch in den Lokalen sind die Kellerinnen ständig dabei, den Boden zu wischen, genauso wie in der Schule, wo es die Frauen machen, die den Pausenkaffee organisieren.
Beim Verlassen des Hauses fällt mir heute zum ersten Mal ein hoher Baum auf, dessen Blätter sich in den oberen Zonen verfärbt haben. Sonst sieht man überall immer nur sattes Grün.
In der Schule habe ich, als ich in den Raum komme, zum ersten Mal die Gelegenheit, einen Ausdruck zu benutzen, den wir letzte Woche gelernt haben. „Nossa!“. Ausdruck positiver Überraschung. Den Anlass bietet Celi, die Lehrerin, die heute mit offenem Haar auftaucht. Sieht ganz verändert aus.
Joseph erklärt, wie man im Arabischen Mashallah! gebraucht. Er ist ganz entzückt, zu erfahren, dass es im Türkischen auch gebraucht wird. Der Ausdruck bezieht sich, im Gegensatz zu Inschallah, nicht auf die Zukunft, drückt keinen Wunsch aus, sondern drückt Dankbarkeit oder Anerkennung aus. Auch wird damit Schutz vor Leid oder Missgunst ausgedrückt. Das Konzept wird mir irgendwie klar, aber wie es konkret benutzt wird, noch nicht so richtig. Scheint im Deutschen einerseits so was wie Toi, toi, toi!, andererseits so was wie Großartig! zu bedeuten.
Joseph hat bei seinen vielen Besuchen in Brasilien und dem Kontakt mit Einheimischen viele Versatzstücke der Alltagssprache aufgegriffen und verwendet die souverän. So sieht es jedenfalls aus. Aber er ist ein Blender. Viele Dinge versteht er schlichtweg nicht, und andere benutzt er falsch. Ich frage nach, welche alternative Form er für die Bejahung einer Frage benutzt. Das kommt immer wieder vor, und das will ich gerne übernehmen. Es ist é statt sim. Nur jetzt, wo es zur Sprache kommt, stellt sich heraus, dass er es immer, unverändert, benutzt. Das stimmt aber nicht, e kann nur benutzt werden, wenn in der Frage schon é vorkommt: É pra Niteroi? – É. Es wird also das Verb aus der Frage wiederholt: Trouxe as sandalias? – Trouxe. Wieder was dazugelernt.
Ein richtig schöner, sonniger Tag, aber nur bis zum Nachmittag. Dann kommt Wind auf, und am Ende wird es richtig stürmisch.
Da der Besuch der Favela wieder ausfällt, gehe ich zu einer freien Extrastunde, die die Schule anbietet. Dort kann man sprachliche Fragen klären lassen.
Außer mir ist nur Lenk, der Argentinier vom Freitag, da. Die Lehrerin geht gut auf uns und unsere Fragen ein und ich bekomme ein paar gute kleinere Tipps. Das große Problem, die Personalpronomina, bleibt ungelöst. Es ist einfach eine vertrackte Sache. Es gibt einen erheblichen Unterschied zwischen dem, was man „eigentlich“ sagen sollte, was „richtig“ ist, was in den Grammatikbüchern steht, und dem tatsächlichen Sprachgebrauch. Der Lehrerin zufolge sprechen die Portugiesen „richtig“. Das scheint ein brasilianischer Topos zu sein. Damit kann man natürlich wenig anfangen. Das Problem ist ein ganz gängiges in Sprachen: Variation. Es gibt Variation in der Form und im Gebrauch, nicht nur zwischen Portugal und Brasilien, sondern auch innerhalb von Brasilien bei verschiedenen Sprechergruppen. Zu allem Übel ist das Grammatikbuch, das einen guten Eindruck macht, aber im Unterricht so gut wie gar nicht gebraucht wird, von portugiesischen Autorinnen geschrieben, mit Anpassungen an den brasilianischen Sprachgebrauch. Ich versuche es mit ein paar konkreten Beispielen: Não o vi hoje. Lässt sie gelten, aber geläufiger sei Não vi ele hoje. Vou-me embora lässt sie gelten, aber es klingt ihr sehr, sehr nach Portugal. Quero comprar-o weist sie zurück, es müsse heißen Quero o comprar. Zwei unbetonte Pronomina will sie gar nicht haben, wie in Vou dar-lhe-lo. Da würde sie sagen Vou dar-o para ele. Sie besteht auf Eu teria te ajudado. Sie lässt te weder vor dem Hilfsverb noch nach dem Vollverb zu. Da gibt es dann auf einmal doch verbindliche Regeln. Ob die in Portugal auch gelten? Sie weist auf den interessanten Umstand hin, dass te tatsächlich gebraucht wird, obwohl es ja eigentlich gar keine zweite Person gibt und obwohl die Subjektform niemals tu, sondern immer você ist.
Was nebenbei auch zur Sprache kommt, ist die Jotierung in der Aussprache. Ist bei dieser Lehrerin, die auch aus Rio stammt, genauso stark ausgeprägt wie bei Celi. Bei ihnen klingt dia wie djia, contente wie contentje, norte wie nortje. Das ist besonders in Rio und in Minas Gerais anzutreffen, im Süden weniger, im Norden gar nicht.
Nach dem Unterricht mache ich mich auf den beschwerlichen Weg zu einer Touristeninformation. Endlich eine Adresse im Internet gefunden. Sie liegt ganz am Ende der Copacabana. Eine Stunde Fußmarsch hin, eine Stunde Fußmarsch zurück. Ergebnis: eine winziges Büro, besetzt mit einem alten Mann, der mir in schlechtem Deutsch Dinge erklärt, die ich längst weiß oder mir Dinge anbietet, die ich nicht will, wie einen Reiseveranstalter nebenan. Nein, das will ich gar nicht, ich möchte ganz einfach Fahrkarten für den Cristo Redentor, für morgen, den vorläufig letzten Tag mit gutem Wetter. Nein, die gibt es hier nicht. Ich gebe es auf.
Ein sonderlich günstiges Reiseland ist Brasilien nicht. Die Preise sind vielleicht mit denen von Portugal zu vergleichen, eher etwas höher. Und ich habe auch für ein Essen schon mal, das war aber die große Ausnahme, 40 € bezahlt.
Einer Statistik zufolge haben 37% aller Brasilianer eine Tätowierung. Hier in Rio würde man die Zahl noch höher schätzen. Bei den jungen Leuten ist es so gut wie jeder.
27. Oktober (Donnerstag)
Heute weiß ich nicht, ob ich an Brasilien oder an mir selbst verzweifeln soll. Es beginnt damit, dass ich gestern nach der Pleite mit der Touristeninformation doch noch per Internet eine Eintrittskarte für den Cristo Redentor gebucht habe, die aber nicht ausdrucken konnte und auch keine Nachricht aufs Handy bekommen habe. Außerdem habe ich kein Geld und muss rechtzeitig ankommen und damit Metro und Bus benutzen.
Ausgerechnet heute treffe ich auf dem Weg zur Schule auf Thys. Er geht provozierend langsam, aber ich will ihn nicht einfach stehen lassen, wo wir schon mal zusammentreffen. Er geht immer früher los, weil er vor dem Unterricht noch irgendwo einen Kaffee trinken geht. Es ist bei Bayer in Rotterdam beschäftigt und hat ein Sabbatjahr genommen.
Als wir an der Bank ankommen, kann ich mich ausklinken und bekomme auch gleich Bargeld. Dann geht es mit der Metro weiter. Als ich an der Station ankomme, sehe ich mich nach dem Hinweis auf den Expressbus um – vergeblich. Nirgendwo was zu sehen. Auch oben an der Straße nicht. Ich gehe wieder runter zur Metro und sehe – Flamengo. Ich bin zu früh ausgestiegen. Die Frau, die einen am Drehkreuz durchlässt, ist mit einem anderen Fahrgast beschäftigt, an dem einzigen Fahrkartenautomaten, den es hier gibt. Dessen Bildschirm ist schwarz. Sie muss erst den Automat öffnen, Geld herausnehmen, das Geld an einen sicheren Ort bringen, und dann den Automaten neu starten. Das dauert, und ich werde immer nervöser. Neben mir stehen inzwischen zwei Frauen, die auch, immer ungeduldiger werdend, auf den Durchlass warten.
Dann geht es wieder in die Metro. Diesmal geht es nach Largo do Machado. Der Bus kommt sofort. Man kann vorne beim Fahrer bezahlen. Und dann kommt schon bald die Abfahrtsstelle der Seilbahn in Sicht. Ein regelrechter Bahnhof. Ich komme in die Vorzugsschlange, weil ich schon reserviert habe, aber das nutzt nichts. Zwei Spanierinnen, die auch im Bus saßen, gehen schon an mir vorbei, obwohl sie nicht reserviert hatten. Man sieht eine riesige doppelte Schlange in der Abfahrtshalle.
An unserem Schalter geht es mit provozierender Langsamkeit. Die Vorzugsschlange wird auch von Reiseleitern benutzt, und bei denen dauert die Prozedur besonders lange. Aber auch bei den drei Einzelreisenden vor mir geht es nicht richtig weiter. Zwischendurch macht der Mann an der Kasse noch eine Durchsage und spricht mit einem Kollegen. Ich will mir das Photo zurechtlegen, das ich von meiner Reservierung gemacht habe, aber plötzlich zeigt das Handy keine Photos mehr an. Ich drehe durch. Als die Frauen vor mir dann ihr Formular ausgefüllt und unterschrieben haben – man hat alle Daten einschließlich Geburtsdatum und Ausweisnummer bei der Reservierung angeben müssen – bin ich endlich dran, und auf einmal ist auch das Photo wieder da. Es klappt, ich bin wohl nicht der einzige, der keinen Ausdruck von seiner Reservierung machen konnte.
Dann kommt die Schlange in der Abfahrthalle. Es dauert, und es geht alles ziemlich durcheinander, weil sich unsere Schlange mit der von der Hubschrauberfahrt vermischt und weil Reiseleiter zurückgebliebene Mitglieder ihrer Gruppe zu sich heranwinken. Dann muss man noch an einem Photographen vorbei, und dann ist es geschafft.
Mit der Standseilbahn, die man hier bondinho nennt, geht es rauf, immer weiter steil nach oben, auf den Corcovado, den ‚Buckligen‘, 700 Meter hoch. Man sieht nichts, weil die Bäume und die Felswände zu beiden Seiten bis dicht an die Gleise heran reichen. Aber die Vegetation ist mal wieder wunderbar, sattes Grün, wilder Wuchs.
Ganz oben eröffnet sich aus der Bahn ein erster Blick auf den Cristo, von hinten. Wenn man dann auf die Plattform kommt, ist der erste Ausruf: „Boah, was groß!“ Dreißig Meter klingt gar nicht so gewaltig. Es kommen noch acht Meter Sockel hinzu.
Die Statue sollte eigentlich, habe ich irgendwo gelesen, zur Hundertjahrfeier der Unabhängigkeit Brasiliens fertig gestellt werden, 1922, aber ob das stimmt, ist nicht herauszubekommen. Offiziell gehört sie einer katholischen Kirchengemeinde an, und, weitgehend unbeachtet von den Besuchern, findet in der Kapelle in dem Sockel jetzt gerade eine Messe statt. Endgültig eingeweiht wurde die Statue 1931. Die Errichtung der Statue geht auf eine Kooperation mit Frankreich zurück. Offensichtlich wurden die Teile der Statue sogar in Frankreich hergestellt.
Der Christus mit den ausgebreiteten Armen steht für Frieden. Der Stil wird dem Art Déco zugerechnet. Auffällig ist, dass alles glatt ist, Stirn, Nase, Hals, die Haare, der unter dem Obergewand hervorguckende Unterkleid, das in geraden Falten auf den Boden fällt, auch Teile des von oben herunterfallenden Obergewandes.
Viele Details wie die Wundmale an den Händen erkennt man nicht, dafür ist die Statue zu weit weg und es herrscht viel zu viel Gedränge hier auf der Plattform. Es ist kaum ein Durchkommen zum anderen Ende der Plattform, von der aus man den besten Blick auf die Umgebung und auf den Christus hat. Überall blockieren die Besucher den Weg, die sich – alle, aber auch alle, mit ausgebreiteten Armen – vor der Statue photographieren lassen.
Mich spricht ein junger Portugiese an, aus Lissabon. Ob ich ein Photo von ihm machen könne. Mache ich. In beide Richtungen. Dann tauschen wir die Rolle. Er bleibt beim Englischen, obwohl ich irgendwann versuche, auf Portugiesisch umzusteigen.
Anders ein brasilianisches Ehepaar auf der anderen Seite des Christus, wo es etwas geruhsamer zugeht. Sie bleiben beim Portugiesischen. Auch wir machen Photos von einander. Damit ist der Pflicht genüge getan.
In einem Moment der „Stille“ sehe ich einen Vogel mit weiten Schwingen durch die Luft gleiten, langsam, ohne die Flügel zu bewegen. Dann nimmt er plötzlich Fahrt auf, wie aus dem Nichts, den Wind ausnutzend, und schießt voran, ohne auch nur einmal die Flügel zu bewegen.
Ich bin nicht ganz sicher, ob man diese Unternehmung wirklich machen muss, aber kompensiert wird das ganze Getue und das Gedränge durch den traumhaft blauen Himmel, so wie ich ihn an den besten Tagen in Lissabon erlebt habe. Und die Ausblicke zu den verschiedenen Seiten sind wirklich alles andere als alltäglich.
Zum Ausgleich fahre ich danach in den Botanischen Garten. Wieder mit dem Bus. Jetzt weiß ich ja, wie es geht. Die Busse sind schwere Gefährte mit brummenden Motoren und ohne jede Federung, wie man meinen könnte. Vorne bezahlt man oder legt seine Karte an, und dann muss man durch ein schweres, eisernes Drehkreuz. Das ist schon, wenn man kräftig ist und kein Gepäck hat, ein Stück Arbeit, aber die armen Hausfrauen, die mit ihren Einkaufstaschen dadurch wollen, müssen sich sichtlich anstrengen.
An der Haltestelle muss man den Bus heranwinken, sonst fährt er vorbei. Und wenn man aussteigt, muss man, wie bei uns, vorher den Halteschalter betätigen.
Ich hoffe, dass ich die Haltestelle nicht verpasse, denn die Haltestellen werden nicht angezeigt. Im Moment kann ich mich noch auf die Hinweisschilder zum Botanischen Garten für den Autoverkehr verlassen. Dann mache ich einen Platz frei für eine junge Frau, die sich neben mich setzt und ganz freundlich auf meine Frage antwortet. Sie werde mir Bescheid sagen. Ich verfolge die Strecke auf meiner Karte. Und finde auch den Parque Lage, von dem sie spricht. Zum Botanischen Garten sei es noch ein Stück. Vor der Haltestelle geht sie dann sogar noch zum Busfahrer und stellt sicher, dass ich an der richtigen Haltestelle aussteige. Eine schöne Begegnung.
Der Botanische Garten ist weitläufig und hat viele für uns exotische Bäume, und an einigen Stellen riecht es wie bei uns im Gewächshaus. Die Rezeption ist in einem langgestreckten, niedrigen, weiß verputzten Gebäude untergebracht, mit einer langen Reihe von gleichförmigen Fenstern, einem der ältesten Gebäude Rios, noch aus der portugiesischen Kolonialzeit.
Hinter dem Eingang befindet sich ein kleiner Brunnen mit Trinkwasser, mit der Büste der Thetis über dem Wasserhahn. Man erfährt auch, was es mit der auf sich hat: Sie ist unter anderem die griechische Göttin des Wassers!
Der Botanische Garten ist schön angelegt. Es gibt Brunnen, Wasserfälle, Weiher, Laubengänge und Skulpturen. Darunter Narziss und Echo, Überbleibsel einer größeren Skulpturengruppe, die früher irgendwo in der Stadt stand und abgerissen wurde. Stehen die beiden erhöht, in einiger Entfernung zueinander, und Narziss sieht passenderweise in den Teich hinunter, der zwischen ihnen liegt. Echo tut alles, um seine Blicke aus sich zu ziehen, sie entblößt sogar ihre Brust, aber der Idiot beachtet sie nicht. Er beachtet nur sein eigenes Spiegelbild im Wasser. Und es gibt Schatten und Ruhe. Eine richtige Erleichterung nach dem Getümmel auf dem Corcovado.
Gleich am Eingang gibt es schon Hinweise auf den Pau Brasil, den Baum, den ich auf jeden Fall sehen will. Er ist der Namensgeber des Landes. Es ist ein hoher Baum, unten nackt, mit immer dichterem Blattwerk, je weiter es nach oben geht. Die Rinde ist ziemlich rissig, und der Stamm leuchtet ganz leicht rötlich, so dass man sich vorstellen kann, dass der Saft, den man aus dem Baum gewann, zum Rotfärben benutzt wurde.
Ein Baum mit großen, flaschenförmigen, gelblich-grünen Früchten fällt auf, und die hab ich gerade bei der Fahrt den Corcovado hinauf auch gesehen. Bei den Fachleuten am Eingang erfahre ich später, dass die Frucht jaca, der Baum jaqueira heißt. Auf Deutsch Jackfrucht. Nie gehört. Mein Rechtschreibprogramm kennt sie auch nicht.
Ebenso auffällig Bäume, deren Früchte wie kleinere Fußbälle aussehen. Von denen erfahre ich, dass sie, im Gegensatz zur Jackfrucht, nicht essbar sind jedenfalls für den Menschen nicht, wohl aber von Affen geschätzt werden. Das hätte ich schon am Namen erkennen können: abricó-de-macaco. Heißt auf Deutsch sehr anschaulich Kanonenkugelbaum.
Und dann, auf einem gerade Weg entlang laufend, sehe ich ihn plötzlich, den Christus, ganz oben, entfernt, aber deutlich zu erkennen. Von hier unten hat man das Gefühl, dass er ganz alleine ist da oben. Er kommt dann immer wieder in den Blick, und durch die Zweige hindurch sieht das richtig schön aus, auch wenn man ihn immer nur von hinten sieht.
Dann gibt es ein Wiedersehen mit den Würgefeigen, auch so ein biologischer Sonderfall, der einen immer wieder in den Bann nimmt. Und dann kommen noch die Bäume mit dem glatten Stamm, die unten so eine Art Füße ausbilden. Sie gehören zu den größten des Amazonas und zu den größten der Erde überhaupt, können bis zu 60 Meter hoch werden, zweimal so hoch wie der Christus. Ihr volkstümlicher Name ist Kapok. Ich habe sie auf Madeira schon mal gesehen und von dort in Erinnerung. Und auch, dass aus ihren Früchten Stoffe gewonnen werden, die für die Füllung von Matratzen oder Schwimmreifen genutzt werden. Das ist schon erstaunlich. Die eigentliche Besonderheit ist aber der Prozess des Blühen und Vergehens. Sie verlieren in einer bestimmten Jahreszeit innerhalb von ein bis zwei Wochen alle Blätter. Und weiße Blüten, die an einem Tag, meist um 19 Uhr (unvorstellbar!), wie auf Kommando abfallen. Das muss ein unglaubliches Schauspiel sein. Diese Blüten haben Nektar und Pollen, und die rufen dann Tausende von Fledermäusen herbei, die ebenso wie auf Kommando erscheinen. Man empfindet eine Art Ehrfurcht vor solchen Wundern der Natur und fragt sich gleichzeitig, was das alles soll.
Dann kommt ein echter Hingucker, ein Baum mit behaarten Zweigen, langen Haare, die dicht nebeneinander glatt herunterhängen. Auch das ist eine Art Feige, und dieser Baum produziert Latex.
Einen eigenen Abschnitt haben die Kakteen. Unglaublich, wie viel Variation es da gibt! Groß und klein, länglich und rund, in die Höhe und in die Breite wachsend und solche, die einen Baum als Wirtspflanze nehmen und sich um dessen Stamm schlingen. Am interessantesten aber ein „Beet“, auf dem Pflanzen stehen, die jeder Laie sofort als Kakteen bezeichnen würde, die aber keine sind. Den Prozess, der zur Ausbildung solcher Formen führt, nennt man evolutionäre Konvergenz. Pflanzen, die genetisch nichts miteinander zu tun haben, aber ein ähnliches Habitat besiedeln, gleichen sich im Laufe der Zeit in Form und Funktion aneinander an. Und sehen dann wie Verwandte aus. Toll!
Abschließend gehe ich noch in das schöne Café in der Nähe des Eingangs. Man sitzt draußen, aber im Schatten. Mit der Bedienung und dem Abkassieren dauert es was. Alles sehr umständlich. Ja, hier bestellen, setzen Sie sich doch, wir bedienen sie, aber halt, nehmen Sie doch ihr Wasser schon mal mit an den Platz. Als dann kassiert werden soll, wird erst der Computer, dann eine Kollegin, dann das Handy, dann noch eine Kollegin konsultiert. Dann steht die Rechnung: 50 R$. Nicht billig, aber auch nicht teuer für Kaffee, Wasser und Kuchen.
Die Rückfahrt erweist sich als schwierig. Eine Metrostation gebe es hier nicht, erfahre ich, ich könne aber die überirdische Metro nehmen. Etwas verdutzt gehe ich auf die Straße und frage eine Frau auf dem Bürgersteig. Es stellt sich heraus, dass mit der überirdischen Metro, die wirklich offiziell so heißt, die Busse gemeint sind. Warum, ist nicht ersichtlich, nur, dass der Fahrpreis hier höher ist: 6,50 R$. Aber so weit ist es noch nicht. Die Frau zeigt nach geradeaus, da sei eine Haltestelle. Dann eilt sie mir hinterher, begleitet mich das ganze Stück bis zur Haltestelle und wartet dann einen Bus nach dem anderen ab. Nein, dieser nicht, nein, der auch nicht. Dann hält auf einmal einer, aber in zweiter Reihe und schon ein ganzes Stück hinter der Haltestelle. Die Frau läuft hinterher und fragt: Nein, nach Ipanema fahre er nicht, ja, nach Botafogo wohl. Da kann ich in die Metro steigen. Ich habe nur noch die Gelegenheit, der Frau ein lahmes Obrigado hinterherzurufen.
Nach zwei Haltestellen ist dann plötzlich Schluss. Endstation. Von Botafogo ist nichts zu sehen. Und der Fahrer ist auch schon verschwunden. Aber der Bus ist noch da. Wir stehen in der Hitze vor dem Bus mit dem laufenden Motor und warten. Es wird immer schwüler. Dann kommt eine Busfahrerin und sagt, ja, sie fahre nach Botafogo. Zehn Minuten später sind wir wieder am Botanischen Garten. Ich bin in die falsche Richtung gefahren.
Das Busfahren hat den Reiz, dass man etwas sieht, aber man steht eben auch ständig im Stau, und vorwärts geht es immer nur mit ruckartigen Bewegungen und laut aufbrausendem Motor.
Dann kommen wir nach Botafogo, an einen großen, länglichen Platz, wo richtig viel los ist. An einem Stand frage ich nach einem Saft und entscheide mich für einen aus açai. Dem Wort begegnet man hier überall, man findet es auf Schildern, Reklametafeln und in Geschäftsnamen. Das Wort kommt aus dem Tupi, einer Eingeborenensprache Brasiliens, und bezeichnet eine Frucht, eigentlich den Baum, die Palme, die diese Frucht hervorbringt. Die Früchte sind klein, rund, mit glatter Haut und dunkelblau, wie große schwarze Johannisbeeren. Sie werden seit Jahrhunderten im Amazonas als Nahrungsmittel und als Medizin verwendet. Der Saft schmeckt gut, erinnert entfernt an Kirschen, und ist sehr süß. Es scheint aber die natürliche süße der Frucht zu sein, die Süße ist nicht unangenehm.
Vor der Metrostation verteilt eine Frau Aufkleber: Lula 13. Ich frage, was es mit der Zahl 13 auf sich hat. Es ist die Ziffer der Partei, hat keine tiefere Bedeutung. Bolsonaros Ziffer ist 22.
Ich fahre nach Hause zurück und bestelle in der Garota de Copacabana einen Caipirinha, den ersten meines Lebens. Er wird mit Eis und kleinen Zitronenstücken serviert und einem Strohhalm. Er steigt sofort zu Kopf. Man muss Geduld mit dem Getränk haben, denn solange das Eis noch nicht geschmolzen ist, schmeckt er doch arg sauer.
Auf den Tischen liegen schon Faltblätter mit Werbung für das Silvestermenu! Um Anmeldung wird gebeten. Für uns besonders kurios: Es gibt zwei Varianten, eine für 500 R$ und eine für 600 R$. Das eine ist drinnen, das andere draußen, auf der Terrasse. Silvester auf der Terrasse am Meer!
Beim Abendessen am Ende eines bewegten Tages lerne ich dann noch, dass das Wort chope (oder chopp) auf sich hat. Es ist hier, in Brasilien, was das imperial in Portugal ist, ein gezapftes Bier!
28. Oktober (Freitag)
Beim Frühstück kommt es zu einem Missverständnis, teils wohl durch die spezifische Aussprache von Rio bedingt. Wir beide, Joe und ich, verwechseln abacaxi und abacate, ‚Ananas‘ und ‚Avocado‘. Obwohl Mary aus dem Süden stammt, ist sie schon lange genug in Rio, um sich dessen Akzent angelegt zu haben.
Bei den Wahlen am Sonntag hat man die Wahl zwischen Bolsonaro und Lula und Branco und Nulo. Dabei bedeutet Branco so etwas wie Enthaltung, ich kann mich nicht so recht zwischen den beiden entscheiden, und Nulo so etwas wie Protest, die taugen beide nichts, das ganze System taugt nichts. Mary wird Branco wählen und ist im Übrigen des ganzen Wahlkampfs überdrüssig. Bolsonaro führe seit vier Jahren ununterbrochen Wahlkampf. Sie meint, seine Chancen seien jetzt gefallen, weil sein Busenfreund, ein zwielichtiger Geschäftsmann, auf offener Straße mit einer Knarre herumgeballert und dabei zwei Polizisten verletzt hat. Sie ist aber stolz auf das moderne Wahlverfahren, das es in diesem riesigen Land allen, auch in den weit entferntesten Stätten des Amazonas, erlaube, an der Wahl teilzunehmen.
Als ich in der Schule ankomme, ist Joe schon da, obwohl er nach mir losgegangen ist. Er hat längst eine Abkürzung gefunden.
Da Joseph zu spät kommt, haben wir noch die Gelegenheit, einen Text durchzusehen, den ich zu Hause geschrieben habe. Und ich kann von meiner ersten Caipirinha erzählen. Ob die mit Zitrone gewesen sei? Ja, das sei der Klassiker, aber es gebe sie auch mit Mango, Maracuja, Ananas oder Cashew. Ihr Favorit ist Mango.
Während die Portugiesen eher einen Vokal auslassen, fügen die Brasilianer wohl eher einen hinzu. Jedenfalls fällt mir das bei Celi besonders auf: ab(e)surdo, ob(e)jetivo. Kann ganz schön verwirrend sein.
Später kommen im Unterricht Übungen vor, die die Sprache vergewaltigen, nur der Grammatik halber. Interessanter wird es, als wir und die verschiedenen Anwendungen von jeito ansehen, einem Zauberwort, mit dem man im Portugiesischen alles Erdenkbare ausdrücken kann. Wir machen zwar halbherzig ein oder zwei Übungen, aber die sind nicht intensiv genug, um etwas zu behalten. In Erinnerung bleibt mir nur É o jeito! In vielen Lebenslagen zu verwenden, so etwas wie C’est la vie.
Trotz des sich anbahnenden Regens soll die Wanderung stattfinden. Gleich um 2 Uhr geht es los, wir sind insgesamt zehn, einschließlich Davi. Wieder wird Uber als Transportmittel gewählt. Wir brauchen drei Wagen. Das funktioniert alles in Windeseile.
Schon vorher bin ich mit einer Britin ins Gespräch gekommen, die sehr gut Portugiesische spricht. Auf die Frage, woher sie komme, sagt sie Wales. Dabei sind ihre Eltern Engländer, und sie selbst studiert in Liverpool. Außer Portugiesisch studiert sie auch noch Deutsch und Spanisch. Sie hat in Heidelberg als au pair gearbeitet und hat in Madrid an einer öffentlichen Schule in einem Austausch Englisch unterrichtet, in demselben Viertel, wo ich gearbeitet habe. Unsere Arbeitsplätze hatten sogar dieselbe U-Bah-Station, Alonso Martínez. Sie beginnt am Montag mit dem Unterricht und ist jetzt gerade erst in Rio angekommen, aus Florianopolis. Das empfiehlt sie wärmstens für einen Zwischenstopp. Sie ist eine Woche dort gewesen. Nach Rio ist sie mit dem Flugzeug gekommen, wegen der Zeit. Der Flug dauert nur eine Stunde, mit dem Bus ist man doch viele Stunden unterwegs.
Im Gespräch mit Davi beißen wir uns beide an einem Wort fest, das er verwendet, um den Ausgang der Wahlen am Sonntag zu beschreiben, insihado. Wir einigen uns darauf, dass encerrado gemeint sein könnte, mit Carioca-Aussprache.
Mir fällt auch wieder auf, dass Copacabana, ein denkbar einfaches Wort, auch anders klingt auf Portugiesisch, wie Copecabäne.
Die Autos bringen uns zur Praia Vermelha. Von dort blickt man auf den Zuckerhut und die benachbarten Berge. Wir steigen auf den Morro da Urca. Es geht steil bergauf, über einen Felsenweg. Die anderen legen ein ordentliches Tempo vor, und ich gerate bald ins Hintertreffen. Und ins Schwitzen. Bald frage ich mich, ob ich es schaffe, bald bereue ich, mitgekommen zu sein, aber nach einer Verschnaufpause und etwas Wasser geht es dann doch ganz gut.
Wir haben wieder zu beiden Seiten dichtes Grün und Hinweisschilder auf giftige Schlangen. Zu sehen bekommen wir aber nur einen Leguan, der vor unseren Schritten schnell ins Gebüsch hüpft.
Unterwegs heißt es irgendwann: Wo ist Lenk? Das ist der Argentinier. Was war mit ihm, geht es ihm nicht gut? Nein, er wollte zurück, an den Strand. Sein Aufenthalt in Rio ist eindeutig auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet: schöne Brasilianerinnen. „He’s very focussed“, heißt es.
Oben auf der Plattform angekommen, sehen wir uns in der Gegend um und sehen wieder, wie vergangenen Freitag, diese großen schwarzen Vögel über uns schweben. Es sind tatsächlich Geier, urubus. Bei der Gelegenheit erfahren wir auch, dass der Geier das Maskottchen von Flamengo ist. Wegen seiner Ausdauer.
Das Wetter zieht sich zu. Außer mir will nur noch Steve, ein Amerikaner aus San Diego, nach oben auf den Zuckerhut fahren. Die anderen wollen zurück, entweder waren sie schon oben oder sie wollen auf besseres Wetter warten. Sie wissen nicht, was sie verpassen. Gerade, weil das Wetter nicht gut ist.
Nur scheitert meine Fahrt fast an einem technischen Detail: Man kann nur mit Karte bezahlen. Davi springt ein, er bezahlt mit Karte und bekommt von mir das Geld bar.
Mit einer hochmodernen Seilbahn geht es rauf. Steve steht vorne am Fenster und dreht ein tolles Video von der Fahrt nach oben.
Oben gibt es eine Plattform, von der man auf verschiedenen Seiten auf Rio und auf das Meer hinunterblicken kann. Gerade jetzt bilden sich Wolken, genau da, wo wir stehen, sie lassen uns manchmal im Dunst völlig verloren stehen, dann verschwinden sie wieder und geben die Sicht frei. Das geschieht alles in Windeseile, im wahrsten Sinne des Wortes. Es bietet sich uns ein sensationelles Schauspiel, die Bergkette im Hintergrund in Dunkelblau und Grau, die Stadt unter uns in einer Dunstglocke, durch die man die Silhouette der Stadt aber gerade noch erkennen kann. Eine geradezu mysteriöse Atmosphäre.
Man hat eher den Eindruck, in den Alpen als am Atlantik zu sein. Und es ist auf einmal auch empfindlich kalt. Es beginnt zu regnen, Steve will zu Fuß runter, ich nehme die Seilbahn.
Ich stehe in der Warteschlange im Regen und frage mich, ob es so eine gute Idee war, den Rucksack mit dem Regenschirm in der Schule zu lassen.
Unten, wo es wieder warm ist, aber noch heftiger regnet, entscheide ich mich, ein Taxi zu nehmen. Ich verhandele vorher den Preis mit dem Fahrer, denn ich habe nur noch begrenzt Bargeld und keine Kreditkarte dabei. Er deutet auf Taxameter und sagt, er schätze etwas 50 R$ bis zum General Osorio. Am Ende kostet es sogar nur 40 R$. Und das, obwohl es eine ordentliche Strecke ist.
Der Taxifahrer ist sehr gesprächig und kann kein Englisch. Wunderbar. Er hört mit Interesse zu und fragt auch nach, wie das denn sie mit der Schule und mit dem Portugiesisch und dem Ausflug auf den Zuckerhut. Ob mir Brasilien gefalle, will er wissen, und ob ich hier auch leben wollte. Und wie das Essen sei. Da habe ich glücklicherweise von der Feijoada zu erzählen. Er selbst stammt aus Rio, hat vier Kinder und auch schon ein Enkelkind. Für mich ist das eine halbe Stunde Sprachunterricht, besser als jede Schulstunde. Ich muss häufig nachfragen, und es gibt auch mal ein Missverständnis, aber am Ende biegen wir es hin. Als ich aussteige, meint er, er müsse auch mal eine Sprachschule besuchen.
Als ich in der Schule ankomme, bin ich völlig durchnässt. Die Frau hinter der Rezeption reicht mir sofort den Rucksack und drückt ihr Bedauern aus, was den Regenschirm angeht.
Zu Hause angekommen, sorgt Mary sofort dafür, dass der Schirm draußen unter dem Vordach und die Schuhe an der Eingangstür geparkt werden.
29. Oktober (Samstag)
Eigentlich war heute Ruhetag angesagt, aber das Wetter ist einfach zu schön. Ich fahre nach Niteroi, eine Fahrt, die auch Thys schon gemacht hat.
Diesmal klappt alles. Ich bekomme Geld (wenn auch erst im dritten Anlauf), und finde den Weg von Carioca zur Praça XV und von der Praça XV zum Hafen und zur Abfahrt der Fähre, weil ich beide Male sehr freundliche und klare Erklärungen bekomme.
Es ist jetzt, am frühen Vormittag, schon richtig heiß. Es sind noch nicht viele Menschen unterwegs.
Mir fällt eine kleine Statue auf, die ich dieser Tage schon mal bei dem Stadtrundgang aus dem Augenwinkel gesehen habe. Sie steht auf einem niedrigen Sockel und stellt einen Zeitungsjungen dar, sehr expressiv, mit der Zeitung unter dem Arm, nur als Rolle schwach angedeutet, und geöffnetem Mund, man hört ihr förmlich rufen.
An der Anlegestelle frage ich nach einem Seniorenrabatt und erfahre, dass ich sogar umsonst fahren kann. Und die Fähre steht abfahrbereit, so, als wenn sie nur auf mich gewartet hätten.
