Portland (2013)

16. Juni (Sonntag)

„Achten Sie bei der Buchung Ihres Flugs darauf, dass Ihr Ziel Portland, Oregon ist, nicht Portland, Maine.“ So heißt es in einem der vielen Schreiben unserer Partneruniversität bei der Vorbereitung der Reise. Man stellt sich, halb belustigt, halb entsetzt vor, wie jemand angekommen ist und vergeblich nach Hotel, Uni und nach jemandem sucht, der ihn abholen soll. Und dann noch einmal ein paar Tausend Meilen vom Ziel entfernt ist. Portland an der Ostküste statt Portland an der Westküste.

Dass Portland, Maine und Portland, Oregon denselben Namen haben, ist kein Zufall. Die beiden Männer, die Portland, Oregon, wieder geründeten (eine vorherige Siedlung war aufgegeben worden) warfen das Los darüber, wer das Recht haben sollte, die Siedlung zu benennen. Der, der aus Portlad Maine kam, gewann. Unmd benannte sie nach seiner Heimatstadt. Hätte der andere gewonnen, würde Portland heute Boston heißen. Boston, Oregon. Der Penny, der damals bei dem Losentscheid benutzt wurde, ist noch heute in einem Museum in Portland zu sehen. Der steht bei mir ganz oben auf der Wunschliste für die Zeit in Oregon. Aber davor liegt erst noch eine lange Reise. Die Stationen heißen Trier – Koblenz – Frankfurt – Philadelphia – Portland.

Das Zugabteil teile ich mit einer Großfamilie, die auf dem Weg ins Phantasialand sind. Sie tragen ihre Freizeitkleidung wie eine Uniform. Es wird auch schon mit Bier angestoßen. Man hört Sätze wie Wo sind dann die annaren? und  Isch hann e Mückestüsch und  Isch bruch min Kaffee und Du gieß mi uff de Eierstöck.

Das dient als Hintergrundgeräusch zu meiner Zeitungslektüre. Da geht es um Linkshänder. Die sind unter Basketballern genauso häufig vertreten wie unter anderen Gruppen, aber alle, Rechtshänder wie Linkshänder, benutzen die nicht dominante Hand umso häufiger, je besser sie sind: Profis benutzen sie , sowohl beim Dribbeln (nur etwas weniger als die dominante Hand) als auch beim Werfen (fast gleiche Verteilung). Das ist bei Amateuren anders. Die Verlassen sich weitgehend auf ihre dominante Hand, beim Werfen sogar zu fast 90%. Bei Musikern soll der Anteil von Linkshändern besonders hoch sein. Trotzdem werden fast alle „umerzogen“. Es gibt kaum Instrumente für Linkshänder, und Umstellen später ist meistens zu aufwändig. Wenn auch nicht unmöglich. Ein Violinist, der zwei Finger seiner rechten Hand verlor, sattelte um – mit Erfolg! Wie ungewöhnlich ein linkshändiger Geiger ist, zeigt ein Photo von Chaplin, der den Bogen links und die Geige rechts hält. Fällt einem auf Anhieb auf. Passt nicht zu unseren Sehgewohnheiten.

In Koblenz gibt es schon den ersten Aufenthalt, mehr als eine Stunde. In der Bahnhofshalle gibt es eine Ausstellung zu Meteoriten. Man erfährt, dass es Meteorite aus Stein gibt – die allermeisten – und welche aus Eisen und noch ganz seltene aus Pallasit. Das ist wertvoller als Gold.

Lange Zeit waren Meteoriten die einzigen Rohstoffliferanten für Eisen! Die erste Erwähnung findet sich bereits im 2. Jahrtausend vor Christus in einer ägyptischen Hieroglyphe: Eisen vom Himmel!

Meteoriten, heißt es, kämen per Luftpost und gratis, während Gestein vom Mond mühsam von der Apollo-Mission auf die Erde gebracht werden musste.

Die Herkunft der Meteoriten war lange unklar. Im Altertum und bei den nordamerikanischen Indianeren begegnete man ihnen mit viel Ehrfurcht. Man weiß von einer feierlichen Prozession, bei der ein Meteorit von Phrygien nach Rom gebracht wurde. Im Mittelalter galten sie dagegen als Unglücksboten: Sie brachen Siechtum, Krieg, Missernten.

In der Ausstellung gibt es Meteoriten aus Wales, Marokko, Polen, Arizona und vielen anderen Orten zu sehen. Aus Middlesbrugh gibt es nicht nur den Meteoriten, sondern auch das Einschlagloch zu sehen. Und einen aus Neuschwanstein, der gefunden wurde, weil Photos von ihm gemacht wurden. Auf Grund derer konnte man die Flugbahn berechnen und den Fundort.

Die Meteoriten kommen mit einer Geschwindigkeit von 40.000 – 260.000 km/h auf die Erde zu und werden dann von der Erdatmosphäre ausgebremst, so sehr, dass die meisten dabei ganz aufgerieben werden. Nur selten gelangen einzelne Stücke auf die Erde.

Vor Millionen Jahren ist auf Yucatán ein Asteroid eingeschlagen, der schwerste Folgen hatte: Die Photosynthese war gestört, die Nahrungskette unterbrochen. Ein Massensterben setzte ein. Heute besteht kaum Gefahr von den bekannten Meteoriten, wohl aber von den noch nicht entdeckten. Sie sind klein und dunkel und deshalb schwer zu beobachten.

In der Silvesternacht 1800 entdeckte ein italienischer Mönch einen Asteroiden zwischen Mars und Jupiter, Ceres. Dort schwirren, wie man inzwischen weiß, mehrere Tausend umher. Fast alle Meteoriten, die auf die Erde prallen, kommen daher, nur wenige kommen vom Mars oder vom Mond.

In Frankfurt bin ich erst etwas verloren, bis ich merke, dass ich American Airlines mit US Airways verwechselt habe. In deren Schlange gibt es dann einen Schreck in früher Morgenstund: Sie wollen bis Anfang August bleiben? Ihr Visum ist aber nur bis zum 21. Juli gültig. Er zeigt es mir. Das stimmt. Ich habe mir das nie genau angesehen. Ich war so froh, nach all dem Theater das Visum bekommen zu haben, dass ich gar nicht auf die Idee gekommen war, das Datum könne nicht stimmen. Der junge Mann, ein Deutscher, ist sehr freundlich und sagt, er wolle mal sehen, ob man da nicht etwas machen kann. Er fragt seinen amerikanischen Kollegen. Der gibt Entwarnung: Visiting Scholars dürfen nach Ablauf des Visums noch vier Wochen „dranhängen“. Warum das Visum nicht sofort für den ganzen Zeitraum ausgestellt wird, ist mir nicht klar. Die Daten musste ich bei der Antragstellung ein Dutzendmal vorlegen.

Die Frau am Schalter ist ganz angetan von meinem Reiseziel: Oregon? Da war ich auch. Das war so schön, ich bin damals fast ausgewandert. Wir waren innerhalb von 24 Stunden Skifahren und Wasserskifahren. Ob das heute auch noch so sei, wisse sie nicht. Ich glaube allerdings nicht, dass die Erde seitdem dramatische Veränderungen erfahren hat. Dazu ist sie doch wohl noch etwas jung.

Der Flug nach Philadelphia dauert 9 Stunden, bei 6 Stunden Zeitunterschied. Es sind gut 6000 Kilometer. Der Flug von Philadelphia nach Portland dauert noch mal 5 Stunden, und noch mal 3 Stunden Zeitunterschied. Wegen des Zeitunterschieds kommt man noch am selben Tag an. Als ich in Portland ankomme, bin ich 24 Stunden unterwegs, und es ist die ganze Zeit hell gewesen. Und das Buch über populäre Irrtümer über Sprache, das ich im Zug begonnen habe, habe ich da auch schon längst durch.

Darin erfährt man aufgrund von zwei (allerdings nicht sehr gut dokumentierten) Umfragen, dass Sonnabend gegenüber Samstag auf der Verliererstraße ist und immer mehr zu einem fast ausschließlich ostdeutschen Phänomen wird.

Vor allem aber erfahre ich etwas über Hochdeutsch, das ich längst wissen müsste. Es ist so grundlegend, dass man sich wundert, dass es das nie irgendwo vorgekommen ist.

Hochdeutsch war ursprünglich eine ganz neutrale Bezeichnung, die nichts mit einer Hochsprache, mit einer über den anderen Varietäten stehenden Varietät zu tun hatte. Es war einfach der Sammelbegriff für alle im Süden gebräuchlichen Varietäten, die sich von den niederdeutschen, dem Plattdeutsch, im Norden unterschieden. Alle diese Varietäten standen bis zum Beginn der Neuzeit nebeneinander, und es gab kaum einen Austausch. Mit dem Buchdruck und der Verbreitung der Bibel ergab sich dann eine Notwendigkeit für eine Vereinheitlichung. Die folgte im Wesentlichen dem Ostmitteldeutschen, eine Variante des Hochdeutschen, weil dessen Kanzleien die höchste Reputation genossen. Im Norden, im Niederdeutschen, begann man also anders zu schreiben, ganz anders, als man sprach. Als man sich dann allmählich auch in der gesprochenen Sprache anpassen wollte, blieb einem, mangels Kontakt, nicht viel anderes übrig als so zu sprechen, wie man schreibt. Die Schriftsprache war die einzig verfügbare Norm. Das Plattdeutsch verschwand allmählich aus der Sprache der Gebildeten und der Mittelschicht und war nur noch dem platten Land überlassen. Im Süden, wo es keine Notwendigkeit gab, sich so anzupassen, blieb man mehr oder weniger bei der angestammten mündlichen Sprache. Allmählich wurde also das Norddeutsche immer zum Standard, gerade deshalb, weil es sich von seinem Ursprung immer mehr entfernte. Daher noch heute die populäre Vorstellung, dass man in Hannover das beste Deutsch spreche. Das plattdeutsche datt zeigt aber, dass das Niederdeutsche ursprünglich ganz anders war als das Hochdeutsche. Kein Bayer, kein Schweizer, kein Alemanne sagt dat.

Außerdem lese ich in einem Buch mit Auszügen zu Amerika von den ersten Einwanderern und den drei religiösen Ausrichtungen: den Presbyterianern „rechts“, den Pilgrims „links“  und den Puritanern in der Mitte. Die Presbyterianer wollten die Anglikanische Kirche reformieren und die Bischöfe durch Presbyter ersetzen, so wie es nach ihrer Interpretation im Neuen Testament geschehen war. Für die Pilgrims dagegen war die Kirche von Übel. Jeder weitere Kontakt mit ihr musste vermieden werden. Sie setzten sich in einzelnen Kongregationen ab, um nicht von der großen Masse korrumpiert zu werden. Deshalb hießen sie auch Kongregationalisten. Für sie war der Großteil der Menschen verloren. Deshalb mussten die Erwählten unter sich bleiben. Im Zentrum der Bewegung waren die eigentlichen Puritaner. Auch sie glaubten, dass nur die Erwählten der Kirche angehören sollten. Sie praktizierten aber die Kindstaufe, die von den Pilgrims abgelehnt wurde, und waren dafür, brüderliche Verbindungen mit anderen Konfessionen aufrechtzuerhalten, denn man konnte nie wissen: Auch unter denen könnte sich ein Auserwählter befinden. Die Puritans, die sich in der Massachusetts Bay niederließen, absorbierten allmählich, trotz der Glaubensunterschiede, die kleinere Gruppe der Pilgrims, die sich schon früher in Plymoth niedergelassen hatten. Entgegen der volkstümlichen Vorstellung waren die ersten Siedler kein monolithischer Block, und entgegen dem populären Mythos kamen sie nicht nach Amerika, um religiöse Freiheit zu erleben oder gar religiöse Toleranz auszuüben, sondern um ihre Religion frei von dem verderblichen Einfluss der Alten Welt praktizieren zu können.

Der Flug geht über Holland und England und Irland auf den Atlantik und dann über Neufundland nach Maine. Wir fliegen tatsächlich über Portland – Maine. Und über Charlottesville, Charlottstown und Charlotte. Das war wohl ausgerechnet die Ehefrau von George III., dem „Tyrannen“, gegen die sich die Amerikaner dann auflehnten und ihre Unabhängigkeit durchsetzten.

Der Flughafen von Philadelphia sieht wie ein Parkhaus aus, jedenfalls der Teil, an dem wir ankommen. Etwas verloren steht in der Halle eine Kopie der Freiheitsglocke herum.