Ich habe mit einem kleinen Schiff, beinahe einem Boot gerechnet, aber es handelt sich um eine richtige Fähre, mit zwei Decks und Sitzplätzen für über 600 Passagiere. Wird vermutlich während der Woche von Pendlern genutzt.
Lieder kann man nicht nach draußen, und die Fenster sind so schmutzig, dass man nicht viel sieht. Schade, denn vor einem liegt Niteroi mit Stränden und links eine lange, elegant geschwungenen Brücke, die vermutlich Rio mit Niteroi verbindet.
Die Überfahrt ist ganz kurz, nach vielleicht einer Viertelstunde sind wir schon da. Wir passieren eine Bucht, die Baía da Guanabara. Das ist genau die Bucht, die die Portugiesen für ein Flussdelta hielten, als sie 1502 hier landeten.
Niteroi ist ein geschäftiger Ort, das sieht man schon hier an der Strandpromenade und noch mehr später in den Straßen der Stadt und einem Einkaufszentrum. Es reiht sich ein Geschäft an das andere, eine Bar an die andere, und es wimmelt nur so von Menschen. Merkwürdigerweise fühle ich mich überhaupt nicht unsicher.
Gleich an der Strandpromenade steht ein kleiner Kiosk mit Touristeninformation. Davon kann sich Rio eine Scheibe abschneiden. Aber ob da überhaupt jemand drin ist? Durch die abgedunkelten Scheiben sieht man nichts. Aber es ist tatsächlich jemand da. Eine ganz junge Frau und ein ganz junger Mann, die beide sofort aufstehen und fragen, was sie für mich tun könnten. Sie sind fast dankbar, dass überhaupt mal jemand kommt. Sagen mir, wo das Museum ist, geben mir einen Stadtplan, fragen woher ich komme. Und erklären mir, um wen es sich handelt bei der ungewöhnlichen Statue, die ich gleich nach dem Verlassen der Fähre hier gesehen habe, an der Strandpromenade, ein kräftiger, etwas primitiv aussehender Mann mit gekreuzten Armen und einem entschlossenen Blick, mit Lendenschurz und einer Halskette mit einem Kreuz. Diese Statue, erfahre ich, sei eine Reverenz von Niteroi an Araribóia, dem einzigen Indio, der in Brasilien eine Stadt gegründet hat. Er gehört den Tupi an. Auch der Name Guanabara stammt aus der Sprache der Tupi. Er half den Portugiesen bei der Eroberung der Bucht von Guanabara gegen Franzosen und Tamoios, ein weiterer Beleg dafür, dass es nicht immer Indios gegen Europäer war, sondern dass es man sich oft gegen Feinde aus dem eigenen Lager verband.
Ich bin sehr froh über die vielen Informationen, die ich bekommen habe. Als ich rausgehe, sagt die junge Frau noch, dass ihr meine „Bluse“ (das ist das T-Shirt) sehr gefalle: „Adoro.“
Ich komme durch eine längliche Halle, in der ein Einkaufszentrum untergebracht ist, mit vielen Essständen in der Mitte und kleinen Geschäften zu den Seiten. Am anderen Ende stößt man dann auf den Caminho Niemeyer. Das ist ein weites, offenes Feld mit zerstreut liegenden, hypermodernen Gebäuden, alle von Oscar Niemeyer konzipiert. Eins sieht wie ein großer Iglu aus, ein anderes wie ein Kasten. Auf den ersten Blick scheinen die Gebäude keine Funktion zu haben, aber das könnte täuschen. Das Hauptgebäude, vor dem ich stehe, hat elegant fließende Linien und eine geschwungene Treppe, die in nach oben führt. Sowohl dort oben als auch unten kann man über das Meer durch die Durchlässe in der Architektur nach Rio blicken. Wunderschön.
Vorne an der Fassade, mit gelben Kacheln geschmückt, sind Zeichnungen einer Frau in Bewegung angebracht, wie Federzeichnungen, und alles nur in Andeutung. Was das zu bedeuten hat, merke ich, als ich nach oben komme. Hier ist das Theater untergebracht. Die Frau in Bewegung an der Fassade ist eine Balletttänzerin!
Ich gehe zur Strandpromenade zurück, um zum MAC zu kommen, zum Museu de Arte Contemporânea, dem wichtigsten Anziehungspunkt Niterois.
Ich nehme ein Taxi. Der Taxifahrer bleibt stumm und fährt durch verschiedene Wohnviertel, was mir komisch vorkommt, weil das Museum doch direkt am Meer liegt. Aber dann biegen wir ab und es kommt in Sicht. Sensationell! Wie eine fliegende Untertasse, weißes Dach, schwarze Streben an den länglichen, abgeschrägten Fenstern. Und das mit direktem Blick aufs Meer. Die Fahrt mit dem Taxi hat gerade mal 20 R$ gekostet.
Ähnlich wie bei dem Theater hat man auch hier einen geschwungenen Aufgang, der nach oben führt, auf eine Plattform, und ähnlich wie dort hat man auch hier wunderbare Blicke auf das Meer dahinter. Man sieht von einer Seite aus den Strand von Niteroi, gleich nebenan, zur anderen Seite den Hafen von Niteroi mit der Strandpromenade, und nach hinten spektakuläre Ansichten von Rio. Man blickt durch den Bogen des Gebäudes auf eine Bergkette mit dem Cristo an einem und dem Zuckerhut am anderen Ende, rechts davon die Brücke, und dann irgendwo noch eine Insel, die durch einen schmalen Sandstrand mit dem Festland verbunden ist.
An der Rezeption bekomme ich mal wieder Seniorenrabatt. Die Frau, die mir sagt, ich müsse meinen Rucksack wegschließen, antwortet mir auf Spanisch.
Es stellt sich heraus, dass das Gebäude hier der eigentliche Protagonist ist. Man sieht eine Photoausstellung und – sonst nichts. Ob es irgendwelche Renovierungsarbeiten und geschlossene Säle gibt?
Die Ausstellung ist ganz schön, aber nicht umwerfend. Alle Photos auf der Innenseite des Rondells sind in Schwarz und Weiß und stammen von einer brasilianischen Künstlerin. Sie haben drei Motive: Landschaften, allesamt ausgedörrt, mit aufbrechenden Böden, dann Müllhalden, auf denen Leute versuchen, irgendetwas Brauchbares zu finden, und Ansichten von Favelas, an Berghängen gelegen, mit dicht an dicht aneinander stehenden niedrigen Häusern. Sieht auf den ersten Blick fast idyllisch aus.
Auf der Außenseite des Rondells gibt es weitere Schwarz-Weiß-Photographien von anderen Künstlern. Dabei sind Bilder aus dem Amazonas vertreten und Stadtansichten von Rio. Am besten sind die Photographien von dem Gebäude selbst, aus der Luft aufgenommen.
Etwas enttäuscht von der Ausstellung mache ich mich auf den Weg zurück zur Fähre. Diesmal gehe ich zu Fuß. Die erste Strecke ist wunderbar, direkt am Meer entlang, unter schattenspendenden Bäumen. Einige Jogger überholen mich, auf dem Asphalt laufend, einige davon barfuß.
Dann geht es nicht mehr geradeaus, ich muss abbiegen und komme durch ein paar ziemlich verlassene Wohngebiete. Unterwegs mache ich ein Photo von der isoliert stehen gebliebenen, leeren Fassade eines alten Prachtbaus. Durch die mit Bauschmuck versehene Fassade sieht man auf ein hässliches Haus im Hinterhof.
Dann kommt endlich das Meer wieder in Sicht. Kurz vor dem Erreichen der Strandpromenade stoße ich auf eine Skulptur von zwei alten Männern auf einer Sitzbank. Der eine spielt mit dem Laptop, der andere sieht ihm über die Schulter. Ich setze mich daneben und bitte eine junge Frau, ein Photo von uns drei zu machen.
Wieder in Rio angekommen, gehe ich durch die fast menschenleere Innenstadt Richtung U-Bahn, sehe dann aber einen Bus, der in unsere Richtung fährt. Dauert auch nicht länger als mit der U-Bahn, da der erste Teil der Strecke über die Stadtautobahn führt. Dann geht es noch über eine lange, geschäftige Avenida, immer geradeaus, und am Ende werde ich praktisch vor der Haustür abgesetzt.
Ich entscheide mich zur Abwechslung für eine Pizza, in einem kleinen Lokal um die Ecke, in dem ich schon mal gegessen habe. Die verschiedenen Pizzen werden von der Kellnerin so schnell runtergebetet, dass ich kaum etwas mitbekomme, und ich bestelle auf gut Glück eine, die aus unerfindlichen Gründen Pizza Portuguesa heißt.
Es dauert was mit der Vorbereitung, und als sie kommt, habe ich schon meine erste Flasche Brahma intus. Das Bier kommt gleich aus einem der drei riesigen Kühlschränke, die den Kellnerinnen Spalier stehen, wenn sie die Gäste bedienen. Außen befinden sich Temperaturanzeigen. Sie schwanken zwischen -0,5° und -1,5°. Schön kalt.
Im Fernsehen läuft die Berichterstattung für das Finale, O Grande Finale, von heute. Es geht um die Copa Libertadores, der amerikanischen Entsprechung zur Champions League. Wieder ist Flamengo beteiligt, sie spielen gegen Athletico-PR, einen Verein aus Kolumbien. Der kommt in der Berichterstattung kaum vor. Es geht um den Torjäger von Flamengo. Der heißt hier artilheiro, während goleiro den Torwart bezeichnet.
Als die Pizza kommt, traue ich meinen Augen nicht. Ich habe mich darauf eingelassen, eine große zu bestellen, und die reicht für die ganze Familie. Als ich bezahlen will, fragt die Kellnerin, ob ich den Rest „für die Reise“ haben wolle, pra viagem. Nehme ich an.
Die Pizza ist erstaunlich gut. Statt Tomatenmark gibt es Tomaten in kleinen Stücken, und der Käse zerläuft richtig schön. Der Belag ist viel zu reichhaltig. Es gibt Ei, Oliven, Schinken, Paprika, Zwiebeln und viel Oregano.
Als ich zahle, steht auf einmal eine andere Frau vor mir. Sieht jedenfalls so aus. Es ist die Kellnerin von vorhin, aber sie hat ihre Berufskleidung ausgezogen und erscheint jetzt in schickem Blau, von Kopf bis Fuß: „Nossa!“
30. Oktober (Sonntag)
Wie während der Nacht nicht zu überhören war, hat Flamengo das Endspiel gewonnen, 1:0. Es ist ihr dritter Sieg in der Copa de Libertadores. In der Liga liegen sie nur auf den Plätzen, mit großem Abstand zum Tabellenersten, Palmeiras.
Heute ist wohl erzwungener Ruhetag. Sieht so aus, als hätten auch die Museen geschlossen, bei einigen von ihnen steht es explizit auf der Website. Museu do Indio geschlossen, Museu do Amanhã geschlossen, museu da republica
Anlässlich der Wahl fällt mir wieder Umberto Eco ein, der über Berlusconi sagte: „Ach lasst mich doch mit dem in Ruhe, der tut nur, was er tun muss. Zeigt mir lieber die Leute, die ihn wählen.“ Kann man auch von Bolsonaro sagen.
Bei einem Spaziergang am Nachmittag stellt sich heraus, dass im Zentrum wirklich alles geschlossen ist, auch das Paco Real. Ein großes Gebäude in Cinelândia ist geöffnet, erst glaube ich, es wäre ein Museum, aber es ist wohl ein Gerichtsgebäude. Das ist für die Wahlen geöffnet. Am Eingang werden Pässe oder Wahlbenachrichtigungen kontrolliert, und die Wähler werden zu verschiedenen Eingängen des riesigen Gebäudes geschickt. Später fragt mich eine Brasilianerin nach dem Weg zu einem militärischen Gebäude. Auch da geht es vermutlich ums Wählen.
Ich stoße auf die eine oder andere Kirche, aber auch die sind alle verschlossen. Santa Luzia ist eine schöne kleine Kirche im Barockstil, mit zwei integrierten Türmen mit Schalllöchern und Fenstern über dem Eingangsportal. Die Fassade ist weiß verputzt, aber das tragende Mauerwerk nicht, was einen schönen Kontrast bildet. Die Straße Santa Luzia wurde geschaffen, damit Dom Joâo VI. von seinem Wohnsitz aus direkt zu der Kirche kommen konnte, die er jeden Morgen aufgrund eines Gelübdes zur Messe besuchte.
Dann komme ich nach São José. Die Kirche ist eine Art Halbschwester von Santa Luzia, auch Barock, auch einschiffig, auch weiß getüncht bis auf das Mauerwerk, auch mit zwei Türmen versehen. Hier gibt es Fensteröffnungen in beiden Geschossen. Mir gefällt Santa Luzia wegen ihrer schlichten Eleganz noch besser.
Dann komme ich noch zu der Kirche, die einem schon von weitem auffällt wegen der glasierten Kacheln ganz oben auf den Türmen. Die sind eine spätere Hinzufügung. Diese Kirche ist eigentlich eine Doppelkirche, beide tragen das Wort Carmo im Namen, aber wie sie sich zueinander verhalten, wird nicht klar. Bei der linken Kirche fehlt der Turm zur Seite der anderen Kirche, vielleicht wurde er bei dem Bau der zweiten Kirche abgerissen. Beide Kirchen sind steinsichtig. Die mit dem fehlenden Turm scheint die Hauptkirche zu sein. Bei ihr handelt es sich wohl um die Alte Kathedrale, nach der ich so oft vergeblich Ausschau genommen habe. Der schönste Blick auf die Doppelkirche bietet sich nicht von vorne, sondern von der Seite, wenn man beide Fassaden schräg vor sich hat.
Jetzt, nach zwei Wochen ununterbrochener Beschallung mit neuen Eindrücken, kommen mir Szenen in den Sinn, die ich nicht mehr einordnen kann. Irgendwo habe ich eine Büste von Chopin gesehen, von Brasilien seinen polnischen Einwanderern gewidmet, aber ich weiß nicht mehr wann und wo.
Und dann fällt mir Eisenbahn ein. Dem Wort bin ich schon öfter begegnet, ohne zu wissen, was es ist. Es ist auch eine Biermarke. Immer wieder trifft man mal auf eine deutsche Benennung, so wie eine Buslinie, deren Endstation Meier heißt.
Brasilien hat den größten schwarzen Bevölkerungsanteil aller Länder außerhalb von Afrika. Hier fällt vor allem die Mischung auf. Man sieht einfach Menschen mit allen Hautschattierungen. Die Portugiesen haben sich (wie die Spanier und anders als die Engländer) immer mir den Eingeborenen vermischt und auch mit den Sklaven, das Ergebnis sieht man bis heute. Man sieht sie alle durcheinander, ob es eine Segregation gibt, ist schwer zu sagen, obwohl ich in unserem Viertel wenige Schwarze gesehen habe.
Die Brasilianerinnen geizen nicht mit ihren Reizen. Tiefe Ausschnitte, kurze Röckchen, eng anliegende Hosen sieht man überall. Dabei scheint es keine Rolle zu spielen, ob man alt oder jung, dünn oder dich, schön oder hässlich ist.
Immer wieder verblüffend die Radfahrer, die auch hier, wo es keine Radwege gibt, mutig über die Straßen fahren, teils in entgegengesetzter Richtung, meist ohne Licht und alle ohne Helm. Viele von ihnen sind Paketboten, aber nicht alle. Die meisten Radfahrer fahren aber auf den Radwegen, aber auch auf dem Bürgersteig können sie plötzlich hinter einem auftauchen. Motorräder und Roller sind überall zu sehen. Und Leute mit Handkarren und solche, die mit großen, vollbepackten, undurchsichtigen Plastiktüten durch die Gegend laufen. Das alles fällt mir heute besonders auf, weil sie alle nicht da sind.
In Ipanema ist im Gegensatz zum Zentrum viel los. Man sieht immer mehr Anhänger von Lula und auch einen Stand, an dem politische Devotionalien verkauft werden. An einer Ampel steht neben mir eine ältere, fröhlich vor sich hin plappernde Dame, in ein längeres Kleid mit den Farben Brasiliens gehüllt, die einen Aufkleber für Bolsonaro trägt. Sie ist die einzige.
Dann sehe ich auf dem Heimweg noch einen völlig heruntergekommenen, ehemals weißen VW-Bully. Nahe der Tür ist ein Aufkleber angebracht: Lula 13!
Es wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen, und das Ergebnis lässt auf sich warten. In der Berichterstattung nehmen die Ergebnisse Gouverneurswahlen und der Wahlen fürs Parlament fast mehr Raum ein, als die Präsidentschaftswahl. Man neigt dazu, deren Bedeutung zu unterschätzen, angesichts des dramatischen Zweikampfs.
Eine Zeitlang liegt Bolsonaro leicht vorne, aber es heißt, das sei zu erwarten, und zwar deshalb, weil die Wahlkreise, in denen Bolsonaro vorne liegt, reicher seien. Dort wird schneller ausgezählt als in den anderen.
Von meinem Zimmer aus höre ich die ersten Jubelgesänge, als Lula gleichzieht, dann wieder, als er in Führung geht. Als gut 98% ausgezählt sind, steht Lula als Wahlsieger fest. Böllerschüsse und Jubelgesänge, es ist wie bei dem Finale gestern. Wenn man nicht wüsste, dass es eine Wahl ist, würde man an Fußball denken.
31. Oktober (Montag)
Lula gewinnt die Präsidentschaftswahlen (50,9 : 49,1), aber in allen anderen Bereichen haben Bolsonaro und seine Verbündeten die Mehrheit. Der Bolsonarismus bleibt, heißt es, auch wenn Bolsonaro nicht mehr Präsident ist.
In der Heimat ist es am Wochenende (mindestens) so warm wie in Rio gewesen. Man hört begeisterte Kommentare und sieht schöne Bilder von Bäumen und deren farbiges Laub, aber auch ein paar weniger begeisterte Kommentare: staubig, Kopfschmerzen.
Sieht so aus, als würde es nach gestern heute einen weiteren erzwungenen Ruhetag geben, denn montags haben die Museen alle geschlossen.
Nirgendwo ist etwas von den Wahlen zu sehen, irgendwo fällt mal der Name Bolsonaro, aber das ist schon fast alles. Ein ambulanter Händler springt aufs Treppchen und bietet seine Ware mit dem Zusatz Lula an.
Ich mache mich mangels Beschäftigung auf den Weg zum Frisör. Genauer gesagt, nach dem Frisörsalon Olimpo, von dem ich so sicher bin, dass ich ihn auf dem Weg zur Schule gesehen habe.
Unterwegs entdecke ich ein paar Ladenpassagen, die ich bisher immer übersehen habe. In zwei gehe ich rein. Ganz schön ernüchternd. Sogar in der Parterre sind viele Geschäfte aufgegeben, andere haben geschlossen. Es gibt hier sogar einen Frisör, aber der öffnet montags erst um 15 Uhr.
Bei den Geschäften am Wegesrand gibt es ein paar traditionelle Familienbetriebe, einen Schuster, einen Glaser, einen Tuchhändler, aber überwiegend moderne Geschäfte, darunter eins von denen, die nur Handyhüllen und meist keine Kundschaft haben. Daneben Drogerien wie Sand am Meer. Am Rande des Bürgersteigs Kioske, einer wie der andere. Scheinen auch nicht viel Betrieb zu haben. Zeitungen und Zeitschriften sieht man hier so gut wie keine.
Irgendwo taucht Shinanigans auf, eine irische Kneipe, die mir jeden Tag auf dem Weg zur Schule aufgefallen ist. Ich kann mich noch an den Tag erinnern, als ich das Wort shinanigans zum ersten Mal gehört habe.
Als ich an der Schule angekommen bin, ist der Frisörsalon Olimpo immer noch nicht aufgetaucht. Also geht es zurück, um nach Adressen zu suchen. Die erste ist ein Flop. Da, wo der Frisör sein müsste, ist nichts. Man steht vor einer zugemauerten Wand.
Der nächste ist genau das, was ich suche. Ein altmodischer Frisörsalon, nur für Männer, in einem schlauchartigen Gebilde untergebracht, das auch eine Garage sein könnte.
Ich brauche auch gar nicht zu warten. Die Leute, die vor mir in der Schlange stehen, wollen gar nicht zum Frisör, sondern zur Lotterieannahmestelle, die ebenfalls hier untergebracht ist.
Der Frisör, mit altmodischer Brille und nicht sehr moderner Frisur, lässt sich auf meine Bedingungen ein: nicht zu kurz, und mit Schere schneiden. Er macht seine Arbeit langsam, sehr langsam, und sehr vorsichtig, aber richtig gut. Und das, obwohl die Schere nicht gut zu schneiden scheint. Am Ende sind wir beide zufrieden, und er lässt sich gerne in seinem Salon photographieren. Der Haarschnitt hat mich 45 R$ gekostet.
Ich frage, wo es hier in der Gegend Bekleidungsgeschäfte gebe, er deutet nach links, sagt aber, der öffne erst um 15 Uhr. Es gebe aber auch C&A. Darauf lasse ich mich ein. Bin täglich an dem Geschäft vorbeigekommen. Am Ende belabert mich die Bedienung, die nicht so gerne ältere Herren bedient, doch noch, ein weiteres Hemd zu kaufen, und ich verlasse das Geschäft, obwohl alles nicht ideal ist, um vier Kleidungsstücke reicher und gut 100 € ärmer.
Als ich bezahle, stelle ich mit Entsetzen fest, dass das Mädchen, das mich bedient, keine Tätowierung hat, aber als sie sich umdreht, sehe ich eine Blume an ihrer Wade und bin beruhigt.
Als sie ein Kleidungsstück fallen lässt, entgleitet ihr ein gedämpftes Pimenta!, und ich bin um ein mildes portugiesisches Schimpfwort reicher.
Dann gehe ich noch einmal zur Lanchonete um die Ecke. Inzwischen kennt mich die Kellnerin. Ich starte mit einer Caipirinha, wieder Zitrone, das sei schließlich der Klassiker, und die ist wirklich gut, besser als die dieser Tage bei der Garota de Ipanema. Dann Tagesgericht und Brahma.
Auf der Kinderseite einer deutschen Zeitung wird nach der Größe Brasiliens gefragt. Ist es 3x, 10x oder 24x so groß wie Deutschland?
1. November (Dienstag)
Heute geht es nach Petróplis, auf Anraten von Mary mit einer organisierten Reise. Es geht schon um 7 Uhr los. Ich bin der erste, der zusteigt, und dann beginnt das leidige Einsammeln der anderen an den verschiedenen Hotels.
Es sind vier Brasilianer dabei, eine Familie, und zwei Mexikaner, ein Paar, alle anderen sind Chilenen, alle aus Santiago. Mit den Mexikanern komme ich im Laufe des Tages ins Gespräch. Sie ist aus dem DF, er ist aus Oaxaca, und sie sind sehr angetan, dass ich beides kenne. Wie gute Mexikaner leben sie in den USA. In Chicago. Kalt, aber schön. Oder schön, aber kalt.
Mit zwei Chileninnen, Mutter und Tochter, komme ich auch ins Gespräch, Stichwort Valparaíso. Nach Chile müsse ich unbedingt reisen. Da könne ich mich nicht vertun, immer geradeaus. Sie machen besonders Werbung für San Pedro de Atacama. Brasilien, sagen sie, sei auch für die kein billiges Reiseland. Und Argentinien, höre ich zu meinem Entsetzen, auch nicht. Beim Mittagessen klagen sie hinter vorgehaltener Hand über die vielen Einwanderer in Chile, Venezolaner und Kolumbianer.
Unser äußerst sympathischer Reiseleiter, Julio, nimmt mit jedem persönlich Kontakt auf. Deutschland, ja, das kenne er, da reise er immer gerne hin. Was er denn kenne in Deutschland, will ich wissen: „München … Berlin … Koblenz.“ Dass ich nach Argentinien weiterreisen will, findet er wunderbar. Buenos Aires ist eine seiner Lieblingsstädte.
Er ist froh, nicht meinetwegen noch in einer weiteren Sprache erklären zu müssen. So kann er sich mit Spanisch und Portugiesisch begnügen. Er spricht beides so gut, dass ich nicht entscheiden kann, was seine Muttersprache ist.
Es geht an der Copacabana entlang. Der Zuckerhut kommt von zwei verschiedenen Seiten in Sicht. Der Himmel ist bewölkt, aber der eine oder andere Sonnenstrahl kommt durch.
Dann wird es ziemlich öde, Industriegebiete. Dann scheinen wir auf eine Autobahn zu fahren, aber stattdessen geht es gleich rechts ab auf eine kurvenreiche, stetig ansteigende Landstraße. Wieder ist es überall sehr grün.
Wir machen Halt an einer Lanchonete, die ausgerechnet Casa do Alemão heißt. Dort trinke ich einen Kaffee und bestelle einen Kuchen, der hier als tarta alemã durchgeht, eine cremige Masse mit Biskuit und einem Schokoladenüberguss. Der Name erklärt sich später insofern, als es nicht ein Kuchen aus Deutschland ist, sondern ein von einer deutschen Einwanderin kreierter Kuchen.
Dann kommt Petrópolis. Unser erstes Ziel ist das Casino, das ehemalige Casino, an einem See gelegen, der die Konturen von Brasilien hat. Kann man leider von unserem Standort aus nicht erkennen. Das Casino war nur zwei Jahre in Betrieb. In dieser Zeit wurden täglich 20.000 Essen ausgegeben. Nach zwei Jahren ist Schluss, da das Glücksspiel verboten wurde.
Die Szenerie hier ist eindeutig europäisch. Man könnte genauso gut im Schwarzwald sein. Auch das Casino selbst, mit Verzierungen aus dunklem Holz, könnte in Europa stehen. Das kommt nicht von ungefähr. Pedro, der Gründer von Petrópolis, holte Baumeister und Handwerker aus Österreich, Deutschland und der Schweiz, um die Stadt aufzubauen. Und die hole Lage mit dem Wald drum herum war absichtlich so gewählt, denn es handelte sich ja um einen Sommersitz, und die Abicht war, der schwülen Hitze Rio de Janeiros zu entkommen.
Dann bekommen wir, stante pede, direkt vor dem Teich stehend, eine Kurzfassung der Biographie Pedros. Den Julio, unser Führer, offensichtlich außerordentlich schätzt. Pedro wurde mit 5 Jahren von seinem Vater, der nach Portugal zurückkehrte, in Brasilien zurückgelassen, 1831, nachdem sein Vater, Pedro I. abgedankt hatte und nach Portugal zurückgekehrt war, um dort seiner Tochter, Maria, den portugiesischen Thron zu sichern. Schon mit fünf Jahren wurde Pedro zum Kaiser ausgerufen, obwohl ein vom Parlament eingesetzter Rat zunächst die Geschäfte führte. Pedro wurde dann mit 14 Jahren vorzeitig für volljährig erklärt und ein Jahr später, 1841, zum Kaiser gekrönt, als Pedro II. Das blieb er bis 1889, als die Republik ausgerufen wurde. Wenige Monarchen überhaupt herrschten länger als er.
Pedro interessierte sich für Naturwissenschaften, Kunst und Technik, und lernte schon als Junge sechs oder sieben Sprachen. Er traf sich später mit Schliemann und förderte das Institut Pasteur in Paris. Er soll von sich gesagt haben: „Não sou imperador, estou imperador“. Wenn er nicht „zufällig“ den Posten des Kaisers besetzt hätte, wäre er Professor geworden.
Julio ist auch angetan von dem Umgang Pedros mit Geld. Er habe alles, was nicht streng zum Amtsgeschäft gehörte, immer aus der eigenen Schatulle bezahlt, darunter auch den Aufbau von Petrópolis und seine Auslandsreisen. Als die Monarchie gestürzt wurde, habe er sich geweigert, die Werte, die dem König gehörten, für sich in Anspruch genommen. Die habe er dem brasilianischen Volk vermacht.
Unser nächstes Ziel ist das Museu Imperial, untergebracht in der ehemaligen Residenz des Kaisers in Petrópolis. Seine Affinität zur Technik sieht man hier unter anderem darin, dass in seinem Arbeitszimmer ein Telefon steht, das erste in Brasilien. Er hatte auf einer Reise in die USA Alexander Bell kennengelernt und wollte so einen Apparat unbedingt auch für Brasilien. Wir vermuten alle, dass die Leitung vielleicht gerade mal ins Gemach seiner Gemahlin reichte, aber weit gefehlt, es wurde eine unendlich lange Leitung gelegt, bis in die Nähe von Rio de Janeiro.
Der Palast hat über vierzig Räume, wurde aber nur von vier Personen bewohnt. Von den vier Kindern des Kaiserpaars überlebten nur die beiden Töchter. Der Palast wurde in der Regel von November bis Mai bewohnt.
Der Palast hat keine Küche. Aus Sicherheitsgründen. Die Brandgefahr war zu groß. Die Küche befand sich in einem eigenen Gebäude, vierzig Meter von dem Palast entfernt.
Wir sehen den Speisesaal, den Diplomatensaal, das Arbeitszimmer Pedros, wo er die meiste Zeit verbrachte und auch ein Bett hatte, das Gemach der Kaiserin, einen Musiksaal, einen Handarbeitssaal und was so ein Palast alles hat. Von den Ausstellungsstücken sind vor allem ein chinesisches Nähkästchen und ein Thron bemerkenswert, ein hölzerner Sitz mit einem Loch in der Mitte, auf dem man seine Geschäfte erledigte.
Dann sind Throninsignien zu sehen, darunter die beiden Kaiserkronen, von Vater und Sohn. Die Krone des Vaters hat keine Perlen (mehr), denn der Sohn ließ sie aus Sparsamkeitsgründen in seine Krone einarbeiten.
Wir sehen mehrere Porträts der Kaiserin, und das aus gutem Grund. Man musste für Pedro in Europa auf Brautschau gehen, und man wurde fündig im Königreich beider Sizilien, bei einer der Prinzessinnen, Maria Cristina. Es wurde ein Porträt von ihr angefertigt, und das sagte Pedro zu. Es wurde eine Ferntrauung veranstaltet, und dann kam Maria Teresa nach Brasilien. Als Pedro sie auf dem Schiff in Empfang nahm, kehrte er auf der Stelle um und flüchtete in seinen Palast. Das Porträt hatte die Wirklichkeit beschönigt. Wie die aussah, davon bekommt man durch ein anderes Porträt einen Eindruck. Das Porträt zeigt unter anderem deutliche Spuren eines Damenbarts. Maria Teresa war außerdem bucklig und im Vergleich zu dem großgewachsenen Pedro geradezu ein Zwerg. Auf jeden Fall kehrte Pedro am nächsten Tag reumütig zurück, holte Maria Teresa zu sich und begann, ihre anderen Qualitäten zu entdecken. Die Ehe dauerte 46 Jahre. Nach dem Sturz der Monarchie gingen die beiden ins Exil. Dort starb Maria Teresa zwei Jahre später, und Pedro zwei Jahre nach ihr.
Auch für die beiden Töchter wurden Ehegatten in Europa gesucht. Es wurde eine Doppelhochzeit geplant, für Isabel und Leopoldina. Als die beiden Kandidaten in Brasilien ankamen, entdeckte Isabel ihre Zuneigung zu dem für Leopoldina Ausgewählten, und Leopoldina zu dem für Isabel Auserwählten. Pedro, statt auf dem Protokoll und den Verträgen zu beharren, nahm die Sache mit Gelassenheit und erlaubte den Tausch.
Als wir das Museum verlassen, regnet es in Strömen. Der Museumshop macht ein gutes Geschäft du bringt Umhänge aus Plastik unter die Leute.
Nach der Besichtigung geht es zum Mittagessen und dann fahren wir, im Regen, durch die besterhaltene Straße Brasiliens, am Rand des Palasts entlang, einer Straßen mit Villen auf der einen und mit palastartigen Bauten auf der anderen Seite. Dann fahren wir noch am Kristallpalast vorbei, aber der ist geschlossen.
Während die anderen dann zu einer Bierprobe fahren, gehe ich in das Haus von Santos Dumont, einem brasilianischen Luftfahrtpionier. Das selbst, an einem Hang gelegen, in der Form eines Schweizer Chalets, ist schon eine Sehenswürdigkeit. Santos Dumont hatte viele Jahre seines Lebens in Europa verbracht und das Haus selbst so geplant.
Unten gibt es eine kleine Ausstellung. Es gibt Berichte und Bilder von seinen ersten erfolgreichen Flügen, die ihn einmal 60 Meter und einmal 220 Meter weit trugen, in einem selbst konstruierten Flugzeug mit Benzinmotor. Die Flüge gelten als erste überhaupt, die aus eigenem Antrieb, ohne Startrampe erfolgten.
Aufzeichnungen von Santos Dumont sind erhalten, in denen er aussagt, er habe nie Angst gehabt, das Fliegen sei ihm als die natürlichste Sache der Welt erschienen.
Es werden handgeschriebene Briefe von ihm präsentiert, sowohl auf Portugiesisch als auch auf Englisch, und Photographien, die zeigen, dass er allzeit sehr gepflegt und vornehm auftrat, tadellos gekleidet, mit Anzug, Stehkragen, Krawatte und Hut. Sieht eher wie ein Politiker aus als wie ein Hasardeur, den es in die Luft zieht.
Eine Kuriosität des Hauses ist eine Treppe mit merkwürdig abgeschnittenen Stufen. Man weiß nicht, ob es praktische Gründe hat oder etwas mit Aberglauben zu tun hat.
Auch dieses Haus hat keine Küche. Santos Dumont ließ sich sein Essen aus dem nahegelegenen Palace Hotel kommen. Dort war er in Petrópolis immer abgestiegen, bevor er das Haus baute.
Es regnet immer noch, als ich aus dem Haus komme. Gleich gegenüber befindet sich Katz, unser Treffpunkt, ein Café, in dem es auch feine Schokolade zu kaufen gibt, darunter die Katzenaugen unserer Kindheit.
Die Rückfahrt verläuft gut, wider Erwarten, denn man hatte eine Blockade durch Lastwagen erwartet, als politische Demonstration gegen das Wahlergebnis. Die bleibt uns aber erspart.
Bei der Einfahrt nach Rio im Dunkeln habe ich dann noch ein besonderes Erlebnis, ein Eindruck, der im Gedächtnis bleibt. Als wir auf einer Schnellstraße in die Stadt fahren, auf der einen Seite der Bucht, mit dem Meer rechts von uns und der anderen Seite der Bucht wiederum rechts von uns, habe ich den unzweifelhaften Eindruck, dass wir an einem Fluss entlang fahren – Rio de Janeiro.
2. November (Mittwoch)
Der Vermieterin zufolge hat Brasilien die größten und die kleinsten Bananen der Welt. Von den kleinsten, banana oro, bekommen wir zwei zum Frühstück serviert.
Sie macht Werbung für das Museu da Amanhã. Das sei ein Muss. Ich lasse mich darauf ein, wäre aber von selbst wohl eher in ein anderes Museum gegangen, und das Resultat ist auch zwiespältig.