Hier muss man erst durch die Passkontrolle, dann muss man sich idiotischeweise den Koffer abholen, dann durch den Zoll, dann den Koffer wieder abgeben, dann durch eine Kontrolle von Pass und Bordkarte und dann zum Durchleuchten und dann an einen anderen Terminal. Es grenzt an ein Wunder, dass das alles innerhalb der knapp zwei Stunden klappt, die ich zur Verfügung habe. Bei der eigentlichen Einreise gibt es wieder die unerlässlichen Fingerabdrücke, wie schon beim Konsulat, und merkwürdige Fragen wie „Warum haben Sie das Visum im April beantragt?“. Wann hätten Sie es denn gerne? Wären März oder Mai genehmer gewesen? Beim Zoll muss man bestätigen, dass man keine Erde und keine Schnecken mit sich führt. Und beim Durchleuchten muss man sich die Schuhe ausziehen und einen Ganzkörperscan über sich ergehen lassen.

Bei der längsten Schlange, der Kontrolle von Bordkarte und Pass, begegnet ein junges Paar vor mir einem anderen Paar, das uns auf der entgegengesetzten Schlange entgegen kommt, und die junge Frau tut mir den Gefallen, den Satz zu sagen, der für mich die Quintessenz des amerikanischen Englisch ist, und dazu noch, wie es sich gehört, aus dem Mund einer jungen Frau: Oh, my God!

Beim zweiten Flug gibt es kein Essen, jedenfalls nicht umsonst. Ich bestelle einen Salat und zücke meinen nagelneuen Zehndollarschein. Denkste. Nur mit Kreditkarte. Auch die anderen, die nur eine Tüte Chips bestellen, zahlen mit Kreditkarte.

Eine weitere kulturelle Erfahrung ist es, dass die Temperaturen am Zielort nur in Fahrenheit durchgegeben werden. Ich habe keine Ahnung, was zu erwarten ist.

Gegen Ende des Flugs gibt es ein paar Turbulenzen. Wir kommen durch dicke, dunkle Wolken und dann sieht man auf einmal Natur unter sich: eine schwarze Gebirgslandschaft, die aber in Wirklichkeit grün ist, und mitten drin einen kegelförmigen, schneebedeckten Berg. Das ist der Mt Hood, wie ich später erfahre, der Hausberg Portlands.

Und dann kommt schon ganz unverhofft eine Stadt in Sicht. Portland, Oregon: City of Roses. Neuerdings allerdings auch City of Books, Beers, Bikes and Blooms. Hört sich vielversprechend an.

Am Ende des Flugs wünscht man uns einen schönen Abend und noch einen schönen Father’s Day. Ob es das in England auch gibt? Noch nie gehört.

Der Flughafen von Portland ist schön, eine lange, helle Halle, in die von beiden Seiten und von oben Licht strömt. In der Halle hängt eine amerikanische Flagge und ein Plakat der Portland State University mit Werbung für ihre Abschlüsse.

Vom Flughafen aus geht es mit der MAX in die Innenstadt. Das steht für Metropolitan Area Express. Eine hochmoderne Straßenbahn. Eine Frau an einem Informationsstand erklärt mit in aller Ruhe – um halb zehn am Abend – wie ich am besten in die Stadt komme. Eine Haltestelle, die letzten der grünen Linie, heißt sogar PSU. Ich muss aber einmal umsteigen.

Die Ansagen sind auf Englisch und auf Spanisch. Und ein Plakat der MAX macht ausdrücklich darauf aufmerksam, dass man an ihrer Geschäftsstelle auch Spanisch gesprochen wird. Amerika ist kein einsprachiges Land – und auch nie gewesen.

Die Fahrt zieht sich in die Länge, und beim Umsteigen muss ich ziemlich lange auf die grüne Linie warten. Es ist inzwischen dunkel geworden, und ich verstehe nicht so recht, auf welchem Bahnsteig ich warten muss. Und bekomme unterschiedliche Antworten. Außerdem spricht mich einer an, der sagt, er habe mich in der vorigen Straßenbahn gesehen, ich hätte damit weiter fahren können. Stellt sich aber am Ende als Irrtum heraus. Aber das weiß ich zu dem Zeitpunkt nicht, und ich bereue es fast, doch nicht das – viel teurere Taxi genommen zu haben. Die MAX kostest gerade mal 2,50 $ – weniger als 2 €. Das ist weniger als eine Busfahrt in Trier!

Als ich bei der letzten Haltestelle ankomme, ist außer mir keiner mehr in der Straßenbahn. Ich werde in verschiedene Richtungen geschickt, und nach Universitätscampus sieht das alles nicht aus, auch wenn ein paar Gebäude Namen akademischer Institute haben. Ich gelange in ein dunkles Viertel mit einem Spielplatz und als ich dann zu einer Tankstelle und eine Baustelle komme, glaube ich endgültig, falsch zu sein. Aber dann brauche ich nur noch über eine Straße und bin da.

17. Juni (Montag)

Um halb sechs ist es hell und ich bin wach. Passt. Wie nach einem langen Mittagschlaf. Zu Hause ist es jetzt halb drei.

Gestern Abend war die Luft richtig mild, heute ist es richtig warm. Ein Sommertag. In den letzten Wochen habe ich die Wetterkarte für Trier und Portland verglichen. Das Wetter ist sich auf eine geradezu unheimliche Weise ähnlich, aber jetzt scheint Portland mich eines Besseren belehren zu wollen.

Die Hotelräume befinden sich auf nur drei Stockwerken auf einer offenen Galerie um einen Innenhof mit Swimming Pool herum. Alles sehr schön, sehr gepflegt. Sieht wie eine Ferienanlage aus.

Erst muss ich aber mal um technische Dinge kümmern: das Handy funktioniert nicht, der Adapter für die Steckdose auch nicht, und ich bekomme keinen Internetzugang. Eine mittlere Katastrophe für den modernen Menschen.

An der Rezeption wird mir erklärt, es gebe einen Wettbewerb zwischen der drahtlosen und der verdrahteten Verbindung, und ich müsste eine ausschalten, damit die andere zum Zug kommt. Für alles andere empfiehlt man mir Radio Shack.

Also gehe ich erst mal zum Frühstück. Das gibt es in einem dunklen Raum. Alle starren wie gebannt auf den Fernseher. Der hat viel Wetter, viel Werbung, und ein paar Trivialitäten wie ein umgekipptes Boot, ein Mann, der auf den Rücken eines Hais klettert, ein Baseballspieler, der den vom Batsman gerade retournierten Ball voll ins Gesicht bekommt. Man fragt sich, warum das nicht öfter passiert.

Gerade habe ich in einem Buch über Amerika gelesen, dass Baseball eher auf der Verliererstraße ist, während Football, ohnehin die populärste Sportart, noch weiter dazugewinnt. Es gibt auch eine soziale Verteilung: Football ist bei den Afroamerikanern beliebt, Baseball bei den Hispanics. Menschen mit einem Universitätsabschluss stehen wenig auf Football und auf Autorennen. Die sind bei Menschen mit geringem Bildungsniveau ganz besonders beliebt und bei den ganz jungen, Baseball bei denen zwischen 18-17. Man erfährt auch, dass Eishockey in einer gemeinsamen kanadischen und amerikanischen Liga gespielt wird und dass im Motorsport nicht die Formel 1 an erster Stelle steht, sondern NASCAR. Diese Rennen werden mit für das Rennen modifizierten Serienwagen gefahren.

Obwohl das Frühstück als continental breakfast angekündigt ist, gibt es Speck, Rührei, Kartoffeln, Wurst. Man isst mit Plastikbesteck. Zum ersten Mal in meinem Leben probiere ich Peanut Butter. Schon als Kind habe ich zum ersten Mal einen Exilamerikaner davon schwärmen hören und von dem Leiden erfahren, das es bedeutet, in einem Land zu leben, wo es so etwas nicht gibt. Jetzt, nachdem ich sie probiert habe, finde ich das noch schwerer zu verstehen.

An den Wänden sieht man Schwarz-Weiß-Photos aus der Kriegszeit. Da fuhren bereits Straßenbahnen durch Portland. Es ist dieselbe Geschichte wie immer: Erst baut man Straßenbahnen, dann reißt man sie ab, dann baut man sie wieder.

Danach geht es zu Radio Shack. Der Stadtplan ist schachbrettartig, die Avenues sind durchnummeriert, und die Straßen haben Namen wie Broadway und Madison. Radio Shack befindet sich tatsächlich auf der 5th Avenue.  Das ist gerade außerhalb des Rechtecks, das vom Universitätscampus eingenommen wird. Der hat den unschätzbaren Vorteil, ganz in der Nähe des Zentrums zu liegen. Er ist praktisch ein Teil des Zentrums.

Das Hotel liegt gerade außerhalb des Campus. Das erklärt die Tankstelle, die mich gestern aus dem Konzept gebracht hat.

Die Fußgängerampeln sind immer nur einen kurzen Moment weiß (nicht grün) und dann erscheint eine erhobene rote Hand und zählt die Sekunden, die zum Überqueren der Straße verbleiben.

Der Campus gruppiert sich ganz regelmäßig zu beiden Seiten eines breiten, gepflegten, baumbestandenen Boulevards, auf dem keine Autos verkehren. Bei dem schönen Wetter kann man das richig genießen.

Ich komme an einer Backsteinkirche und an der Historical Society of Oregon vorbei. In der Mitte des Boulevards steht eine Reiterstatue. Es ist Theodore Roosevelt. Ein Präsident auf einem Pferd. Etwas später die Statue Lincolns. Ohne Pferd. Irgendwie kann man sich ihn gar nicht mit Pferd vorstellen.

Dann kommt ein dreieckiger Brunnen, aufgestellt von einem jüdischen, polnischen Einwanderer, Shemanski, als Dank an die Stadt, die ihn aufnahm. Er betrieb ein Kleidungsgeschäft und begann, ganz amerikanisch, ganz klein. Er schlief hinten im Geschäft. Und beschäftigte andere Einwanderer. Das war damals wohl unüblich. Er wurde zu einem erfolgreichen Geschäfsmann. In der Mitte der Statue steht Rebecca. Warum, ist nicht klar. Vielleicht hieß seine Frau Rebecca. Oder vielleicht steht sie einfach für Gastfreundschaft.

Dann biege ich zur Fifth Avenue ab. Radio Shack hat noch geschlossen. Mein Tagesablauf ist noch von der europäischen Zeit geprägt. In der Zeit sehe ich mir die Wolkenkratzer an. So eine Skyline hat in Deutschland höchstens Frankfurt. In Amerika ist das gang und gäbe. Ein Wolkenkratzer, der Sitz der Standard Insurance Company, hat längliche, schlitzartige Fenster, die ganze Fassade entlang. Das sieht erstaunlich gut aus. Seine Querseite spiegelt sich in der Glasfassade des danebenstehenden Wolkenkratzers, ein phänomenales Bild. Ein anderer steht auf Elefantenfüßen und hat lange, weiße Betonstreben, die über alle Stockwerke nach oben führen.

Überall stehen auch moderne Skulpturen. Vor einem Wolkenkrater steht eine dreigruppige, weiße Steinskulptur, die ich vorher schon mal irgendwo in einem Faltblatt gesehen habe. Als ich ein Photo machen will, tritt ein Straßenfeger höflich zur Seite, damit ich ungehindert photographieren kann!

Bei Radio Shack bekomme ich einen besseren Adapter und eine Erklärung, warum man Handy hier nicht funktioniert. Es passt irgendwie nicht in das amerikanische Broadband. Komisch: In Indien oder Kolumbien gab es keine Probleme damit.

Ich kaufe ein neues Handy, das billigste, das es gibt. Dazu eine Karte, die für einen Monat gilt. Für 50 $: Radio Shack likes paper and plastic.

Der freundliche Verkäufer, der Chad heißt und asiatisch aussieht, richtet mir das Handy vollständig ein und erklärt mir das eine oder andere. Er sendet sogar eine Nachricht an sein eigenes Handy, um zu überprüfen, ob alles funktioniert. Danke.

Auf dem Rückweg ins Hotel sehe ich an der Wand einer Tiefgarage ein modernes Kunstwerk. Die ganze bunte Wand besteht aus übereinanderliegenden Buchrücken: Das Kapital von Marx, die Metamorphosen von Ovid, Shakespeares Othello, VonnegutsSlaughterhouse Five, Tony Morrisons Beloved, eine Biography von Duchamp, ein Buch über den Holocaust, Fundamentals of Anatomy und viele andere. Über der Einfahrt eineIntroduction to Historical Linguistics, die ich nicht kenne!

Wieder im Hotel, versuche ich, die erste SMS zu schicken, aber sie geht in den Papierkorb. Dann versuche ich, die Internetverbindung herzustellen, aber nachdem ich WiFi gelöscht habe, werde ich immer wieder nach Zugangsdaten gefragt. Immerhin funktioniert der Adapter und ich kann anfangen, die Geräte aufzuladen.

Erst mal geht es zurück zu Radio Shack. Es stellt sich heraus, dass man nicht 00 an den Beginn der Nummer stellen darf, sondern +. Das hatte ich auch versucht, aber es ist auf derselben Taste wie 0, und die erscheint automatisch, wenn man sie drückt. Ein anderer Kunde schaltet sich ein und sagt, man müsse die Taste länger gedrück halten. Das muss man wissen. Chad nimmt sich der Sache an, wählt aber eine andere Alternative. Als ich dankbar das Geschäft verlasse, versuche ich, eine SMS zu verschicken – mit demselben Resultat wie vorher: Papierkorb. Chad sieht sich die Sache noch einmal an und findet heraus, dass man 001 eingeben muss. Das ist die Entsprechung zu +. Jetzt klappt’s.

An der Rezeption erfahre ich, ich müsse einfach den Laptop neu starten. Dann käme ich ohne weiteres ins Internet. Ich versuche es, bekomme aber immer wieder eine Fehlermeldung – bis ich auf die Idee komme, mal den Stecker anders herum reinzustecken. Jetzt klappt’s. Der Vormittag war eine Lehrstunde in moderner Technologie.

In der Nähe der Tiefgarage mit den Buchrücken stehen, wie am Schnürchen aufgezogen, kleine Buden, in denen Essen zum Mitnehmen angeboten wird. Hier zeigt sich Amerika von seiner multikulturellen Seite: Es gibt alles von vietnamesich bis salvadorenisch und türkisch. Und es gibt Gerichte mit Namen wie Pupusa, Chopollos, Pakura, Chwo Mein, Tamal, Banh Mi. Ich kaufe an einem Thai-Stand Reis mit Hühnchenfleisch und Gemüse. Für unschlagbare 5 $. Die esse ich am Swimmingpool im Hotel.

Am Nachmittag schlafe ich bei der Lektüre immer wieder ein, dafür wache ich in der Nacht immer wieder auf und mache mich an die Lektüre.

18. Juni (Dienstag)

Am Vormittag holt mich Ann Marie, die Koordinatorin der PSU, am Hotel ab und zeigt mir die Gegend. Wir kommen an den Essständen von gestern vorbei. Es gibt mehrere davon im ganzen Zentrum, aber diese hier sind das Original. Sie haben sich in ganz Amerika inzwischen einen Namen gemacht.  Ihr Ursprung liegt in einem Streit über Grundstücksrechte, wenn ich das richtig verstehe.

Wir sehen eine Straßenbahn, die mir noch moderner als die von gestern vorkommt. Es ist nicht die MAX, sondern die eigentliche Straßenbahn. Der Unterschied ist nicht so leicht zu sehen, und die Fahrkarten gelten auch für beide. Die Baustelle ganz in der Nähe des Hotels hat mit der Verlängerun der Straßenbahnlinie zu tun.

Wir holen Ann Maries Tochter und deren Freundin von einer Art Ferienschule ab. Sie haben dort heute gekocht. Die Ferien haben gerade begonnen, und das macht bringt der Mutter einige Koordinationsaufgaben. Das Semester ist zwar auch schon zu Ende, aber es bleibt noch einiges an Prüfungen und Sitzungen. Die jüngere Tochter ist im Kinderhort der Uni.

Wir gehen in ein Café direkt im Univiertel, und ich werde zum Lunch eingeladen. Das besteht aus einem aufgewärmten Sandwich und einer winzigen Portion Salat. Dazu gibt es Kaffee in Badewannenportionen und ein großes Glas Wasser.

Beim Essen macht eins der Mädchen einen Vorschlag für meine Freizeitgestaltung: Ich solle mit der Tram fahren. Ich will sie nicht enttäuschn und sagen, dass ich das schon längst gemacht habe, aber dann stellt sich heraus, dass tram nicht wie in England, die Straßenbahn ist, die hier streetcar heißt, sondern eine Art Seilbahn. Sie führt auf einen Berg am Rande der Innenstadt, und das Gelände dort oben ist von Ann Maries Ehemann, einem Landschaftsarchitekten, geplant worden.

Auch hier wird mit Kreditkarte gezahlt. Ann Marie sagt, sie habe fast nie Bargeld dabei. Alles wird mit Kreditkarte gezahlt. Sie habe erst überlegt, mich an den Essständen einzuladen, aber dann nicht gewusst, wo sie so schnell Bargeld herbekommen solle!

Ann Maries Tochter war schon als Dreijährige in Deutschland und später noch mal. Sie hat dort im Kindergarten scheinbar mühelos Deutsch gelernt. Angeblich besser als die Mutter, deren Deutsch aber, so weit ich weiß, auch sehr gut ist. Die beiden Mädchen sind ganz unglaublich brav. Und ziemlich still. Nach Tipps für meine Zeit in Portland gefragt, schlägt eine die Tram vor. Das ist nicht die Straßenbahn, sondern eine Art Schwebebahn, die einen auf den Hausberg Portlands bringt. Das Areal oben, wo die Tram ankommt, ist von Ann Maries Mann, einem Landschaftsarchitekten, geplant worden.

Ständig, vor dem Betreten des Cafés, beim Betreten des Cafés, beim Verlassen des Cafés und nach dem Verlassen des Cafés, stoßen wir auf Kollegen, denen ich vorgestellt werde, darunter mein Pendant von der PSU, der, zusammen mit seiner Frau, nächste Woche nach Trier geht. Auch von den anderen waren schon welche in Trier. Alle scheinen sehr stolz auf Portland zu sein.

Das Wetter soll in den nächsten Tagen wieder schlechter werden. Aber nach dem 4. Juli wird es definitiv gut. Das sei immer so.

Wir kommen an dem großen Bibliotheksgebäude vorbei. Es hat vorne einen Einschnitt. Der lockert die mächtige Fassade auf. Seinen Grund hat er aber in einem davorstehenden alten Baum, der nicht dem Gebäude geopfert werden sollte.

Dann kommen wir an dem alten Zentralbau der Uni vorbei, einer ehemaligen Schule. Dorthin wurde die Uni verlegt, nachdem die alten Gebäude unten am Fluss überschwemmt worden waren. Von hier aus hat sich die Uni immer weiter ausgebreitet. Der Bau soll jetzt eine neue Glasfassade bekommen, denn er beherbergt jetzt die Fakultät der Schönen Künste. Und man soll demnächst von Außen die Kunstwerke und die tanzenden Ballerinas beobachten können. An Geld scheint es nirgens zu fehlen.

Als Ann Marie von Portlands rep als Regenloch spricht, komme ich, nach kurzem Zögern, noch drauf, dass das reputation ist, aber als sie mich auf das rec hinweist, muss sie erklären, dass das das recreation center, eine Muckibude ist, nicht etwa das Rektorat.

Dann kommen wir zu dem Honors Gebäude, einem schönen, alten Ziegelbau mit Erkern, wo Ann Maries Büro ist und wo auch mein Büro sein wird. Hier werde ich Nora vorgestellt, mit der ich auch schon E-Mail-Kontakt hatte. Sie kümmert sich um alles, von der Vertragsunterzeichnung bis zu Photokopien. Sie kann auch dafür sorgen, dass die Artikel, die ich brauche, gescannt und den Studenten zur Verfügung gestellt werden. Alles perfekt organisiert.

Mir wird ein Raum gezeigt, der als Alternative zu dem eigentlich gebuchten Raum in einem anderen Gebäude in Frage kommt. Ob der mir gefalle? Ja, sehr, sieht sehr passend aus, mit einem langen, ovalen Tisch und bequemen Stühlen. Und nur ein paar Schritte von meinem Büro entfernt.

Ich werde ein Seminar mit 12 Honors Studenten haben, also der Elite der Fakultät. Sie studieren alle andere Fächer und machen Sprachwissenschaft als Teil ihres Studium Generale, in der besten deutschen, aber in Deutschland längst abgestorbenen Tradition. Ann Marie war angetan von der lebendigen Mitarbeit der Studenten in Trier, aber auch wohl etwas entsetzt über das fehlende Allgemeinwissen.

Dann geht es noch zum Auslandsamt, da, wo morgen das Einführungsprogramm beginnt. Dort werde ich David Brandt vorgestellt, dem Koordinator, der alles bereit gestellt hat, damit ich das Visum bekomme.

Ann Marie begleitet mich dann noch zum Willamette hinunter, Portlands Fluss. Der Name wird, gegen jede Erwartung, auf der zweiten Silbe betont. Darauf wäre ich nicht gekommen. Der Willamette mündet in den Columbia, der die Grenze zwischen Oregon und Washington darstellt.

Hier ist ein anderes Portland zu erleben. Hochstraßen, Brücken, Lärm. Ich gehe über die Hawthorne-Brücke, eine Zugbrücke, die vor kurzem ihr hundertstes Jubiläum gefeiert hat. Auf der anderen Seite gibt es Bepflanzungen mit einheimischen Pflanzen, um gegen die wuchernde asiatische blueberry anzukommen. Eingangs der Brücke ein Schild mit einem Hinweis auf eine Beratungsstelle für Selbstmordkandidaten, und am Ende der Brücke eine elektronische Erfassung der Zahl von Fahrrädern, die an diesem Tage und bisher im ganzen Jahr die Brücke passiert haben.

Dann fängt es tatsächlich an zu regnen. Ich stelle mich kurz unter, aber bald ist es wieder vorbei.

Auf dem Rückweg kaufe ich noch ein paar Fressalien und einen etwas überteurten Ordner, passend für das merkwürdige amerikanische Papierformat. Die Teebeutel, sehr amerikanisch, gibt es in einer Packung mit 110 Beuteln. Das ist die kleinste Packung.

Als später die Putzfrau, eine Asiatin, vielleicht eine Vietnamesin, anklopft, um das Zimmer zu säubern, verstehe ich, warum es am Tag zuvor so schwer war, ihr klarzumachen, dass sie heute nicht das Zimmer nicht zu machen braucht: Sie versteht praktisch kein Wort Englisch.

19. Juni (Mittwoch)

Es gibt Tage, sagt man, an denen man besser im Bett bleibt. Und es gibt keinen Tag, an dem es eine gute Idee ist, um halb zwei aufzustehen und sich an die Arbeit für ein Seminar zu machen.

Als ich am Ende eines langen Tages nach Hause zurückgehe, bin ich frustriert,  deprimiert, lustlos, voller Sorge und völlig durchnässt.

Irgendwann, mitten in der Nacht, fängt das Netbook, das sowieso schon seit Tagen sich immer wieder selbst runterfährt und alle möglichen anderen Böcke schießt, vollends an, verrückt zu spielen. Der Bildschirm wird schwarz, dann rasselt und summt es, es erscheinen ein paar geheimnisvolle Schriftzeichen, und dann ist nichts mehr da, auch keine Software mehr.

Die Vorbereitungen aus der Nacht sind alle verschütt. Und ins Internet komme ich auch nicht. Ich gehe, sobald es Tag ist, zum Honors Gebäude, klage dort mein Leid und frage, ob ich hier arbeiten könne. Klar. Ich bekomme das Büro eines Kollegen, der die PSU gerade verlassen hat. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich gerade zum falschen Zeitpunkt komme. Und nachdem alles angeschlossen und eingerichtet ist und ich mit Noras Daten Zugang bekomme, muss ich immer wieder nach unten und immer wieder neue Fragen stellen. Alles ist anders. Ich komme kaum voran. Und am Ende vermasselt mir das komische amerikanische Format alles. Alles ist quer und schief.