Die Metro ist voll. Fast alle mit T-Shirts in den brasilianischen Nationalfarben oder in die Nationalflagge gehüllt. Fußball? Heute ist Feiertag, und die Metro fährt Richtung Maracana. Aber eigentlich zu früh für ein Fußballspiel, und die Leute sehen auch irgendwie nicht danach aus. Ich nehme meinen Mut zusammen und spreche einen Mann an. Nein, kein Fußball, eine Demonstration, Politik. Ich frage nicht weiter nach, aber wir kommen ins Gespräch. Woher ich käme? Oh, Deutschland, sein Vater habe für Wella gearbeitet und sei in seinem Leben bestimmt einhundert Mal in Deutschland gewesen. Ihn selbst zieht es nach Belgien, selbst ist er in Deutschland noch nicht so oft gewesen, aber am besten gefalle ihm Düsseldorf. Er fragt nach meinem Portugiesisch und nach meinen Reiseplänen. Das gefällt ihm alles. Er macht einen sehr sympathischen Eindruck, und er ist auch der erste Brasilianer, der das 1:7 erwähnt. Aber inzwischen habe sich Brasilien ja wieder rehabilitiert. Da kann ich ihm nur zustimmen. Er hilft noch dabei, dass ich an der richtigen U-Bahn-Station aussteige und verabschiedet sich mit einem strahlenden Lächeln. Als ich später wieder zurückfahre, ist die U-Bahn noch voller. Da kommen alle von der Demonstration zurück. Obwohl es so voll ist, ist es ganz friedlich, alle sind adrett gekleidet und verhalten sich höflich. Später lese ich dann, dass es eine Demonstration für Bolsonaro war. Der nette Mann und all diese freundlich aussehenden Leute Bolsonaro-Anhänger? Ist wohl so. Eine Erfahrung, die auch eine Lektion für mich ist.
Jetzt geht es aber zuerst zum Museu da Amanhã. Dazu muss ich die Straßenbahn nehmen. An der Haltestelle der Metro frage ich eine Angestellte nach der Straßenbahn, und sie fragt: „VTL?“ Ja. Das ist die Abkürzung, die hier meist gebraucht wird. Das hätte ich vor zwei Wochen noch nicht verstanden. Die Straßenbahnhaltestelle ist auch gleich um die Ecke.
Mary zufolge kann ich die Straßenbahn auch gratis benutzen. Es gibt aber niemandem, dem man seinen Ausweis vorzeigen kann, wie in der Metro. Ich setze mich einfach rein, und prompt kommt eine Kontrolleurin. Ich zeige meinen Ausweis, sie macht einen elektronischen Klick an einem der Apparate, und alles ist in Ordnung.
Die Straßenbahn ist das moderne Gegenstück zu den Bussen. Sie hat eine eigene Trasse, ist hochmodern, mit langen, miteinander verbundenen Wagen und hat elektronische Anzeigen. Perfekt. Und es gibt eine eigene Haltestelle für die Museen.
Zu denen gehört auch das Kunstmuseum, in einem klassizistischen Gebäude untergebracht, in der Nähe der Haltstelle. Zum Museu da Amanhã geht es auf den Platz am Hafen. Neben dem Museum zwei alte Lastkräne, dekorativ in der Gegend stehend, einer mit chinesischen Schriftzeichen, und an der Rückseite des Platzes ein Hochhaus, wie es auch in Moskau oder Madrid stehen könnte.
Das Museum ist sensationell, ein echter Hingucker, kommt bei gutem Wetter sicher noch mehr zur Geltung. Es ist ganz in Weiß, ist langgestreckt, mit der Form eines Hais, der mit der Flosse noch im Wasser ist und dessen Schnauze auf den Platz geht. Zwischen den Rippenknochen des Hais Glas, durch das man von innen auf das Meer blickt. Toll.
Wieder gibt es Seniorenvorrechte, diesmal ist es mir fast schon peinlich. Nicht nur ist der Eintritt umsonst, ich werde außerdem noch an der Schlange vorbeigeführt und vor allen anderen bedient.
Die Ausstellung selbst ist nicht so berauschend, es gibt viel Krimskrams und Schaueffekte und auch drinnen ein paar architektonische Glanzpunkte, aber die Information muss man sich hart erkämpfen.
Die untere Ebene, wo es eine Photoschau von Sebastian Salgado gibt, eine Sonderausstellung, erweist sich als der interessantere Teil, aber die vielen Photos, so eindrucksvoll sie auch sein mögen, erschlagen einen fast und nehmen auch ganz wörtlich viel Raum ein.
Auf einer einfachen Karte Südamerikas kann man sehen, dass Brasilien ungefähr die Hälfte des Kontinents einnimmt und der Amazonas ungefähr die Hälfte Brasiliens. Er verteilt sich auf acht Länder!
An einer weiteren Karte erfährt man, dass Amazonas nicht gleich Amazonas ist. Es gibt sehr verschiedene Gebiete, darunter die Catinga (bedeutet ‚weiß‘ in Tupi) mit Wüste, die Cerrada mit Savanne und das Pantanal mit Sumpfgebieten. Dort wird Kautschuk gewonnen. Die Indios verteilen sich auf den ganzen Amazonas, aber immer in abgegrenzten Gebieten. Es ist wie ein Fleckenteppich.
Einige Bilder zeigen rios aereos, also so was wie Luftflüsse. Das sind Wassermassen, die durch die Luft wandern. Sie transportieren insgesamt mehr Wasser, als der Amazonas.
Mitten im Amazonas gibt es auch ein Naturschutzgebiet von 350.470 Hektar Größe, mit 3300-400 Inseln, von denen einige zwischenzeitlich verschwinden können, weil das Wasser bis zu zwanzig Meter ansteigen kann! Das Naturschutzgebiet ist unbewohnt, bis auf Novo Airau, einem kleinen, von Indios bewohnten Dorf.
Anhand von Photos und Informationstafeln werden einige Eingeborenenstämme vorgestellt, darunter die Yamomani. Es gibt noch ca. 40.000 von ihnen. Sie haben früher weit abgeschieden in den Bergen gelebt und sind dann im Laufe der Zeit, durch die Berührung mit Missionaren, Landvermessern und Abenteurern immer weiter ins Tiefland gewandert. Interessant die Parallele zu heute: Ihr Körperschmuck würde heute als Piercing und Tätowierung durchgehen.
Auch bei den Suruwaki kann man eine Parallele zu uns sehen: Sie präsentieren sich mit angespannten Muskeln, so wie Menschen, die die sog. Körperkultur betreiben. Körperliche Stärke hat bei ihnen einen hohen Stellenwert, und der findet seinen Ausdruck auch in eine rituellen Prozession, bei der gemahlenes Maniok zur Fermentierung an den Fluss getragen wird, in einem Korb, der zweieinhalb Meter groß ist und 600-800 Kilo wiegt! Bei den Suruwaki gibt es eine hohe Selbstmordrate. Sie sind gute Jäger und benutzen zur Jagd ein wirksames Gift, das auch zur Selbsttötung angewandt wird. In ihrer Glaubensvorstellung gibt es drei Himmel oder Orte des Nachlebens. Die körperlich Fittesten kommen in den besten Himmel, die anderen Himmel sind für die, die an einem Kobrabiss sterben oder an Altersschwäche.
Oben geht es um die Frage, was der Mensch ist. Die Antwort lautet: Materie, Leben, Denken. Aus diesen drei Bereichen wird anhand von elektronischen Schautafeln einige Dinge veranschaulicht, darunter das Thema des Verhältnisses vom Gewicht des Gehirns zum Gewicht des Körpers und zu dem Thema Geschwindigkeit, bei dem deutlich wird, dass die unglaublich schnelle Synapse des Gehirns eine Schnecke ist im Vergleich zur Geschwindigkeit des Schalls, der Sonne, der Erde oder des Lichts.
Schon beim Hinausgehen stoße ich noch auf eine schöne Schautafel, in der derselbe Text in vier verschiedenen Schriften dargestellt ist, in Keilschrift, Arabisch, Kyrillisch und Blindenschrift. Was der Text aussagt, weiß man aber nicht.
Nach dem Museum gehe ich zu einem Wandbild, das etwas weiter hier im Hafengebiet zu sehen ist. Der Weg führt vorbei an gut erhaltenen Lagerhallen auf der einen und verfallenden, mit kaputten Fenstern, auf der anderen Seite. Die sind mit allen möglichen Bildern und Aussprüchen und Karikaturen bemalt. An einem heruntergelassen eisernen Rollladen steht O amor cura e segue sendo (pro)curado, und an einer anderen Stelle ist die Figur eines Jungen, eines Rotschopfs, angebracht, verblüffend täuschend, Pinsel in der Hand, mit dem er gerade an die Wand geschrieben hat Você faz o que ama?
Dann kommt das Wandgemälde selbst, angeblich das größte der Welt. Es zieht sich über mehrere gleich große ehemalige Fabrikgebäude hin und stellt fünf Vertreter verschiedener Ethnien dar, darunter einen Eskimo. Man sieht nur ihre Köpfe, und die nehmen die ganze Höhe der Wand ein. Die Malerei ist direkt auf den Backstein aufgetragen, und dessen Struktur scheint noch ein bisschen durch. Die Gesichter haben klare Konturen, Augen, Nase, Mund, Ohren, aber die übrige Fläche wird von Dreiecken und Quadraten eingenommen, die Blau, Rot und Weiß, und das gibt den Darstellungen etwas Besonderes. Es ist das Kennzeichnen des Künstlers, Kobra, dessen Signatur unter allen fünf Bildern erscheint. Photographieren kann man immer nur einzelne Porträts, die ganze Länge der Bilderwand passt nicht auf ein Photo.
Da ich schon einmal hier in der Gegend bin und das schlechte Wetter nicht zu weiteren Aktionen einlädt, beschließe ich, doch zum Busbahnhof zu fahren und mir die Fahrkarte für morgen zu besorgen. Soll angeblich nicht nötig sein, aber am Ende bin ich froh, es getan zu haben.
Der Busbahnhof ist ein riesiges Gebilde und liegt in einer hässlichen Gegend mit Absperrungen und Baustellen und mit Pfützen auf den schlechten Straßen und Bürgersteigen. Schon alleine, zum Busbahnhof zu kommen, ist ein kleines Abenteuer.
Es ist viel los, vor und in dem Gebäude, und ich bin doppelt vorsichtig mit Handy und Portemonnaie. Drinnen eine riesige Halle mit zwei Ebenen und Verkaufsständen überall. Und Fahrkartenstellen. Es gibt nicht eine zentrale Stelle, wo man seine Fahrkarte kauft, sondern jeder Betrieb hat seine eigenen Schalter. Ich irre an allen vorbei, ohne meine zu finden, die Costa Verde. Dann erfahre ich, dass ich nach oben muss, aber auch dort ist sie nicht zu finden. Ich bin jetzt schon froh, damit nicht bis morgen gewartet zu haben. Dann stellt sich heraus, dass ich zwar rauf, aber am Ende eines Seitengangs wieder runter muss, in eine andere Halle, und dort, am äußersten Ende, ist die Costa Verde.
Der Fahrkartenverkauf geht dann schnell und reibungslos, und der Preis für die Fahrt, 90 R$, ist auch mehr als akzeptabel.
Ich befinde mich am Hintereingang des Busbahnhofs, und von hier aus habe ich keine Chance, wieder zur Straßenbahn zu kommen, also nehme ich wieder den Weg zurück durch die Halle. Dabei bleibe ich beim Nutty Bavarian stehe und kaufe ein paar gebrannte Mandeln. Ich nehme unvorsichtigerweise eine mittlere Tüte und zahle dafür 47 R$, über die Hälfte des Fahrpreises nach Paraty.
3. November (Donnerstag)
Am Morgen beim Frühstück polemisiert Mary gegen Bolsonaro. Ja, er habe öffentlich gesagt, dass er das Ergebnis akzeptiere, aber ob er hinter dem Rücken seine Anhänger nicht doch dazu anspitze, die Blockaden durchzuführen, das wisse man nicht. Der Vergleich mit Trump will sie nicht gelten lassen. Der sei ungleich intelligenter. Mir leuchtet nur nicht ein, warum sie dann nicht Lula gewählt hat.
Schwer bepackt, geht es mit Metro und Straßenbahn zum Busbahnhof. Ich bin noch einmal froh, dass ich das gestern schon mal gemacht habe.
In der Metro erinnere ich mich daran, dass ich irgendwann während all der Tage mal einen Wagen nur für Frauen gesehen habe, aber nur dieses eine Mal. Da schien sich aber keiner dran zu halten. Vielleicht war der Wagen ein Relikt aus einem ehemaligen, inzwischen aufgegebenen Projekt.
Bei der Ankündigung der Stationen der Straßenbahn fällt mir auf, dass auch Carioca anders klingt, als wir erwarten würden, eher wie Cäriooca.
Pünktlich um 12 Uhr geht die Fahrt los. Der Bus ist besser als die städtischen Busse, und auch die Straßen sind außerhalb der Stadt besser, mit weniger Unebenheiten.
Es regnet von der Abfahrt an unentwegt. Wir passieren Fabriken, die entschieden unmodern aussehen, und alle möglichen Lagerhallen. Dann wird es grün. Kurvenreich geht es weiter, rauf und runter. Irgendwo kommt eine Eisenbahnstrecke in Sicht, mit auffällig schmalen Gleisen. Meist sieht man nur das Grün zu beiden Seiten, aber gelegentlich öffnet sich der Blick auf eine Bucht, mit einzelnen verstreuten Inseln.
Am Straßenrand überall Waldarbeiter, die die wuchernden Bäume beschneiden. Die haben hier wahrlich genug zu tun.
Unterwegs frage ich mich, warum hier so wenig blüht. Auf der ganzen Fahrt kommt mal ein Strauch mit blassrosa Blüten, mal einer mit roten Blüten in Sicht, aber das ist auch alles. Es ist doch Frühling, Regen und Sonne gibt es wahrlich genug, und es grünt an allen Ecken und Enden. In Rio habe ich immer wieder mal Bäume gesehen, die weiße Blüten zu treiben schienen, aber die kamen aus Blumentöpfer, die die Anlieger oder die städtische Gärtnerei an den Stämmen angebracht hatte.
Nach drei Stunden stehen wir im Stau, aber der hält nicht lange an und ist auch nicht, wie befürchtet, das Ergebnis einer Blockade.
Nach mehreren anfänglichen Sitzplatzwechseln, die dazu führen, dass eine junge Frau neben ihrem Freund (oder umgekehrt) und eine Mutter neben ihrer Tochter sitzen kann, lande ich neben einem jungen, sehr gutaussehenden Brasilianer, der sich als äußerst gesprächig erweist. Er heißt Wallace und spricht gerne und viel Englisch. Er schlägt vor, ich solle Portugiesisch sprechen, und er Englisch. Sein Englisch ist gut, deutlich besser als mein Portugiesisch, vor allem ist er sehr flüssig. Er habe alles im Selbststudium gelernt, seit zwei Jahren. Alle Achtung. Zufällig entdecken wir, dass wir beide Anki, das Wiederholungsprogramm, benutzen.
Er hat so etwas wie eine Ingenieursausbildung, arbeitet aber als Seemann, auf einer Ölplattform. Er hat am Morgen am Busbahnhof schon vier Bier getrunken, und legt jetzt, an der ersten Haltestelle, noch mal zwei drauf. Heineken. Das sei stärker als das brasilianische Bier. Er zeigt mir auch, dass Heineken Kronkorken zum Abschrauben hat. Das ist wirklich praktisch. Warum er schon am Vormittag so viel trinke, will ich wissen. Er hat Nachholbedarf, auf der Ölplattform gebe es alles umsonst, aber Alkohol und Drogen seien strikt verboten. Und er war jetzt vier Wochen dort.
Er macht mich auch vertraut mit coxinha, einem beliebten brasilianischen Imbiss, in der Form einer Zipfelmütze. Sie enthält eine Masse mit klein gehacktem Hähnchenfleisch, die dann paniert und frittiert wird. Sei gebe es in zwei Varianten, mit und ohne. Was dieses mit ist, das will ihm nicht so richtig gelingen, zu erklären. Am Ende einigen wir uns auf Saure Sahne.
Er selbst stammt aus Santos, und ist hocherfreut, als ich sofort kommentieren kann: „Pelé, FC Santos.“ Er selbst wohnt hier an der Strecke. Paraty sei gut, aber ich müsse unbedingt zur Ilha Grande. Von der berichtet er im Detail, und von weiteren Orten, die ich auf keinen Fall auslassen dürfe. Und ich müsse aufpassen in Paraty. Mich würde man sofort als Touristen erkennen. Ich behaupte, ich könne eher in Brasilien als Brasilianer als in Portugal als Portugiese durchgehen, aber das will er nicht gelten lassen. Meine Haut sei zu hell. Also nicht so mit dem Handy durch die Gegend wedeln. Ich verspreche es.
Er hat keine Kinder, ist aber verheiratet. Wie seine Frau das denn mit der langen Abwesenheit sehe, frage ich. Na ja, begeistert sei sie nicht. Aber das mit der Ehe sei ja sowieso so eine Sache. Dabei belassen wir es. Aber ein Gutes habe das auf jeden Fall: Seine Frau sei Krankenschwester, und wenn er krank sei, bräuchte er nicht ins Krankenhaus, sondern könne zu Hause bleiben.
An der vorletzten Station steigt er aus, und dann sind wir auch schon bald in Paraty, nach fünf Stunden.
Die Frage, ob ich für die kurze Strecke ein Taxi nehme oder nicht, erledigt sich, weil keine Taxis zu sehen sind. Glücklicherweise hat es aufgehört zu regnen, und ich mache mich auf den Weg. Dann ergibt sich ein unerwartetes Problem: Nicht alle Straßen haben Namensschilder. Aber irgendwie gelingt es mir, mich durchzufragen, und dann komme ich auf die richtige Straße. Am Straßenrand ein alter VW-Käfer, mit einem improvisierten Verschluss am Kofferrau, in Blau und Rot bemalt.
Dann sieht man schon von weitem ein hübsches Haus mit grün gestrichener Fassade. Das muss die Casa Verde sein. Ist es aber nicht. Ich muss noch ein paar Häuser weiter, und dann stehe ich vor dem richtigen Haus, aber vor einem verriegelten Gitter, mit einem länglichen Weg dahinter, an dessen Ende eine Treppe zu einer Wohnung führt. Eine Klingel gibt es nicht. Eine SMS kommt nicht an. Sieht nicht so gut aus. Ich versuche, mich durch Rütteln am Gitter und lautes Rufen bemerkbar zu machen und überlege, ob ich vielleicht in der Nachbarschaft nachfrage. Ich hatte der Vermieterin noch geschrieben, wann ich ankommen würde und habe ein offenes Haus erwartet. Irgendwann hört man hinten Stimmen, aber ich bin nicht sicher, ob sie aus dem Haus kommen. Dann erscheint eine Frau und lässt mich rein. Sie stellt sich vor, hat einen indigenen Namen und ist nicht die Yvonne, die ich erwartet habe. Macht ja nichts. Hauptsache rein.
Das kleine Apartment ist wirklich ganz schön, hat sogar Herd und Kühlschrank und eine Kaffeemaschine und eine kleine Sitzecke. Die Frau redet schnell, mit reichlichen Erklärungen, aber ich kann nicht ganz folgen. Irgendetwas stimmt mit dem Abzug des WCs nicht, aber sonst sei alles in Ordnung. Sie gibt mir auch noch den Internetzugang und den Schlüssel und lässt mich dann auspacken.
Es ist noch hell, und da es nicht mehr regnet, kann ich noch einen Spaziergang machen. Der erste Eindruck ist eher enttäuschend, nicht hässlich, aber auch nicht hübsch, von Kolonialstil nichts zu sehen. An der Straße entlang reihen sich Läden, Reiseagenturen, Lokale. Scheint sehr auf den Tourismus eingestellt zu sein. Die ganze Passage ist aber doch erträglich, weil die Häuser zu beiden Seiten niedrig sind.
Dann kommt die eigentliche Altstadt, Fußgängerzone, niedrige Häuser aus der Kolonialzeit zu beiden Seiten, dickes Kopfsteinpflaster auf dem Weg. Die Häuser sind alle weiß getüncht, mit farbigen Streifen um die Fenstereinfassungen herum. Sehr schön anzusehen, aber vielleicht etwas einseitig auf touristische Zwecke ausgerichtet.
Auf dem Rückweg, wieder an der belebten Straße, gehe ich in ein Lokal, um einen Caipirinha zu trinken. Schmeckt gut, und ich bin der einzige Gast im Lokal und kann die Ruhe genießen und den Tag Revue passieren lassen. Aber der Caipirinha kostet 26,50 R$, fast doppelt so viel wie an der Copacabana.
Ich entdecke noch ein paar Kleinigkeiten entlang des Weges. Ein Lokal heißtSorveteparia, auf einem T-Shirt steht Brasil acima de tudo, Deus acima de todos. Und an einer Hauseinfahrt: Quando estou dentro quero sair, quando estou fora, quero entrar. Könnte man auch über die Ehe sagen.
Verschiedene Lokale nennen sich Efiharia. Denen bin ich in Rio nicht begegnet, und überhaupt sonst noch nicht. Scheint eine syrische Sache zu sein.
Als ich wieder zu Hause bin, klopft es an der Tür. Ich denke zuerst, es ist die Frau von vorhin, die Mutter, aber es ist Yvonne, die Tochter, wie ein junger Klon ihrer Mutter: längliches Gesicht, schmale, graugrüne Augen, glattes, blondes schulterlanges Haar, in der Mitte gescheitelt, knallroter Lippenstift, runde Ohrringe. Und um die Sache abzurunden, tragen sie beide eine auffällige Zahnspange. So was hab ich noch nie gesehen.
Sie will nur wissen, ob alles in Ordnung sei und empfiehlt noch schnell das Lokal, das ihr Freund im Zentrum betreibt, die Pizzeria da Cidade. Kann man sich merken.
4. November (Freitag)
Ziemliche Tristesse: Es regnet, der Himmel ist wolkenverhangen, und die Berge der Umgebung liegen im Dunst.
Mein erster Weg führt zur Reinigung, nur ein paar Häuser weiter. Da habe ich gestern Abend schon nachgefragt. Scheint genauso gut zu laufen wie in Rio. Ich gebe einen ganzen Beutel schmutziger Wäsche ab, und am Nachmittag soll die schon fertig sein.
Dann geht es zum Busbahnhof. Durch Pfützen. Hier sind nur wenige Schalter geöffnet, an einem gibt es Fahrkarten nach São Paulo. Wieder geht alles wie am Schnürchen.
Am Busbahnhof gibt es das Café do Parque, gelegen vor hässlichen Betonsäulen und Bussen mit laufenden Motoren.
Auf dem Rückweg bringe ich es tatsächlich fertig, mich zu verlaufen. Das hat aber auch ein Gutes: Es hat aufgehört, zu regnen.
Wenn man hier nach dem Weg fragt, werden, wie in anderen lateinischen Ländern auch, die Wörter rechts und links mit aller Macht vermieden. Stattdessen geht es rauf oder runter oder rüber, begleitet mit vagen Armbewegungen in die gemeinte Richtung: Sempre pra baixo.
Ich frage eine Straßenkehrerin nach dem Zentrum, o centro histórico. Sie weiß nicht, wo das ist. Oder vielleicht weiß sie gar nicht, was das ist. Hat mir ihrem Leben nichts zu tun, hat keiner weitere Bewandtnis für sie.
Es tauchen ein paar hübschen Häuserreihen auf, auch außerhalb der Altstadt, abwechselnd paarweise in blassem Grün, Blau und Rot gestrichen, zweistöckig, mit etwas Rasen vor dem Eingang.
Der VW-Käfer, den ich gestern in unserer Straße gesehen habe, ist nicht der einzige, der hier verkehrt. Alle sind bunt bemalt.
In einem Café, das in der Ecke eines kleinen Supermarkts untergebracht ist, bekomme ich einen Kaffee. Dazu einen Banoffee. Kann mich noch lebendig daran erinnern, wie ich das Wort in Irland zum ersten Mal gehört habe. In der Vitrine entdecke ich dann auch die coxinhas, von denen Wallace gestern im Bus erzählt hat.
Pousada Coqueiro, Pousada Por do Sol, Pousada Marques, Pousada Villaggio, einen Mangel an Pensionen scheint es hier nicht zu geben. Die meisten machen einen guten, gepflegten Eindruck.
Am Rande der Hauptstraße, vielbefahren, sehe ich einen Baum mit den Blättern eines Kaktus. Bin erst ganz verwirrt, dann erinnere ich mich an den Botanischen Garten und an die Kakteen, die andere Bäume als Wirt benutzen. So eine ist diese auch. Der Baum hat ganz andere Blätter und trägt Früchte, vielleicht Kokosnüsse.
Dann treffe ich auf einen ambulanten Händler, der auf einer schwer beladenen Schubkarre seine Ware anbietet: Ananas, alle übereinander gestapelt.
Paraty bietet Bootsausflüge aller Art an, aber das Wetter erledigt die Entscheidung von selbst. Bin auch nicht so sicher, ob das was ist für mich, 90 Personen auf einem Boot, laute Musik, Strandaufenthalte, und das ganze dauert sechs Stunden mit dem kürzesten Programm.
Am Nachmittag gibt es einen Stadtrundgang. Vor dem Stadtrundgang finde ich nach langem Suchen eine Bar, in der ich eine coxinha bekomme. Schmeckt ganz gut, ein bisschen trocken, obwohl ich, ohne gefragt zu werden, wohl die Version mit der sauren Sahne bekommen habe oder dem Frischkäse.
Die Führerin, blutjung, ist ein Schätzchen, aber die Führung ist eine mittlere Katastrophe. Sie ist hibbelig, kommt von Hölzchen auf Stöckchen, lacht ständig über sich und das, was sie erzählt und über das Durcheinander, das sie verursacht und schiebt spontan immer wieder Empfehlungen ein, was wir morgen machen sollen. Wir gehen von einem Punkt zum nächsten, bekommen aber keine Vorstellung davon, wo wir sind und wie die Stadt aufgebaut ist, und bei den verschiedenen Kirchen, vor denen wir stehen, verliert sie kein Wort über die Architektur, zum Beispiel über die auffallende Asymmetrie mit einem Turm zur einen und keinen zur anderen Seite. Und ihr Englisch hat so viele Auffälligkeiten, dass es manchmal schwer ist, sich auf den Inhalt zu konzentrieren. Alle Kirchen und Häuser sind weiblich bei ihr: „She is the oldest curch of Paraty.“ Schwer, da irgendeine Art von Essenz herauszuziehen.
Die Tour beginnt an der Praça da Matriz. Hier steht Paratys imposantestes Gebäude, die Nossa Senhora dos Remedios. Es ist bereits der dritte Bau an dieser Stelle, ein Resultat der schnell wachsenden Bedeutung Paratys. Diese Kirche wurde nur von Weißen benutzt. Eine andere Kirche, die Igreja do Rosário, wurde von den Sklaven benutzt, wieder eine andere, am Meer gelegen und seit über 80 Jahren geschlossen, nur von weißen Frauen. Und Santa Rita war schließlich die Kirche der Mulatten. Die drei kleineren Kirchen gleichen denen von Rio und stammen wohl aus dem 18. Jahrhundert. Santa Rita stellt sich in dem abendlichen Dämmerlicht, als wir fast am Ende der Führung angelangt sind, am schönsten dar.
An ihr vorbei sieht man in eine der vielen schmalen Straßen des Zentrums mit niedrigen, weiß getünchten Häusern und mildem Licht von Straßenlaternen hinein. Das ganze Zentrum ist ein Gewirr von solchen Sträßchen. Auf den ersten Blick scheinen die Häuser rein kommerziellen Zwecken zu dienen, aber später sieht man von der Rückseite auch, dass sie bewohnt werden.
Das Zentrum ist ein echtes Gewirr von Gassen und Straßen, und das, obwohl Paraty als die erste geplante Stadt Brasiliens gilt. Aber die Straßen haben, mit wenigen Ausnahmen, einen nicht ganz geraden Verlauf, was der Abwehr der Piraten galt. Man kann, das können wir mit eigenen Augen ansehen, durch den krummen Verlauf der Straße nicht sehen, wie viele Straßen von ihr abbiegen, unter hinter den Abbiegungen hielt sich immer ein bewaffneter Mann versteckt, der dann überraschend hervortreten konnte. An den Straßenecken gibt es eine Besonderheit, für die es keine richtige Erklärung gibt. Es sind immer nur an drei, nicht an allen vier Ecken, steinerne Pfosten in die Mauern der Häuser eingelassen. Einige vermuten, dass das dem Einfluss der Freimaurer zu verdanken ist, für die die Zahl drei von besonderer Bedeutung ist. Andere sehen darin eher eine praktische Funktion. Die drei Punkte hätten zur Berechnung bestimmter Distanzen gedient. In die Pfosten sind zudem Rillen eingelassen. Die sollten im Falle eines Angriffs als Schießscharten dienen.
Alle Straßen des Zentrums sind mit dicken, unregelmäßigen Steinen belegt. Sehen sehr dekorativ aus, machen das Laufen aber schwer, und heute erst recht, weil sich nach dem Regen einiges an Wasser angesammelt hat. Das hat aber auch was mit der ursprünglichen Planung der Stadt zu tun. Das Wasser sollte nämlich in die Stadt kommen. Der Boden war so niedrig, dass bei Flut die Straßen der Stadt im wahrsten Sinne des Wortes überflutet und damit gereinigt wurden! Das Straßenniveau hatte die Form eines V, höher an den Seiten, niedriger in der Mitte, so dass sich in der Mitte eine Rinne bilden konnte, die als Kanalisation diente, denn in diese Rinne landeten die Fäkalien.
Die Pflastersteine werden auf Portugiesisch so etwas wie Kindersteine genannt, denn sie wurden von den Kindern von Sklaven verlegt. Sie mussten den Lehm feststampfen und dann auf die Steine springen, damit sie sich im Lehm festsetzten.
Das ganze Straßenpflaster wurde später wieder aufgerissen, als Kanalisation und Stromleitungen verlegt wurden. Das führte zu einer Erhöhung des Bodenniveaus, was man sehr schön an Santa Rita sehen kann, deren Eingang deutlich tiefer liegt und jetzt nur noch zwei Stufen hat, weil die dritte im Boden verschwunden ist.
An einer Straßenecke sehen wir zwei sich gegenüberliegende Häuser von der Art, die mit dem zunehmenden Reichtum Paratys entstanden. Sie repräsentieren zwei unterschiedliche Typen. Das bescheidenere Haus hat hölzerne Balkone, das aufwändigere hat Balkone aus Schmiedeeisen, und die wurden extra aus England importiert. So stellte man seinen Reichtum dar. Die Balkone sind außerdem mit eisernen Streben und Ananasfrüchten versehen sowie mit Pinien aus Keramik. Als Besonderheit kommen dann noch „Trompeten“ dazu, Ablaufrohre an der Fassade, durch die das Regenwasser auf die Straße geleitet wurde. Das alles galt als besonders wertvoll.
Die Häuser, die ausschließlich Türen im Erdgeschoss haben, waren Läden oder Handelshäuser, die, die sowohl Türen als auch Fenster haben, dienten als Wohnhäuser. Das kann man an zwei nebeneinanderliegenden Häusern gut erkennen.
Später sehen wir noch Häuser mit noch aufwändiger gestalteten Fassaden. An denen sind zahlreiche blaue Muster in Quadraten angebracht, geheime Symbole der Freimaurer, die den Eingeweihten Auskunft über die Beschaffenheit des Hauses und die Eigenschaften des Eigentümers gaben. Auch hier spielt die Zahl drei eine Rolle. An einem Haus, das wir sehen, sind 3 x 11 = 33 Symbole vertreten.
Unsere Führerin erwähnt es nur im Vorübergehen, aber Paraty hat auch zwei Flüsse. Die scheinen die Altstadt an den beiden Längsseiten zu begrenzen so wie das Meer an einer der Querseiten.
Paraty entstand ursprünglich als Endpunkt eines Weges, der im 16. Jahrhundert von São Paulo durch das Paraíba-Tal führte und in Paraty als Landweg endete. Von dort fuhr man mit dem Schiff weiter nach Rio de Janeiro. Dieser Weg war angelegt worden von einem Nomadenvolk, den Guaianás, um die besonders steil aufragenden Berge des Küstengebirges, die Serra do Mar zu überwinden und so die Verbindung zum Hochland herzustellen. Paraty war ein Sumpfgebiet, und auch die Kirchen in Meeresnähe wurden noch auf Pfählen erbaut.
Seine Bedeutung erhielt Paraty als Verbindungspunkt zwischen Minas Gerais, wo das Gold geborgen wurde, und Rio de Janeiro, wo das Gold nach Portugal verladen wurde. Es diente dann zum Umschlagplatz in beide Richtungen auf dem Caminho do Oro, zum Gütertransport zu den Minen und zum Goldtransport an den Hafen. Das 18. Jahrhundert war seine Glanzzeit, ziemlich genau vom Anfang bis zum Ende des Jahrhunderts. Er erlebte dann einen großen Einbruch, die Einwohnerzahl ging bis auf 4.000 zurück. Dann kam, erst im 20. Jahrhundert, als die Touristen kamen. Das hatte Paraty seiner Umgebung zu verdanken, aber auch der Tatsache, dass die alte Bausubstanz erhalten blieb, nicht, weil man es wollte, sondern weil man kein Geld für den Abriss hatte. Inzwischen hat die Stadt wieder über 30.000 Einwohner.
Die Gründe für den Niedergang haben etwas mit der Abschaffung der Monarchie und der Abschaffung der Sklaverei zu tun, aber was, das ist der umständlichen Erklärung unserer Führerin nicht zu entnehmen.
Ich gehe anschließend in die Pizzeria da Cidade, von Vivian empfohlen, der Betreiber sei ihr Mann. Dort weiß man davon nichts, und mit ihrem Namen kann man erst nach längerer Erklärung was anfangen.
Wieder einmal habe ich mich auf etwas eingelassen, was ich eigentlich nicht wollte. Und bereue es später. Das Essen ist nicht schlecht, ich esse das, was ich auch in Deutschland in einem italienischen Lokal essen würde, Pasta und Salat. Dazu gibt es guten argentinischen Wein. Ich bin alleine in dem Lokal und muss mich der etwas aufdringlichen Aufmerksamkeit des Kellners erwehren. Zu tun haben sie nichts, hinter der Theke stehen zwei Männer, von denen einer gelangweilt auf sein Handy schaut, der andere ein paar Weinflaschen im Regal umdreht. Immer wieder läuft ein weiterer, unheimlich hässlicher Mann mit Karte unter dem Arm durch das Lokal, ohne dass man erkennen kann, wozu. Später stellt sich heraus, dass er die Leute von der Straße ins Lokal holt, und zwar im Laufe der Zeit mit mehr und mehr Erfolg. Am Ende fällt die Rechnung höher aus als in Deutschland.
5. November (Samstag)
Beim Verlassen der Wohnung fängt Vivian mich ab. Ob alles in Ordnung sei. Ich frage nach einer Touristeninformation. Da seien doch auf der Geschäftsstraße reihenweise Reiseveranstalter. Ich versuche, ihr klarzumachen, dass ich die nicht suche, sondern eine städtischen Touristeninformation, wo ich mir vielleicht mal einen Stadtplan besorgen könnte. Ich interessierte mich mehr für das, was es in der Altstadt zu sehen gebe als für Ausflüge mit Jeeps oder Booten. Ja, das könne ich doch, meint sie, in der Altstadt gebe es doch alte Kirchen zu besichtigen. Ich gebe auf.