Es hilft aber nichts. Ich muss zum Auslandsamt, wo unsere Einführungswoche beginnt. Ich bin der erste, aber bald kommt ein chinesischer Kollege, Chen, ein von Ingenieur, der zum Wirtschaftswissenschaftler mutiert ist. Dann kommt Jaiwanti, eine ältere, winzig kleine indische Kulturwissenschaftlerin, im langen Sari. Dann kommt ein Alexander, ein rundlicher Russe, Literaturwissenschaftler, der wie Egon Bahr aussieht. In seiner burschikosen Art ist er das Gegenteil zu der scheuen Jaiwanti. Dann kommt Olga, eine ukrainische Wirtschaftswissenschaftlerin, im kurzen Sommerröckchen. Sie wird sich in den nächsten Tagen als die große Querschießerin erweisen, mit unzusammenhängenden Bemerkungen und an den Haaren herbei gezogenen Problemen und lauter Fragen, die längst beantwortet wurden. Sie guckt ständig in die Unterlagen des Nebenmanns und fragt, was man da und was man da ausfüllen muss und verbessert einen außerdem bereitwillig. Nur Jaiwanti und ich sind Neulinge. Alle anderen waren schon mal hier und haben auch schon in Deutschland unterrichtet, u.a. in Potsdam und in Berlin.

Heute gibt es aber erst mal Obst und Limo und ein paar Kekse und einen Händedruck von David, der mit Krawatte erscheint. Die habe er früher, als er noch in Berkeley war, jeden Tag getragen. Das Programm, an dem wir teilnehmen, bestehe seit 20 Jahren, erklärt er uns.

Meine Sorge um meine Vorbereitung wird immer größer, und seit Tagen habe ich keine Nachrichten von zu Hause mehr. Ich bin froh, als wir entlassen werden und ich im Hotel nach einer Möglichkeit suchen kann, ins Internet zu kommen. Keine Chance, man bekommt zwar freien Zugang, aber seinen PC den muss man schon selbst mitbringen.

Ich frage nach einem Internetcafé. Die Frage wird erst mal gar nicht verstanden, und dann weiß man keine Antwort. Man bittet um Aufschub. Während der ganzen Zeit kommen immer neue Gäste, die einchecken. Als ich dann wieder an der Reihe bin, sagt mir der junge Mann, er werde seinen Chef fragen, sobald der wiederzurück komme. Es scheint eine Unendlichkeit zu dauern, und ich werde immer nervöser. Dann gibt es eine Adresse.

Ich mache mich sofort auf den Weg. Es fängt an zu regnen. Einen Schirm habe ich nicht, und die Regenjacke, die ich eingepackt habe, hat keine Kapuze.

Unterwegs sehe ich eine Demonstration gegen Guantánamo. Einige Aufrechte lassen es sich durch das schlechte Wetter nicht nehmen, mit Plakaten und Übernachten im Freien auf den Skandal und Obamas großes Versprechen zu erinnern.

Es geht immer weiter, immer die selbe Straße hinunter. Der Weg zieht sich. Als ich dann an der richtigen Straßenecke stehe, sehe ich das Lokal immer noch nicht. Und keiner kennt es. Dann sehe ich es doch. An der Theke bekommt man Zugang für einen Computer. Ich werde allerdings darauf hingewiesen, dass in einer halben Stunde ein Livekonzert beginnt und dass es mächtig laut werden wird. Macht nichts. Als erstes gehe ich ins Internet. Keine Nachricht. Große Frustration. Da ist mit Sicherheit irgendetwas passiert. Und alle verschweigen es mir, um mich nicht unnötig zu beunruhigen.

Dann versuche ich es mit meinen Dateien. Auf dem ganzen PC scheint kein Word-Programm zu sein. Der PC scheint meinen Stick auch nicht zu erkennen. Nach einigem Suchen finde ich Word Pad. Damit kann ich meine Dateien zwar öffnen, aber nicht bearbeiten, und alles erscheint wie Kraut und Rüben. Ich gehe zur Theke und frage nach, aber erst, nachdem ich mir einen Ruck gegeben habe. Ich werde immer unsicherer, als er mich nicht versteht und ich ihn nicht. Er weiß wohl gar nicht, was mein Anliegen ist, erklärt sich dann aber widerwillig bereit, sich die Sache anzusehen. In dem Moment fängt die Musik an. Wir gestikulieren ein bisschen vor dem PC herum und schreien und was ins Ohr, aber ohne Erfolg. Irgendwann gibt er es kopfschüttelnd auf.

Ich mache mich auf den Rückweg, mit Kopfschmerzen, Hunger und Rückenschmerzen. Im Hotel empfiehlt man mir, eine Telefonkarte zu kaufen. Es gebe ganz in der Nähe ein Convenience Store. Als ich das endlich gefunden habe, bekomme ich eine billige Karte: 5 $. Ob man damit auch ins Ausland telefonieren kann? Irgendwie werde ich wieder nicht verstanden, entweder wegen meiner Aussprache oder weil meine Fragen zu blöd erscheinen. Ich nehme die Karte und versuche die Instruktionen zu verstehen. Keine Chance. Nach Jahrzehnten Englisch in Schule und Uni und Ausland kann ich die Instruktionen auf einer schnöden Telefonkarte nicht verstehen. Meine Frustration wird immer kompletter. Aber ich wüsste auch gar nicht, wo ich sie verwenden könnte. Ein öffentliches Telefon habe ich noch überhaupt nicht gesehen. Das gab es früher mal. Und ausgerechnet morgen und übermorgen kann ich auch nicht ins Büro und dort nachfragen.

Jetzt bin ich nur ein elendes Häufchen, glaube, dass die ganze Sache mit Portland unter einem schlechten Stern steht und falle sogar in Depressionen, wenn ich daran denke, dass ich meinen Kamm, die Kappe meines Sticks verloren habe und an einem Food Cart über die Ohren gehauen worden bin.

20. Juni (Donnerstag)

Ich wache mit Kopfschmerzen und Überkeit auf, aber alles, nciht nur das, wird im Laufe des Tages ganz allmählich besser.

Zum ersten Mal habe ich bis zum Morgen geschlafen, zwölf Stunden, und habe auch dann noch keine Lust, aufzustehen.

Ich träume davon, dass ich einen langen Trainingslauf mache und erst nach einiger Distanz merke, dass ich mit freiem Oberkörper und mit Straßenschuhen laufe.

Auch der Computer verfolgt mich im Schlaf. Eine Gruppe junger Männer umringt mich und gibt mir Tipps, wie ich ihn wieder in Ordnung bringen kann. Einer von ihnen sagt immer wieder, ganz betont, „Jülich“, aber ich verstehe nicht, was damit gemeint ist.

Im Reisefüher lese ich von einem Ort an der Küste Oregons, der Fort Ross heißt und tatsächlich nach Russland benannt ist. Die Gegend war überhaupt nicht amerikanisch von Beginn an. Hier hatten Russen, Spanier, Briten und Franzosen ihre Stützpunkte und Handelsstationen, bevor die ersten amerikanischen Siedler kamen.

Im Reiseführer wird auch das berühmte Felsskulptur von Mt. Rushmore beschrieben. Jeder Präsident, heißt es, sei wegen eines besonderen Verdienstes in die Riege aufgenommen worden.

Ganz in der Nähe entsteht als alternatives Denkmal, eine Felsskulptur, die Crazy Horse darstellt. Sie soll die vier zusammen noch an Größe übertreffen. Man verweigert die Annahme staatlicher Unterstützung, und so zieht sich die Sache in die Länge. Aber man bleibt am Ball.

Dann lese ich noch von Astoria. Das scheint der sehenswerteste Ort an der Küste zu sein. Und wohl auch der älteste. Es ist benannt nach Jakob Astor, der, in Deutschland geboren, ausgewanderte und durch Pelzhandel und Teehandel reich wurde, vor allem aber durch Bodenspekulation. Einer seiner Söhne baute ein Hotel, das er nach dem Geburtsort des Vaters nannte, Waldorf. Dann baute der andere Sohn auch ein Hotel und nannte es nach dem Nachnamen des Vaters Astoria.

In Astoria gobt es eine Säule, die der Trajanssäule in Rom nachempfunden ist, aber mit all ihren bunten Zeichen irgendwie aztekisch aussieht.

Dann heißt es Koffer packen, an der Rezeption abstellen und zur East Hall. Heute gibt es einen Haufen Papierkram zu erledigen. Wir haben teils identische, teils unterschiedliche Dokumente, und trotz all der geduldigen Erklärungen gibt es immer wieder Fragen und Verwirrung. Außerdem braucht man immer wieder Daten, die man auf die Schnelle gar nicht zur Verfügung hat und Sparten, bei denen man nicht weiß, was man da ausfüllen soll.

Zwischendurch kommt die Vorsitzende des Auslandsamts und stellt sich vor und überreicht uns eine Anstecknadel von der PSU. Die werden in China hergestellt.

David betont, das J1 sei ein gutes Visum, denn es werde vom Außenministerium erteilt und erlaube einem alle möglichen Freiheiten. Man könne zum Beispiel bequem durch die Gegend reisen, in alle Teile der USA, einschließlich Jamaika!

Dann gibt es ein paar Instruktionen zum Unterricht. Die sind aber wohl eher an Vertreter anderer Kulturen gerichtet. Man solle nicht einfach dozieren, sondern die Studenten in die Diskussion einbeziehen. Das erwarteten die. Ich frage auch nach Noten, Kleidung, Anrede.

Dann geht es einmal über den Campus, aber der Orientierung dient dieser Gang nicht. Wir kommen an einer Überführung vorbei, an der in goldenen Lettern das Motto der PSU steht: Let knowledge serve the City. Ein sehr modernes und etwas utilitaristisches Motto, ganz anders als das der barocken deutschen Universitäten.

Wir kommen ann auch am Institut für Urban Develpoment vorbei, dem Paradestück der PSU, weit über Portland hinaus bekannt. Das ist auch das beste Beispiel für die Verwirklichung des Mottos.

Die Studentenzahl in den USA, erfährt man, ist in den letzten Jahren stabil geblieben, die in Portland weiter gestiegen. PSU hat jetzt 30,000 Studenten, fast doppelt so viele wie Trier.

Dann gehen wir zu einer Verwaltungsabteilung, die hier Human Resources heißt, so etwas wie die Persoalabteilung. Hier werden unsere Anträge durchgesehen, und wir erhalten Instruktionen für das weitere Vorgehen.

Dann geht es zur Verwaltung, um einen Ausweis zu bekommen. Man wird hier sehr freundlich bedient, und das Lichbtild wird gleich an Ort und Stelle gemacht. Das Mädchen, das meinen Ausweis macht, stammt aus Panama und ist ganz und gar zweisprachig.

Als wir fertig sind, gehe ich dann alleine zum Helpdesk. Sie gucken sich mein Netbook an und schicken mich zum Computer Lab, helfen mir aber vorher noch, mich anzumelden im System.

Beim Computer Lab, im Broadway Building, stellt sich heraus, dass ich schon das Internet benutzen kann, selbst auf dem defekten Netbook. Das ist ja schon mal was. Die Software kann man gleich auf diesem Wege beantragen, und sie helfen mir dabei, das zu tun.

Ich sehe, dass es hier auch einen PC-Pool gibt. Das ist wohl mit Computer Lab gemeint, eher als die Reparaturwerkstatt. Ich frage ganz vorsichtig an, ob ich den benutzen könne. Ja, klar, ich hätte ja einen Ausweis. Dann frage ich auch noch ganz vorsichtig, ob sie vielleicht auch samstags geöffnet hätten. Samstags? Klar, 7 Tage die Woche, 24 Stunden! Große Erleichterung. Dann kann ich am Wochenden hier meine Vorbereitung machen. Es ist ja auch immer jemand da, der einem hiflt.

Dann gehe ich zum Housing, und als ich danach frage, wie ich da hinkomme, geht das Mädchen vom Computer Lab gleich mit mir auf den Gang und zeigt auf einen Raum am anderen Ende: Da ist es! Im gleichen Gebäude. Wunderbar. Da gibt es dann erst mal ein bisschen Verwirrung, aber am Ende taucht mein Schlüssel auf. Das Zimmer ist auch im Broadway Building, in demselben Gebäude, aber man benutzt einen anderen Eingang.

Mit dem Schlüssel und der Inforamtion ausgererüstet will ich mich auf den Weg zum Hotel machen. An dem Aufzug steht aber: This elevator does not work. Please use the elevator on the first floor. Was? Da bin ich doch! Nee, da bin ich nicht. Ich bin in Amerika, und da ist first floor unten!