Wenigstens regnet es heute Morgen nicht, der Himmel ist bewölkt, aber es ist wieder ein ganzes Stück wärmer als in den letzten Tagen.
Bei dem Weg in die Altstadt treffe ich tatsächlich auf eine Touristeninformation. Aber die hat geschlossen, und Öffnungszeiten sind nirgendwo zu entdecken.
Nach dem Weg durch die gerade erwachende Geschäftsstraße komme ich in die noch menschenleere Altstadt. Der Regen ist inzwischen abgeflossen.
Ich komme zum Meeresufer. Dort gibt es ein Café, das von außen mehr hermacht als es hält, aber es gibt einen guten Kaffee und man kann in dem kleinen Innenhof sitzen und auf den Küstenstreifen und das Meer blicken. In dem Moment kommt auch noch die Sonne raus.
Auf dem Weg nach Santa Rita fallen mir Löcher im Lehmboden zwischen den Pflastersteinen auf, kleine Löcher, aber viele. Wer hat die nur gemacht? Irgendwo sehe ich einen Käfer herumkrabbeln, und immer wieder gibt es irgendwo Bewegung, sobald ich mich bewege. Ich bleibe länger stehen, und dann tut sich was. Winzige Tierchen mit gelblicher Haut und Scheren krabbeln aus den Löchern, verschwinden dann wieder darin und krabbeln dann wieder heraus. Das müssen Krabben sein oder Garnelen oder irgend so etwas. Ob sie vielleicht gerade geschlüpft sind? Und jetzt versuchen, irgendwie ans Wasser zu kommen?
Santa Rita ist heute ein Museum, das Museum für sakrale Kunst. Es ist eine einfache, einschiffige Kirche, mit einem einfachen Holzdach im Langhaus und einem steinernen Tonnengewölbe im Chor versehen. Die Wände sind schmucklos, im Westen eine kleine Empore, im Norden eine aus der Wand heraustretende steinerne Kanzel. Was an der Kirche Rokoko sein soll, wie es hier in der Beschreibung heißt, versteht man nicht. Hauptaltar und Seitenaltäre tragen allerhand Schmuck und unterscheiden setzen sich dadurch vom Rest der Kirche ab.
Auf der rechten Seite stehen in verschiedenen Vitrinen Figuren, die die Tagesheiligen des Oktober und des November darstellen, ohne jeden künstlerischen Anspruch, darunter eine primitive Teresa d’Avila mit Einritzungen im Gesicht, die Nase und Mund darstellen und gleich eine ganze Reihe von Statuen der brasilianischen Nationalheiligen, Nossa Senhora Aparecida, einer schwarzen Madonna.
Interessanter die Figuren auf der anderen Seite, besonders die kleineren, alle polychromes Holz oder Terrakotta, alle aus dem XVII und XVIII, alle anonym. Man sieht Santa Rosa de Lima mit dem Palmzweig der Märtyrer, eine schmerzenreiche Maria mit schmerzverkrümmtem Körper, ein Schwert in die Brust eindringend, San Roque mit der obligatorischen Pestbeule und dem obligatorischen Hund, der hier aber etwas in der Schnauze hält, das er dem Heiligen entgegenhält, vielleicht ein Buch. Dann eine sehr kecke Santa Suzana, mit hübsch in einem Netz zusammengehaltenem Haar, einem Buch in der Hand und einem Loch in dem panzerartigen Brustschutz, den sie trägt. Diese Löcher in den Statuen hatten wohl irgendeine Funktion. Zum Schluss noch eine Anna, als Lehrerin, ein Buch in der Hand. Maria, auf ihrem Schoß sitzend, zeigt mit einem Finger auf eine Zeile in dem Buch. Der Thron, auf dem sie sitzen, hat die Füße eines schwarzen Vogels mit vergoldeten Enden.
Eine Schwalbe hat sich in die Kirche verirrt und versucht, wieder den Ausgang zu finden. Glücklicherweise kommt helles Licht von hinten und von der Seite.
Santa Rita, heißt es hier, sei eine Zeitlang auch Matriz war, zu der Zeit, als die andere Kirche abgerissen war und neu errichtet wurde. Auf diese Zeit geht wohl eine Prozession zurück, von der hier die Rede ist. Sie führte von der einen Kirche zur anderen. Diese Prozession muss irgendetwas Anrüchiges gehabt haben, zumindest in den Augen der Kirche, denn irgendein Würdenträger verbot sie. Dagegen erhoben sich Proteste, und die waren erfolgreich. Jetzt wird die Prozession wieder durchgeführt. Früher waren nur Männer dabei, Frauen und Kinder waren ausgeschlossen, denn die Nacht stand unter der Herrschaft des Fürsten der Finsternis, und dagegen mussten sie natürlich geschützt werden.
Das Meer ist von hier aus ganz nah. Auf einem länglichen Steg und dann am Kai kann man am Ufer entlang laufen. Auf dem Geländer des Stegs lässt sich unmittelbar vor mir ein großer, langbeinger weißer Vogel nieder, mit gelben Schnabel und schwarzen Beinen. Ich rühre mich nicht, er sich auch nicht, und ich kann eine wunderbare Nahaufnahme von ihm machen, wobei ich ihm aber den Schnabel abschneide. Was für ein Vogel kann das sein? Vielleicht ein Reiher? Die Führerin hat gestern von Vögeln berichtet, die hier am Ufer auf Fischjagd sind, aber die müssen ganz ungewöhnlich sein und einen krummen Schnabel haben.
Am Steg und am Kai liegen zahlreiche Schiffe und Boote, Ausflugsboote, Privatboote und Fischerboote. Die heißen Raul Trindade, Estrela Solitaria, Mestre Jonas, Globo Mar und – Lacoste. Mit Krokodil.
Am Ende des Kais befindet sich der Fischmarkt. Es riecht nach Fisch und nach Meer. Hierher verirrt sich kaum ein Fremder.
Als ich wieder in der Stadt bin, sehe ich, dass die Touristeninformation jetzt tatsächlich geöffnet hat. Ich bekomme einen Stadtplan und ein paar Hinweise. Als ich dann wieder in der Altstadt bin, höre ich auf einmal eine Stimme hinter mir. Ich meine, meinen Namen zu hören. Es ist Vivian. Sie sagt mir freudestrahlend, sie habe einen Stadtplan für mich gefunden. Sie hätte ihn an meine Tür gehängt.
Mit Hilfe des Stadtplans finde ich zur Casa da Cultura. Sie ist in einem der größten Häuser der Altstadt untergebracht, in Gelb und Grün, den brasilianischen Farben gehalten.
Das Haus hat einen schönen Innenhof, aber die Ausstellung ist eher bescheiden. Das Haus fungiert wohl eher als Treffpunkt, als Kulturzentrum. Es gibt sogar einen Vortragssaal und einen Aufführungssaal.
In der Ausstellung geht es um Meerestiere hier in der Umgebung von Paraty. Es gibt eine Video-Installation mit den typischen Aufnahmen, die zwar ganz eindrucksvoll sind, aber nicht so vielsagend. Am tollsten ein steil aus dem Wasser aufsteigender Delphin.
Es sind auch ein paar Dinge ausgestellt, darunter Zähne, nach Größe angeordnet, vom Thunfisch (erstaunlich klein) bis zum Schwertwal. Beeindruckend der Schädel eines Schwertwals und vor allem der Rückenwirbel eines Blauwals. Entspricht ungefähr meinem Oberschenkelknochen.
Man erfährt, dass die jungen Delphine drei Jahre bei der Mutter bleiben, um das Jagen zu lernen, dass der Delphin beim auch im Schlaf weiterschwimmt und dass der Fleckendelphin ohne Flecken auf die Welt kommt.
Danach gehe ich noch kurz in die Igreja Matriz, aber das lohnt sich nicht, trotz der sieben Altäre, von der unsere Führerin gestern noch so begeistert erzählt hat.
Auf dem Platz vor der Kirche wird aufgebaut, Bühnen für ein großes Literaturfestival, das im Laufe dieses Monats hier stattfindet. Paraty ist inzwischen weit über seine Grenzen hinaus dafür bekannt.
Mit dem Stadtplan in der Hand finde ich jetzt auch zu dem Fluss, oder zumindest zu einem davon. Eine Fußgängerbrücke führt auf die andere Seite, wo es viel stiller ist als hier.
Nach einer kleinen Pause gehe ich ins Sabor da Terra, einem im Reiseführer empfohlenen Lokal an der Geschäftsstraße, außerhalb der Altstadt. Hier wird auch pro Kilo abgerechnet. Das ist alles ganz ähnlich wie in der Grill Inn in Rio, und die Preise gleichen sich auch. Ein freundlicher Kellner kommt, nachdem ich brasilianisches Bier bestellt habe, gleich mit zwei Sorten an, Brahma und Therezópolis. Das nehme ich, der Abwechslung halber. Schmeckt auch gut. Therezópolis ist die eigenwillige Schreibweise für den Ort, der Teresópolis heißt, in Petrópolis liegt und tatsächlich nach der Ehefrau Pedros II. benannt ist, der „Mutter der Brasilianer“.
Dann gehe ich noch mal in die Altstadt. Ich tue mich bei dem Gehen über die großen Pflastersteine schwer und wundere mich darüber, mit welcher Sicherheit andere das sogar mit Flip-Flops bewerkstelligen. Locker bewältigen das auch die Pferde der Pferdekutschen. An einer Stelle hat jemand mit einem umgedrehten alten Schuh eine Lücke zwischen zwei Pflastersteinen geschlossen. In einer Straße gibt es in der Mitte einen schmalen Streifen mit glatten Steinen, aber der ist unter Fahrradfahrern, Mopedfahrern und Fußgängern umstritten.
Dann erlebe ich noch zufällig Paratys Geschichte live, als ich noch mal an die Küste komme. Hier gibt es einen Durchlass durch die Kaimauer, und durch den strömt gerade das Wasser und überflutet die Straße. Die ist jetzt wirklich nicht passierbar.
Und dann entdecke ich, dass die Krabben von heute Morgen auch verschwunden sind. Sie müssen die Flut genutzt haben, um ins Meer zu gelangen!
Als ich wieder nach Hause komme, merke ich plötzlich, dass ich den Fluss nicht in der Ferne hätte suchen müssen. Er verläuft keine zwanzig Meter hinter dem Haus. Eine geschwungene Fußgängerbrücke führt auf die andere Seite. Von der Brücke hat man einen schönen Blick in beide Richtungen, mit Hausbooten am Uferrand und den Bergen in der Ferne.
Überall in Paraty, aber in meiner Straße besonders, sind Fahrräder unterwegs. Sie sind alt, haben kein Licht und in der Regel keine Gangschaltung und keinen Gepäckträger. Sie scheinen aber genau die richtigen Reifen für dieses Pflaster zu haben.
In dieser Straße kann man vielleicht keine richtige Armut, aber doch ärmliche Verhältnisse sehen, an den Fahrrädern, den Autos, der Kleidung und den Häuserfassaden. An einem Holzverschlag hängt noch ein Aufkleber Lula 13 von der Wahl. Hier bin ich dem „wahren“ Brasilien vermutlich näher als bisher auf der Reise.
6. November (Sonntag)
Der Name der brasilianischen Währung ist Real. Das ist der Name einer uralten spanischen Währung. Im Portugiesischen ist der Plural, im Gegensatz zum Spanischen, aber Reais. Die Abkürzung ist R$, wobei das zweite Zeichen wie das des Dollars aussieht, aber, wie es heißt, ganz einfach für ‚Währung‘ steht. Manchmal sieht es auch anders aus, so dass man es nicht mit dem Dollarzeichen verwechseln kann.
Die Geldscheine sind auf der Vorderseite alle gleich, haben die allegorische Figur der Republik, wohl eine Anlehnung an die französische Marianne. Auf der Rückseite sind wilde Tiere abgebildet, von Land, Luft und Wasser. Die Werte gehen von 2 Reais bis zu 200 Reais, also grob gerechnet 50 €.
Die Geldscheine kleben häufig zusammen und sind sehr abgegriffen. Entweder ist das Material schlechter oder sie werden länger im Umlauf gehalten.
Die alten Münzen haben auch vorne das Abbild der Republik, bei den neuen gibt es etwas mehr Variation. Da sind ein Unabhängigkeitskämpfer, ein Staatspräsident und der erste Kaiser abgebildet. Die größte Münze ist 1 Real, es geht runter bis auf 1 Centavo, dabei ist auch eine Münze von 25 Centavos. Der Real sieht ein bisschen wie eine unserer Euro-Münzen aus.
Entgegen der Vorhersage regnet es nicht. Das ist vor allem von Vorteil für den Weg mit Gepäck zum Busbahnhof. Vivian gibt mir noch mit auf den Weg, ich solle sie mit 10 Punkten bewerten. Die bekommt sie nicht. Dazu war das Wasser der Dusche zu kalt und die Matratze zu hart.
Die Fahrt geht auf die Minute pünktlich los, nach dem Theater mit Gepäckaufgabe und Ausweis- und Fahrkartenkontrolle. Im Unterschied zu dem Busfahrer dieser Tage macht dieser eine Ansage: Begrüßung, wir mögen uns anschnallen, es gebe nur eine Pause von 30 Minuten, nach zwei Stunden Fahrt, und mit der Ankunft in São Paulo könne gegen halb drei gerechnet werden – wenn nichts dazwischenkäme. Er spricht sehr deutlich und ich verstehe, vielleicht zum ersten Mal, jede Silbe.
Diesmal bleibt der Platz neben mir frei. Hinter mir ein Paar, ein junger Mann und eine junge Frau, die während der gesamten sechs Stunden Fahrt unentwegt reden, glücklicherweise nicht mit brasilianischer Lautstärke. Sie sprechen Englisch, sind aber beide keine Muttersprachler, obwohl ihr Englisch ausgezeichnet ist, so gut, dass man sie schwer einordnen kann. Am Ende tippe ich auf Holländer und Deutsche.
Die Fahrt ist wie eine Fortführung der Fahrt von Rio nach Paraty, sowohl, was die Straße als auch was die Landschaft betrifft. Nur kommt diesmal das Meer mehr zur Geltung. Immer wieder Strände, einige gut besucht, andere fast verlassen.
Die Stromleitungen verlaufen hier immer überirdisch, innerorts und außerhalb. In den Orten knubbelt sich das manchmal ganz schön, vor allem an Straßenkreuzungen, aber es gibt wenige „Durchhänger“.
Ich lese noch mal den Reiseverlauf, den mir Angelika und ihr Mann, meine Frankfurter Gewährsleute, von ihrer Brasilienreise gegeben haben. Sie waren ganze sechs Wochen hier, und das schien mir damals etwas übertrieben für eine erste Brasilienerkundung. Aber jetzt sehe ich ein, dass sie alles richtig gemacht haben. Sie haben unheimlich viel gesehen, ohne sich zu hetzen: Rio de Janeiro, Pantanal, Brasilia, Manaus, Amazonas, Salvador, Belo Horizonte, Ouro Preto, Paraty, Curitiba, São Paulo. Ein richtig buntes, vielfältiges Programm.
Nach genau zwei Stunden kommt die Pause, in einem Ort mit dem wunderbaren Namen Ubatuba. Das Lokal, eine Art Raststätte, hat die Hausnummer 1739.
Hier gibt es auch eine Tankstelle. Der Preis beträgt 3,79 für Diesel und 4,99 für Benzin, also 1€. Die Autos können hier auch eine ducha rápida bekommen.
Wieder sehr brasilianisch das Verfahren in dem Café. Man muss eine Karte aus einem Automaten ziehen und damit ein Drehkreuz passieren. Auf der Karte werden dann die anstehenden Zahlungen elektronisch verarbeitet. Beim Ausgang zahlt man, bekommt die Karte zurück, und muss mit dieser wieder das Drehkreuz passieren.
Das Mädchen hinter der Theke fragt mich, als ich einen Milchkaffee bestelle, ob ich ihn mais branco oder mais preto haben wolle. Danke sehr. Mais branco.
Ich frage mich gerade, ob es in Brasilien keine Autobahn gibt, als wir auf eine fahren. Später kommen auch Mausstellen. Trotzdem sieht man auf dem Standstreifen sogar vereinzelte Radfahrer und zwei Fußgänger, und das, obwohl weit und breit kein Ort zu sehen ist.
Je weiter die Fahrt geht, umso dichter werden die Wolken. Wir haben uns von der Küste entfernt und fahren durch unansehnliche Industriegebiete. Irgendwo tauchen die ersten Wolkenkratzer auf, aber das ist noch nicht São Paulo. Könnte das Santos sein?
Sollte es einmal Zweifel an São Paulo gegeben haben, dann sind die durch zwei gewichtige Argumente entkräftet worden: Fußball-Museum und Museum der portugiesischen Sprache. Dazu kommt Luz, die erste durch die brasilianischen Krankenschwestern von St. Irminen vermittelte „Anlaufstelle“. Sie hat sogar darauf bestanden, mich am Bahnhof abzuholen. Widerstand zwecklos.
Dann kommt São Paulo in Sicht. Wolkenkratzer über Wolkenkrater. Dagegen ist Manhattan rein gar nichts.
Wir kommen etwa zur angekündigten Zeit an, nach knapp sechs Stunden. Aber keine Lu in Sicht. Ich beschließe, erst mal noch zu warten. Es ist noch früher Nachmittag.
Dann sehe ich eine Frau in der Distanz, die mich ansieht. Das muss sie sein. Wir haben uns gegenseitig nicht erkannt.
Sie ist perfekt zweisprachig, Portugiesisch und Spanisch. Von den Brasilianern spricht sie nicht sehr vorteilhaft, und von deren Portugiesisch auch nicht. Sie macht währende der paar Stationen in der U-Bahn vier, fünf Bemerkungen über Sprache, zu denen ich vier, fünf Vorträge halten könnte. Das erspare ich ihr aber.
Auch hier kann man als Senior gratis mit der U-Bahn fahren. Die U-Bahn selbst ist wie in Rio, nur gibt es an den Bahnsteigen Absperrungen, die nur da ausgelassen sind, wo sich die Türen öffnen.
Das Netz der U-Bahn ist größer als in Rio, und São Paulo selbst ist auch größer. Wir brauchen nur mit einer U-Bahn-Linie zu fahren und passieren dabei Paraíso, dem unschönen Stadtteil mit dem schönen Namen, von dem in Nootebooms Roman die Rede war.
In Ana Rosa steigen wir aus. Dort ist das Hotel. Das ist eine sehr bescheidene Angelegenheit. Das Zimmer hat fast nichts außer einem riesigen Bett, das den Großteil des Raums einnimmt. Es gibt nur drei Kleiderhaken, keinen Stuhl, nur eine ausklappbare Schreibplatte und nur eine Steckdose. Na ja, da muss man durch.
Wir fahren zur U-Bahn-Station Japão-Libertade. Hier befindet sich das Viertel der japanischen Einwanderer, von denen, wie Luz betont, es viel mehr als deutsche oder italienische gegeben habe. Und die haben sich vor allem in São Paulo niedergelassen. Sonntags findet hier ein japanischer Markt statt, mit allerhand Fressständen und Verkaufsständen, teils mit japanischen, teils mit brasilianischen Produkten, teils von Japanern, teils von Brasilianern betrieben.
Die Straße hat Laternen, die japanisch aussehen, und irgendwo gibt es eine Schautafel mit japanischen Schriftzeichen – die wohl auf die Libertade Bezug nehmen – aber man hat nicht das Gefühl, irgendwo in Japan zu sein.
Wir trinken einen Saft, wieder mit starker natürlicher Süße. Es ist Zuckerrohsaft, also Rum ohne Alkohol.
Ich lerne, dass ein Kiosk hier banca heißt und der VW-Käfer fusca oder fusquinha.
Es herrscht ziemlicher Trubel, und ich werde noch einmal ermahnt, besser auf meine Sache aufzupassen.
Mitten in dem Trubel stoßen wir auf eine bronzene Statue, auf dem Straßenpflaster stehend und eine füllige Frau darstellend. Sieht nicht unbedingt japanisch aus. Ist sie auch nicht. Es ist eine Brasilianerin, die erste Sambalehrerin mit einer eigenen Schule. Kommt einem auf den ersten Blick komisch vor, dass es dafür eine Statue gibt, aber die Inschrift stellt es klar: Die Statue ist eine Hommage an eine Frau, die den Mut hatte, Unternehmerin zu werden und selbständig eine private Schule zu betreiben.
Dann kommen wir zur Kathedrale. Luz hat mich schon auf die Szene vorbereitet, Brasiliens Elend. Der ganze Platz ist voller Obdachloser. Die einen liegen, auf den ganzen Platz verteilt, in Decken gehüllt auf dem Boden, die anderen bilden eine lange, mehrreihige Schlange. Sie warten, offensichtlich geduldig, darauf, einen Platz in den improvisierten Zelten und eine warme Mahlzeit zu bekommen. Sie seien nicht gewalttätig oder gefährlich, meint Luz. Einfach nur arm dran. In die Obdachlosenheime gingen sie nicht, weil sie dort schlecht behandelt würden.
Wir fahren zurück nach Ana Rosa und gehen dann in einer Lanchonette etwas essen. Wir bestellen auch noch einen Nachtisch, wobei ich eine Rumkugel im Kleinformat bekomme. Ich glaube, die wurde schon in Rio in der Confeitaria Colombo als brasilianische Spezialität angepriesen. Bald hat Luz aber Mitleid mit mir und meinem müden Gesichtsausdruck und entlässt mich in mein fürstliches Appartement.
7. November (Montag)
Heute gibt es einen geführten Stadtrundgang. Durchs Zentrum. Treffpunkt ist die Praça da República. Praktischerweise ist dort gleich ein Kiosk der Touristeninformation. Und da gibt es einen Stadtplan, der einen guten Überblick bietet.
Die Führerin ist eine Nervensäge. Sie hat ein paar lockere Sprüche darauf, die sie bis zur Ermüdung wiederholt, und sie glaubt, uns irgendwie unterhalten statt informieren zu müssen. Dazu kommen die ständigen Wiederholungen. Bei jedem Hochhaus glaubt sie sagen zu müssen, ob und wann man rauffahren kann und was das ggf. kostet. Natürlich hat man von überall her einen wunderbaren Ausblick.
Kein Wunder, dass die Tour dreieinhalb Stunden dauert. Mit einer zwanzigminütigen Kaffeepause. Ich höre nachher einige der Teilnehmer ganz begeistert von ihr sprechen. Kommt wohl an. Ganz uniformativ ist die Führung nicht.
São Paulo wurde 1554 gegründet, an dem Festtag der Bekehrung des Apostels Paulus, daher der Name. Die Gründer waren Jesuiten, die in der Nähe eine Missionsstation betrieben. Unter den Gründern befand sich Manuel de Nóbrega, der sich später so kritisch mit der portugiesischen Besiedlung auseinandersetzte.
São Paulo war lange ein unbedeutendes Dorf. Bis der Kaffee kam. Und mit ihm Siedler aus Europa, vor allem aus Italien. Heute hat São Paulo 12 Millionen Einwohner, mit dem Umfeld 21 Millionen, und ist eine der größten Metropolregionen der Welt.
Es bildeten sich im Laufe vier Viertel aus, alle mit kleinem Abstand voneinander, die den Kern der Stadt bildeten: das Zentrum, Paulista, Pinheiro, Ibirapuera. Mit jeder Erweiterung entdeckte die Oberschicht jeweils ein neues Viertel für sich.
Unser erster Halt ist vor einem eher unscheinbaren Hochhaus, dem Hiper, dessen Bedeutung darin besteht, dass es das erste „modernistische“ Gebäude der Stadt war, ein Gebäude, das auf den typischen Fassadenschmuck der anderen Häuser verzichtete und auf klare, nüchterne Architektur setzte. Durch den Kontrast mit einigen der hier erhaltenen älteren Bauten wird das deutlich. Hier wäre man als Tourist gelangweilt vorbeigegangen, zumal die älteren Häuser, einschl. des Hiper, unter den umstehenden Wolkenkratzern untergehen.
Dann kommt ein Gebäude aus der Zeit vor dem Hiper, ein dreistöckiges Haus, das, wenn ich es richtig verstanden habe, einen Grundriss in der Form eines E hat. Es wurde gegründet als Schule, von jemandem, der die Erziehung der Kontrolle der Jesuiten entziehen wollte. Heute ist es tatsächlich der Sitz des Erziehungsministeriums, des Ministério De Educação, aber das E ist wohl eine zufällige Übereinstimmung.
Dann kommt, an einer Straßenecke, schräg zum Platz stehend, das auffällige Edifício Itália, ein schmaler Wolkenkratzer mit der abgerundeten Seite zum Platz hin. Das wurde von den italienischen Einwanderern gebaut. Es ist das zweitgrößte Gebäude São Paulos und eins der größten Lateinamerikas. Es ist Heim eines italienischen Clubs, eines italienischen Theaters, eines italienischen Restaurants und sein Architekt stammte aus – Deutschland.
Dann kommt das Copán, von Niemeyer gebaut. Es hat unglaubliche 1100 Wohnungen und eine eigene Postleitzahl. Eine Besonderheit des Gebäudes ist, dass es Wohnungen sehr unterschiedlicher Größe und Beschaffenheit umfasst. Es soll für jeden Geldbeutel etwas dabei sein. Die Fassade ist geschwungen, und man vergleicht das Haus mit einer Flagge oder einer Welle. Das ist von hier aus nicht so gut zu erkennen, wohl aber auf Photographien aus der Luft oder aus größerem Abstand.
Dann kommt die Igreja da Conceição, neoromanisch, mit zwei kleinen und einem großen Turm und einer Rosette. In der Nähe befindet sich der Cemitério da Consolação, der zur der Gemeinde gehörige Friedhof, der älteste der Stadt, von 1858. Also kein Friedhof zwischen dem Jahr der Gründung, 1554, und 1858! Das führte dazu, da die Bestattung auf dem Kirchhof kostspielig und nur Privilegierten vorbehalten waren, dass überall illegale Friedhöfe entstanden. Noch heute stößt man bei Bauarbeiten immer wieder auf alte Knochenfunde.
Dann blicken wir auf ein Hochhaus mit einer interessanten Baugeschichte. Es wurde errichtet von jemandem, der keine Lizenz als Architekt hatte und Freunde dazu bewegen musste, für ihn die Verantwortung zu übernehmen. Sein Vater war Nihilist und sprach sich gegen jede Art von offizieller beruflicher Laufbahn aus. Die Besonderheit dieses Baus ist die Fliegende Untertasse, auf blauen Pfeilern auf das Dach gesetzt. Es beherbergt ein Restaurant.
Dann kommen wir zur Nationalbibliothek. Sie ist benannt nach Mario de Andrade, einem der bekanntesten brasilianischen Autoren. Die Nationalbibliothek wurde von einem französischen Architekten entworfen und ist die zweitgrößte Brasiliens. Auf dem Bürgersteig vor der Bibliothek befindet sich ein Kunstwerk in der Form des gestalteten Pflasters, in schwarzen und weißen Steinen ein Muster bildend. In das Pflaster ist das Wort für Bibliothek in verschiedenen Sprachen eingelassen. Das Kunstwerk heißt Para Ler, ‚Zum Lesen‘.
Dann kommt das Theatro Municipal, die Oper São Paulos, von Ramos de Azevedo nach dem Vorbild der Pariser Oper erbaut und 1911 eröffnet. Die Oper war das erste Gebäude mit elektrischem Licht in São Paulo und zog deshalb bei der Eröffnung 20.000 Zuschauer an, die nicht die Oper, sondern das erleuchtete Gebäude sehen wollten. Sie verursachten den ersten Verkehrsstau in der Geschichte São Paulos.
Wir gehen über den Viaduto do Chá, die ‚Teebrücke‘, benannt nach einer Teeplantage, die sich hier befand. Heute unvorstellbar.
Von hier aus hat man einen kuriosen Blick auf das älteste Hochhaus São Paulos, mit grauer, geschmückter Fassade und einer Krone auf dem Dach. Es kommt deshalb besonders zur Geltung, weil es genau zwischen zwei modernen Wolkenkratzern durchblickt.
Am anderen Ende der Brücke befindet sich das Rathaus, geschmückt mit drei Flaggen, der von Brasilien, der vom Staat São Paulo (schwarz-weiß) und der von der Stadt São Paulo (rot-weiß). Das Gebäude, in einem sehr nüchternen Stil errichtet, war ursprünglich das Kaufhaus eines italienischen Einwanderers, der es zum Multimillionär brachte, Matarazzo. Er war unter anderem der erste, der Kühlschränke vertrieb. Über den Balkonen liest man mmm. Was deren Bedeutung ist, ist umstritten. Das erste steht wohl für den Kaufmann selbst, das zweite entweder für seinen Sohn oder für den Architekten, dessen Vornamen mit M beginnt – oder für Mussolini, mit dem Matarazzo eng verbunden war. Auf dem Dach des Hauses befinden sich ein Garten, dessen Bäume man von der Straße aus sieht, sowie ein eigener Teich mit Pflanzen.
Wir passieren eine der ältesten Kirchen der Stadt, Santo Antônio, und kommen dann zum ersten Mal in eine schmalere Straße, ohne Autoverkehr, einer Geschäftsstraße. Viele Läden sind aufgegeben worden und überall sieht man Schilder, die die Lokale zur Miete anbieten: Aluga-se.
Nach der Kaffeepause sehen wir die Fassade einer eigentümlichen Doppelkirche, São Francisco. Die Franziskaner hier kümmern sich besonders um die Obdachlosen und haben eine Einrichtung zu deren Versorgung mit Essen gegründet.
Dann kommen wir zur Kathedrale. Die Führerin will nicht mit uns auf den Vorplatz der Kathedrale gehen, das sei zu gefährlich. Stattdessen sehen wir aus einiger Distanz von dem Laubengang einer Bank aus auf die Kirche. Sie bezeichnet den Bau als neogotisch, aber die Kuppel in der Mitte will nicht so recht dazu passen. Die Kathedrale ist nicht weiter bemerkenswert, außer durch ihre pannenbesetzte Baugeschichte. Erst wurde sie nicht rechtzeitig zu einem bestimmten Jubiläum fertig, dann wurde sie eingeweiht, obwohl noch die Türme fehlten, dann regnete es irgendwann herein. Insgesamt zog sich die ganze Sache über den größten Teil des 20. Jahrhunderts hin.
Wir sehen auf einen Wandgemälde, riesig, die gesamte Seitenwand eines Hochhauses einnehmend. Es stellt einen Indio mit einer Lanze und einer Art in der Brust dar. Dieses Wandgemälde, erfahren wir, sei gerade erst fertig geworden, vor wenigen Tagen. Der Künstler legt Wert darauf, seine Farben im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Boden São Paulos zu holen. So ist das Ocker dieses Wandgemäldes aus dem Boden vor der Kathedrale entnommen worden.
Dann sehen wir die rosa Fassade eines Palasts, des Solar da Marquesa de Santos, der der Zufluchtsort einer von Pedro I. verstoßenen Mätresse war. Der Palast bildet zusammen mit dem benachbarten Gebäude das heutige Stadtmuseum.
Zum Schluss kommen wir zur Keimzelle São Paulos, dem Pátio do Colégio, bestehend aus der Jesuitenkirche und dem angrenzenden langgestreckten Schulgebäude, zweistöckig, mit schönen blau gerahmten Fenstern, allerdings wohl ein Nachbau der ursprünglichen Schule. Nach der Ausweisung der Jesuiten war dieses Gebäude Regierungssitz. Heute ist es wohl eine Art Kulturzentrum.
Während der Führung bin ich kurz mit zwei Frauen aus Puerto Rico ins Gespräch gekommen. Sie sind in Brasilien, um sich tätowieren zu lassen. Und dann mit einem jungen Mann aus Spanien und seiner brasilianischen Ehefrau. Sie haben sich in Spanien kennengelernt und leben in Salamanca. Er stammt aus Madrid. Sie ist seit fünf Jahren in Spanien und spricht ausgezeichnet Spanisch, er hat keine Lust, Portugiesisch zu lernen. Er hält von der Sprache nichts. Es ist sein erster Besuch in Brasilien. Sie sind auch in Manaus gewesen. Das habe ihm sehr gefallen. Von da aus brauche man nicht in den Amazonas fahren, das sei im Amazonas. Als ich ihn frage, ob die Reise teuer gewesen sein, antwortet er, er wisse es nicht. Das habe seine Frau bezahlt.
8. November (Dienstag)
Heute steht das Museu do Ipiranga auf dem Programm, allgemein eher bekannt als Museu Paulista. Luz will mitgehen. Erst sollen wir uns an der Metro treffen, dann will sie zum Hotel kommen. Sie will um 10 Uhr da sein. Als sie um 10.30 immer noch nicht da ist, bitte ich die Frau an der Rezeption, mir einen Wagen von Uber zu besorgen. Macht sie. In sieben Minuten sei er da. Kurz davor taucht Luz auf.
Die Fahrt führt durch ein angenehmes, grünes Wohnviertel. Davon habe es früher viel mehr gegeben, erfahre ich. Aber die seien der Bodenspekulation zum Opfer gefallen. Das nächste Viertel legt genau davon Zeugnis ab.
Der Fahrer entlässt uns am Rande eines Parks. Dort steht, erhöht auf einem Sockel, ein triumphales Denkmal für die Unabhängigkeit Brasiliens. Davor ein Lehrer mit Schulkindern in Uniform.
Wir gehen den breiten, sanft ansteigenden Weg zum Museum rauf. An der Seite ein Baum, der lilafarben blüht. Sieht wie Lavendel aus.
Es ist sonnig und wunderbar warm. Vor dem Museum befindet sich ein großer Brunnen mit verschiedenen Fontänen, die im Sonnenlicht glitzern. Von oben haben wir später aus dem zweiten Stock einen schönen Blick auf den Brunnen und den Park und die Silhouette von São Paulo.
Das Gebäude selbst, ockerfarben gehalten, breit, zweistöckig, ist als Monument der Unabhängigkeit Brasiliens erbaut worden. Später erfährt man in der Ausstellung, mit welchen Schwierigkeiten der Bau verbunden war. Der ursprüngliche Plan, der ein noch größeres Museum vorsah, musste abgeändert werden. Auch so war der Bau eine absolute Neuheit, moderner und größer als alles, was es bis dahin in Brasilien gab. Man sieht auf einem Gemälde, wie isoliert es noch in der Landschaft lag, auf einem kleinen Hügel, Natur rund herum. Auf einem anderen Gemälde sieht man die Eröffnungsfeier, mit 10.000 festlich gekleideten Schulkindern, mit einer Musikkapelle und mit Girlanden und Fähnchen an der Fassade. Muss ein Großereignis gewesen sein.