Als ich dann mit meinem Koffer zum Broadway Building zurückkomme, will sich der Aufzug nicht in Bewegung setzen. Das Zimmer ist im 7. Stock, und eine Treppe ist nicht in Sicht. Dann geht mir, im wahrsten Sinne des Wortes, ein Licht auf: Man muss den Schlüssel vor ein kleines Licht an einer elektronischen Vorrichtung halten, um den Aufzug zu aktivieren.

Das Zimmer ist eine positive Überraschung, jedenfalls auf den ersten Blick. Es ist sehr geräumig, hat viel Stauplatz und einen richtigen Schreibtisch. Es gibt sogar, anders als angekündigt, einen Kühlschrank und einen Herd. Dass ich keine Bügel, keinen Kessel, nicht einmal einen Teller habe, fällt erst mal nicht ins Gewicht. Und dass es etwas muffig riecht und man das Zimmer nicht verdunkeln kann, auch noch nicht. Auch nicht, dass es außer am Eingang und im Bad kein Licht gibt.

Nach dem Auspacken gehe ich dann wieder ins Computer Lab und mache mich daran, die Dokumente für Montag zu überarbeiten. Zur Sicherheit schicke ich alle an meine eigene Mailadresse.

21. Juni (Freitag)

Wieder werde ich mitten in der Nacht wach. Da es kein Licht gibt, gehe ich in den PC-Pool, dann wieder ins Bett.

Dann gibt es eine kalte Dusche. Ich drehe die Kurbel einmal komplett von Rot auf Blau und dann wieder langsam in die andere Richtung. Alles umsonst. Es bleibt kalt. Dann erst, als ich schon trocken bin, fällt der Groschen: Man kann den Hebel mehr als einmal drehen. Erst nach zwei Runden fängt das Wasser an, warm zu werden. Später erzählt mir Gai, dass es ihr genauso gegangen ist.

Der Ausflug heute, bei bedecktem, aber trockenem Wetter, führt zum Columbia River, und zwar zur Columbia River Gorge, einer Schlucht, die sich der Fluss durch die Berge geschaffen hat, zwischen dem Mt Adams und dem Mt Hood. Der Columbia hatte nach dem Rückzug des Eis nach der letzten Eiszeit so viel Wasser, dass es stark genug wurde, sich durch die Berge hindurchzuzwingen.

Als wir vor der Abfahrt zusammestehen, gibt es Diskussionen über Unterbringung und Preise. Die alten Hasen weisen darauf hin, wie viel teurer die Miete geworden sei. Aber auch darauf, dass der Preis jetzt wohl niedriger sein wird als angekündigt. Und das, obwohl wir im Broadway und nicht, wie angekündigt, in Ondine untergebracht sind. Gilt als besser und ist wohl dem Einfluss von Alexander zu verdanken, der in Mails an David immer und immer wieder darauf gedrängt hat. Alexander ist der Macher. Er fragt auch immer wieder danach, wie das denn mit der Bezahlung sei. Und bremst mich, als ich sage, ich wolle mir einen Wasserkocher und etwas Geschirr besorgen. Das müssten die zur Verfügung stellen. Er werde schon mit den zuständigen Leuten sprechen.

Am besten angezogen ist Chen, modernste europäische Freizeitkleidung bester Qualität. Dagegen wirken wir anderen wie in Lumpen gekleidet.

Wir fahren über eine Stadtautobahn und überqueren dann einen Fluss, den Sandy. Auf einmal hat man ein völlig anderes Bild. Natur pur. Alles ist sehr grün und nicht so verschieden von Zuhause wie ich mir das gedacht habe. Bei unserem ersten Halt, wo man von einem etwas erhöhten Punkt auf den Columbia runterguckt, habe ich das Gefühl, am Rhein zu sein. Und es gibt tatsächlich hier in der Nähe den Ort Bingen-on-the-Columbia.

Der ruhige Wasserlauf ist das Resultat von zwei Schleusen, beide gebaut während der Roosevelt-Zeit als Teil des New Deal, als Arbeitsbeschaffungsmaßnahem. Der Fluss muss früher viel wilder gewesen sein und viele Stromschnellen gehabt haben. Die ersten Siedler, die hier durchkamen, mussten den Fluss nicht mit Booten befahren. Sie verluden ihr Hab und Gut und umrundeten den Mt Hood auf dem Landweg.

Mit dem Blick auf den Fluss hinunter bekommen wir von David eine interessante Erklärung der geologischen Verhältnisse: Hier oben schiebt sich eine Platte unter die andere, drückt diese nach oben und setzt das heiße, geschmolzene Material des Erdinnerns frei. Weiter unten, in Kalifornien und Mexiko, drückt eine Platte gegen die andere. Und bringt die Erde zum Wackeln. Daher gibt es dort Erdbeben, hier Vulkanausbrüche.

Er selbst kann sich noch an einen Vulkanausbruch aus seiner Kindheit erinnern. Dabei war der Ort, in dem er lebte, mehr als 300 Kilometer von dem Vulkan, dem Mount St. Helens, entfernt. Aber dennoch verfärbte sich auch da auf einmal der Himmel. Der Eindruck, wie der eine Teil des Himmels blau und der andere schwarz war, ist ihm sichtlich heute noch präsent. Die anderen Amerikaner konnten den Vulkanausbruch am Fernseher verfolgen!

Durch die Schlucht, die viel weiter ist als das Wort Schlucht nahelegt, führte früher nur ein besserer Eselspfad. Dann betrat Mr Benson die Bühne, eine Industrieller, der sehr auf seine Außendarstellung bedacht war, und propagierte – und finanzierte, wenn ich das richtig verstehe – den Ausbau des Pfades zu einer richtigen Straße, für das neu aufkommende Automobil. Diese Straße ist jetzt ziemlich genau einhundert Jahre alt. An unserer Stelle war ein Rastplatz. Hier konnten Fahrer und die Autos eine Pause machen. Der Platz ist markiert durch einen achteckigen, tempelartigen, mit einer Laterne versehenen Pavillion im Nouveaux Art Stil. Da drin befindet sich jetzt eine kleine Informationsstelle. Drinnen gibt es Büsten von Indianern, oben, am Beginn der Laterne. Die Indianer blicken unverwandt in die Weite. Diese Büsten stammen aus der Zeit, als die Indianer in ihre Reservate vertrieben waren und sich das Bild des Indianers plötzlich wandelte. Der war jetzt auf einmal nobel und mysteriös, nicht mehr wild und gemeingefährlich.

Dann kommt der erste Wasserfall, sehr schön anzusehen. Man genießt den Blick und das Rauschen und die Gischt.

Dann wiederholen sich die Wasserfälle, und es geht einem ein bisschen so, wie ich mir eine Fahrt durch die Fjorde vorstellte: Nach dem vierten weiß man nicht mehr, wie der dritte war.  Der letzte Wasserfall, die Multnomah Falls, ist der größte, aber die anderen, wie der Bridal Veil Falls, sind genauso schön. Der soll so aussehen wie ein Brautschleier. Der kleine Ort an dem Wasserfall unterhält eine eigene Poststation, da die Leute eigens hierher kommen und ihre Hochzeitseinladungen von hier aus verschicken, mit dem “passenden” Poststempel Bridal Veils.

Zwischen den Wasserfällen, bei einem Schild mit der Aufschrift Shepperd’s Dell, kommt die Rede auf Nachnamen. Die anderen haben erkannt, dass das meinem Nachnamem ähnelt. Auf Russisch bedeutet Schäfer so etwas wie Brautfüher, oder eher einer, der die ganze Hochzeitsgesellschaft anführt. Eine wichtige Aufgabe. Aber schwerer als das mit den Schafen.

Wir sprechen ein bisschen über die verschiedenen und doch dann wieder sehr gleichen Traditionen in der verschiedenen Sprachen. Alexanders Nachname ist von Hahn abgeleitet, und ich erwähne unseren Nachnamen Hahn. Sein Nachname ist aber eine Verkleinerungsform. Eigentlich heißt er Hähnchen. Aber Hahn passt besser zu ihm. Und Olgas Nachname hat was mit Nase zu tun. So was wie Naseweis vielleicht.

Beim Aufstieg zu einem der Wasserfälle macht Jaiwanti die Bemerkung, die Natur sei überall gleich. Ich will sofort widersprechen, aber sie zeigt auf Farn und Distel und sagt, die gebe es in Indien auch und sie sähen genauso aus. Da muss ich klein beigeben. Auch die Bäume wirken nicht exotisch.

Bei einem anderen Aufstieg erzählt er mir von den Tropfsteinhöhlen in China. Auch dort machen die Führer den Besuchern klar, dass eine Formation wie ein Drache oder wie ein Kerzenständer oder wie ein Totenkopf aussehen. Aber nur bis zur Kulturellen Revolution. Danach gab es überall nur noch Rote Garden und revolutionäre Banner zu sehen.

Die Gegend lebte früher in erster Linie von der Forstwirtschaft. Das war eben das, was da war. Die Baumstämme wurden oben gefällt und dann die Stromschnellen herunter gelassen, um mühsamen Transport zu ersparen. Die Gegend war zu einem Zeitpunkt praktisch abgeholzt, aber es wurde dann wieder systematisch aufgeforstet.

An einem der Wasserfälle machen wir ein Picknick. Alexander, der gerissene Stratege, hat auch schon Lehraufenthalte in Washington und in Alabama gemacht. Er schwärmt vor allem von Alabama, wo er auch zu einer Hochzeit eingeladen war. Die Leute hätten zwar merkwürdige Vorstellungen von Russland – überall laufen Bären herum – aber das Essen…!

In einer stillen Minute mache ich den Vorschlag, für David ein gemeinsames Geschenk zu besorgen und bekomme als Belohnung gleich den Auftrag, das zu erledigen. Dann aber kommt die Quertreiberin Olga. Ein Buch? Keinesfalls. Das sei viel zu persönlich. Damit habe sie schlechte Erfahrungen gemacht. Zum jetzigen Zeitpunkt? Viel zu früh. Damit sollten wir bis zu unserer Abreise warten. Alexander schreitet ein und spricht ein Machtwort: Lass ihn machen.

Dann geht es noch zu einem Wasserfall, und es wird deutlich, dass David nach Hause will, und alle merken es – außer Olga. Die besteht darauf, dass man auch hier nach oben kraxeln soll, wo man auf einer Brücke auf halber Höhe des Wasserfalls steht. David macht gute Miene zum bösen Spiel.

Als wir wieder in Portland sind, führt uns Alexander dann noch zu Safeway zum Einkaufen. Ein riesiger Einkaufsmarkt. Im Grunde aber nicht viel anders als bei uns. Auch hier packt man das Obst in Plastikbeutel, die an der Theke gewogen werden. Mitten im Supermarkt ist auch eine Apotheke. An einem Fenster mit der Aufschrift Prescriptions stehen Leute Schlange.

Organisch, findet Alexander, solle man nicht kaufen. Das sei nur dazu da, die Preise in die Höhe zu treiben. Und auch Truthahn nicht. Das sei immer Pressfleisch. Hähnchen sei besser. Er hat auch schon eine Paybackcard von Safeway, die er uns hiemlich beim Bezahlen zuschiebt.

22. Juni (Samstag)

Als ich um kurz nach fünf in Laufschuhen vor dem Gebäude stehe, ist es schon hell. Gott sei Dank. Ich nehme zur Sicherheit Stadtplan und Münzen mit. Es geht zum Willamette hinunter, dann am Fluss entlang, über die Steel Bridge, an der anderen Seite entlang und über die  Hawthorne Bridge zurück. Nach 50 Minuten stehe ich wieder vor dem Wohnheim. Dasselbe dann noch zweimal. Geht ganh ordentlich, aber: Ob es für einen Marathon reicht?

Unten am Fluss, auf einem kleinen Stück Gras unter einem Baum zeigt sich die andere Seite des American Dream. Hier übernachten Obdachlose, in einer größeren Gruppe, mit Decken oder Schlafsäcken. Auch auf den Bänken unten am Fluss schlafen welche. Als ich beim dritten Mal vorbeikomme, werden sie langsam wach.

Die Stadt ist noch still, es gibt kaum Bewegung, nur die Straßenbahnen und andere Läufer sind schon unterwegs. Alle laufen schneller als ich. Ohne Ausnahme. Auch dies eine der amerikanischen Widersprüche: All diese durchtrainierten Menschen, und dann all die, denen man das ungesunde Leben im Exzess ansieht. An der Körperfülle, um es vornehm auszudrücken.