Der Bau wurde von italienischen Architekten errichtet, zum Teil mit italienischen Materialien. Den Stil könnte man als Neo-Renaissance bezeichnen. Es gibt Pfeiler und Pilaster überall und eine durchlaufende Balustrade auf dem Dach, aber keinen Skulpturenschmuck. Der Bau hat einen hervortretenden Mittelrisalit mit Freitreppe, zwei Seitenflügel und zwei daran anschließende Pavillons.
Beim Eintritt erlebt man Brasilien mit seinen Widersprüchen. Das Museum, gerade erst modernisiert und zur 200-Jahr-Feier der Unabhängigkeit Brasiliens neu eröffnet, ist hypermodern, mit Ton und Bild in allen Ausstellungsteilen, der Kartenverkauf erfolgt ausschließlich elektronisch. An der Garderobe sitz aber eine einzige Frau, die die Rucksäcke und Handtaschen entgegennimmt und ausgibt. Sie muss für jeden Besucher handschriftlich ein Formular mit dessen Namen und Personalausweisnummer ausfüllen! Kein Wunder, dass es hier eine unendliche Schlange gibt.
Die Ausstellung beginnt im Foyer mit verschiedenen Gemälden, darunter dem von Tibirica, dem ersten Indio, der eine Allianz mit den Portugiesen einging. Sein Verbündeter war Joao Ramalho, einer der ganz frühen Kolonisatoren. Auch der ist hier abgebildet, zusammen mit seinem Sohn. Dessen Mutter war Tibiricas Tochter. Tibirica nahm später auch einen portugiesischen Namen an, Martim Afonso, nach einem portugiesischen Entdecker. Zusammen mit Ramalho gründeten sie die erste portugiesische Siedlung in Brasilien. Wenn ich das richtig verstanden habe, lag die im Stadtgebiet des heutigen São Paulo.
In der nächsten Abteilung geht es um die bandeirantes, die furchtlosen und sicher nicht zimperlichen Männer, die das Landesinnere erforschten und für sich in Besitz nahmen. Sie sind hier auf Wandtellern, auf Andenken, auf Vasen, auf Briefmarken und als Maskottchen zu sehen. Jeder Brasilianer hat eine klare visuelle Vorstellung von ihnen: weiß, langer Bart, breitkrempiger Hut, eine besonderer Wams, gibão, eine Flinte, hohe Stiefel. Es gibt aber keine einzige Darstellung eines bandeirantes aus der Zeit!
Zu den Erkundungen der bandeirantes gibt es ein großes, helles Gemälde. Es zeigt sie aber nicht bei der Eroberung des Landes, sondern beim Aufbruch von der Siedlung. Kisten und Säcke werden auf Boote verladen, am Ufer stehen Männer, die ihre Hüte in der Luft schwenken und Frauen mit Schleiern mit besorgtem und traurigem Gesichtsausdruck. Die Indios sind nicht präsent.
Außerordentlich schön ein ebenfalls langes Gemälde von der Überschwemmung von Várzea do Carmo, eines Ortes, der heute ein Stadtteil von São Paulo ist. Die Überschwemmung ereignete sich 1892. Man sieht auf den ersten Blick gar nicht, dass es sich um eine Überschwemmung handelt. Keine reißenden Flüsse, keine Wassermassen. Das Leben scheint wie gewohnt weiter zu gehen. Die Fabrikschornsteine rauchen, Händler und Käufer drängen sich auf dem Marktplatz, Pferde und Kutschen sind zu sehen, und auf zwei Straßen ist die Straßenbahn zu sehen, die weiterhin fährt. Das Bild ist geradezu schön anzusehen, eine horizontale Linie teilt es in zwei Teile, der obere Teil stellt einen blauen Himmel mit ein paar weißen und ein paar dunklen Wolken dar. Unterhalb der Linie die langgezogene Stadt, mit einem grünen Hügel an einer Seite, mit dem Fluss und einer Brücke in der Mitte und den Bergen im Hintergrund. Von Katastrophe keine Rede. Tatsächlich richtet die Flut schwere Schäden an, es gab Todesopfer durch Ertrinken, Mauern stürzten ein, der Verkehr blieb stocken. Calixto, der Maler, wusste davon, zog es aber vor, eine moderne Stadt darzustellen, eine Stadt, die mit solchen Unglücksfällen zurechtkommt.
Dazu passend eine faszinierende Montage, bei der Gemälde mit den Photos verglichen werden, nach deren Vorlage sie entstanden. Die Gemälde wurden von dem Museum selbst 1860 in Auftrag gegeben. Auch hier gilt das Prinzip der Idealisierung. Ein Mann im Vordergrund bekommt einen anderen, antikisierenden Hut verpasst, einige Figuren verschwinden, andere kommen dazu, die Fassaden der Häuser bröckeln nicht ab, die Kirche ist größer als in Wirklichkeit, die Straßen sind gepflastert und keine Lehmpfade, und die auf einer Straße sich auftürmenden Steine zur Pflasterung sind im Gemälde schon verarbeitet. Dazu kommt natürlich die Farbe der Gemälde im Gegensatz zum Schwarz-Weiß der Photos. Wunderbar. Da könnte man stundenlang zusehen.
Dann kommt das Gemälde des Grito de Ipiranga, der Ausruf des Kaisers zur Unabhängigkeit Brasiliens, mit dem pathetischen Spruch „Independência ou Morte”. Das Gemälde, Geschichtsklitterung erster Klasse, haben wir bereits in Petrópolis gesehen. Wo das Original hängt, weiß ich nicht. Und erst jetzt merke ich, dass Ipiranga hier ist! Wir sind im Museu do Ipiranga!
Oben gibt es handfestere Dinge. Handwerkzeug und Geräte, die ersten, die noch importiert werden mussten und trotzdem Menschen erforderten, die sie in Stand halten und reparieren konnten. So was vergisst man leicht. Es sind Bügeleisen und Nähmaschinen zu sehen, aber auch Sägen, Zangen, Hobel, Kleiderbügel und Fingerhüte.
Besonders herausgestellt wird ein Werkzeug, das eine doppelte Funktion hat. Auf Portugiesisch hat es den wunderbaren Namen bico de papagaio, ‚Papageienschnabel‘. Von der einen Seite ist es Rohrzange, von der anderen Schraubschlüssel.
Es wird eine interessante Parallele gezogen zwischen handwerklicher Fertigkeit und Lesen und Schreiben einerseits und Gehen andererseits. Alles seien keine „natürlichen“ Fertigkeiten, alles müssten mühsam gelernt werden, mit Unsicherheit und Langsamkeit am Anfang. Alle würden dann irgendwann so sehr assimiliert, dass man sich der einzelnen Schritte, die man mühsam lernen musste, gar nicht mehr bewusst ist.
Der Gedanke führt auch zu einem Loblied auf das Handwerk, das in dieser Hinsicht mit den intellektuellen Fertigkeiten übereinstimmt. Es werden Handwerksberufe dargestellt, die auch die Industrialisierung überlebten wie Schneider oder Schuster. Die seien durch Maschinen nicht zu ersetzen.
Dann kommen Informationen zur Entwicklung der Landwirtschaft in Brasilien. Die wurde meist von Sklaven, Einwanderern und brasilianischen Migranten betrieben. Kaffee, Zuckerrohr, Apfelsinen, Bananen wurden angebaut, ausschließlich in Handarbeit. Man sieht sechs schöne Gemälde, auf denen verschiedene Phasen des Prozesses dargestellt werden, Ernte, Trocknung, Verpackung und schließlich der Abtransport in einer Prozession von Ochsenkarren. Bis 1960 lebte noch der allergrößte Teil der brasilianischen Bevölkerung auf dem Land.
Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Gesundheit und Hygiene Beachtung geschenkt. Ein Wegbereiter war ein Ingenieur, Sohn eines Weißen und einer schwarzen Sklavin. Er setzte sich unermüdlich für Verbesserungen ein, mittels eigener Planungen und mittels Initiativen. Die Ausstellung hat dazu Bilder unter dem Titel „Die unsichtbare Stadt“. Kanalisation, Entwässerung, Pflasterung, Straßenbahnschienen. So wurde São Paulo allmählich zu einer modernen Stadt.
Wir haben längst nicht alles, aber genug gesehen, und gehen anschließend in einen ganz in der Nähe gelegenen Club, der von Unternehmen aus São Paulo finanziert wird. Hier finden Leseabende und ähnliche Veranstaltungen statt. Aus der Sporthalle hört man die Stimmen von Jugendlichen. Von der Tribüne aus kann man sie beobachten. Die Volleyballer und die Basketballer teilen sich das Spielfeld, und zwei Jungen spielen Tischtennis in einer originellen Variante: Jeder hat seine eigene Platte und man spielt auf die Platte des Gegners.
Wir essen ein Sandwich in dem Garten. Dabei leistet uns ein großer, bunter Singvogel Gesellschaft, aber photographieren lässt er sich nicht.
Anschließend fahren wir mit dem Bus und der U-Bahn zur Avenida Paulista. Wir steigen in Paraíso um. Ich muss schnell noch ein Photo von der U-Bahn-Station machen, in Erinnerung an unseren letzten Roman, dessen erste Szene in São Paulo spielt. Dabei wird auf die Ironie des Namens vor dem Hintergrund der düsteren Wirklichkeit des Viertels hingewiesen.
Die Paulista ist eine sechsspurige Straße und das Viertel Paulista das renommierteste Viertel São Paulos. Sie ist Anlass für einen bissigen Ausspruch zur Ehe, der in São Paulo verbreitet ist: A Paulista é igual a casamento. Começa no Paraíso e termina na Consolação.
Wenn man Wolkenkratzer sehen will, ist man hier richtig. Einer reiht sich an den anderen, zu beiden Seiten der Straße, und zwischen ihnen sieht man auf weitere Wolkenkratzer in der zweiten Reihe und dann immer wieder in den Seitenstraßen. Die Variation ist riesig. Schön sind vor allem die mit den gläsernen Fassaden, in denen sich andere Gebäude spiegeln, oder die mit unkonventionellen Formen, wie das des Arbeitgeberverbandes, ein nach oben sich verengender Bau oder ein Rundbau oder einer mit schwarzen geometrischen Formen an der Fassade, die nach oben immer rarer und kleiner werden. Sie sehen wie Fenster aus, sind aber keine.
Hier haben Banken und große Unternehmen ihren Sitz, ebenso Konsulate und das renommierteste Krankenhaus São Paulos, Santa Catarina. Außerdem sitzen hier das Landgericht und das Justizministerium.
Überall am Straßenrand fliegende Händler. Bei einem sehen wir Cashew, Bestandteil des ersten Safts, den ich in Rio serviert bekommen habe, und die Jackfrucht, von dem Baum, den ich die ich im Botanischen Garten in Rio gesehen haben.
An einem Stand wird Palo Santo angeboten, ein Holz, das einen Duft abgibt, der entfernt an Myrrhe erinnert, eine typische Sache aus Peru. Und: Ist der Mann an dem Stand Peruaner oder Brasilianer? Argentinier! Ich solle, wenn ich nach Argentinien reise, unbedingt Córdoba besuchen, seine Heimatstadt, nicht so sehr wegen der Stadt als wegen der Umgebung.
Luz versucht, die Herkunft der Mädchen zu erraten, die Schmuck verkaufen. Bei den beiden ersten liegt sie richtig, beide sind Ecuadorianerinnen. Bei der dritten liegt sie falsch. Sie tippt auf Peruanerin. Ist aber auch Ecuadorianerin.
Der (halboffizielle) Name für McDonalds in Brasilien ist Mequi. Als wir an einer Fiale mit dieser Bezeichnung vorbeikommen, erfahre ich, dass Bolivien keinen McDonalds hat. Glückliches Bolivien!
Zum Schluss sehen wir vor dem Koreanischen Konsulat noch die Figur eines Mannes, der sich verbeugt. Eine Anspielung auf die koreanische Praxis, mit einer Verbeugung seine Reverenz vor anderen zu erweisen und mit ihr einen Kontakt zu initiieren.
Am Abend gehe ich in die Lanchonete um die Ecke. Es gibt Kotelett mit Maniok, dem obligatorischen Reis und den ebenso obligatorischen Bohnen, die immer, aus irgendwelchen Gründen, in einem eigenen Schüsselchen serviert werden. Dazu gibt es, ebenfalls in einem eigenen Schüsselchen, eine gelbe, körnige Masse, die, wie ich auf Nachfrage erfahre, farofa heißt. Das ist in Butter geröstetes Maniokmehl. Das Fleisch ist hervorragend, es fällt wie von alleine vom Knochen und ist wunderbar saftig. Am Nebentisch ein Mann, der das gleiche Gericht bestellt hat und dazu einen Obstsaft trinkt. Scheint hier nicht so ungewöhnlich zu sein.
Zum Nachtisch genehmige ich mir dann endlich mal die açai, mit Bananenstückchen in einer eisigen Flüssigkeit serviert.
An der Theke steht Não vendemos fiado. Das muss ich erst im Wörterbuch nachgucken. Wir schreiben nicht an, bei uns kann man nicht auf Pump was kaufen.
9. November (Mittwoch)
Um zum Museo da Lingua Portuguesa zu kommen, muss man zur Metrostation Luz, der größten überhaupt. Hier hat man Anschluss an vier weitere Linien und an die Vorortzüge. Die Metro von São Paulo ist größer als die von Rio, und die Stationen sind besser gekennzeichnet draußen, mit einer schlanken Säule. Die Stationen haben klangvolle Namen wie Jabaquara, Tucuruvi und Itaquaquecetuba, aber auch Eucaliptus, Villa Limpa und Saúde.
In der großen Station ist es nicht so leicht, sich zurechtzufinden, und dann ist auch noch der Ausgang gesperrt. Man muss durch einen kleinen Aufzug nach oben. Aber dann braucht man nicht weiter zu suchen. Man steht gleich vor dem Eingang des Museums. Das ist in dem Bahnhofsgebäude untergebracht, einem viktorianisch aussehenden Gebäude mit Backstein und schön gestalteten Eisenträgern und einem Glasdach über den Gleisen. Von oben kann man auf die abfahrenden Züge hinunterschauen. Hier verkehren Vorortszüge. Zwischen den großen Städten gibt es in Brasilien keine Züge, nicht einmal zwischen São Paulo und Rio. Es soll aber einer geplant sein.
Vor dem Bahnhofsgebäude erscheint dann Luz, noch ein paar Minuten später als ich, etwas knapp, denn wir haben eine festgelegte Eintrittszeit. Das erweist sich aber alles als hinfällig, denn die Karten, die sie besorgt hat, gelten nicht, hier gibt es keinen Seniorenrabatt. Wir müssen hier welche kaufen, und können das, entgegen ihrer Behauptung, ohne Probleme tun.
Das Museum, auf zwei Ebenen angeordnet, ist ausgezeichnet, aber für mich nicht ideal: Das, was ich verstehe, weiß ich schon, das, was ich nicht weiß, verstehe ich nicht. Das gilt für die ganze obere Ebene. Die steht unter dem Motto Lingua Viva. Dort kann man an verschiedenen Säulen Sprecher verschiedener Gesellschaftsgruppen hören, die etwas zur Sprache sagen, Künstler, Kinder, Sänger, Einwanderer, Handwerker usw. Leider komme ich da gar nicht mit. Es wird alles in Gebärdensprache übersetzt, aber Untertitel gibt es nicht.
Die untere Etage steht unter dem Motto Viagens da Lingua. Das ist vertrautes Terrain. Sehr gut hier die Darstellung unserer Sprachfamilie, mit elektronischen Pfeilen gemacht, durch die lange Horizontale besser verständlich als in jedem Lehrbuch. Der Weg führt vom Protoindoeuropäischen bis zum Portugiesischen. Man sieht gut die verschiedenen Abzweigungen und auch die verloren gegangenen Sprache, die abgestorbenen Zweige wie das Oskische bei den italischen Sprachen oder das Attische bei den Sprachen Griechenlands.
Beim Portugiesischen Brasiliens wird auf den Einfluss der Bandoleiros und der Eingeborenen bei der Herausbildung der Variation aufmerksam gemacht, aber auch auf den späterer Einwanderergruppen: Deutsche, Italiener, Japaner, Libanesen, Syrer, Polen, insgesamt 5 Millionen in der Zeit von 1850-1950. Ein passendes Beispiel ist Chau, das aus dem Italienischen übernommen, aber orthographisch angepasst wurde und hier, anders als im Italienischen, nur zur Verabschiedung gebraucht wird.
Ein Linguist erklärt die Entwicklung der Sprache und weist dabei auf espíritu hin, das eigentlich vier Silben hat, von einigen Sprechern aber einsilbig ausgesprochen wird. Es sagt auch, dass wegen des Verlusts der Endungen im Portugiesischen, oder zumindest im brasilianischen Portugiesisch, der Gebrauch der Personalpronomen obligatorisch geworden sei. Das widerspricht allem, was ich gelernt und beobachtet hat. Leider kann man das nicht mit ihm diskutieren.
Sehr schön die Beispiele, die zeigen, dass das Portugiesische nicht aus dem klassischen Latein, sondern aus dem Vulgärlatein abgeleitet wurde. Deshalb haben wir cavalo (Vulgärlatein caballus) und nicht equus, casa (Vulgärlatein casa) und nicht domus, estrela (Vulgärlatein stella) und nicht sidus, beber (Vulgärlatein bibere) und nicht potare. Auch die Literatur nahm diese Sprachformen an, wie ein hier ausgestelltes Buch von 1499 belegt, Batalha de Amor dem Sonho de Polifilo.
Von den einzelnen Wörtern, die diskutiert werden, finde ich manioca am interessantesten. Das Wort kommt aus einer Eingeborenensprache. Die Eingeborenen nutzten es schon seit Jahrtausenden, als die Europäer kamen. Die waren sehr davon angetan, sahen es als eine gute Alternative zu Weizen an, wo der nicht angebaut werden konnte. Die Indios konsumierten zwei Arten von Maniok, die süße Variante, die auch aipim heißt, und die scharfe Variante. Die war von Natur aus giftig und musste stundenlang gekocht werden, um essbar zu werden. Levi-Strauss sieht die Domestizierung des Manioks als eine der großen Leistungen der Zivilisation an, die Transformation eines Giftes in das tägliche Brot.
Nach dem Museum führt mich Luz noch zum Denkmal für die lateinamerikanische Einigkeit. Auf einem riesigen, in der Mitte fast leeren Platz, auf den man nur auf Umwegen gelangt, steht eine große Hand mit einer Schnittwunde, aus der Blut läuft, eine Anspielung auf Eduardo Galeanos Buch Las venas abiertas de América Latina.
In einem der Gebäude ist eine Ausstellung untergebracht, mit traditionellen Objekten aus den verschiedenen lateinamerikanischen Ländern, Masken, Musikinstrumente, Schiffe, Kleider. Sehr schön eine Sammlung von Masken aus Paraguay. Kurios die anthropomorphen Tongefäße in Form von Musikern mit den traditionellen Instrumenten wie Panflöte.
Unter uns befindet sich ein dreidimensionales Modell Lateinamerikas, mit Bergen, Flüssen und Meeren, einigen Städten und landestypischen Dingen. Es macht uns Spaß, hin und her zu wandern und die verschiedenen Länder und Gebiete zu identifizieren.
10. November (Donnerstag)
Heute geht es zum Museu do Futebol. Das ist in einem Stadion untergebracht, dem Estádio do Pacaembú. Es liegt etwas abseits, die Fahrt dahin nimmt einige Zeit in Anspruch.
Das Stadion, heute offiziell Estádio Municipal, kann nicht besichtigt werden. Es wird umgebaut. Am Ende der Ausstellung gibt es einige Bilder und Informationen zum Bau des Stadions, das in den vierziger Jahren zu den modernsten des Landes gehörte. Dort wurden auch bei der WM 1950 Spiele ausgetragen. Das Stadion war früher das von Corinthians, die spielen aber heute in einem anderen Stadion.
Am Schalter ein bestürzendes Erlebnis. Ich frage nach Seniorenrabatt, und der Mann sagt mir lächelnd, der habe er schon einberechnet. Das Gesicht reicht als Ausweis.
Das Museum ist hervorragend, auf verschiedenen Ebenen untergebracht, je weiter nach oben man kommt, umso mehr herrschen Bild und Ton vor.
In der Eingangshalle eine große Wand mit Nachbildungen von Pokalen, Wimpeln, Stadien, Fußbällen aus Pappmache.
Gegenüber die Fahnen der bei der WM in Katar beteiligten Länder, und darunter ein altes Photo von Pele in Katar. Der hat damals mit seinem FC Santos ein Freundschaftsspiel in Doha ausgetragen und damit das Fußballfieber in Katar ausgelöst. Das war damals noch ein armes Land mit Fischfang als wichtigsten Wirtschaftszweig. Heute schlägt sich die Bedeutung von Fußball in den modernen Stadien nieder, die sich alle in einem kleinen Umkreis befinden, und in Qatar Airlines als Sponsor bedeutender Fußballvereine.
Fußbälle werden in einer ganzen chronologisch angeordneten Reihe ausgestellt, von 1922 bis 2022. Der erste, aus Leder, bräunlich, mit deutlich sichtbaren Nähten und einem Ventil für die Blase, hat mit dem letzten nichts mehr gemeinsam. Ähnlich eine Aufreihung von Fußballschuhen. Bei den ersten sieht man noch, dass sie sich den Namen Fußballstiefel verdienen.
Trikots der brasilianischen Nationalmannschaft, auch chronologisch angeordnet, zeigen den wiederholten Wechsel von Grün-Gelb zu Blau-Gelb und zurück, vor allem aber das weiße Trikot, das anfangs lange Standard war.
Die ersten Clubs hier in Sao Paulo waren Clubs der Einwanderer und hießen Palestra Itália oder S.C. Germania. Der Fußball wurde hier eingeführt von einem gewissen Charles Miller, nach dem auch Plätze oder Straßen hier benannt sind. Er spielte in Várzea do Carmo, und lange war Várzea do Carmo eine Art Synonym für Fußball.
Dann geht es um die Eingeborenen, unter dem Motto „No Brasil, todo mundo é índio, exceto quem não é.” Es werden Bilder von 1922 gezeigt, von einem Spiel Mato Grosso gegen Rio, bei dem eine indigene Mannschaft beteiligt war. Heute haben sie eine eigene Liga.
Auch hier ist, wie überall in São Paulo, von den Modernisten die Rede. Sie scheinen längst nicht nur mit Architektur zu tun zu haben, sondern eine weit aufgestellte Gruppe von Intellektuellen geworden sein, die eine Alternative zu Althergebrachtem suchen. In der Fußballsprache hatten sie zum Beispiel ein Instrument, die Lücke zwischen der geschriebenen und der gesprochenen Sprache zu schließen. Es gibt hier eine Aufstellung von Begriffen, die aus der Fußballsprache kommen wie gol de placa, hazer cera oderfirloa. Sie untersuchten auch die Sprache der Radioreportagen, die ab 1922 immer wichtiger wurden, und die der Fangesänge oder Vereinshymnen, die es ab den dreißiger und vierziger Jahren gab.
Der erste brasilianische Fußballheld hieß Arthur Friedenreich. Er wurde in den Jahren zwischen 1910 du 1920 neunmal Torschützenkönig. Er war der Sohn eines deutschen Ingenieurs und einer Schwarzen. Bei einem Länderspiel gegen Argentinien sprach sich der damalige brasilianische Präsident gegen seinen Einsatz aus, mit dem Argument, dann würde man in Argentinien glauben, wir seien leuter kleine Äffchen.
Oben geht es dann um die bekanntesten brasilianischen Fußballer der Vergangenheit: Garrincha, Ronaldo, Rivalino, Vavá, Romario (der letzte klassische Mittelstürmer), Socrates (der seinem Namen alle Ehre machte und ausgebildeter Arzt war), Zico (der ohne Titel blieb), Zagallo (der formiguinha genannt wurde, ‚kleine Ameise‘), Didi und viele andere, deren Namen man halb vergessen hat, die aber noch nachklingen.
Man kann Ausschnitte aus Radioreportagen hören Es geht um bedeutende Tore wie das von Didi gegen Frankreich 1958. Ein Fernsehreporter kommentiert den Kommentar zu Paolo Rossis Tor gegen Brasilien 1982. Das sei das traurigste Tor der Geschichte gewesen. Brasilien hatte gerade ausgeglichen, und dann schoss Rossi das 3:2. Gar schönes Tor. Und Brasilien war raus. Und Italien wurden Weltmeister.
Oben gibt es eine Videoinstallation. In einem dunklen Raum werden auf verschiedenen Bildschirmen unterschiedliche Fangesänge, Jubelschreie, Pfeifkonzerte gleichzeitig projiziert. Es wird einem angst und bange dabei.
Dann kommt ein Raum, der sich einem nicht sofort erschließt. Hunderte von alten Photos in Holzrahmen werden an mehreren Wänden ausgestellt. Nach und nach erschließt sich einem, dass es um die Rolle der Frau geht. Auf einem Photo sieht man ein Schild, das Frauenfußball ausdrücklich verbietet, auf anderen sieht man Frauen am Steuer eines Rennwagens, als Tennisspielerin, als Zirkusartistin, als Tänzerin, Frauen mit Kleid und Hut mit Federn am Strand, im Wasser stehend, und Frauen mit Rock, Strümpfen und Pullover mit einem Ball am Fuß.
Dann gibt es einen Raum, in dem jede Säule sich einer Weltmeisterschaft widmet, mit Bildern, Zitaten, Ausschnitten. Man sieht Ronaldos Tor gegen Deutschland, Zidanes Tor gegen Brasilien, Tafarellis Elfmeterparaden von 1994 gegen Italien, Peles Tor in letzter Minute gegen Wales, ohne das Brasilien 1958 vielleicht nicht Weltmeister geworden wäre, Götzes Tor gegen Argentinien (dem ersten entscheidenden Tor eines Auswechselspielers). 1994 heißt es, sei die tristeste Weltmeisterschaft Brasiliens gewesen, eine Mannschaft, die man bewundern, für die man aber nicht schwärmen konnte. Komischerweise gibt es zwar Bilder von 1954 und 1958, aber keine von 1962.
Die Ausstellung endet mit einer Auflistung von Rekorden, der kleinste, der größte, der jüngste, der älteste Fußballspieler, die meisten Tore usw. Interessant ein Spiel, das 5:4 gewonnen wurde, obwohl die Mannschaft vier Eigentore machte.
Am Nachmittag fahre ich zum Busbahnhof. Freundliche Frau am Schalter, alles geht flott, ohne jede Probleme.
Noch in der Station bestelle ich an einem Stand einen Mate, den grünen Tee, den man wohl zuerst mit Argentinien verbindet. Wenn man den Mate heiß haben will, muss man ausdrücklich darum bitten. Er schmeckt nicht nach grünem Tee und sieht nicht nach grünem Tee aus, er schmeckt überhaupt nicht wie Tee und sieht überhaupt nicht wie Tee aus, eher wie ein etwas dünn geratener Kaffee. Es ist auch taxonomisch vermutlich kein Tee, sondern ein Aufgussgetränk, nicht anders als Kamillentee. Zucker muss unbedingt rein, der Tee ist ziemlich stark. Das Wort Mate kommt aus dem Ketschua und bezeichnete ursprünglich das Gefäß, dann erst den Tee selbst. Dabei hatte man aber vermutlich nicht so einen Plastikbecher im Sinne, wie er hier verwendet wird.
Ich fahre Richtung Zentrum und gehe dann Richtung Theater. Unterwegs sehe ich ein Schild, auf dem vor dem Benutzen des Handys beim Autofahren gewarnt wird: Celular ao volante, perigo constante.
Wie groß das Theater ist, merkt man erst, wenn man einmal rund herum geht, und was die Fassade alles zu bieten hat, merkt man nur, wenn man etwas Abstand hält: riesige Atlanten, die die Eingangspforten halten, dicke Säulen, die den Altan tragen, stilisierte Notenschlüssel aus Eisen, Masken über den Portalen und wie Vorhänge mit Bommeln aussehende Glas an den Nebenportalen. Auf dem Dach allerhand allegorische Figuren, die vermutlich für Drama und Musik stehen.
Ich frage nach Karten für eine Führung, und es gibt tatsächlich täglich eine, aber sie sind für die nächsten Tage alle ausverkauft.
Ich sehe mir dann noch das Pflaster vor der Bibliothek an, mit seinem schwarz-weißen Muster, das selbst als Kunstwerk gilt. Es ist wirklich schön anzusehen, aber dass es das Wort Bibliothek in verschiedenen Sprachen hier geben soll, das hat sich unserer Führerin vermutlich ausgedacht. Man kann mit Mühe Teile des Wortes Bibliothek erkennen, das aber ohnehin in unseren Sprachen mehr oder weniger identisch wäre. Um Variation darzustellen, hätte man besser das Wort Buch wählen sollen.
11. November (Freitag)
Als ich die Frau an der Rezeption bitte, den Kaffee ohne Zucker zu servieren, sagt sie einfach: „Ta“. Einfache Form, Zustimmung auszudrücken. Muss ich mir merken.
Heute soll es zur Abwechslung mal kein Museum geben. Stattdessen steht ein Park auf dem Programm, der Parque Ibirapuera. Luz will mitkommen. Der Besuch steht unter keinem guten Stern. Der Weg dorthin ist beschwerlich, und als wir endlich ankommen, stellen wir fest, dass wir gar nicht in dem eigentlichen Park sind, sondern in einem Nebenpark, der hauptsächlich von Hundebesitzern benutzt wird. Immerhin: Am Eingang zum Park steht ein Denkmal für den „größten Rennfahrer aller Zeiten“, Ayrton Senna. Auf einem Sockel sein Fahrerhelm, und in der Mitte ein pechschwarzes Auto, das nicht mehr ganz heil ist. Aus der Fahrerkabine weht eine schwarze Fahne.
Dann kommen wir in den Park selbst. Hurra, ein Fahrradverleih! Und der ganze Park ist perfekt auf Fahrräder ausgerichtet, mit breiten Radwegen. Wir leihen zwei Räder aus. Nach 200 Metern ist Luz zweimal gestürzt. Wir schieben die Räder zurück und geben sie wieder ab.
Jetzt geht es zu Fuß weiter. Wir kommen in einen anderen Teil des Parks, an einen künstlich angelegten See, mit blühenden Bäumen drum herum. Auf einer Wiese steht eine Kopie des Laokoons. Den habe ich noch nie so gut sehen können, und man kann auch die Finger über die Muskeln und die Haare und die Schlange gleiten lassen. Wir fragen uns, ob es eine Schlange ist, die alle drei erwürgt oder ob es mehrere sind. Es ist tatsächlich nur eine. Laokoon selbst ergreift mit einer Hand ihr Maul und mit der anderen ihren Schwanz. Das kann man sich alles in Ruhe ansehen und auch einmal um die Skulptur herumgehen.
Dann fängt es an zu regnen, und zwar so, dass wir die Flucht antreten müssen. Was der Park sonst noch zu bieten hat, bleibt auf der Strecke.
Bei der Suche nach einem Bus sehen wir noch das Monumento às Bandeiras, das Denkmal an die multiethnischen Mitglieder der Expeditionscorps, die ab dem 17. Jahrhundert das Landesinnere nach Land und Bodenschätzen erkundeten. Das Monument zeigt einen ganzen Trupp, angeführt von zwei Männern mit Pferd. Dann folgen weitere Männer und eine Frau mit einem Baby auf dem Arm. Hinten folgt noch ein Kanu. Die Menschen sind fast unbekleidet und haben sehr unterschiedliche Physiognomien. Da sie zentral auf dem Kreisverkehr stehen, entsteht der Eindruck, sie bewegten sich im Straßenverlauf Richtung Norden.
Am Abend gehen wir ins Mixtura, ein peruanisches Restaurant. Zum ersten Mal sehe ich ein brasilianisches Lokal mit einer ansehnlichen Inneneinrichtung, richtig geschmackvoll. Die Wände sind dekoriert, alle mit Bezug auf Peru.
Luz empfiehlt mir noch ein Buch, das sie aus ihrer Studienzeit kennt, Linguistica Românica, von einem gewissen Rodolfo Ilari, von 1992. Auch ihre Ausgabe ist schon etwas in die Jahre gekommen. Ich sehe mir das Inhaltsverzeichnis an und lese ein, zwei Seiten: Wunderbar! Muss ich mir besorgen. Aber dafür werde ich wohl erst zu Hause wieder die Ruhe haben.
Das Essen ist gut, und der Pisco Sour ist hervorragend – bei der Gelegenheit erfahre ich, dass Pisco eine Stadt und der Pisco eine Art Trester ist, gemacht aus Trauben, die eben in Pisco angebaut werden.
Die Gerichte sind sehr gut zubereitet und werden schön serviert. Der Salat besteht aus unzähligen Ingredienzien, die alle in winzig kleinen Würfeln oder Stückchen serviert werden. Aber die Portionen sind so klein, dass ich später zu Hause noch ein paar Kekse nachlegen muss.
12. November (Samstag)
Mit Uber geht es zum Busbahnhof. Es ist schon viel Verkehr, und da wir im Stau stehen, habe ich mal die Gelegenheit, mir die Automarken anzusehen. Toyota, Hyundai und Chrysler sind am besten vertreten, bei den europäischen Marken hat Fiat die Nase vorn und bei den deutschen VW.
Am Busbahnhof herrscht echtes Gedränge, bei den Autos, die kaum einen Platz finden, kurz zu halten, und bei den Passagieren, die kaum ins Gebäude gelangen. Aber das ist alles nichts im Vergleich zu dem, was drinnen los ist. Ein Wahnsinn. Kaum ein Durchkommen, heilloses Durcheinander. Das sah dieser Tage bei dem Fahrkartenkauf ganz anders aus. Ich muss erst rauf und dann wieder runter. Alleine hier unten gibt es 50 Bahnsteige. Die darf man aber noch nicht betreten, bevor der Bus da ist, also drängt sich alles i der Halle.
Dann gibt es etwas Verwirrung, weil ein Bus einfährt, der Curitiba zum Ziel hat, aber das ist der verspätete von 9.00. Um auf Nummer Sicher zu gehen, frage ich eine Frau neben mir. Die hat auch Curitiba und auch Gleis 10, aber sie hat 9.30, ich habe 9.29. Es sind tatsächlich zwei verschiedene Busse. Was wollen nur alle die Leute in Curitiba?
Die Fahrt dauert etwas länger als veranschlagt, sieben Stunden, um 17 Uhr sind wir am Ziel. Die Fahrt führt durch ganz einsame, grüne Gegenden. Trotzdem sind hier viele Laster unterwegs und reihenweise Lastzüge, die Autos transportieren. Die Straße ist in einem erstaunlich guten Zustand, hat immer mindestens drei, manchmal vier Spuren. Gelegentlich hat der Bus zu kämpfen, denn es geht mächtig bergauf.
Die schweigsame Frau neben liest ein Buch, das ihr immer wieder aus der Hand fällt. Zuerst lese ich Evolucão dos Bichos, dann sehe ich den vollständigen Titel und den Namen des Autors: A Revolucão dos Bichos – George Orwell. Es ist Animal Farm.
In Curitiba kommt bald die klassische Skyline der brasilianischen Städte mit unzähligen Wolkenkratzern zum Vorschein. Curitiba, obwohl es bei uns kaum jemand kennt, hat 1,9 Millionen Einwohner. Es wäre bei uns wohl die drittgrößte Stadt.
Am Stadtrand passieren wir das Stadion Vila Olímpica. Scheint aber nichts mit den Olympischen Spielen zu tun zu haben.
Ein freundlicher Taxifahrer fährt mich zum Hotel, dem Cervantes, ganz zentral gelegen. Es ist mir fast peinlich, so wenig verstehe ich ihn. Immer wieder muss ich nachfragen, immer wieder scheitert die Kommunikation. Nur Oktoberfest verstehe ich, nachdem er erfahren hat, dass ich aus Deutschland komme.
Im Hotel komme ich dann wieder ins seelische Gleichgewicht, als die Verständigung mit dem Mann an der Rezeption (fast) reibungslos klappt und er mir sogar ein paar freundliche Worte über mein Portugiesisch sagt, als er mir das Zimmer zeigt. Das Zimmer ist sehr schön, kein Vergleich zu dem in Sao Paulo, aber wieder gibt es keinen Tisch und keinen Stuhl. Hier wäre wirklich Platz dafür.
Als ich später noch mal rausgehe, ist es schon dunkel. Die Sonne geht in diesen Tagen um halb sieben unter, aber auch schon um halb sechs auf. Das sind jetzt vier Stunden mehr Tageslicht als zu Hause.
Ich komme sofort einem Platz mit einem schönen, erleuchteten Gebäude, schwer einzuschätzen, wo es stilistisch steht, eine Mischung aus Neoklassik und Jugendstil vielleicht, dreistöckig, mit einem Turm, der das Gebäude überragt, in der Mitte, mit einer Uhr ganz oben. Die Fenster sind schön und haben unterschiedliche Fensterlaibungen in allen drei Geschossen. Das ist, wie ich aber erst am nächsten Tag erfahre, der Paço da Libertade, das ehemalige Rathaus, heute ein Kulturzentrum.,
Curitiba gilt als eine der fortschrittlichsten und wohlhabendsten Städte Brasiliens, und es wirkt irgendwie aufgeräumter, saubere als die anderen Städte. Dieser Eindruck bestätigt sich in den nächsten Tagen. Heute türmt sich zwar der Müll am Straßenrand, aber er wird auch schon abgeholt. Es kommt ein alter Leiterwagen, der Papier und Pappe einsammelt und dann ein ganz moderner Müllwagen, der sich um das kümmert, was nicht als Müll gilt: O lixo che não è lixo. Am nächsten Tag sehe ich dann auch die ersten Ampeln mit einem Druckknopf für Fußgänger.
Dann kommt noch eine kulturelle Erfahrung: Als ich ein Wasser kaufe, nennt der Mann an der Kasse den Preis und stellt dann noch eine Frage. Die verstehe ich auch nach mehrmaliger Wiederholung nicht, und er kann sich wohl nicht vorstellen, dass jemand so etwas nicht versteht und kann immer nur die Frage wiederholen, nicht erklären. Am Ende stellt sich heraus, dass es irgendetwas mit Finanzen zu tun hat, ob man seine Fiskalnummer nennen willen, was immer damit bewirkt werden mag.
13. November (Sonntag)
Da ich völlig orientierungslos bin, mache ich das, was der Reiseführer vorschlägt und nehme die Linha Turista. Ich überlege, gleich die erste Abfahrt zu nehmen, 8.30. Dann wird noch nicht so viel los sei. Abfahrt ist von der Rua 24 Horas ab. Als ich auf dem Weg dahin bin, überlege ich, was wohl der Grund für diesen Namen sein könnte.
An einer Häuserwand ein Graffiti mit rätselhaften Zeichen, die wie Schriftzeichen einer unbekannten Sprache aussehen, es aber wohl kaum sind. In dem hellen Licht mache ich einfach mal ein Photo, und das wird, trotz der hässlichen Häuserfassaden, irgendwie ganz besonders. Später stoße ich in Porto Alegre noch mal auf diese Zeichen und erkenne jetzt durch einen daneben angebrachten Ausspruch, dass es sich um ein Graffiti zur Abschaffung von Waffen handelt.
Meine Kalkulation erweist sich als falsch. Es ist schon einiges los, kaum noch ein Platz frei.
Es geht auch gleich los. Vor mir eine Gruppe von Brasilianern, die ohne Unterbrechung reden und herumwitzeln und nicht einmal aus dem Fenster sehen. Sie sind nur mit sich selbst beschäftigt. Und könnten genauso gut in einer Kneipe sitzen. Die Erklärungen interessieren sie auch nicht, und sie übertönen sie mit ihrem Reden so sehr, dass auch wir anderen nichts verstehen können. Am Botanischen Garten steige ich aus, um sie loszuwerden, aber im letzten Moment sehe ich, dass sie auch aussteigen. Im nächsten Bus telefoniert ein Brasilianer so laut, dass man auch nichts versteht, und im nächsten verständigen sich zwei über den ganzen Bus hinweg lautstark darüber, wer welches Photo gemacht hat. Danach gebe ich es auf und lasse mir einfach den Fahrtwind um die Ohren wehen.
Die Fahrt geht los über die Rua Westphalen und führt dann stadtauswärts. Es geht an dem Teatro Paiol vorbei, einem Rundbau, der nicht wie ein Theater aussieht. Eher wie das Mausoleum von Ravenna. Tatsächlich war es ursprünglich ein Lager für Schießpulver und Munition. Später wurde es dann in ein Theater umgewandelt.
Wir passieren das Memorial Arabe. Es hat die Form der Kaaba, ist aber langgestreckt und rot und hat oben einen Fries mit einer Inschrift mit Koranversen.
Eine der Stationen ist die Opera de Arame, die ‚Drahtoper‘. Kann man aber von der Haltestelle aus nicht sehen. Zu den weiteren Haltestellen gehören der Parque Tangua und der Parque Tingui. Alle vier bedeutenden Einwanderungsgruppen haben auch ein eigenes Denkmal und eine eigene Haltestelle: Memorial Ucraniano, Portal Italiano, Bosque Alemão und Memorial Polonés.
Die sonderbaren Bäume mit den behaarten Ästen sind hier oft zum Greifen nah. Ein Frisörsalon nennt sich Barbearia Hollywood, und die Carpintaria São Judas Tadeu erinnert daran, dass Judas Thaddäus (der Tradition nach) Schreiner war. Ein Lokal wirbt ausdrücklich für seine feijoada am Samstag. Also ist doch Samstag der klassische Tag dafür. So hatten es einige der Teilnehmer des Stadtrundgangs in Rio behauptet. Der Reiseführer hatte gesagt, es sei der Freitag.
Ein Amerikaner, der in den Bus einsteigt, trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift Italian Stallion.
Mein erster Ausstieg ist am Botanischen Garten. Am Eingang steht das Motto des Botanischen Gartens und wohl der Stadt insgesamt: Curta Curit!ba.
Der Hingucker, schon von weitem zu sehen, ist das Glashaus am Ende des Hügels, ein Treibhaus, das aber vorübergehend geschlossen ist. Daneben gibt es einen Laubengang mit Blumen aus allen vier Jahreszeiten, chronologisch angelegt. Zu Anfang jeder Jahreszeit steht eine klassische Figur, die Jahreszeit darstellend. Das hilft, ohne die hätte ich nicht sagen können, was was ist.
Praktischerweise ist der Bahnhof eine der Haltestellen, und ich nutze die Gelegenheit, die Fahrkarte für die Weiterfahrt zu kaufen. Das ist inzwischen Routine, die Fragen sind vorhersehbar, wohin, wann, welche Uhrzeit, einfache Fahrt oder mit Rückfahrt, welcher Sitzplatz, Personalausweis, bar oder Karte, Kredit oder Debit.. Ich weiß inzwischen auch, dass die Fahrkarten nicht bilhete, sondern passagem heißt. Geht alles glatt. Und die junge Frau hinter dem Schalter ist ausgenommen freundlich.
Gleich gegenüber ist der Mercado Municipal. Den sehe ich mir auch gleich an. Bin erst etwas verwirrt, weil ich in den äußeren Ring geraten bin, dort, wo sich nur Waren des täglichen Bedarfs befinden, und die werden in richtigen kleinen Läden verkauft. Im engeren Ring sind aber die typischen Marktstände mit Essenswaren. An einem Stand hängen getrocknete Blätter an einer Leine. Der Verkäufer bestätigt auf Anfrage meine Annahme: Tabak?- Ja. An einem anderen Stand erlaubt mir ein junger Mann, ein Photo von seinen in kleinen weißen Säckchen wunderbar präsentierten Hülsenfrüchten und Nüssen zu machen. Wir kommen ins Gespräch, und er fragt mich, ob ich Portugiese sei. Ich fühle mich sehr geschmeichelt.
Auf dem WC des Mercado Municipal wird man gebeten, die Waschbecken nicht zum Rasieren zu benutzen. Woanders stand schon einmal, man dürfe das WC nicht zu unzüchtigen Handlungen benutzen, und später kommt noch einmal Zähneputzen dazu.
Dann steige ich an dem vielbesuchten Bosque Alemão aus, ein in Erinnerung an die deutschen Einwanderer angelegtes Wäldchen. Hier hat man einen Weg angelegt, der an den Weg von Hänsel und Gretel durch den Wald erinnern soll und auch an einem Hexenhäuschen endet. Das hat allerdings wenig mit dem zu tun, was wir unter Hexenhäuschen verstehen, es ist eher ein Häuschen für den Verkauf von Souvenirs. Unterwegs werden an verschiedenen Stationen Auszüge aus Hänsel und Gretel präsentiert. Bei der Gelegenheit erfährt man, dass Hänsel und Gretel auf Portugiesisch Joao e Maria heißen.
Es gibt noch ein oder zwei Dinge, die an Deutschland erinnern, eine von frühen Einwandern gebaute und später hierher verfrachtete Kapelle, die jetzt für Musikaufführungen genutzt wird, das Oratorium Bach, ein Denkmal an die deutschen Auswanderer und die Fassade eines deutschen Hauses, die hier als den Durchblick auf das Gelände erlaubt. Am schönsten aber ein Aussichtpunkt mit hölzernen „Fenstern“.
Mein nächster Ausstieg ist am Museu Oscar Niemeyer. Hier erinnert einiges an Niteroi, die weiße Farbe, die Einbettung in die Landschaft, die geschwungenen Linien. Außen herum ist eine Parklandschaft angelegt. Von hier aus kann man in den Innenhof des Museums sehen, wo einige Skulpturen stehen, darunter eine, die mir wegen ihrer Einfachheit gefällt, ein Drahtgeflecht, weiß, das eine Schlange darstellt, die den Körper in die Höhe renkt und mit sich mit dem Ringelschwanz auf dem Boden abstützt.
Im Reiseführer und im Internet ist von einem „Glasauge“ die Rede, das in die Architektur des Museums eingebaut ist, aber ich kann es nicht finden. Ich sehe es erst bei der Weiterfahrt: Von der Seite sieht die gesamte Breite des Museums wie ein Glasauge aus, ein verblüffender Effekt, denn das erahnt man von dem Museum aus überhaupt nicht.
Der eigentliche Kern des Museums ist ein weißer Block, der auf Stützen ruht, zwischen denen man auf und ab gehen kann, mit der Decke so nahe über sich, dass man glaubt, sie berühren zu können. In dieser Fläche liegen mehrere braunrote Trichter aus Terrakotta, unregelmäßig auf die Fläche verteilt. Ich finde das erst ein bisschen albern, aber je länger ich hinsehe, umso besser gefällt mir die Sache. Die Trichter lockern die Fläche auf und erlauben sehr unterschiedliche Blicke.
Mein Ausstieg ist im historischen Zentrum. Zuerst stehe ich kurz vor der neugotischen Kirche auf dem Kirchplatz. Vor mir ein modernes Denkmal, einen Indianer darstellend, muskulös, langhaarig, mit etwas finsterem Blick. Er trägt nur einen Lendenschurz und hält eine Lanze in der Hand. Um den Hals trägt er eine Kette mit den Zähnen von erledigten Tieren. Zu seinen Füßen ein Tier, vermutlich ein Hund, könnte aber auch ein Schwein sein. In der anderen Hand hält er die Hälfte einer Frucht, an der anderen Hälfte macht sich der Hund zu schaffen. Frage mich, was für eine Frucht das sein kann und was es mit den zwei Hälften auf sich hat.
Von diesem ziemlich verlassenen Platz geht es dann über die Straße in das bunte Treiben auf der anderen Seite. Tolle Atmosphäre, hier ist echt was los. Eine Straße hinauf bis auf einen Platz ziehen sich Marktstände hin, daneben Straßencafés, und als dekorativer Hintergrund dienen die schönen Kolonialhäuser, darunter die vornehme Casa Hoffmann. Unten eine weiße, neogotische Kirche, oben eine blaue neobarocke, beide klein genug, um den Rahmen nicht zu sprengen.
Vor der Bar do Alemão steht man Schlange, um einen Platz zu bekommen. Gar nicht schlimm, auf diese Weise lande ich im 14 Bis. Voll, laut, dunkel, lauter junge Leute, Erinnerungen an die Studentenkneipen von damals. Ganz so dunkel dann doch nicht, denn durch die beiden großen Fenster zur Straße hin kommt doch Licht herein.
Sehr freundliche Kellnerin, es gibt Bier der Marke Kremer, und ich kann eine Gruppe von drei jungen Männern beobachten, die sich selbst mit Bier bedienen, und zwar an einem sich nach unten verjüngenden Glaskrug mit Zapfhahn, der vor ihnen auf dem Tisch steht. Von der Kellnerin erfahre ich, dass der Krug dreieinhalb Liter fasst. Ich staune nicht schlecht, als die drei dann noch einen zweiten bestellen. Aber auch die Mädels halten gut mit. Am Nebentisch werden zwei von ihnen auch mit so einem Krug fertig.
Auf dem Nachhauseweg sehe ich mir ein paar der Wandmalereien an, die man hier überall sieht, wohl von lokalen Künstlern ausgeführt. Auf einem weißen Hintergrund sieht man farbenfrohe Motive, alte und neue Szenen aus dem Leben Curitibas darstellend, vermutlich, von einer Frau, die in zwei gut gefüllten Taschen ihre Waren zu Markt trägt bis zu den futuristischen, röhrenartigen Bushaltestellen, die man hier überall sieht.
14. November (Montag)
Ausgerechnet heute, am Tag der Fahrt mit dem Serra Verde Express, regnet es. In Strömen. Mit Regenjacke und Schirm bewaffnet gehe ich durch die Pfützen auf den Bürgersteigen zum Bahnhof. Der nette Mann an der Rezeption hat mir den Weg so gut beschrieben, dass ich ihn ohne Umstände finde.
Ich bin so früh da, dass ich kurz vor dem Bahnhof noch in eine Bar gehen kann. Hinter der Theke eine sehr freundliche Frau. Es ist noch keine Kundschaft da. Ich bekomme Kaffee, Kuchen und zwei Teigtaschen für unterwegs für gerade mal 17 R$.
Am Bahnhof, der hier Rodoferroviária heißt, weil er Zug- und Busbahnhof gleichzeitig ist, ist schon viel los. Vor dem Gebäude steht ein Mann, der als Touristenführer ausgewiesen ist. Ich frage ihn, wohin ich gehen muss. Er antwortet ausführlich, erklärt mir noch etwas zu dem Zug und fragt dann, woher ich komme. „Alemanha. – „Deutschland?“ Er erklärt, er sei Deutsch-Brasilianer mit niederländischen Wurzeln und russischen Vorfahren. Er ist nie in Deutschland gewesen, spricht aber Deutsch wie eine Muttersprache. Oder als Muttersprache. Zu Hause sprächen die aber Plattdeutsch. Zur Demonstration nennt er die Zahlwörter. Hört sich doch wie Holländisch an, oder?
Diese Begegnung tröstet mich schon über das schlechte Wetter hinweg. Er meint ohnehin, dass es noch besser würde.
Ich frage, ob ich mit meinem Photo von der Buchung reinkäme. Ja, das sei kein Problem, sagt eine freundliche Frau am Schalter. Tatsächlich geht es nachher ohne Schwierigkeiten, es gibt diesmal sogar keine Ausweiskontrolle.
In der Bahnhofshalle sind an der Wand ein paar Zeichnungen angebracht mit Informationen zum Serra Verde Express, einem der ganz wenigen Züge Brasiliens, heute eine reine Freizeitangelegenheit. Die Fahrt geht nicht rauf, sondern runter. Curitiba liegt auf 934 Meter, Morretes, das Ziel, auf 10 Meter. Die Strecke ist 70 km lang und für die Fahrt braucht man dreieinhalb Stunden.
Der Zug hat 29 Waggons, mein Platz ist in Waggon 1. Die Waggons sind aufgehübschte ältere Eisenbahnwaggons mit Phototapete unter der Decke und Ledersesseln.
Mit einem langen Pfiff geht die Fahrt los. Im Schritttempo. Später kommen wir an einem Stein vorbei, auf dem die Höchstgeschwindigkeit genannt wird: 25 km/h.
Die Wiesen stehen unter Wasser, und die nassen Blätter der Bäume glitzern in der Sonne, die jetzt tatsächlich rauskommt.
Es gibt einen Reiseführer, der uns, mit Mikrophon ausgestattet, mit Informationen versorgt. Verstehen tue ich nur einen Bruchteil. Am besten versteht man die Regeln: nicht aus dem Fenster lehnen, Kinder am Gang, keinen Abfall, auch keinen organischen, aus dem Fenster werfen, nicht den Waggon verlassen und in einen anderen gehen, kein Alkohol. Das stand schon bei der Buchung auf dem Voucher, dass Alkohol nicht erlaubt ist. Sie wollen wohl vermeiden, dass die Fahrt zu einer Art brasilianische n Kegeltour verkommt. Es wird aber später Bier an Bord verkauft.
Dass der Motor zwischendurch immer wieder aufstöhne, habe seinen Grund: Es ist ein Hybridmotor mit Diesel und Elektrizität.
Bevor es hier eine Eisenbahnlinie gab, gab es hier einen Handelspfad. Der führte nach Antonina, und das lag wiederum in direkter Linie auf dem Weg nach Asunción, der damals am weitesten entwickelten Stadt Südamerikas. Der Bau der Eisenbahn zog sich dann im 19. Jahrhundert in die Länge, einmal weil es technische Probleme gab, einmal weil es finanzielle Probleme gab, und dann, weil einer der Initiatoren und der wichtigste Ingenieur der Eisenbahnlinie, ein gewisser André Rebouças, plötzlich verstarb. Der muss eine wichtige Figur gewesen sein, einer, der auf wissenschaftlichen Fortschritt setzte und sich für die Abschaffung der Sklaverei einsetzte. Ich bin auf den Namen hier schon ein paarmal getroffen, ohne zu wissen, worum es sich handelte.
Am Ende nahm sich ein französisch-belgisches Konsortium der Sache an und vollendete die Eisenbahnlinie, auf der es ausschließlich Güterverkehr gab, meist, wenn ich das richtig verstanden habe, zum Transport von Mate.
Die erste Stunde der Fahrt ist nicht weiter erwähnenswert. Dann geht es durch einen Tunnel, und die Szenerie verändert sich schlagartig. Natur pur. Zu beiden Seiten reichen die Bäume so nah an die Gleise ran, dass die Blätter mit Händen zu greifen sind. Und dann öffnet sich zwischendurch immer mal der Blick in die Ferne. Man sieht einen Stausee, eine Schlucht, eine Brücke, einen Wasserfall. Wenn man sie denn sieht. Aber das ist nicht so einfach. Alles spielt sich auf der linken Seite ab, und ich sitze ganz rechts. Nach einiger Zeit gebe ich es auf, mich in das Getümmel auf der linken Seite zu stürzen und mich zwischen die anderen zu drängen, um ein Photo zu machen. So sehe ich meist nur die Rücken der anderen, die im Gang stehen und ihre Handy bereithalten, um praktisch auf das Kommando des Reiseleiters den kurzen Moment zu „genießen“, wo etwas zum Vorschein kommt.
Ich füge mich in mein Schicksal, freue mich, dass es aufgehört hat, zu regnen und sehe rechts aus dem Fenster. Auch hier gibt es paar schöne Szenen, vor allem, wenn der Ipiranga in den Blick kommt, mit seinem ungeraden Verlauf, seinen Strömungen und seinem klaren Wasser.
Morretes, unser Ziel, ist ein hübscher Ort. Hier ist es viel wärmer als in Curitiba, es fühlt sich fast tropisch an.
Erst einmal gilt es, eine Hürde zu überwinden. Die Passagiere, immerhin aus 29 vollen Waggons, werden von verschiedenen Reiseunternehmen in Empfang genommen. Von mir will keiner was wissen. Als ich das Photo vorzeige von meiner Reservierung, heißt es, ich hätte nur die Hinfahrt nach Morretes gebucht, sonst nichts. Sieht wirklich so aus, aber ich verweise auf den Preis: 360 R$. Das ist nicht der Preis für eine einfache Fahrt. Glücklicherweise kennen sich die Reiseleiter untereinander, und einer schickt mich zur richtigen Stelle. Der Fahrer weiß sofort, wer ich bin.
Wir werden zu einem Lokal gefahren, das gleich hinter der Brücke liegt, die über den Fluss mit dem unaussprechlichen Namen Nhundiaquara führt. Du auch nach der Brücke benannt ist: Ponte Velha.
Im Lokal werden wir an einen langen Tisch geführt. Eine Kellnerin kommt und erklärt das Procedere. Ich verstehe kein Wort. Also wende ich mich an meinen Nachbarn. Der hilft sehr bereitwillig aus. Sitzen bleiben, es wird alles serviert, man kann sich nach Belieben bedienen, nur die Getränke müssten bezahlt werden.
Er erklärt mir auch, was es gibt. Neben Vorspeisen und Fisch gibt es barreado, die lokale Spezialität, einen geschmorten Eintopf aus Rindfleisch und Zwiebeln. Er selbst, sagt er, esse ihn am liebsten mit den reingeschnittenen Bananenscheiben. Das Gericht verdankt seinen Namen dem Tontopf, in dem es serviert wird (und früher wohl auch gekocht wurde. Der Chef kommt und demonstriert uns, wie es geht. Es füllt einen guten Suppenlöffel des ziemlich flüssigen Gerichts auf den Teller, fügt Maniokmehl dazu und beginnt, mit einer Gabel das Ganze zu verrühren, und zwar kräftig. Dann nimmt er den Teller, hebt ihn in die Höhe, dreht ihn um und hält ihn über den Kopf eines Jungen, der vor ihm sitzt. Und es passiert – nichts. Die Masse bleibt fest am Teller kleben. Eine Runde Beifall.
Unter den Vorspeisen befinden sich frittierte Maniokstangen, wie größere Pommes frites aussehend. In der Mitte des Tisches steht ein Teller mit einer weißlichen Masse, die man dazu isst, mit kleinen Stückchen von grünen und roten Kräutern dazwischen. Ich frage, was das sei. Mayonnaise. Hätte ich nicht gedacht. Sieht nicht aus wie Mayonnaise und schmeckt auch nicht wie Mayonnaise.
Während des Essens komme ich mit dem Mann an meiner Seite ins Gespräch. Er ist mit seiner Frau und seinen beiden Kindern hier. Wenn ich aus Deutschland sei, dann könne ich doch bestimmt auch Englisch. Seine Frau und seine Tochter könnten auch Englisch. Als ich sie aber auf Englisch anspreche, bleiben sie beim Portugiesischen. Dabei trägt die Tochter ein T-Shirt mit einer Aufschrift, die gute Englischkenntnisse verlangt: They don’t know that we know they know we know.
Der Mann fragt nach meiner Reise, der Reiseroute, und ob ich alleine unterwegs sei und wo und warum ich Portugiesisch gelernt habe. Immer wundert er sich, wie gut mein Portugiesisch sei. Davon lässt er sich auch nicht abbringen, als ich ihn daran erinnere, dass ich nichts, aber auch nichts von dem verstanden habe, was die Kellnerin gesagt hat. Am Schluss sagt er mir noch hinter vorgehaltener Hand, mit dem Wort rapariga (im Flüsterton) müsse man in Brasilien vorsichtig sein. In Portugal ganz neutral, hier sei es aber ein Wort für ein ‚leichtes Mädchen‘.
Als wir aufstehen und ich mein Bier bezahlen will, stellt sich heraus, dass er das bereits getan hat.
Anschließend kann man noch ein bisschen für sich durch den Ort bummeln. Der ist wirklich idyllisch gelegen, mit dem Fluss und zwei alten Brücken und einem schönen Marktplatz mit Ständen überall. Trotz des Besucherandrangs ist es ganz ruhig und unaufgeregt. An jeder Ecke gibt es eine Eisdiele. Ich nehme auch ein Eis und bereue es sofort wieder: klebrige Hände, klebriger Mund.
Dann geht es wieder in den Bus, den Kleintransporter. Als wir alle sitzen, werden die Namen aufgerufen, um zu sehen, ob alle da sind. Ich bin als letzter dran und habe bis dahin Gelegenheit, zu hören, was die anderen sagen, wenn ihr Name genannt wird: Eu. – Ich.
Dann nach Antonina, ans Meer. Die Erklärungen auf der Fahrt dorthin verstehe ich schon wegen des krächzenden Mikrophons nicht. In Antonina essen die Brasilianer ein Eis am Stiel, und wir blicken einen Moment aufs Meer. Ein unnötiger Halt, aber er macht sich auf der Werbebroschüre vermutlich gut.
Am Abend gehe ich in Curitiba noch ein Bier trinken. Diesmal gibt es Eisenbahn. Auf dem Etikett steht, dass es nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut wird.
15. November (Dienstag)
Heute ist Feiertag, Jahrestag der Ausrufung der Republik. Wie oft bin ich jetzt schon auf den 15. November gestoßen, in Museen, bei Führungen, bei der Lektüre. Und jede Stadt, in der ich bisher war, hatte eine Rua XV Novembro oder eine Praça XV Novembro. Oder beides.
Der offizielle Name von Brasilien, ergibt die Recherche, ist nicht Estados Unidos do Brasil, wie ich dachte, sondern República Federativa do Brasil, also wie Deutschland, nicht wie Mexico.
Schon früh sitze ich abfahrbereit an der Rezeption, in Erwartung des Taxis. Auf einem Bildschirm steht: Não aceitamos – Don‘t accept American Express. Das Auslassen des Pronomens im Englischen in Analogie zum Portugiesischen führt in die Irre.
Strahlender Sonnenschein und 24°, und es ist gerade mal 8 Uhr.
Der Taxifahrer fragt mich auf dem Weg zum Bahnhof, ob ich zur Rodoferroviária Estadual oder zur Rodoferroviária Interestadual wolle. Keine Ahnung. Ich will nach Florianópolis. Dann ist es Interestadual. Florianópolis liegt in einem anderen Bundesstaat, in Santa Catarina.
Hier geht es ganz gemütlich zu, ganz anders als in São Paulo. Diesmal kommt keine Ansage des Busfahrers, und wir fahren die ganze Strecke durch, ohne Stopp.
Florianópolis, Floripa im lokalen Jargon, liegt zum größeren Teil auf einer Insel, zum kleineren Teil auf dem Festland, das mit einer eleganten Brücke mit dem Festland verbunden ist.
Florianópolis ist bekannt für seine Strände. Sogar Argentinier und Uruguayer reisen im Sommer hier in Scharen an.
Die Fahrt verläuft unaufgeregt. Wieder ist die Vegetation üppig. Von Waldschäden oder ähnlichen Sachen ist bisher nichts zu sehen gewesen. Ob es daran liegt, dass die meisten Bäume Laubbäume sind?
Nach vier Stunden kommt das grüne Meer in Sicht. Und dann die Brücke. Kurz danach kommt der Busbahnhof. Der ist geradezu ausgestorben.
Der Busbahnhof liegt auf dem Festland, und meine Unterkunft am äußersten entgegengesetzten Ende der Insel. Die Verhandlungen mit den Taxifahrern erweisen sich als schwer. Jeder will erst mal wissen, zu welchem Strand ich denn wolle, aber ich habe nur den Namen der (privaten) Anlage und die Adresse. Als sie dann feststellen, wo das ist, werden saftige Preise gefordert. Ein offizieller Touristenführer, der hier steht, mischt sich ein und vermittelt.
Es ist tatsächlich ein ganzes Stück zu fahren, durch nicht weiter bemerkenswerte Gegend. Dass man über die Brücke fährt, merkt man gar nicht. Wie das sein kann, kann ich mir nicht erklären.
Als wir ankommen, muss der Fahrer immer wieder nachfragen, obwohl er eine Handy in der Hand hält mit der Wegbeschreibung. Mehrmals biegen wir in einer Straße ein, die sich als Sackgasse erweist. Und dann landen wir endlich vor dem richtigen Haus. Da waren wir vorher schon mal gewesen ´, haben aber die Hausnummer übersehen.
Das Tor öffnet sich und ich werde in Empfang genommen von Leonardo, meinem Gastgeber. Der wirkt irgendwie cool, gelassen. Auf seinem Profilbild sieht man ihn beim Wellenreiten.
Er kennt Deutschland. Straubing. Dort hat er einen Freund, einen brasilianischen Freund, der bei einer deutschen Firma Karriere gemacht hat. Autozulieferer. An den Namen der Firma kann er sich nicht mehr erinnern.
Was sich hinter dem Tor auftut, ist vom Allerfeinsten. Ein zweistöckiges Backsteinhaus mit roten Ziegeln und einer Holztreppe, die nach oben führt, vor uns. Das ist seine Wohnung. Daneben ein Blockhaus mit vier Eingängen für vier Apartments. Es muss aber noch ein weiteres Blockhaus hinter dem Wohnhaus geben, denn ich habe die Nr. 9. Auf dem Gelände stehen Palmen und weitere Bäume, mit schönen, dicken Blättern. Dazwischen Rasen und gepflasterte Wege.
Drinnen ist es genauso schön. Tolle Einrichtung, richtig geschmackvoll, mit viel Holz. Weiße Wände, und nur ein einziges Bild, ein gerahmtes Photo von Meer und Wolken. Wenn ich selbst eine Ferienwohnung haben wollte, würde ich die genauso anlegen.
Es gibt einen stabilen Schreibtisch, fest in der Wand verankert, genauso wie das Bett und die Betttische und Regale für die Kleidung. Zum ersten Mal habe ich die Gelegenheit, den Koffer auszupacken, nach Wochen!
Ich frage nach einer Reinigung, aber es gibt einen Raum mit Waschmaschine zur gemeinsamen Nutzung, und im Apartment selbst, leicht zu übersehen, eine Tür, die zu einem schmalen Gang führt, wo man die Wäsche aufhängen kann. An alles gedacht!
Also kann ich mich sofort auf Erkundung machen. An einer Straßenecke ist ein kleiner Markt, in dem ich Tee, Zucker, Seife, Plätzchen, Waschmittel und Insektenspray bekomme. Und die Frau hinter der Theke mache ich glücklich, indem ich ihr mein gesammeltes Kleingeld anbiete. Sie zählt alles ab und rundet dann sogar noch auf!
Dann geht es zum Strand: sauberes, blaues Meer, das Wasser glitzert in der Sonne, Strand mit ganz weichem Sand, Blick auf die Berge in der Umgebung. Der Strand ist gut besetzt, aber es gibt kein Gedränge. Es ist genug Platz da. Als ich dann am Strand entlang immer weiter nach links gehe, wird es voller. Hier sind die Restaurants, und es gibt Verleih von Sonnenschirmen und Liegestühlen. Hier ist es etwas enger, aber das hat auch wohl mit dem Feiertag zu tun.
Fliegende Händler bieten verschiedene Getränke an, darunter Caldo de Cana. Der Name hat mich immer schon verwirrt, denn caldo hört sich nach Brühe, Boullion an, und die will man bei diesem Wetter am Strand wohl eher nicht haben. Sieht aber so aus, dass die Kombination einfach ‚Zuckerrohrsaft‘ bedeutet.
Der Rückweg führt über eine Straße mit einer Reihe von Wandmalereien auf der einen Seite. Auf dem Weg spricht mich eine junge Frau an. Ob ich ihr etwas helfen könne. Etwas ja, aber viel wird es nicht sein. Sie stimmt lächelnd zu. Ob ich Gringo sei, will sie wissen. Kommt drauf an, was man darunter versteht. Nein, Amerikaner nicht, und Englisch ist auch nicht meine Muttersprache: „Alemâo?“ Bingo. Sie nimmt das Geld, überlegt einen Moment und sagt: „Danke schön!“
Ich gehe noch zu einem anderen Minimarkt. Will noch Bier kaufen. Und nehme gleich noch Apfelsinen und zwei gefüllte Teigtaschen mit. Noch warm.
Als ich zu Hause ankomme und alles auspacke, merke ich, dass die Teigtaschen fehlen. Wo sind sie geblieben? Habe ich sie irgendwo abgestellt, als ich ein Photo machen wollte? Was nun? Bier mit Schokoplätzchen? Ich entscheide mich, noch mal zurückzugehen und lege mir vorher den Satz zurecht, mit dem ich nach den Teigtaschen frage. Als ich in das Geschäft komme, steht hinter der Theke ein anderer Mann, der weiß nicht Bescheid. Aber dann kommt der Chef. Ach, da sind Sie ja, nein, nicht Sie haben die Teigtaschen vergessen, ich habe sie vergessen. Ich bin noch hinter Ihnen hergelaufen, aber die waren schon weg. Waren Sie mit dem Auto da?
16. November (Mittwoch)
Am Morgen gehe ich gleich zum Strand. Es ist noch sehr einsam. Das Wasser ist kalt, ich gehe bis zu den Knien rein, dann wird es echt angenehm. Dann geht es eine ganze Strecke den Strand entlang. Ich merke sofort, wie das meinen geschundenen Füßen guttut.
Am Mittag gehe ich noch mal zum Strand. An einem Haus ein Schild, das Anschauungsunterricht für Portugiesisch-Lerner ist: Aluga-se/Se alquila. Da hat sich jemand nicht richtig entscheiden können, hat sich sprachlich zwischen zwei Stühle gesetzt, in gewisser Weise zwischen den portugiesischen und den brasilianischen.
Auf dem Weg zum Strand sehe ich mir die Wandmalereien an. Da ist alles vertreten, von einem unter der Dornenkrone schmachtenden Christus über abstrakte Körper bis zu einem militanten Aufruf zu Achtung von Transvestiten und Transsexualen und der Erwähnung einer ermordeten Frau, Isabelle Brunas, und weiteren Opfern: Vivas nos queremos.
Am Eingang zum Strand steht die meist übersehene Figur eines Fischers, aus leicht zerbröckelndem Stein. Der Fischer zieht mit ganzer Kraft ein Netz in die Höhe. Daneben ein Gedicht auf den Fischer, „O Pescador“, das ich später trotz Nennung des Namens des Autors im Internet nicht finden kann. Schön geschrieben, mit einem rhythmisch, ohne Reim, spricht von Regen und Sonne und Wind, von mysteriösen Nächten und der Ehrfurcht vor der Weite des Meeres.
Danach kommt ein Schild, das den offiziellen Namen des Strands nennt: Praia de Campeche.