Wieder im Wohnheim, sehe ich vom Fenster des Zimmers, wie auf dem Dach des benachbarten Hauses ein Auto umherkurvt. Erst auf den zweiten Blick merke ich, dass es ein Parkhaus ist.

Danach gehe ich ins Stadtzentrum hinunter. Auch jetzt ist es noch unheimlich ruhig. Alle scheinen sich einig zu sein, dass der Tag um 10 Uhr beginnt: Museen, Geschäfte, Märkte. Auch der Stadtrundgang, zu dem ich will.

Die Cafés haben allerdings schon lange auf. Mangels Alternative gehe ich zu dem ungeliebten Starbucks. Zu dem nicht sonderlich guten Kaffee gibt es ein wunderbares, warmes Gebäck, ein morning bun. Die Sonne ist herausgekommen, und einige sitzen sogar draußen. Es soll der bisher schönste Tag in Portland werden.

Bei der Stadtführung sind Amerikaner aus verschiedenen Teilen der Westküste, von San Francisco bis Newport, vertreten und ein junges englisches Paar. Eine schlanke, kurzhaarige Frau, die wie eine Lehrerin aussieht, übernimmt die Führung. Sie kommt allerdings mit den Modalitäten des Laptops nicht zurecht, mit dem die Zahlung notiert wird. Das übernimmt eine kräftiger Mann mit rotem Bart. Ich hatte gehofft, er werde die Führung übernehmen. Souverän bedient er das Gerät und sagt salopp: Twenny bucks. Man kann bar bezahlen!

Ich habe inzwischen die Erfahrung gemacht, dass ich die Amerikaner verstehe, aber sie mich nicht. In England ist das umgekehrt! Wo es genau hapert, weiß ich noch nicht, aber es hat irgendetwas mit den Hintervokalen zu tun. Bei coffee und hall gibt es jedenfalls Schwierigkeiten. Während der Führung ist es aber einmal umgekehrt: Ich verstehe die Führerin nicht. Ich werde auf eine deutsche Firma angesprochen, deren Namen ich noch nie gehört habe. Dann macht es klick: Adidas. Das wird hier auf der zweiten Silbe betont und klingt wie adeedus. Mir rutscht raus: Ach so, Adidas. Und die Engländerin nickt zustimmend. Ja, Adidas. so sagen wir das auch.

Die Führung ist interessant, aber auch eine Propagandaveranstaltung für Portland. Ich habe längst gemerkt, dass der Nationalismus hier durch Lokalpatriotismus ersetzt wird. Das gilt vor allem für alles, was mit Umwelt zu tun hat: Wörter wie green, sustainablility, organic, environmentally friendly werden einem ständig um die Ohren gehauen. Wegen dieses Ticks gelten die Portlander als etwas verschroben, und eine Fernsehsendung, Portlandia, macht sich lustig darüber.

Tatsächlich hat man in Portland einiges bewirkt, das kann man nicht abstreiten. Dennoch fragt man sich, wie das vereinbar ist mit all den Wolkenkratzern, den dicken Autos und den allgegenwärtigen großen Plastiktassen, in denen Kaffee serviert wird und die man die Straße rauf und runter paradiert. Und einige der gefeirten Errungenschaften sind in Mitteleuropa längst Standard. Was ich allerdings noch nirgends gesehen habe, ist ein solarbetriebener Abfallbehälter: Der steht einfach am Straßenrand herum und nimmt Plastikzeug auf. Und sogar im verregneten Portland schafft es die Sonne, 100% Müll auf 20% runterzufahren, und kann dann wieder 80% aufnehmen und die Gesamtmenge auf 40% reduzieren. Eine andere Kuriosität sind die städtischen Busse, die die Fahrräder der Passierige vorne vor sich her kutschieren. Das vermeidet, dass sie den Innenraum versperren.

Der Ausgangspunkt der Umweltbewegung war keine Ideologie, sondern Notwendigkeit: Portland war völlig verschmutzt war und wurde von irgendeiner Behörde immer wieder zu Strafzahlungen verurteilt wurde, so sehr, dass angeblich sogar der Bankrott drohte. Da legte man den Hebel um und entwickelte den Downtown Plan. Erst einmal ging es darum, die Menschen aus den Vororten wieder in die Stadt zu locken. Die vielen Pendler verursachten die meiste Verschmutzung. Dann ging es darum, ein gutes Straßenbahn- und Busnetz zu schaffen. Und Radwege anzulegen. Und dann darum, den völlig versifften Willamette wiederzubeleben. Dazu wurde u.a. eine sechsspurige Schnellstraße beseitigt, die den Fluss von der Stadt trennte. All das wurde mit Bravour bewältigt.

Unser erster Halt ist der Pioneer Square, eigentlich Pioneer Courthouse Square. Das Gericht ist in einem alten, mit einer viereckigen Laterne bekrönten Gebäude untergebracht – eine Dependenz der entsprechenden Instanz in San Francisco – und ist bekannt für seine liberalen Urteile, aber auch bekannt dafür, dass die immer wieder von höheren Instanzen aufgehoben werden. Das Gebäude hat in seiner Geschichte verschiedene Funktionen gehabt, u.a. Postamt und Schiffsbehörde. Aus der Zeit stammt die Laterne, von der aus man Sicht auf alle vier Seiten hat, vor allem eben auch auf den Willamette.

Der Pioneer Square, der auf den ersten Blick nicht sondernlich spektakuär ist, gewinnt durch die Erklärungen, die Dinge sichtbar machen, die vorher unsichtbar waren. Dazu gehören die roten Ziegelsteine, die den Boden pflastern. Jeder trägt einen Namen. Als man sich an die Neugestaltung des Platzes machte und Geldquellen suchte, bot man den Bürgern an, einen Ziegelstein zu kaufen. Davon machten 50.000 Leute Gebrauch, und es kam eine knappe Million Dollar zusammen. Man kann seinen eigenen Namen verwenden, aber auch einen Phantasiennamen. Deshalb sind hier auch Gott, Elvis und Mickey Mouse vertreten.

Die Neugestaltung des Platzes war auch ein Teil des Downtown Plan. Hier stand ursprünglich das vornehmste Hotel Portlands, das dann aber abgerissen und durch ein Parkhaus ersetzt wurde! Das vertrug sich nicht so gut mit dem neuen Ansatz. Statt den Autos sollte der Platz jetzt den Menschen dienen. Er ist jetzt Treffpunkt und Ort für Veranstaltungen. An mehr als 300 Tagen im Jahr ist hier etwas los, vom Bauernmarkt bis zum Popkonzert. Dazu dienen die Sitzreihen, die etwa wie in einem Amphitheater angeordnet, auf drei Seiten die niedrige Plattform umgeben, alles aus denselben Ziegelsteinen wie der ganze Platz.

An einem Ende des Platzes ragt ein blauer Reiher aus einer Säule heraus. Es ist eine Art Wetterfahne. Der blaue Reiher steht für freundlich, aber bewölkt. Seine Kontrahenten, die bei entsprechendem Wetter zum Vorschein kommen, sind die Sonne und ein Drachen.

Am anderen Ende des Platzes die typische Wegetafel mit Entfernungsangaben in Orte in aller Welt. Es sind entweder Partnerstädte von Portland wie Sapporo oder Lillehammer oder Orte mit kuriosen Namen in Oregon wie Remote. Es soll in Oregon auch ein Boring geben. Das hat in Schottland eine geeignete Partnerstadt gefunden: Dull.

Die auffälligste Figur am Pioneer Square ist eine Bronzefigur, den typischen Portlander seiner Zeit darstellend, mit dreiteiligen Anzug und, vor allem, mit Regenschirm.

Wir gehen runter Richtung City Hall. Auf zwei parallelen Straßen sind in oder am Wasserbecken die typischen Tiere der Region dargestellt, darunter Schwarzbären und Otter.

Dann machen wir Bekanntschaft mit den Benson Bubblers. Das sind die schönen, kleinen Brunnen, die ich schon am ersten Tag gesehen habe. In einer Messingschale sprudelt aus vier kleinen, wie Kerzenhalter aussehenden Röhrchen Wasser nach oben. Bestes reinstes, nicht behandeltes Trinkwasser, aus dem Columbia River Gorge kommend, wie man uns versichert. Diese Brunnen wurden auch von Benson, ebendem Unternehmer, der auch die Straße an die Wasserfälle finanziert hat, bereitgestellt, mehr als zwanzig. Sie sind inzwischen hundert Jahre alt. Die Stadt hat weitere dreißig Brunnen finanziert. Man findet sie über das ganze Stadtzentrum verteilt.

Die City Hall befindet sich in einem alten, viktorianisch aussehenden Gebäude, dessen einer Teil stehen blieb und dessen anderer Teil abgerissen wurde und einem modernen, genauer gesagt postmodernen Hochhaus wich, da nicht genug Platz für all die Verwaltungseinheiten war. Der Bau ist ein Gegenentwurf zu den modernen, meist aus Stahl und Glas bestehenden Wolkenkratzern und ist äußerst umstritten. Er hat viele Gegner und viele Befürworter. Vor der Fassade, etwas erhöht, steht Portlandia, der nach der Freiheitsstatue größten Kupferskulptur der Welt. Die Kupferschicht ist allerdings nur so dünn wie ein Cent, darunter ist ein Stahlkörper. Damit die Figur nicht grün anläuft, wird sie alle paar Jahre abgenommen und einer Wachskur unterzogen. Das Ergebnis ist allerdings fragwürdig: Was früher goldgelb glänzte, ist jetzt dunkel und matt.

Wir kommen dann auf den Broadway, der eigentlich 7th Avenue heißen müsste, aber in Erinnerung an alte Zeiten seinen Namen behalten hat. Eine 7th Avenue gibt es nicht. Der Name geht wohl zurück auf eine Konzerthalle, die früher so hieß. Heute heißt sie einfach Portland, und das große, lange Neonzeichen, das wie aus den Vorkriegszeiten aussieht, zieht von weither die Blicke auf sich. Dieses Gebäude heißt volkstümlich The Schnitz, nach einer Mäzenin, Arlene Schnitzler benannt.

Wir gehen in ein hochmodernes Gebäude gleich gegenüber, einem Annex des alten Theaters, das mit dem zusammen das PCPA, das Portland Center for the Performing Arts, bildet. Das Gebäude sieht nicht  sehr einladend aus, wartet aber mit einer spektakulären  Eingangshalle auf: Die ganze, vielwinklige Wand ist mit alten Theaterlogen in moderner Ausführung, aus beigem Holz mit roten Einfassungen besetzt, so als würde man auf den gerade eintretenden Besucher herabsehen, der sozusagen auf der Bühne steht. Die Halle ist bekrönt von einer flachen Glaskuppel, in der sich das Sonnenlicht, je nach Stärke und Einfallswinkel, bricht und blaue und gelbe Streifen produziert. Sensastionell. Erst jetzt verstehe ich, dass ein Schild draußen, das Theaterführungen ankündigt, sich auf dieses Gebäude bezeiht und nicht auf das Broadway!

Wir kommen dann in das vertraute Universitätsviertel. Hier, ganz in der Nähe der Oregon Historical Society, in der der Portland Penny aufbewahrt wird, gibt es eine Erklärung zur Gründung und Entwicklung von Portland. Der beste Teil der Führung.

Portland liegt auf halber Strecke zwischen Oregon City im Süden und dem Stützpunkt der Hudson‘s Bay Company im Norden, an der Grenze zu Washington. Man gelangte vom einen zum anderen mit dem Boot und legte hier auf halbem Weg eine Pause ein. Für diesen Ruheposten mitten in der Wildnis wurden ein paar Bäume gefällt, und der Ort erhielt den Namen Clearing. Später wurden zwei Siedler, William Overturn und Asa Lovejoy, auf den Punkt aufmerksam und steckten hier ihren claim ab. Man brauchte das Land noch nicht einmal kaufen, sondern nur eine Art Verwaltungsgebühr entrichten. Die betrug damals 25 – Cent! Dafür bekamen sie  knapp die Häfte der heutigen Innenstadt, südlich der Burnside Bridge und ihrer Verlängerung. Sie nannten den Ort Stumptown wegen der abgeholzten Bäume. Die gesamte Summe wurde von Lovejoy bezahlt, und Overturn zahlte seine 12,5 Cent nie zurück. Er wurde dann aber durch den Goldrausch nach Kalifornien gelockt und verkaufte seinen Anteil – für 50$. Ein gutes Geschäft. Der Käufer war F. W. Pettygrove, aus Portland, Maine, stammend, und der war derjenige, der mit Lovejoy, aus Boston, die Münze warf, um den Namen der neuen Stadt festzulegen.