Am Strand trinke ich in einer Bar einen Caipirinha. Es ist nicht ganz klar, wie der Bestellvorgang abläuft, aber irgendwie klappt es. Schmeckt köstlich. Eine echte Entdeckung der Brasilienreise. Steht nur noch hinter dem Pisco Sour zurück.
Am Strand sehe ich eine junge Frau, in einem Mini-Tanga, der eigentlich alles offen lässt, was bedeckt werden sollte. Als Ausgleich für den fehlenden Stoff hat sie überall Tätowierungen, auch an den Stellen, die ein normaler Bikini verdecken würde. Man sollte es nicht tun, aber ich kann nicht umhin und mache heimlich ein Photo von ihr – von hinten.
Ich gehe noch einmal in den Minimarkt mit den verlorenen Teigtaschen. Ein anderer Mann an der Kasse. Als ich bezahle, sagt er: „Gracias.“ Warum er meint, dass ich Spanier sei, will ich wissen: „Pelo sotaque“. Wegen des Akzents. Ich sei aber kein Spanier, sage ich. Was denn dann? Er soll raten: „Uruguaio?“
Am Abend gehe ich noch mal an den Strand. Auch jetzt sind noch Leute hier, ein Liebespaar, Fußball spielende Jungen, eine Gruppe, die auch jetzt noch unter einem Sonnenschirm sitzt.
Die Lokale am Strand schließen abends, dafür öffnen die im Ort. Das Zeca, von Leonardo empfohlen, ist immer voll. Irgendwann gebe ich es auf.
Der Himmel ist viel dunkler als bei uns, fast schwarz, aber die Sterne sieht man trotzdem nicht deutlicher. Es entstehen ein paar Photos vom Meer, ungewollt in Schwarz-Weiß, die nachher fast unwirklich aussehen. Passen gut zu verschiedenen Wolkenbildern, die ich gestern und heute gemacht habe.
17. November (Donnerstag)
Schon am frühen Morgen bin ich am Strand. Ich bin nicht der einzige, aber der einzige im Wasser. Das Wasser ist ein bisschen kalt, aber nur am Anfang. Schwimmen kann man im eigentlichen Sinne nicht, dazu sind die Wellen zu stark, aber man kann sich in die Wellen stürzen.
Danach gehe ich am Strand entlang, in die andere Richtung. Dort tut sich eine Dünenlandschaft auf. Die Dünen sind meist bewachsen, mit Gras oder Sträuchern, und wirken stabil.
Vor einer Düne eine Frau, die mit großer Andacht Yoga treibt. Erst sehe ich sie stehen, danach sitzen, in Gebetshaltung.
Dann tauchen auf einmal schwarze Gestalten im Wasser auf, je länger ich hingucke, umso mehr entdecke ich, wohl an die 50, alle im Neoprenanzug. Surfer. Das ist hier wohl die beste Stelle zum Surfen. Sie müssen mit viel Anstrengung das Surfbrett in die andere Richtung schieben oder darauf paddeln, um dann ein bisschen auf den Wellen reiten zu können. Sehr geschickt sehen sie nicht aus. Auf dem Rückweg sehe ich dann die Erklärung: Escola de Surf. Wo ist wohl der Lehrer?
Dann sitzt plötzlich ein Geier vor mir auf dem Strand, nur ein paar Schritte entfernt. Dann fliegt er auf und kreist mehrmals ganz dicht über meinem Kopf hinweg. Sein Gefieder ist oben schwarz, unten schwarz-weiß.
Im Laufe des Tages kommt zweimal ein Techniker, um nach der Klimaanlage zu sehen. Die funktioniert in meinem Apartment nicht. Leonardo hat mir sogar angeboten, das Apartment zu wechseln, aber ich habe dankend abgelehnt, Brauche ich sowieso nicht. Er ist immer sehr höflich und vorsichtig, wenn er herein kommt und bleibt auch beim Portugiesischen, obwohl er gut Englisch spricht.
Am Mittag mache ich einen kleinen Spaziergang über die gewohnten Wege im Ort hinaus. Es gibt eine große Ausfallstraße mit modernen Geschäften, einem Frisörsalon, einem Blumenladen, einem Kosmetikgeschäft und einem großen Supermarkt sowie vielen Lokalen. So etwas wie ein Ortskern ist aber nicht zu erkennen.
An einer Straßenecke die Igreja Baptista. Wenn schon evangelisch, dann freikirchlich, ist das Motto in Brasilien. In Morretes habe ich eine Igreja Metodista gesehen.
Hier steht ein wunderbar blühender ipê, lilafarben, so wie im Parque Ipiranga in São Paulo. Später sehe ich an einer Außenmauer ein paar vereinzelte Blüten, sehr schön, aber leicht zu übersehen.
Auf einer Wiese, die als militärisches Sperrgebiet ausgewiesen ist, liegen zwei Kühe, weiß. Sie sehen eigentlich wohlernährt aus, aber ihre Rippen kann man sehen.
In einer kleineren, angenehmeren Straße sehe ich an einem ganz kleinen Wohnhaus, einstöckig, gelbe Pfeile, auf denen Speisen stehen. Das ist ein Lokal!
Etwas weiter hat jemand seine Hausnummer auf einem Surfbrett angebracht, das an der Außenmauer hängt. Daneben am Eingang eine wunderbar einfach gemachte Figur, aus aufeinanderstapelten Steinen bestehend, ein Männlein darstellend, ein bisschen wie ein Schneemann aus Steinen.
Vereinzelt trifft man immer wieder auf streunende Hunde, die meisten von ihnen verletzt. Sie hinken oder ziehen ein Bein nach. Sie sehen unschuldig aus und traurig.
Auf einem Schild sehe ich, dass jemand einen Tausch anbietet, aber ich muss erst im Wörterbuch nachsehen, was das ist. Es werden Pflanzen gegen Dünger getauscht: Troco adubo por plantas.
Eins der Lokale im Ort heißt Boteco Tens Tempo, hat eine schöne Fassade mit Kacheln und dem portugiesischen Hahn. Habe irgendwo gelesen, dass es hier in der Gegend viele Einwanderer von den Azoren gegeben hat. Könnte damit was zu tun haben. Dafür spricht auch der in Brasilien ungewöhnliche Gebrauch von tens, der 2 . Person Singular. Die Bedeutung ist also wohl ‚Du hast Zeit‘, und boteco ist einfach brasilianisch für ‚Kneipe‘.
Ich gehe zum Strand runter. Auf dem Weg dahin sehe ich, wie der Müll eingesammelt wird. Er wird in Beuteln in eisernen Körben gesammelt, die an der Mauer angebracht sind.
An einem Imbissstand am Strand bestelle ich açai. Das gibt es in einem Becher, man kann sich zwei Zutaten dazu wählen. Ich nehme Eis und Banane. Schmeckt hervorragend, viel besser als das in Rio. Man muss lange warten, bis es nicht mehr so kalt ist, dann entwickelt es erst seinen Geschmack. Noch besser ist vermutlich, wenn man kein Eis dazu nimmt, denn das gefrorene açai ist schon so etwas wie Eis.
An einem Strand werden sehr schöne, bunte Tücher angeboten, cangas, Strandtücher.
Der Sand am Strand ist jetzt so heiß, dass man sich die Füße verbrennt. Besser ist es weiter unten, wo das Wasser hinkommt.
In einer Wasserlache sitzt ein kleines Kind und wühlt im Sand. Dann steht es aufgeregt auf und läuft zur Mama. Es hat eine Muschel gefunden.
Hand in Hand ein lesbisches Ehepaar, bei dem die Rollenverteilung klar zu sein scheint. Dieser Tage habe ich im Bus ein schwules Paar gesehen, ganz junge Männer, die sich ständig verliebt ansahen. Die glichen sich wie Zwillinge.
Ich gehe in das Lokal mit den gelben Hinweisschildern, das wie ein Wohnhaus aussieht. Man sitzt im Vorgarten. Die Wirtin gegrüßt mich freundlich und stellt sich gleich mit Namen vor: Ana. Klingt wie Ahne. Es gibt nur zwei Gerichte, und ich bekomme das, was ich nicht bestellt habe. Ist egal. Was ich bekomme, ist so etwas wie vegetarische Frikadellen, Falafel. Dazu der obligatorische Reis und die Bohnen. Und es gibt ein neues Bier: Ceva Mina. Schmeckt wie Essig. Neben den üblichen Ingredienzien wird vegetarisch-feministisch orientiert.
Macht nichts, für einen ereignislosen Tag ist eigentlich allerhand passiert.
Und immerhin hat sich die Liste der probierten einheimischen Biere verlängert: Antarctica, Brahma, Original, Therezópolis, Eisenbahn, Kremer, Ceva de Mina.
18. November (Freitag)
Wieder bin ich ganz früh am Strand. Als ich ins Wasser gehe, stolziert neben mir, ganz ungerührt von meiner Präsenz, ein Vogel Richtung Wasser: schwarzer Schnabel, weißes Gefieder, schwarze Beine, gelb Füße. Keine schlechte Farbkombination.
Erstaunlich, wie viel Volks auch um diese Zeit schon unterwegs ist. Mehreren Hundert begegne ich wohl auf meinem Spaziergang: Jogger, Sonnenbadende, Hundebesitzer, Spaziergänger, ein Tierfilmer unter einem Sonnenschirm, eine junge Mutter, die ihr Baby vor sich an der Brust trägt, ein Schmetterlingsfänger. Aber alles verteilt sich auf dem langen Strand so sehr, dass alle wie isoliert wirken. Als ich später zurückkehre, kommen mir ganze Heerscharen entgegen. Ist das schon das beginnende Wochenende?
Jetzt bemerke ich, dass auf den Dünen auch Kakteen wachsen. Sie sind eher klein und sehen etwas verkrüppelt aus.
Jetzt „entdecke“ ich auch die Insel, von der in einem Telefongespräch mit der Heimat die Rede war, die Insel vor der Insel, hügelig, bewaldet, unbewohnt. Ich habe sie direkt vor meiner Nase. Man hat also Land zu allen vier Seiten. Hinter mir liegt das Festland der Insel, sozusagen, zu beiden Seiten die Ausläufer der Bucht auf der einen Seite bewohnt, auf der anderen unbewohnt. Ob das schon Florianópolis ist, dessen Häuser man da in gar nicht so großer Entfernung sieht?
Auf einige Dinge muss man erst von außen gestoßen werden. Dazu gehört auch die erhöht auf Pfosten stehende Wachstation des Lebensrettungsdienstes, an der ich schon mehrmals vorbeigekommen bin. Oben stehen immer zwei Mann und beobachten die Szenerie aufmerksam.
Die weißen Wolken stehen völlig bewegungslos am blauen Himmel, in dicken Wattebüschen. Sehen wie aufgemalt aus.
Zu den Dingen, auf die ich auch erst von außen gestoßen werde, gehört auch das Relief von Brasilien. Brasilien ist gar nicht so gebirgig, wie ich jetzt meinte, ich bin nur einfach in dem gebirgigsten Teil Brasiliens unterwegs.
Es gibt reichlich technische Hürden, die nicht so leicht zu bewältigen sind. Das Handy hat angefangen, Photos in einem anderen Format zu speichern, von Airbnb kommt eine Nachricht, die Zahlung sei nicht eingegangen und die Buchung sei storniert worden, bei der Buchung der Busfahrten wird immer wieder nach der CGF gefragt, eine Nummer, die ich nicht habe, oder die Telefonnummer wird nicht akzeptiert, obwohl ich die deutsche Vorwahl gewählt habe. Da steht man wie der Ochs vor dem Berg.
Am Mittag geht es wieder zum Strand. Der Name der Straße, auf der wir untergebracht sind, Rua das Corticeiras, spielt an auf die Korkeichen, mit denen ich in Portugal so oft in Berührung gekommen bin.
Am Strand gibt es einen Andenkenladen, der dreisprachig für sich wirbt: Souvenirs – Lembrancinhos – Recuerdos. Als ich dort etwas kaufe, werde ich wieder an das Wort embalar erinnert, ‚einpacken‘.
Im Devasso, einem der Lokale mit einer erhöhten Terrasse mit Blick auf das Meer, ist heute Platz, obwohl es am Strand ziemlich voll ist. Ich setze mich und bestelle einen Caipirinha. Der hat es in sich.
Ein Brasilianer mit etwas unorthodoxem Verhalten – er war mir vorher schon aufgefallen – fragt mich, als er an mir vorbeikommt, ob ich Deutscher sei. Er sei auch Deutscher, er heiße Fritz, er sei Abkömmling von Juden, die nach Brasilien ausgewandert seien. Es gibt bestimmt eine angemessene Art, darauf zu reagieren, aber mir fällt keine ein.
In der Speisekarte des Devasso steht eine Erklärung dafür, warum es hier so viele Anspielungen auf Saint Exupéry gibt, wie eine Straße, die O Pequeno Príncipe heißt. Saint Exupéry war als Flieger der französischen Luftwaffe unterwegs und war damit beauftragt, Verbindungen zwischen Paris und Buenos Aires aufrechtzuerhalten, indem er Korrespondenz in beide Richtungen transportierte. Dabei war Florianópolis eine Station, wo er mehrmals Halt machte, um das Flugzeug aufzutanken.
Am Abend gehe ich noch mal an den Strand. Der ist diesmal fast ganz leer. Es kommt Wind auf. Das Wetter scheint sich zu ändern.
Auf dem Weg in den Ort beginnt es auf einmal ganz intensiv zu riechen, nach einer Blüte. Das muss Jasmin sein, der Geruch ist mir aus Saloniki in Erinnerung. Es sind aber nirgendwo Blüten zu sehen.
Im Ort sind gleich nebeneinander, auf engstem Raum, vier Lokale. Das eine, das „portugiesische“, das Tens Tempo, mit Kacheln und dem Hahn von Barcelos an der Hauswand, scheint kein Essen zu haben. Bleiben Sushi, Hamburger und Pizza. Ich nehme Pizza. Das Lokal nennt sich, etwas hochgestochen, Pizzarium, und man gibt sich auch eher vornehm.
Das Lokal liegt im Obergeschoss des gleichen Hauses, in dem unten ein anderes Lokal ist, und man sitzt hier wunderbar, auf einer geschützten Veranda.
Am Nebentisch sitzen zwei junge, nicht sehr brasilianisch aussehende Frauen, die sich angeregt unterhalten und locker zwei Flaschen Wein verdrücken.
Es gibt wirklich nur Pizza. Die ist in Ordnung, aber nicht mehr. Nicht sehr geschmacksintensiv. Dazu gibt es noch ein neues Bier, sogar ein lokales, eins aus Florianópolis, Kairos. Ein religiös-philosophischer Begriff als Bezeichnung für ein Bier! Kann aber mit den Bieren mit den mondäneren Namen nicht mithalten.
19. November (Samstag)
Beim Aufwachen erinnere ich mich an ein Schild, das ich gestern Abend gesehen habe, vor der Pizzeria, ein handgeschriebenes Schild, auf dem stand: Boa noite! Hört sich für uns so an wie Schluss jetzt, geht nach Hause, wir machen zu. Ist aber nicht so gemeint. Ganz im Gegenteil. Es bedeutet eher, kommt rein, wir haben auf, herzlich willkommen. Boa noite! wird eben nicht nur zur Verabschiedung, sondern auch zur Begrüßung gebraucht. Leicht zu verstehen, aber gar nicht so leicht anzuwenden. Jedes Mal, wenn ich abends irgendwo reinkomme, sage ich Boa tarde!, und dann kommt von meinem Gegenüber, mit einem Lächeln Boa noite!
Am Strand ist es voller als sonst. Es treten auch mehr Gruppen auf. Yoga wird heute nicht von einer einzelnen Frau gemacht, sondern gleich von einer Gruppe, im Kreis sitzend, eine andere Gruppe rüstet sich für eine Fahrt im Motorboot, woanders steht eine Gruppe von Jugendlichen und wartet auf etwas, Im Wasser eine Gruppe von Paddlern, und am Ausgang des Strands macht sich eine Gruppe junger Leute zu einer Fahrradtour bereit.
Die Verkaufsstände vor dem Strand sind schon aufgebaut, und am Strand werden überall Sonnenschirme installiert, wobei ein kurioses Instrument, so etwas wie eine große Luftpumpe, zum Einsatz kommt, um die Löcher für den Sonnenschirm im Sand zu schaffen.
Die Wellen sind heute stärker als sonst, sie reißen einen förmlich von den Beinen. Und als ich wieder nach Hause gehe, verdunkelt sich der Himmel.
Als ich am Mittag zum Strand gehe, lenkt ein Vogel, auf einem blattlosen, etwas verkrüppelten Baum sitzend, mit seinem Gesang die Aufmerksamkeit auf sich. Auch er ist größer als unsere Singvögel.
Am Mittag sehe ich vor dem Souvenirgeschäft, was es dort alles zu kaufen gibt. Ein Wort verstehe ich nicht, enfeites, und zwei kann ich nicht auseinanderhalten. Der Rest ist klar. Zu Hause stellt sich heraus, dass enfeite Schmuck ist, chaveiro Schlüsselanhänger und porta-chaves auch.
Als ich ins Devassa komme, kommt der junge Kellner von gestern auf mich zu und fragt: „Caipirinha!“. Wie immer in Brasilien, wird kein Trinkgeld erwartet, schon gar nicht mit der Zwanghaftigkeit, wie das in Deutschland geschieht. Auch bei dem Ausflug nach Petrópolis machten weder Reiseführer noch Busfahrer die geringste Anstalt, ein Trinkgeld einzufordern.
In dem Minimarkt bekomme ich Bananen, Bier, Tee, Kekse und Teigtaschen, alles zusammen für 48 R$.
Als ich am Nachmittag noch mal runter gehe, ist es richtig heiß geworden. Der kühle Wind vom Meer kommt da gerade recht.
Die meisten Sonnenschirme werden von Bierfabrikanten gesponsert, aber es sich auch welche von einer Vereinigung dabei, die ein Wappentier hat, das dem der Müncher Löwen zum Verwechseln ähnlich sieht. Aber es hat nur einen Schwanz.
Verrückt: Als ich wieder in die schmale Straße komme, die vom Strand wegführt, fällt mir wieder der Vogel von heute Mittag an. Und dann sitzt er tatsächlich noch da, auf demselben Baum. Sein Gesang hört sich wie ein Trillern an, etwas eintönig, aber schön.
Im Fernsehen wird berichtet, die Nationalmannschaft Brasiliens sei in Katar eingetroffen, dem reichsten Land der Welt, wie es heißt. Die brasilianischen Anhänger sind optimistisch, diesmal werde es für den Titel reichen. Es ist auch von der Kontroverse um den Bierausschank die Rede, eine Kontroverse zwischen FIFA und dem Ausrichterland. Der Kompromiss: Bier darf nur an fünf Stunden am Tag und nur an bestimmten Orten wie internationalen Hotels ausgeschenkt werden. Und es ist das teuerste Bier in der Geschichte der Weltmeisterschaften.
Brasilien spielt am Donnerstag zum ersten Mal, und zwar um 4 Uhr am Nachmittag, hora de Brasilia, wie es heißt. War mir bis jetzt noch nicht aufgefallen: Brasilien hat vier Zeitzonen. Für mich bis jetzt noch nicht von Bedeutung gewesen, weil ich immer in der Zeitzone von Brasilia gewesen bin. Es gilt immer die 12-Stunden-Uhr, mit dem Zusatz am oder pm. Mit der 24-Stunden-Uhr kann man nicht umgehen. Als ich einmal 14.45 schreibe, kommt die Nachfrage, ob ich 2.45 pm meinte.
Auch die Angabe größerer Zahlen unterscheidet sich. Irgendwo lese ich in einem Text die Zahl 2,4 mil. Das ist 2400.
Die Woche beginnt mit dem Sonntag, und so ist es auch in allen Kalendern aufgeführt. Das ist bei der Buchung von Ausflügen oder Unterkünften relevant. Man mag es nicht glauben, aber das kann verwirrend sein. Ich habe dieser Tage eine Unterkunft falsch gebucht, weil ich intuitiv bei unserem Kalender war.
20. November (Sonntag)
Nur Leonardo habe ich es zu verdanken, dass ich überhaupt hier wegkomme. Nach meinen vergeblichen Versuchen mit Taxi, Uber und Bus hat er einen Uber bestellt und mich vergewissert, dass er mich im Notfall selbst zum Bahnhof bringen würde. Aber der Uber kommt.
Ein sehr gesprächiger Fahrer. Es geht um die deutschen Einwanderer, um seine in alle Winde zerstreuten Kinder, um Angela Merkel, um deutsche Strände, um Benzinpreise, um mein Portugiesisch und die Unterschiede zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Portugiesisch. Was die Reiseroute betrifft, empfiehlt er mir vor allem Gramado. Das kenne ich nicht. Aber ich sage ihn, dass ich von gerne noch den Parque do Caracol besuchen würde, Canela. Ja, genau, sagt er, Canela sei die Nachbarstadt von Gramado. Er ist auch Rentner. Er fährt nur 2-3 Stunden am Tag. Um sich etwas Geld zur Rente dazuzuverdienen? Nein, um zu Hause wegzukommen.
Am Busbahnhof geht es ganz gemächlich zu. Was für ein Unterschied zu Sao Paulo, vor einer Woche, auch an einem Sonntag!
Wir fahren mit Verspätung ab, der freundliche Fahrer bittet ausdrücklich um Entschuldigung und kündigt eine dreißigminütige Mittagspause an.
Es geht nach Porto Alegre, die Hauptstadt des Bundesstaats Rio Grande do Sol. Der ‚Fröhliche Hafen‘ hat 1,4 Millionen Einwohner und liegt nicht am Meer, sondern an einem Fluss, dem Rio Guaíba.
Es regnet, aber nur ein bisschen, der Himmel ist bedeckt. Es geht über Land und dann eine ganz Zeit am Meer entlang, das heute etwas trüb aussieht, eher braun als blau. Die Landschaft wird deutlich flacher. Vor Porto Alegre endet offensichtlich der Ausläufer des Gebirges, das mich die ganze Zeit begleitet hat.
Bei der Pause sagt der Busfahrer, wir möchten uns die Nummer des Busses merken: 986 – nove – oito – meia. Was ist das denn, meia? Meine Nachbarin hilft mir auf die Sprünge: Für das Zahlwort sechs gibt es zwei Wörter, seis und meia. Das sei sehr gebräuchlich.
An einem Souvenirshop an der Raststätte hängt ein Schild mit der Aufschrift: Se aceptan pesos argentinos/Se aceptan pesos uruguayos.
Im Restaurant gibt es einen abgetrennten Raum für Kunden mit Tieren: Espaço Pet. Keine schlechte Idee. Wird aber im Moment nicht von Gebraucht gemacht.
Dann geht es weiter. Wir haben gut die Hälfte der Strecke hinter uns. Der Bus ist, wie alle Reisebusse hier, modern und bequem, und der Fahrer fährt ganz ruhig und gleichmäßig, so dass meine Nachbarin den größten Teil der Strecke schlafend verbringt. Als sie dann doch noch aufwacht, kommen wir noch ins Gespräch. Sie liest Hemingway, das Buch über den Spanischen Bürgerkrieg, das auf Portugiesisch Por Quem os Sinos Dobram heißt. Das Buch gefällt ihr sehr gut. Parallel dazu liest sie noch ein weiteres Buch, das sie zu Hause hat: A Montanha Mágica. Sagenhaft, was Thomas Mann da alles reingepackt habe. Das sei je ein richtig philosophisches Werk.
Sie fragt nach meiner Reiseroute und nach meinen weiteren Plänen. Ja, Uruguay sei auch ein schönes Reiseziel. Und ja, genauso solle ich es machen, in dieser Reihenfolge. Porto Alegre sei auch sehr schön, vor allem die Wege den Fluss entlang dürfe ich mir nicht entgehen lassen. Sie kennt sogar die Straße, in der mein Apartment liegt, ja, das sei gut, das sei im historischen Zentrum, und gar nicht weit vom Fluss entfernt. Sie verabschiedet sich sehr freundlich, als wir in Porto Alegre ankommen. Ist sehr heiß hier.
Mit dem Taxi geht es zu dem Apartment. Das ist nicht weit entfernt und liegt in einer großen, aber ruhigen, ganz gerade verlaufenden Straße. Als ich aus dem Taxi steige und den Eingang des Gebäudes betrete, höre ich schon meinen Namen. Fabiano hat unten gewartet, zusammen mit dem Portier. Er begrüßt mich ausgesprochen freundlich und heißt mich auf Englisch und auf Portugiesisch willkommen. Er hat sich entschieden, doch persönlich zu kommen, obwohl er mir schon detaillierte Informationen hat zukommen lassen, wie ich in das Apartment kommen kann. Das ist mir sehr lieb, es erleichtert die Sache.
Das Apartment liegt ganz oben, im 7. Stock, und macht auf den ersten Blick schon einen guten Eindruck. Fabiano erklärt alles, detailliert, immer mit Nachfrage, und in einem wunderbar verständlichen Portugiesisch, Fernseher, Dusche, Gasherd, Schlüssel, Klimaanlage. Nachts solle ich die Rollläden lieber runter machen, sonst kämen Fledermäuse herein, morcegos, Fledermäuschen, besser gesagt. Kein Grund zur Besorgnis, die gingen einem nicht an die Kehle. Ich bin von allem sehr angetan und sage ihm das auch.
Nach dem Auspacken drehe ich eine Runde um den Block. Hier, in der Riachuela, gibt es einen Minimarkt und eine Kapelle, aber unter, in der Andradas, gibt es, wie Fabiano mir schon gesagt hatte, alles: Kirchen, Museen, Lokale, Geschäfte. Hier ist richtig Betrieb. Viele Leute sind auf den Beinen.
Ich sehe immer wieder kleinere Gruppen, die alle ein T-Shirt in den brasilianischen Farben tragen, mit der Aufschrift Meu partido é o Brasil. Hört sich nach Fußball an, ist aber politisch gemeint. Es handelt sich um Bolsonaro-Anhänger.
Rechts eine riesige Kirche mit einer monumentalen Freitreppe. Die könnte auch, meint man auf den ersten Blick, in Rom stehen.
Gleich daneben ein militärisches Gebäude, das Quartel do Comando Geral. Oben an der Fassade ein Emblem und die Aufschrift: Estados Unidos do Brasil. Hieß also früher wirklich mal so.
Auf der linken Seite ein breiter Durchgang unter einem Gebäude, durch den man weit auf die nächste Straße sieht. Was es damit auf sich hat, erklärt eine Tafel. Es ist das ehemalige Hotel Majestic, in der Zeit des Ersten Weltkriegs von einem deutschen Architekten gebaut, einem gewissen Theo Wiederspahn. Das Hotel erstreckt sich über zwei Flügel, die durch diesen überbauten Bogengang miteinander verbunden sind, so dass sich ein Korridor bildet. Das habe, heißt es, einen besonderen Raum im historischen Zentrum geschaffen. Seit der Schließung des Hotels ist hier ein Kulturzentrum untergebracht, benannt nach Mário Quintana, einem Dichter, der hier wohnte.
Wieder zu Hause, schalte ich den Fernseher an. Berichterstattung von der WM. Mit Analysen. Die Sendung heißt Terceiro Tempo, ‚Dritte Halbzeit‘ Es werden die Tore des Eröffnungsspiels in Katar gezeigt. Ecuador hat Katar 2:0 geschlagen. Zum ersten Mal überhaupt hat ein Gastgeberland ein Eröffnungsspiel verloren.
Auf einem anderen Kanal läuft Quem Quer Ser Um Milionário?Der Kandidat muss schon bei der dritten Frage das Publikum zur Hilfe nehmen. Um was geht es bei der Philatelie? A) Briefmarken B) Münzen C Bücher D) Kugelschreiber. Das Publikum bekommt es hin. Mit 53%.
Sprachliche Kuriosität: In Portugal hieß das Quiz Quem Quer Ser Milionário? Ohne Artikel.
21. November (Montag)
Im Aufzug steht ein T für das Erdgeschoss. Das steht für térreo. Dagegen ist terraço das Wort für die Aussichtsterrasse oben.
Die Eingangshalle des Gebäudes ist ganz schön, mit einem Gittertor, Pflanzen und einer Bank. Darauf achte ich jetzt zum ersten Mal, als ich am Morgen das Gebäude verlasse. Gestern war ich mit anderem beschäftigt.
Auf dem Weg hinunter komme ich an einer Bar vorbei, deren Namen so geschrieben ist, dass man das Gefühl hat, dass man beschwipst ist oder Schwindel empfindet: Devaneio do velhaco – Phantastereien des Schurken.
In der Andradas finde ich ein richtig geschmackvoll eingerichtetes Café, zum ersten Mal in Brasilien. An den Wänden hängen Photographien von Porto Alegre, jede für sich einzeln eingerahmt und signiert, großformatig. Sie zeigen nicht einfach Sehenswürdigkeiten, sondern ausgesuchte Details oder einfache Straßenszenen. Einfach toll gemacht.
Es gibt ein wunderbares Törtchen zum Kaffee, mit Apfel und Rosinen gefüllt, eins von vielen feinen Leckereien, die an der Theke schön präsentiert auf Kunden warten. Ich kann hier auch gleich Tee für das Apartment mitnehmen. Der kommt von Dr. Oetker. Und hat seinen Preis. Der Mann an der Kasse sagt etwas von heraufkommendem Regen. Ich glaube, er freut sich darauf.
Als ich wieder nach Hause komme, ist der Portiersplatz besetzt, mit einem anderen Portier als gestern. Er tut seine Arbeit, lässt mich nicht achtlos passieren, sondern fragt, wer ich sei und wo ich hinwolle. Dann stellt er sich selbst vor, Carlos und gibt da unvermeidliche Zeichen: Daumen hoch!
Am Vormittag geht es in die Stadt, wieder über die Andradas, die schon fast vertraut wirkt, bis zu einem Park und einem Platz. In dem Park sehe ich zum ersten Mal, dass der Baum mit den lila Blüten und der Baum mit den haarigen Ästen ein und derselbe ist.
Dann erledige ich verschiedene Dinge hintereinander: Bank. Touristeninformation und Rodoviaria. Da kommt im Laufe des Vormittags eine ganz schöne Strecke zusammen.
Nebenbei erledige ich auch noch einen Einkauf im Schreibwarengeschäft. Hinter mir in der Schlange stehen mehrere Frauen. Alle haben Geschenkpapier unter dem Arm, alle mit Weihnachtsmuster.
In einer Straße komme ich am Pão Alemão vorbei, an einem Platz steht eine Büste eines Mannes, gewidmet den Brasilianern vom Volk von Uruguay. In einer anderen Straße eine längere Schlange vor einem Amt. Vermutlich das Arbeitsamt.
Je weiter ich aus meinem Viertel hinauskomme, umso mehr merke ich, dass ich wohl in der besten Ecke Porto Alegres gelandet bin. Auf dem Rückweg vom Bahnhof komme ich über eine breite, schnurgerade Fußgängerstraße, mit Geschäften, Geschäften, Geschäften. Alle ziemlich vollgepackt mit Waren.
Dann komme ich zum Mercado Público, wieder mit Ständen, in denen es Nahrungsmittel, aber auch Dinge des täglichen Bedarfs gibt. Der Bau ist zweistöckig, aber oben ist nichts, außer ein oder zwei Restaurants, aber die sind noch leer. Man sieht auch draußen, dass die obere Etage in keinem guten Zustand ist.
Draußen erfährt man etwas über die Geschichte dieses monumentalen Gebäudes. Auch dieses Gebäude wurde von einem deutschen Architekten geplant. Es war ursprünglich einstöckig, wie man auf einer Photographie sieht. Das zweite Geschoss kam erst später dazu, und noch später das stählerne Dach.
Ich bin an einem entfernten Ende der Riachuela gelandet, und das Gehen wird mir bei der schwülen Hitze etwas schwer. Es tröstet mich aber der Gedanke, dass in der Heimat der erste Schnee gefallen ist.
Am Ende lande ich in einem Restaurant auf der Andradas, um einen Saft zu trinken. Auf Anraten des Kellners wird es ein Zitronensaft. Köstlich, ganz weich auf der Zunge. Als ich zahle, sehe ich, dass hier überall zum Mittagessen Saft getrunken wird. Ist schon ein ganz besonderer Saft.
In der Touristeninformation sprach die Frau vom Guaíba als See. See? Ja, sieht aus wie das Meer, wird Fluss genannt und ist ein See.
Am Nachmittag dann Begegnung mit Sonia, der zweiten von den brasilianischen Krankenschwestern vermittelten Kontaktperson. Sie spricht fließend Italienisch, aber es hört sich wie Portugiesisch an. Zwischendurch scheint sie mal die Sprache zu wechseln, aber man merkt es kaum.
Gegenüber dem Supermarkt, wo ich auf sie warte, gibt es einen Eisenwarenhandel, Ferragem Do Alemão.
Ich schlage vor, zum Guaíba zu gehen. Ein Fehler, denn sie begnügt sich nicht mit den Kais, wo die Ausflugsboote ablegen, sondern führt mich die ganze neu angelegte Uferpromenade entlang, und dann, als wir am Ende angekommen sind und ich auf ein Bier spekuliere, über einen Sandweg auf die andere Seite, und da geht die Uferpromenade weiter. Sie verweist mit Stolz auf die neuen, frei zugänglichen Sportanlagen, Tennis und Fußball und Fitnessgeräte, und die sind wirklich vom Feinsten.
Dort komme ich auch zu meinem ersehnten Bier, aber das schmeckt nicht einmal gut. Sie kennt sich sehr gut mit Einkaufszentren und Stränden aus, und schafft es, die Sprache immer wieder darauf zu bringen. Ich erzähle von einer Episode von Rio, und sie sagt, ja, die Strände von Ipanema, die fände sie besonders schön.
In der Ferne sieht man die Konturen eines Stadions, ganz in Weiß. Das ist Verein, Sport Club Internacional, hier einfach Inter genannt. Hier wurden 2014 auch Spiele bei der WM ausgetragen. Inter ist der brasilianische Verein mit den drittmeisten Titeln (hier werden Meisterschaft und Pokal immer zusammengezählt) und hat auch zweimal die Copa Libertadores gewonnen.
Sonia erzählt, wie sie 1990 in Italien war, als Deutschland gewonnen hat und sie ein Spiel der WM gesehen hat. Obwohl man es ihr nicht ansieht, ist sie schon Oma. Ihr Sohn lebt in Italien, und natürlich muss ich mir Photos von Sohn, Tochter und Enkel ansehen und sie gebührend bewundern.
Sie kennt alle Städte, die ich bereist habe, kennt aber vom Nordosten auch wenig. Vor kurzem habe sie mal die Gelegenheit gehabt, dann aber die Alternative Uruguay gewählt. Da habe es ihr sehr gut gefallen. Auch hier kennt sie ein paar Strände. Auf die Uruguayos ist sie gut zu sprechen, auf die Argentinier weniger. Die seien früher immer so überheblich gewesen, hätten alles in ihrem Land besser gefunden, moderner, fortschrittlicher.
Ein bisschen Deutsch kann sie auch. Sie hat mal in München einen zweiwöchigen Sprachkurs gemacht und ist mal in Garmisch-Partenkirchen gewesen. Den Namen des Ortes hat sie sich gemerkt und kann ihn richtig gut aussprechen.