Später betrat dann ein gewisser Couch die Szene, den man, wenn man hier was gelten will, nicht wie couch ausspricht, sondern mit dem u: aus boot. Der steckte seinen Claim in Norden der Linie ab und erweiterte die Stadt um alles, was heute nördlich der Burnside Street liegt. Lovejoy und Pettygrove hatten ihre Stadt nach Norden ausgerichtet, und das tat auch Couch, aber statt des magnetischen Nordens entschied er, ein alter Seebär, sich für den an Sternen ausgerichteten Norden. Oder so ähnlich. Das erklärt, dass der Stadtplan nördlich der Burnside Street einen Knick hat. Die Straßen verlängern sich nicht gerade nach oben, sondern stehen in einem Winkel zu denen im Süden.

Im nördlichen Teil haben alle drei auch Straßen, die nach ihnen benannt sind. Die Führerin nennt noch ein paar weitere Straßennamen und fragt, ob die jemandem bekannt vorkämen. Nur eine kleine Chinesin aus San Francisco, die auch vorher schon alle Fragen beantworten konnte, weiß die Antwort: leicht verfremdete Namen von Charakteren aus The Simpsons. Der Erfinder oder einer der Manuskriptschreiber der Serie kommt aus Portland!

Wir gehen dann zum Fluss runter und durchqueren einen kleinen Park, in dem eine Skulptur steht, die eine dreiköpfige Familie darstellt: frühe Siedler. Der Gesichtsausdruck ist bei allen anders: der Mann hoffnungsfroh, die Frau besorgt, der Junge verwirrt. Irgendwie stellt man sich das wirklich so vor. Viele Frauen haben vermutlich ihre Männer für verrückt gehalten, sich auf so etwas einzulassen. Später lese ich in einem Museum, dass immerhin 40% der Siedler Frauen waren, mehr als ich vermutete. Die Aufstellung der Skulptur führte zu einer öffentlichen Diskussion: Der Junge hat eine Bibel in der Hand. Und sofort fühlte sich wieder jemand diskriminiert. Dann sprachen die Historiker der PSU ein Machtwort: historisch glaubwürdig. Darum geht es doch, nicht um Propaganda.

Weiter unten kommen wir an dem hypermodernen World Trade Center vorbei. Viele bekannte Firmen, darunter Microsoft, Apple und Tiffany’s haben hier ihren Sitz oder einen Vorposten, da es in Oregon keine Sales Tax gibt. Was das genau ist, weiß ich nicht. Hört sich nach Mehrwertsteuer an, aber soll wohl noch etwas anderes sein. Außerdem ist hier das Basislager von Nike, dessen Gründer auch aus Portaland kommt und auf das gleiche College wie die Führerin gegangen ist. Die meisten japanischen Autos, die in die USA eingeführt werden, kommen über Portland. Wenn man nach hinten auf das moderne Glasbau des World Trade Center sieht und dann nach vorne, sieht man ein Kontrastprogramm: Hier gibt es noch einige Jugendstilhäuser, denen man nicht auf den ersten Blick ansieht, aus welchem Material sie gemacht sind. Wenn man aber auf den “Stein” klopft oder einen Magneten dranhält, wird es klar: Sie sind aus Eisen. Dann geht es runter zum Fluss, wo die Tour endet.

Ich gehe zu Macy’s, an einer Ecke des Pioneer Square gelegen, um ein paar Besorgungen zu machen: Bügel, Lampe, Kessel, Becher stehen ganz oben auf der Liste, aber ich verlasse das Geschäft mit leeren Händen. Irgendwie komme ich nicht zurecht, und die Artikel scheinen mir alle ein bisschen zu teuer. Ich würde jetzt so eine Art Woolworth oder Kaufhalle brauchen, um mich mit dem nötigsten auszustatten. Macy’s, sein Hauptquartier in New York, The biggest department store in the world, ist als einer der Orte eines berühmten Sprachexperiments bekannt. Dort wird es als Mittelklassekaufhaus eingestuft. Mir kommt es etwas besser vor.

Am Ende habe ich Schwierigkeiten, rauszukommen. Wieder dauert es eine Weile, bis ich merke, dass ich im Aufzug First Floor drücken muss, um wieder rauszukommen.

Ich gehe zurück und noch kurz über den Farmers’ Market, der gleich vor der Haustür stattfindet. Es stellt sich allerdings heraus, dass das nicht der Markt ist, den ich gesucht habe. Das ist der Portland Saturday Market, wo es auch Kunst und Ramsch gibt. Der findet unten am Fluss statt, und am Morgen habe ich schon Leute beim Aufbauen gesehen. Aber dahin zurück schaffe ich es nicht mehr. Also bleibe ich bei dem Bauernmarkt.

Die Stände sammeln sich um eine Wiese herum, mitten im Univiertel. Im Zentrum gibt es eine kleine Bühne mit ein paar wenigen Sitpltäzen. In der kleinen Musikgruppe ist auch das Instrument vertreten, das als einziges dem Dudelsack den letzten Platz auf der Liste der schönsten Musikinstrumente streitig machen kann: das Alphorn.

Auch hier heißt es: Go green. Es gibt Gartenprodukte, alles natürlich, biologisch, aus eigenem Anbau. Viel Gemüse, auch Käse und Brot und Honig, wenig Obst. Allerdings sind viele Stände mit Beeren vertreten. Darunter die für die Gegend typischen Jostaberries. Sehen wie größere Johannisbeeren aus. Ich nehme aber Brombeeren. Schmecken nach Westerwald und Kindheit. Und ich habe seitdem auch vermutlich keine mehr gegessen.

Auch hier scheint mir der Anspruch ein bisschen zu hoch gehängt. Das Brot, das es hier gibt, gibt es in Deutschland in jeder zweiten Bäckerei. Aber für Amerika ist es wohl etwas Besonderes. Und trotz all der natürlichen Produkte und der einfachen Stände ist die moderne Welt auch vertreten: Unter einem grünen Zeltdach befindet sich ein Geldautomat.

Als ich wieder zu Hause bin, kommt eine SMS von Ann Marie mit der Frage, ob ich die Einladung ihres Mannes bekommen hätte. Nein, habe ich nicht. Ich gehe ins Computer Lab und lese eine sehr freundliche, in ironisch antiquiertem, übertrieben höflichem Englisch geschriebene Mail. Der mir völlig unbekannte Mann, bietet mir an, mich morgen unter seine Fittiche zu nehmen und mir etwas von Portland zu zeigen. Dazu sollen auch Kneipenbesuche gehören. Ob das das richtige ist am Tag vor dem Beginn des Seminars?

23. Juni (Sonntag)

Als ich mitten in der Nacht ins Computer Lab gehe und schnurstracks auf die Computer zu, hält mich das Mädchen an der Rezeption an und verlangt meinen Ausweis zu sehen. Verständlich. Ich bin der einzige in dem ganzen Raum.

Nachdem ich zwei Stunden am Computer verbracht habe, gehe ich auf das Zimmer zurück, aber es ist noch zu dunkel zum Lesen. Das Zimmer hat nur im Eingangsbereich eine Deckenlampe, und die einzige Tischlampe, die existiert, ist defekt.

Also gehe ich raus, aber mein Spaziergang wird gestoppt, denn in dem Moment fängt es an zu regnen. Ich will einen Kaffee trinken gehen, aber alles ist noch geschlossen. Also gehe ich auf das Zimmer und warte ab, bis es halb sieben ist. Dann gehe ich den begehrten Kaffee trinken.

Am Vormittag breche ich dann zum Japanese Garden auf. Als ich schon unterwegs bin, merke ich, dass ich die Kamera vergessen habe. Als ich wieder am Aufzug stehe und den Schlüssel heraushole, fällt sie mir aus der Tasche.

Jetzt bleiben nur noch 45 Minuten bis zum Beginn der Führung in dem Japanischen Garten. Alexander hatte mich gewarnt: Das ist zu weit. Dahin kann man nicht zu Fuß. Aber auf der Karte sah es nicht so schlimm aus. Es geht nach Westen, und je länger der Weg, umso steiler geht es bergauf.

Die ganze Gegend ist für die oberen Zehntausend. Große Einfamilienhäuser in pseudoviktorianischem Stil oder große Wohnanlagen mit langen Balkonen. Ein bisschen wie die Parkallee in Monopoly.

Es fängt an, zu fisseln, und langsam wird der Regen immer stärker. Dann komme ich an den Eingang des Parks, aber hier ist der Rosengarten, nicht der Japanische Garten. Ich lege noch einmal etwas an Tempo zu, und irgendwann kommt auch ein Schild in Sicht. Das dann aber wieder verschwindet. Zwei Joggerinnen schicken mich eine steile, in Zickzackbewegungen sich hochwindende Straße rauf, und ich entschließe mich viel zu spät, zurückzukehren. Die Führung ist längst gelaufen, aber ich kann mir den Garten ja immer noch selbst ansehen. Als ich wieder unten ankomme, sehe ich ein Schild und schaffe es tatsächlich bis zu dem Parkplatz des Gartens, aber der Garten selbst ist immer noch nicht in Sicht. Jetzt ist es zu spät, und ich muss zurückkehren, um meine Verabredung nicht zu verpassen. Die Schilder schicken mich über eine Schnellstraße, auf der sogar die Amerikaner schnell fahren, in die Innenstadt zurück, und durch Viertel, durch die ich noch nie gekommen bin. Ich sehe ein mexikanisches Restaurant mit dem Namen Mazatlán, das schöne Erinnerungen weckt, und eine Arena, in der die Portland Timbers spielen. Es kommen mir auch ein paar Fans mit Schals entgegen. Spater erfahre ich, dass das die Fusballmannschaft ist. Auch hier ist die Tradition der Holzfaller im Namen bewahrt.

Als ich wieder zu Hause bin, bin ich zwei Stunden unterwegs gewesen, völlig durchnässt und habe Blasen an den Füßen. Langsam habe ich den Eindruck, dass die Reise nach Portland unter einem schlechten Stern steht.

Kurz darauf treffe ich Justin, Ann Maries Ehemann, vor dem Ondine Building. Als ich ankomme, wartet er schon. Er hat sich selbst als einen “untersetzten, aber mit einigem Wohlwollen als gutaussehend zu beschreibenden Mann” angekündigt. Könnte hinkommen. Er hat eine kuriose Locke, die ihm auf die Stirn fällt. Er ist ein ganzes Stück jünger als ich.

Ich mache einen zaghaften Versuch, ihn zu einem Ausflug mit der Tram zu bewegen, aber er besteht auf der Kneipentour. Erstens fährt die Tram sonntags nicht, zweitens spricht das Wetter dagegen. Mir schwant Böses. Mein letztes Bier habe ich vor zwei Wochen getrunken, und es ist Wochen her, dass ich zuletzt mehr als ein Fläschchen getrunken habe. Was ich morgen nicht gebrauchen kann, ist ein Kater.

Wir fahren in den Norden Portlands. Justin fährt einen Honda und trägt sich mit der Überlegung, einen Kia zu kaufen. Auch der Honda hat, wie Davids Dodge dieser Tage, die Schaltung am Lenkrad. Das erinnert an die Kindheit und unseren alten Isabella.

Justin hat lange für die Stadt als Landschaftsarchitekt gearbeitet und arbeitet jetzt für die Schulbehörde, wenn ich das richtig verstehe. Er ist für Kindergärten und Schulen zuständig.

Wir kommen in ein Viertel mit vielen, schönen, in einem italianisierten Stil gebauten Häusern, mit offenen säulenbestandene Galerien vorne. Die meisten sind aus Holz. Holz habe es hier eben immer gegeben, erklärt er. Im Gegensatz zu Deutschland. Gibt es in Deutschland wirklich kein Holz?

Am Ende der Tour kommen wir auch in das Viertel, in dem er selbst wohnt, mit ganz ähnlichen Häusern. Die reihen sich auf der einen Seite der Straße auf. Auf der anderen Seite war ursprünglich alles Land. Das wurde dann von der Kirche aufgekauft, von der Katholischen Kirche. Dies ist ein Katholikenviertel.