Ich komme schlecht und recht mit meinem Portugiesisch zurecht. Wenn ich Nossa Senhora dos Dores sage, findet sie, klinge das nach Portugal.
Sie erklärt mir, was es mit der berühmten Frage im Supermarkt auf sich hat, die gestellt wird, wenn es ans Bezahlen geht. Man kann seine Fiskalnummer angeben und nimmt dann an einer Lotterie teil. Es dauert allerdings, bis ich sie dazu kriege, mir zu erklären, was das ist. Sie sagt immer nur, sie sage immer nein. Ja, aber auf welche Frage?
Sie wohnt weiter in diese Richtung und wollte eigentlich von hier aus einen Bus nehmen, aber als ich sage, ich ginge zu Fuß zurück, kommt sie mit. Sie will irgendwo unterwegs den Bus nehmen. Das passiert aber nicht, und wir gehen wieder die endlose Uferpromenade zurück und dann in die Stadt. Hier wird es doch wohl eine Bushaltestelle geben. Aber wir gehen immer weiter, die Andradas entlang, auf der Höhe meines Apartments, aber sie macht keine Anstalten, mich zu entlassen. Es geht immer weiter bis zum Ende der Andradas, wo es eine größere Bushaltestelle gibt, aber da fährt ihr Bus auch nicht ab. Es geht noch um ein paar Ecken, und dann ist es geschafft.
Aber meine müden Beine müssen mich noch zurück zum Apartment bringen. Es ist inzwischen dunkel geworden, und die Andradas wirkt stiller als am Mittag, aber es sind doch noch viele Leute unterwegs, und einige Lokale haben noch geöffnet. Ich wähle spontan eins, das Boteco Histórico, mit einer schönen Fassade und Tischen draußen,. Als ich nachher einmal reingehe, merke ich, dass auch dieses Lokal, wie das Café heute Morgen, richtig schön eingerichtet ist, mit Holzbalken und Backsteinen an der Wand, einer schönen Decke und vielen Photos. Das scheint eine Besonderheit von Porto Alegre zu sein.
Das Bier schmeckt hier viel besser als das an der Uferpromenade. Das Glas ist von Amstel, der Flaschenhalter von Eisenbahn, und das Bier ist ein Brahma.
Während ich auf mein Essen warte, fällt mir auf, dass ich seit Wochen keine Fremdsprache mehr gehört habe, also keine außer Portugiesisch. Zum letzten Mal habe ich vermutlich im Museu do Amanhã in Rio eine andere Sprache gehört. Ansonsten war ich immer nur unter Brasilianern.
Auf der Speisekarte stand xis in allen möglichen Varianten. Ich habe auf gut Glück eins bestellt. Ist wie eine Abwandlung von Hamburger, aber schmeckt richtig gut, richtig saftig. Zwischen zwei breiten Brotscheiben, vermutlich a la plancha gebraten, befindet sich eine unendliche Menge von Zutaten, Mais, Paprika, Zwiebeln, Wurst, Salat, Senf, Käse und ein Spiegelei.
Auf dem kurzen Heimweg komme ich an der hell erleuchteten Nossa Senhora dos Dores vorbei, der monumentalen Kirche, hell erleuchtet, und dann sehe ich sie noch einmal beim Aufstieg zur Riachuela, von der Seite, ein perfektes Photomotiv.
22. November (Dienstag)
Wir sind gestern vom Regen verschont geblieben, obwohl es stündlich danach aussah. Nachts ging es dann los. Als es am Vormittag langsam nachlässt, gehe ich zum Guaíba, zum Abfahrtsort der Linha Turismo. Dummerweise fährt die gar nicht da ob, wo ich dachte, gleich in der Nähe der Wohnung, sondern viel weiter raus. Erst muss in an der stark befahrenen Straße entlang, dann durch ein verlassenes Hafengebiet. Er wird mir fast etwas mulmig, aber ein Wachmann, der irgendwo steht, sagt, ich sei richtig. Und als ich vor einem schmuddeligen Büroraum an einem Platz mit alten Drahtzäunen und Lehmboden wieder umdrehe, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass das hier ist, macht er mir von weitem eine Geste, doch, doch, da rein. Dann stellt sich heraus, dass ich die Abfahrt verpasst habe und der nächste Bus erst in zwei Stunden kommt. Zwei Stunden in dieser unseligen Gegend zu warten, dazu habe ich keine Lust. Muss ich jetzt den ganzen blöden Weg wieder zurück? Nein, der Wachmann führt mich durch eine Unterführung und ich stehe – direkt vor dem Mercado Público!
Das passt gut. Ich nutze die Gelegenheit, um mich hier umzusehen. Auffällig die vielen Stände, in denen in Kästen oder Säcken Kräuter angeboten werden. Sie sind alle beschriftet, aber die Namen sagen mir nichts. Könnten auch Gewürzmischungen sein, aber dann wäre die Farbpalette größer. Hier ist alles grün. Ein junger Verkäufer lässt mich ein Photo machen.
Dann trinke ich in einer Bar einen Saft, diesmal Papaya. Kein Vergleich zu dem von gestern, dies ist ein ganz ordinärer Saft, den sich jeder zu Hause selbst machen könnte.
Diese Bar heißt Gaúcho. Das ist eine Anspielung auf die Geschichte von Porto Alegre, denn die Stadt gewann erst dann als Bedeutung, als sie zur Schnittstelle des Handels mit Rindfleisch wurde. Heute ist sie die Brasiliens größtes kommerzielles Zentrum südlich von São Paulo.
Ganz in der Nähe des Markts ist das Koffergeschäft, das ich dieser Tage schon gesucht habe. Eine wirklich kompetente und hilfsbereite Verkäuferin berät mich, und ich komme mit einer Reisetasche hinaus, die die weitere Reise erleichtern sollte.
Wieder sehe ich die Männer, die immer mit einem ganzen Bündel großer, schwarzer Müllbeutel durch die Gegend laufen. Was ist da nur drin? Jetzt werde ich es gewahr: Flaschen. Die Männer sammeln Plastikflaschen, um sich durch das Pfand ein bisschen Geld zu verdienen. Dafür durchsuchen sie die großen Mülleimer. Hartz V.
Flucht vor dem Regen nach Hause, dann noch ein Versuch, als der Regen wieder nachlässt. Diesmal komme ich unten an der Andradas durch einen Park, ganz schön, sehr grün. Dort hat man eine Trommel aufgestellt, Teil eines Pfads durch Porto Alegre, der das Erbe der schwarzen Bevölkerung sichtbar machen will.
Auch hier wieder die lila blühenden Bäume, die mir weiter Rätsel aufgeben. Der untere und der obere Teil scheinen irgendwie nicht zusammenzugehören. Unten die stämmigen Äste, an denen die Blätter direkt wachsen, oben ein fein verzweigtes Astwerk mit den Blüten.
Wieder höre ich von etwa weiter unten die Stimmen Demonstranten, alle in T-Shirt mit den brasilianischen Farben gekleidet. Diesmal gehe ich hin uns sehe mir das an. Sie haben wirklich Geduld, Hunderte von Malen wird dasselbe wiederholt, so oft, dass ich am Ende verstehe, was sie da skandieren: SOS – Forças Armadas. Sie rufen die Streitkräfte zu Hilfe. Sie sollen intervenieren und das Wahlergebnis revidieren. Deshalb stehen sie hier, vor dem Sitz der Brigada Militar.
Auf der Andradas komme wieder an dem Kulturzentrum vorbei, dem ehemaligen Hotel Majestic. Der Durchgang zur anderen Seite ist gar nicht durchgehend überdacht, sondern hat breite Lichthöfe, die einerseits das Sonnenlicht reinlassen, andererseits einen Blick in den Himmel erlauben.
Dann komme ich zur wunderbar begrünten Praça Alfandega, dem Schmuckstück der Innenstadt. Ich finde auch eine Skulptur wieder, eine moderne Skulptur aus Eisen. Sie zeigt zwei Männer, ältere Semester. Der eine sitzt auf einer Parkbank und wendet sich dem anderen zu, der hinter der Parkbank steht, ein Buch in der Hand. Ich setze mich auch auf die Parkbank und bitte eine Passantin, ein Photo zu machen.
Nachdem ich gestern noch überlegt habe, warum ich wohl in der ganzen Zeit noch kein einiges Postamt gesehen habe, komme ich jetzt auf dem Weg Richtung Markthalle an einem ganz modernen Gebäude vorbei, mit der Aufschrift: Correios.
In der Markthalle kaufe ich caju. Dafür wird ganz schön abkassiert. Zu Hause stellt sich heraus, dass sie schwer zu essen sind. Das Fruchtfleisch schmeckt auch nicht besonders gut, wohl aber der Saft. Die Cashew-Nüsse oder was dazu wird, gucken oben raus, so wie der Stilansatz bei Paprika.
Zur Besichtigung suche ich mir den Paço Municipal aus, gleich neben der Markthalle. Auf dem Platz davor steht ein schöner Brunnen, mit blauen und weißen Kacheln. Er ist ein Geschenk der spanischen Einwanderer an Porto Alegre.
Der Paço Municipal war früher Sitz des Rathauses, heute ist er Museum. Unten gibt es eine kleine Kunstausstellung. Bilder von vermutlich einheimischen Künstlern, die alle bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts gelebt haben. Die Bilder gefallen mir ausgesprochen gut. Sie bewegen sich irgendwo zwischen gegenständlich und abstrakt. Sehr schön eine Hafenszene mit nur in geometrischen Formen dargestellten Häusern, Sandstrand, Boot, Kirche. Anders ein fast etwas gespenstisch, aber doch schön aussehendes maskenähnliche Objekt, nicht identifizierbar. Wieder etwas anders eine vermutlich menschliche Figur, nur aus groben Pinselstrichen bestehend. Je näher man hinguckt, umso mehr glaubt man zu erkennen.
Im Obergeschoss gibt es eine Sonderausstellung zu Theo Wiederspahn, dem deutschen Architekten, dem ich gleich am ersten Tag als Erbauer des Hotels Majestic begegnet bin. Beeindruckend, was der alles gebaut hat, sowohl hier in Porto Alegre selbst als auch in Rio Grande do Sol außerhalb der Stadt. Man sieht Entwürfe für eine bunte Reihe von Gebäuden, alle auf Deutsch beschriftet: eine evangelische Kirche, ein Lehrerseminar, die Erweiterung eines Hospitals, das Vereinshaus des Tennisclubs, das Vereinshaus der Gesellschaft Germania und vieles mehr. Ausgestellt sind auch ein Bierkrug von Löwenbräu und zwei Bücher, Moderne Zimmermannskunst und Der brasilianische Bienenzüchter.
Die Ausstellung bietet auch Informationen über das Gebäude selbst, von einem italienischen Architekten geplant, in einem eklektischen Stil, mit einer reichen Fassade, im Sinne des Positivismus den Fortschritt durch Technik und Naturwissenschaft propagierend. Es gibt allegorische Figuren der Republik und der Freiheit, der Landwirtschaft und der Gerechtigkeit. Alle stehen oben auf dem Dach, in triumphierender Geste.
Die Fassade hat Pilaster und Pfeiler (toskanische unten, korinthische oben), Triglyphen, Balustraden, Balkone, Giebel, je länger man hinsieht, umso mehr entdeckt man an Details.
Noch ein Geschoss weiter oben kann man auf den Balkon treten und hat von hier aus einen erstaunlich schönen Blick, zwischen den Häusern hindurch, auf den See.
Auf dem Rückweg komme ich an einem Gebäude vorbei, das symbolisch für Pracht und Verfall steht, die Confeitaria Rocco. Der Name ist mit Stuck an der Fassade angebracht. Mächtige Atlanten tragen die Balkone des zweiten Geschosses, die Balkone haben schmiedeeiserne Geländer, geschossübergreifende Pfeiler verbinden das zweite mit dem dritten Geschoss, die Eingangsportale haben Girlanden und anderen Bauschmuck, eine Brüstung und Figuren bekrönen das Dach, und das Gebäude, auf zwei Straßen hinausgehend, hat einen schräg zum Platz stehenden Mittelteil zwischen den beiden Hauptteilen. Jetzt ist alles verfallen. Die eisernen Rollläden sind heruntergelassen und verschmiert, die Figuren und die Fassade sind verschmutzt. Das Haus steht zum Kauf an. Dabei hat es, wie eine Plakette verkündet, noch 2004 eine Sanierung gegeben. Alles für die Katz?
Ich passiere auch zwei schöne alte Buchhandlungen mit originellen Namen: so ler und beco dos livros.
Bevor ich zum Apartment komme, mache ich noch ein Photo von der Igreja dos Dores, wieder von der Seite, wie gestern Abend, aber jetzt bei Tageslicht. Die Demonstranten sind immer noch zugange.
Als ich am Abend in die Andradas zum Essen gehe, sehe ich zum ersten Mal, wie viele prächtige und auch gut erhaltene Häuser hier stehen. Bei dem lebendigen Treiben auf der Andradas übersieht man sie leicht.
Beim Abendessen werde daran erinnert, dass die Speisekarte in Brasilien cardápio heißt und nicht ementa. Und das portugiesisch pasta nichts mit unserer Pasta zu tun hat, sondern ‚Aktentasche‘ heißt. Unsere Pasta heißt massa. Ähnlich verwirrend im Türkischen. Das benutzt makarna für unsere Pasta und pasta für unsere Torte.
Auf dem Rückweg sehe ich – alle Straßenschilder haben Erklärungen – dass der Name meiner Straße, Riachuelo, der so unschuldig klingt, sich tatsächlich auf eine Schlacht im Krieg gegen Paraguay bezieht.
In einem Lokal erlaubt man mir, ein Photo von einem Werbeplakat von Bohemia zu machen: a cerveja que criou a cerveja no brasil.
Die Demonstranten sind immer noch bei der Sache.
Im Fernsehen wird berichtet, in Saudi-Arabien habe man nach dem Sieg gegen Argentinien einen zusätzlichen Feiertag dekretiert.
Und dass Pablo Milanés gestorben ist. Trotz seiner etwas piepsigen Stimme ein Aushängeschild der Nueva Trova Cubana. Und unsterblich mit seinem Ojalá.
23. November (Mittwoch)
Am Morgen ist mein Personalausweis weg. Die hektische Suche hat keinen Erfolg. Ich muss los. Unterwegs überlege ich, ob es hier wohl ein Deutsches Konsulat gibt und wie ich die Sache erledigen kann. Auf der Fahrt durchsuche in den Rucksack – nichts. Und dann taucht der Personalausweis, als ich die Suche aufgegeben habe, an unerwarteter Stelle wieder auf.
Es fallen am Morgen noch ein paar Tropfen, aber es ist schon wieder richtig warm. Am Bahnhof nehme ich mir Zeit für ein Frühstück, und das wird mir fast zum Verhängnis. Ich finde die Abfahrtstelle nicht. Da, wo ich bin, ist nur die Ankunft. Ich muss durch den ganzen Bahnhof hindurch, und dann stehe ich an den Abfahrtbuchten und sehe einfach nicht, wo die Nummerierung ist. Eine Frau, die ich frage, versteht mich nicht so richtig. Ob ich denn schon eine Fahrkarte hätte, will sie wissen. Sie sieht sich meine Fahrkarte an und konstatiert „Plataforma 43“. Ja, das weiß ich, aber wo ist die? Sie weist mit dem Finger nach oben. Dort stehen die Nummern. Natürlich ist die 43 ganz am anderen Ende, aber es reicht dann doch noch.
Es geht nach Canela. Das bedeutet ‚Zimt‘. Warum die Stadt so heißt, verstehe ich nicht. Irgendwo ist von Bäumen die Rede, aber was haben die mit Zimt zu tun? Später ergeht es ähnlich mit dem Namen des Parks. Warum der Parque do Caracol heißt, weiß wohl niemand so richtig. Einige behaupten, dass Becken, in dem sich das Wasser sammelt, bevor es zum Wasserfall wird, habe die Form einer Schnecke.
Die Fahrt ist bequem wie immer, aber es zieht sich, und das, obwohl wir, wenn es bergauf geht, meist eine Überholspur haben. Einige verwegene Radfahrer sind hier unterwegs, auf der Straße, die keinen Seitenstreifen hat. Der Bus fährt in ganz geringem Abstand an ihnen vorbei, ein Radfahrer weicht auf die schmale Lehmpiste neben der Straße aus, als er den Bus herankommen sieht. Bei einer anderen Gelegenheit, als der Bus selbst nach rechts ausweichen muss, weil ein Krankenwagen ihn überholt, wird es mir um den Radfahrer richtig bange.
Wieder sehe ich mehrmals Schilder, die zu einer borracharia führen. Hat mich die ganzen Tage schon gewundert. Hört sich für einen Spanier nach einer Art Saufanstalt an, ist hier aber eine Werkstatt, eine Reifenwerkstatt.
Die zusätzliche Spur heißt faixa adicional, und faixa ist auch das Wort für die Bodenschwellen, die es hier überall in den Städten gibt, auch in Canela.
Canela ist kein Bergdorf, sondern eine richtige Stadt. Am Eingang zur Stadt steht eine Nachbildung der New Yorker Freiheitsstatue. Die passt hierher wie die Faust aufs Auge. Canela gibt sich irgendwie alpin. Es soll nach Schweiz aussehen. Die Häuser haben Satteldächer und es gibt viel Holz, und Canela liegt auf immerhin 830 Metern, aber kein Schweizer würde sich hier wie in der Schweiz fühlen. Es ist allerdings blitzsauber auf den Plätzen und den Bürgersteigen, die Lokale sehen vornehm aus, und die Preise sind auch höher als woanders. Das merke ich, als ich in einem feinen Café einen Kaffee und ein kleines Törtchen esse. Als die Bedienung mir den Weg erklärt und dabei das Wort rotatória benutzt (in Portugal wäre es rotunda gewesen), mache ich mir klar, dass ich vorher schon zweimal an einem Kreisverkehr vorbeigekommen bin. Auch das ungewöhnlich für Brasilien.
Die Weihnachtsdekoration auf den Straßen ist bereits komplett angebracht. Viele rote Weihnachtsmännermützen und künstliche Tannen mit dicken Wattebäuschen. Hier regiert der Kitsch.
Am Ende einer steil ansteigenden Straße steht die Kirche. Ist sogar eine Kathedrale. Die Fassade ist originell und ein Blickfang, weil man sie von weit unten bereits sieht, aber innen hat sie nichts Reizvolles. Sie ist der Muttergottes von Lourdes geweiht. Vor der Fassade stehen Dutzende von Paaren, die sich photographieren wollen.
Sonst gibt es hier nicht viel zu sehen, und so mache ich mich auf den Weg zum Parque do Caracol. Der Fahrer sagt, er habe wenig Benzin, ob er kurz an einer Tankstelle Halt machen könne. Heute Abend übernehme ein Kollege seinen Wagen. Ist gebongt. An der Tankstelle wird man von einem Tankwart bedient. Habe ich zum letzten Mal in Griechenland gesehen.
Die Fahrt führt an zwei Vergnügungsparks vorbei und am Museu Egípcio und dem Museu Do Caminhão. Ich bin wirklich überrascht, was es hier alles gibt. Im Stadtzentrum gibt es dazu das Museu do Automóvel. Der Fahrer macht vor allem für das Lastwagenmuseum Werbung, während ich mich frage, wie viel Ägypten wohl in dem Ägyptischen Museum steckt.
Im Park zahl man Eintritt, und dann geht es über gepflasterte Wege durch den Park. Das ist alles sehr schön, aber ich hatte es mir etwas wilder vorgestellt. Wenn man von den beliebtesten Aussichtspunkten weiter wegkommt, wird es etwas besser. Leider ist eine der wichtigsten Attraktionen des Parks geschlossen, eine Treppe, die über mehr als 700 Stufen zum Wasserfall hinunterführt. Man sieht schon am Einstieg – das wäre es gewesen.
Der Wasserfall, die Hauptattraktion des Parks, lässt nicht lange auf sich warten. Man sieht in weit unten von einer erhöhten Aussichtsplattform. Der ist wirklich spektakulär. Vor einem braunen Felsen stürzt das Wasser in zwei oder drei parallelen Strahlen kerzengerade nach unten, 130 Meter. Dazu kommt die schöne Umgebung, 360° grün, ganz dichter Wald, keine Lücke, kein Zeichen von Zivilisation. Insgesamt ist nur ein Fünften des Parks zugänglich, den Rest lässt man wachsen.
Die meisten Bäume sind Araukarien, für mich eine Erinnerung an Griechenland. Über die erfährt man hier später noch mehr.
Zwischendurch tue ich noch meine patriotische Pflicht und sehe mir ein paar Minuten des Fußballspiels an. Zwei Wachmänner sehen es an einem großen Bildschirm am Eingang zu der Plattform. Als ich wieder runter komme, ist der Ausgleich gefallen. Danach sollte es noch schlimmer kommen.
Es gibt noch einen zweiten Wasserfall neben der Cascata do Caracol, die Cascata do Moinho. Er ist ganz anders, aber letztlich ist es wohl derselbe Wasserfall, sein oberer Teil. Hier fällt das Wasser nicht so tief, aber breiter, aufgefächert in mehrere kleinere Wasserfälle. Das ist weniger dramatisch, aber fast genauso schön.
Vor mir ein junges Paar, das sich mit dem Photographieren Zeit lässt. Erst ist sie dran, von links, von rechts, von vorne, mit Sonnenbrille und ohne. Dann beide zusammen, in verschiedenen Stellungen. Der Wasserfall alleine kommt nicht vor. Sie haben auch ihre Stunde warten müssen, weil vorher ein alter Mann mit Handy-Stick dran war. Der wollte den Wasserfall und sich selbst aus allen erdenklichen Winkeln haben.
Überraschend schön auch das natürliche Becken, in dem sich das Wasser sammelt, bevor es zum Wasserfall wird. Das findet wohl auch ein junger Mann, der regungslos auf einer steinernen Bank sitzt und sich ganz der Natur überlässt. Die Sitzbank ist auf einer Steinplatte angebracht, und die befindet sich am Rande befindet, aber schon ganz von Wasser umgeben.
Es gibt ein etwas bombastisch benanntes Centro Ecológico, eine einfache Holzhütte in einem etwas abgelegenen Ecke des Parks. Ein Ausstellungsraum mit etwas veralteten Bilder und Tafeln, aber sehr informativ. Da geht es einmal um die Araukarien und ihre vielfältige Nutzung. Ihr Holz wird verwendet für Spielzeug, Möbel, Musikinstrumente, den Griffen von Handwerkszeug, Baugerüste, Holzkisten, Treppen, vorfabrizierte Häuser und anderes, die getrockneten Äste werden für Kompost genutzt, die grünen Äste und ihre Sprosse dienten den Indios als Heilmittel gegen Anämie, die Rinde diente traditionellerweise als Färbemittel, die Samen finden in der regionalen Küche Verwendung, die Pinienkerne in der Handwerkskunst und das Harz wird für Gummi, Teer und verschiedene Öle genutzt.
Schwarz-Weiß-Photos zeigen Canela und den Park in früheren Zeiten, Lastwagen mit dicken Kühlerhauben und den Park und Canela im Schnee. Kommt wohl gar nicht so selten vor.
Zu den wenigen Ausstellungsstücken zählt ein Baumstamm, eine Liguster. Die dient als Wirtsbaum für eine andere Pflanze, die Mistel, einen Parasiten. Die schlingt sich von oben um die Äste und erwürgt den Wirtsbaum, indem sie ihm wichtige Nahrung entzieht.
Dann gibt es noch etwas zu den Erdbeben in Brasilien. Es gibt erstaunlich viele, auch in dieser Gegend. Die Erdbeben werden seit 1720 systematisch erfasst. Erdbeben von der Stärke 5 gibt es im Schnitt alle fünf Jahre, Erdbeben von einer Stärke bis zu 3 gibt es jede Woche. Sie sind über alle Gebiete Brasiliens verteilt, mit Schwerpunkten im Amazonas und hier vor der Küste.
Dann geht es zurück nach Canela und zurück nach Porto Alegre, mit dem seligen Gefühl, dass der Personalausweis doch nicht weg ist.
Am Abend ist es in Porto Alegre, obwohl es schon dunkelt noch 26° warm Beim Essen ergibt sich ein ungewöhnliches Photomotiv. Wenn man nach oben guckt, tut sich zwischen den spitz zulaufenden Wolkenkratzern der blau-graue Himmel mit ein paar weißen Wölkchen auf.
24. November (Donnerstag)
Der Tag fängt erfreulich an, mit einem Verkaufsgespräch in der Reinigung. Die Frau ist nicht nur sehr freundlich, sondern auch sehr geschickt darin, mir auf die Sprünge zu helfen, wenn es mal hakt. Entweder wiederholt sie mit Betonung der wichtigen Wörter oder sie nimmt Gesten zur Hilfe: Auf dem Bügel oder gefaltet? – Auf dem Bügel.
Weniger erfreulich ist es bei der Linha Turismo. Für den Bus brauchen sie eine Mindestteilnehmerzahl von fünf, und bis jetzt hat sich noch keiner angemeldet. Und das Schiff fährt am Nachmittag. Da spielt Brasilien.
Also mache ich mich alleine auf den Weg, mit einem kurzen Zwischenstopp im Mercado Municipal. Dort erlaubt mir ein freundlicher Verkäufer, ein Photo von der Wurst zu machen. Die kringelt sich vom Boden nach oben bis zur Hüfte. Es ist linguiça, die im Gegensatz zur salsicha frische Wurst. Ich probiere ein Stück und nehme ein Stück mit.
Dann geht es zum Monumento aos Açorianos. Das Monument erinnert an die ersten Azorer, die 1752 sich hier niederließen. Auf die Azoren war ich in den letzten Tagen schon mehrmals gestoßen, unter anderem in dem Namen von zwei Apartmentblocks in meiner Nachbarschaft.
Es ist ein ganzes Stück zu gehen. Das Monument befindet sich auf einer Wiese, etwas erhöht, nicht weit von einer vielbefahrenen Straße entfernt. Es ist groß, sowohl hoch als auch lang und ist aus Rosteisen gemacht. Von weitem hat man den Eindruck, dass es das Trojanische Pferd sein könnte. Ist es aber nicht.
Eher ein Schiff, aber ein Schiff, dessen Rumpf aus den sich überlappenden Körpern von Männer besteht, ein futuristisches Design. Vorne mag man zwei ausgeklappte Segel erkennen, aber es sind wohl eher die Flügel der Galionsfigur, einer Viktoria. Beeindruckend, wenn man drunter steht, aber auch aus der Ferne.
Abseits steht ein weiteres Kunstwerk, einen Globus darstellend, aus Silber, bei dem nur die Kontinente dargestellt sind, durch dünne Platten, die das Profil der Erdteile abbilden. Der Globus wird bekrönt von einem blauen Helm. Das Kunstwerk ist eine Würdigung der brasilianischen Einheit, die zur Friedenssicherung im Nahen Osten eingesetzt war, zur Sicherung der Grenze zwischen Israel und Ägypten nach den Konflikten nach der Verstaatlichung des Suez-Kanals.
Dann geht es zurück zur Stadtmitte. Jetzt komme ich zum ersten Mal auf den zentralen Platz der Stadt, ins politische Zentrum, etwas abseits vom kommerziellen Zentrum gelegen. Um den Platz herum gruppieren sich alle möglichen repräsentativen Gebäude, in den unterschiedlichsten Stilen gebaut, neu und alt, schön und weniger schön. Gar nicht so leicht, rauszukriegen, was was ist. Oben am Platz die Igreja Matriz, ziemlich bombastisch, mit Mosaiken an der Fassade, auf der anderen Seite das schöne Theatro Sao Paulo, von schlichter Eleganz, neben der Kirche der Palacio Piratini, der Sitz des Gouverneurs, auch neoklassisch, wie das Theater, auch schön, aber etwas wuchtiger. Zu der Geschichte des Baus gehört die Rolle, die er bei einem Zusammenstoß zweier Parteien bei dem Kampf um das Präsidentenamt spielte. Er sollte damals zerstört werden, aber die Streitkräfte verweigerten sich im letzten Moment. Der Platz ist so groß, dass er auch noch Raum bietet für den Justizpalast, hochmodern, und den in der Art des Rokoko zierlich dastehenden, in Rosa gefassten Palast eines Ministeriums.
An diesem Platz treffe ich auch wieder auf das Wort Farroupilha, mit dem ich gar nichts anfangen konnte. Es bezieht sich auf eine Revolte gegen den Bundesstaat, eine Revolution, kann man sagen, als deren Folge 1836 die República Rio-Grandense ausgerufen wurde, ein Katalonien des 19. Jahrhunderts. Porto Alegre stand damals zehn Jahre lang unter Beschuss und wurde belagert. Was es nicht alles gibt, wovon man noch nie gehört hat!
Dann entdecke ich noch ein schönes Photomotiv: ein kleines Hotel, mit ganz niedrigen Geschossen, weiß, mit braun gefassten Bauelementen wie Pilastern und Fensterlaibungen, zwingt sich zwischen zwei Hochhausklötze.
Etwas abseits des Platzes treffe ich dann auch noch auf die Biblioteca Pública, an der ich dieser Tage mit Sonia vorbeigekommen bin, vom Beginn des 20. Jahrhunderts stammend, im eklektischen Stil errichtet. An der Seitenfassade Medaillons mit den Büsten von Männern, die alle auf ihre Weise etwas mit Büchern zu tun haben, eine erstaunliche Auswahl: Cäsar, der Apostel Paulus, Karl der Große, Dante, Gutenberg. Shakespeare!
Am Nachmittag bin ich mit Sonia zum Fußball verabredet. Das erste Brasilien-Spiel. Es wird an verschiedenen Stellen der Stadt auf großen Bildschirmen übertragen. Wir gehen zum Paço Municipal. Es geht hier eher ruhig zu, und man steht nicht so dicht gedrängt, wie man das von den Fernsehbildern kennt. Erst im Laufe des Spiels füllt sich der Platz, und es wird dann auch merklich lauter. Aufschreie gibt es immer dann, wenn zwischendurch das Bild mal verschwindet, meistens bei einer Strafraumszene.
In der Halbzeitpause besorge ich mir bei einem Straßenhändler ein Bier. Polar. Wieder eine neue Marke.
Die erste Halbzeit ist nicht sehr mitreißend. Die brasilianische Deckung gefällt mir besser als der Sturm. Serbien hat im ganzen Spiel keine echte Torchance. In der zweiten Hälfte dreht Brasilien auf, und nach dem Führungstreffer, völlig verdient, gibt es kein Halten mehr. Es gibt bestimmt noch ein halbes Dutzend guter Torchancen, darunter einen Lattenkracher von einem Verteidiger. Während das erste Tor ein Abstauber war, ist das zweite, von demselben Spieler erzielt, ein Traumtor. Ich bin überrascht, wie wenige brasilianische Fußballer ich kenne. Außer Neymar nur Thiago Silva. Der wird mit seinem Einsatz bei diesem Spiel zum ältesten Brasilianer, der je bei einer WM gespielt hat.
Danach gehen wir in die Markthalle und essen einen Grillteller. Sonia ist keine Kostverächterin und schlägt beherzt zu. Das Fleisch ist schmackhaft und saftig, und die Soße ist ein Traum.
Sonia hat in München Weißwurst probiert, und die hat ihr geschmeckt, und der Apfelsaft auch.
Sonia hat zu Hause eine eigene Vorrichtung, um Churrasco zu machen, und sie hat natürlich auch ein Photo davon. Ich sei herzlich eingeladen. Wird wohl erst bei der nächsten Brasilienreise war raus.
25. November (Freitag)
Am Morgen weckt mich ein brasilianischer Vogel mit seinem schönen, hellen Sprechgesang. Zum Auftakt des letzten Tags in Brasilien.
Nach der Reinigung mache ich noch einen Versuch mit der Anlagestelle, und diesmal klappt es: Der Cisne Branco legt um 10.30 ab. Soll er jedenfalls. Tut er aber nicht. Obwohl wir Passagiere an Bord sind und vorher schon aufgeräumt worden ist. Es passieren fünfzehn Minuten, zwanzig, und es tut sich nichts. Das kommt die Erklärung: Schulkinder. Gleich mehrere Schulklassen, die mitfahren wollen. Auf die hat man gewartet.
Dann geht es los. Hinter uns liegen die Lagerhallen und die Hochhäuser des Stadtzentrums, vor uns der See. Wir fahren auf eine Insel zu, und plötzlich wird es ganz ländlich. Die Stadt ist nicht mehr zu sehen, rechts und links grünes Ufer. Hier hat man das Gefühl, auf einem Fluss zu sein. Das Thema Fluss oder See wird auch thematisiert. Er heißt, es handele sich eindeutig um einen See. Später kommen wir auch noch zu einem Fluss und sehen vor uns die Stelle, an der der Fluss und der See zusammenfließen.
Die Schulkinder, die ursprünglich unten waren, kommen jetzt nach oben aufs Deck. Sie verhalten sich wie Schulkinder. Sie bellen Hunde auf Uferrand an, sie schreien laut auf, wenn irgendwo ein Vogel auffliegt, und sie grüßen ekstatisch jeden Passagier auf einem Boot, an dem wir vorbeikommen.
Dann weitet sich die Szenerie wieder. Wir kommen an weiteren Inseln vorbei. Es gibt insgesamt über zwanzig, darunter die Ilha do Polvora, die Ilha das Flores und die Ilha dos Marineiros. Einige von denen sind durch eine Brücke verbunden.
Am Ufer der größten Insel Boote, Hausboote und Bootshäuser, die auf Pfählen im Wasser stehen. Hier hat man das Gefühl, weit ab der Zivilisation zu sein.
Die meldet sich aber bald wieder. Vor uns sieht man das Stadion von Inter, und am Horizont den Hügel São Pedro, die höchste Erhebung Porto Alegres. Die Fernsehtürme oben drauf sehen wie Minarette aus, und für einen flüchtigen Moment fühlt man sich wie in Istanbul.
Dann geht es zurück. Wir fahren an der langen, langen Reihe der Markthallten vorbei, alle mit einem flachen, dreieckigen Giebel versehen, viele verfallen, einige offensichtlich noch in Gebrauch.
Und dann kommt der Gasometer, von dem hier so oft die Rede ist. Eigentlich eine falsche Bezeichnung, denn der Name kommt von den früher in der Umgebung der Fabrik stehenden Gasbehältern. Diese Fabrik selbst benutzte Kohle als Energieträger. Der Gasometer ist ein längliches Gebäude mit einem hohen, schlanken Schornstein, das heute als Kulturzentrum dient.
Damit endet die Fahrt, bei der ich wieder viel Sonne abbekommen habe und viel frischen Fahrtwind. Ich gehe schnurstracks in die Andradas und dort in die Lancheria Alto Astral (hier in der Gegend ist lancheria eher in Gebrauch als lanchonete). Zum Abschluss gibt es noch einmal Reis und Bohnen.
Als ich mich auf den Weg zum Bahnhof mache, sind die Demonstranten immer noch aktiv. Sie haben jetzt einen neuen Slogan.
Am Abend verabschiedet mich die Mondsichel an einem violett leuchtenden Himmel von Brasilien.