Wir gehen insgesamt in drei Kneipen. Alle sind sich eher ähnlich, sehen irgendwie europäisch aus. Man sitzt auf Barhockern an der Theke. Hinter der Theke und an den Wänden  stehen Bierflaschen verschiedenster Marken oder Gläser aufgereiht, und am Tresen gibt es bis zu zehn Zapfhähne, lauter Biere, die hier an Ort und Stelle gebraut werden. Da wundert man sich, dass sich das rentiert. Der Reiz besteht wohl darin, dass alles anders ist als bei den großen amerikanischen Marken und den Nullachtfünfzehn-Kneipen.

Man kann verschiedene Sorten erst in einem Probierglas testen und sich dann entscheiden. Wir probieren in der ersten Kneipe, der schönsten von allen, gleich drei. Alles dunklere oder dunkle Biere, und alle drei unterscheiden sich in erster Linie dadurch, dass sie mehr oder weniger an Guinness erinnern.

In den anderen Kneipen lasse ich das mit dem Probieren dann und gehe gleich auf eine Sorte los: ein Bier mit Kaffee und ein rötliches, das mit Roggen gebraut wird. An Originalität lässt das nicht zu wünschen übrig. Den Kaffee schmecke ich allerdings nicht durch, das Roggenbier hat dagegen eine sehr eigenen Geschmack – nicht schlecht.

Das Bier wird komischerweise in Unzen gemessen. Die Entscheidung fällt mir nicht schwer: 10 Unzen, keine 20. Ich hau mir also 280 Gramm rein. Mit jedem Glas.

In der dritten Kneipe gibt es dann noch etwas zu essen: mexikanische Nachos, auf amerikanische Essgewohnheiten abgestimmt. Es wird in einer Keramikschale serviert, und man benutzt die Nachos als Geschirr und löffelt sich mit denen die mit viel saurer Sahne versehene Gemüsepotpourrie in den Mund. Schmeckt gut. Und höchste Zeit, dass ich etwas in den Magen bekomme.

Wir unterhalten uns über Gott und die Welt, über italienische Züge, amerikanisches Englisch, sein Leben an der Ostküste, die Trierer Landesgartenschau, die Nachkriegszeit, das Zahlen mit Kreditkarte.

Er fragt auch nach der Unterbringung im Broadway und bietet freundlicherweise an, mich mit ein paar auf dem Speicher herumliegenden Sachen wie Kessel und Becher zu versorgen. Sehr nett.

Ich mache noch zwei interessante kulturelle Erfahrungen: In der zweiten Kneipe lege ich 10$ auf den Tresen. Die Rechnung beläuft sich auf 7,50$. Mit einem vorschnellen Thank you gibt er den Rest, gewollt oder ungewollt, als Trinkgeld frei. Das finde ich ziemlich großzügig. In Deutschland, findet er, sei man mit dem Trinkgeld immer sehr kniepig. Dass das vielleicht daran liegt, dass die Kellner vernünftig bezahlt werden, sagt er nicht.

Beim Bezahlen lerne ich dann auch die Münzen kennen. Das Besondere an Ihnen ist, und das habe ich auch schon mehr als einmal zum Unterrichtsgegenstand gemacht, wenn es um Schreibsysteme geht: Sie haben keine Zahlen. Der Wert ist in Zahlwörtern angegeben: one cent, five cent, one dime, quarter dollar. Dazu muss man erstens lesen können, zweitens Englisch und drittens dann auch noch wissen, was ein dime ist, denn so steht es auf der Münze. Es sind zehn Cent. Die Eselsbrücke ist hier wohl, dass es etwas mit Dezimal zu tun hat. Der Cent heist umgangssprachlich penny, die Fünfcentmünze heißt nickel. Der war früher aus Nickel. Die Ausnahme bei den Zahlen ist die Dollarmünze. Auf der steht tatsachlich $1. Ebenso auf den Scheinen. Der Dollarschein ist viel verbreiteter als die Dollarmünze. Ein Schein mit relativ geringem Geldwert, weniger als ein Euro.

In der dritten Kneipe zahlt mein Gastgeber. Als ich gerade alleine bin, fragt mich das Mädchen hinter dem Tresen, für welche soziale Einrichtung wir zahlen wollten. Nicht etwa ob, sondern für welche. Die verschiedenen Organisationen sind hinter dem Tresen mit Firmenlogo aufgelistet. Als Justin zurückkommt, entscheidet er sich für einen Kinderhilfsfonds. Die Sache ist so, dass ein Prozentsatz des Umsatzes automatisch an eine Organisation geht, und der Gast entscheidet, an welche. Saufen für die Kinder, sozusagen. Ob das Kunden anzieht? Schwer zu sagen, jedenfalls ist diese dritte Kneipe die am schlechtesten besuchte.

An einem langgezogenen Gebäude, auf das ich von meinem Zimmer heruntersehe, wird kräftig gearbeitet, und das Geräusch von Hämmern dringt bis nach oben. Und das an einem hochheiligen Sonntag! Den Sonntag nicht zu ehren, ist eher eine katholische als eine protestantische Tradition. In England gibt es bis heute sonntags kein Theater und keinen Fußball. Das scheinen die Amerikaner anders zu sehen.

Am Abend sehe ich noch mal die Materialien für morgen durch und lege mir einen Schlachtplan zurecht. Und fülle noch ein Formular aus. Morgen soll auch die Social Security Card beantragt werden.

Die Wetteraussichten für die nächsten Tage sind wechselhaft: mal Regen, mal Schauer. Na, wunderbar.

Jetzt bin ich schon eine Woche hier. Ich habe das Gefühl, noch nichts gesehen oder getan zu haben.

24. Juni (Montag)

Als ich um vier Uhr wache werde, sind es noch über fünf Stunden bis zum Beginn des Seminars.

Am Morgen zeigt es sich dann, wie riskant es ist, Dinge bis zum letzten Moment warten zu lassen. Dabei geht es nur noch um das Drucken. Als ich ankomme, ist die Außentür noch verschlossen. Glücklicherweise ist ein Kollege, der mir dieser Tage vorgestellt wurde, sofort zur Stelle und öffnet mir. Es geht damit los, dass ich den Einschaltknopf am Computer nicht finde. Dann braucht der Computer gefühlte Stunden, um sich warmzulaufen und alle möglichen Anpassungen auszuführen. Dann erscheinen meine Dateien völlig verunstaltet auf dem Bildschirm. Ich muss sie erst auf den PC transferieren und dann erneut öffnen. Jetzt kann es ans Drucken gehen. Aber es tut sich nichts. Ich untersuche den Drucker, verfolge das Kabel durch den ganzen Raum und krieche unter den Schreibtisch, um die Verbindung zu prüfen. Alles in Ordnung. Dann fällt mir ein, dass der PC vielleicht für einen anderen Drucker programmiert ist. Das ist die Lösung. Jetzt kann es losgehen, erst vorsichtig mit einer Kopie, dann für die ganze Gruppe. Es sind insgesamt zehn Kopien. Bei einigen streikt der Drucker, weil die Ränder überschritten sind. Das muss passiert sein, als ich die Dateien dieser Tag auf das Format Letter umgestellt habe. Dann ist auf einmal Schicht. Der Drucker druckt nicht mehr. Kein Papier mehr. In einer Schublade finde ich noch einen Restbestand. Es geht weiter. Ich bringe schon mal die ersten Stapel in den Semiarraum. Ein Glück, dass das Seminar hier stattfindet. Dann ist wieder Schicht. Kein Papier mehr, und unten ist noch niemand. Dann kommen schon die ersten Studenten. Wir machen uns miteinander bekannt und unterhalten uns, und als die anderen eintrudeln, kann ich noch mal schnell nach unten gehen und Papier besorgen. Gerade noch mal davon gekommen.

Von den eigentlich vorgesehenen 12 Studenten sind nur noch 11 übrig geblieben und es kommen dann nur 10. Die sind alle sehr helle und sehr kommunikativ. Es sind Studenten im Honours Programm, also die Besten, alle von anderen Fakultäten: Philiosphie, Psychologie, Geographie, Englisch, Mathematik, Wirtschaftswissenschaften. Sie kennen sich auch untereinander nicht alle.

Eine Pause wird nicht gewünscht. Alle arbeiten konzentriert die zweieinhalb Stunden durch, obwohl ich den einen oder anderen, als es um organisatorische Fragen geht, gähnen sehe. Kein Wunder. Bis auf einen scheinen alle auch sehr willens und sehr kooperativ zu sein. Sie stehen die ganze Zeit auch ohne Kaffee und Wasser durch. Bei uns türmen sich ganze Versorgungseinheiten bei einer mickrigen Klausur oder einer halbstündigen Prüfung.

Am Ende weiß ich nicht, ob ich erleichtert oder zufrieden sein soll. Schwer zu sagen. Der Hauptgegenstand der Diskussion sind Haltungen zur Sprache. Es geht um Sean Connery, der Gordon Brown anklagte, seiner schottischen Identität untreu geworden zu sein und sich sprachlich der englischen Mehrheit angepasst zu haben. Und um Sean Connery selbst, der in einem Film König Richard I. mit schottischem Akzent interpretierte. Die Studenten kommen selbst darauf, dass die Anschuldigung an Gordon Brown problematisch ist, aber auch die Forderung der Gegner des Films, denenzufolge  Richard, den sie korrekterweise als Richard Löwenherz identifizieren, im BBC-Englisch der Gegenwart sprechen sollte. Er konnte vermutlich gar kein Englisch!

Eine Studentin berichtet, wie sie als Kellnerin in North Carolina gearbeitet hat und nach ein paar Monaten auf einmal bemerkte, wie die Sprache der Gegend auf sie abfärbte – unwillkürlich – und sie begann, mit einem Südstaatenakzent zu sprechen.

Dann gehe ich schnurstracks zum Auslandsamt der Uni, wo noch eine Unterschrift zu leisten ist. Natürlich stellt sich heraus, dass mal wieder ein Dokument fehlt. Auf der Flugbestätigung fehlt die Angabe des Rechnungsdatum, auf der Rechnung wiederum fehlt die Angabe der Reisedaten. Was für ein Theater.

Als das erledigt ist, mache ich mich auf den Weg zur Social Security. Es geht darum, die Social Security Card zu beantragen. Unterwegs überfällt mich der Hunger und ich kaufe eine Pizzazunge. 3,27. Ich zähle mühsam mein Kleingeld zusammen und bringe es unter. Die Verkäuferin beantwortet meine Frage nach dem Gebäude, indem sie ihr I-Phone hervorholt und in Windeseile die richtige Richtung und den Standort herausfindet.

Dort angekommen, wird man erst mal durchleuchtet: Alles aus den Taschen nehmen. Ja, auch die Taschentücher. Alles.

In einem langen Raum mit vielen Sitzreihen warten Dutzende von Antragstellern, ein sehr gemischtes Publikum, darunter ein Bekiffter und eine Verrückte, die laute, unverständliche Monologe hält und sich dann an uns wendet, um Bestätigung zu bekommen. Aber keiner protestiert oder wird ungeduldig mit ihr. Eine Frau nimmt sogar das Gespräch mit ihr auf. Keine Ahnung, worum es geht.

Man hat eine Nummer gezogen, nach Kategorien geordnet, und wird dann über Anzeige und Durchsage an einen der Schalter gerufen. Inzwischen taucht mein chinesischer Kollege auf. Er berichtet, die indische Kollegin sei wieder nach Hause geschickt worden. Es fehlte ein Dokument.

Wir unterhalten uns über unsere Vorträge und er erzählt mir noch, dass außer der 8 auch die 4 eine Glückszahl in China ist. Wenn man kleine Portionen mit Essen serviert, macht man das oft in 4 Schälchen. Kurioser Kontrast zu Japan, wo die 4 eine Unglückszahl ist. Er bestätigt das und sagt, er habe in seiner Firma, die damals japanische Ersatzteile importierte, einen Japanischkurs gemacht. Er scheint sehr an all dem interessiert zu sein.

Die Kontrolle ist strikt und die Wartezeit lange, aber wenn man einmal dran ist, geht alles ganz fix, genauso wie beim Konsulat in Frankfurt. Auch hier will man wieder sogar den Geburtsnamen der Mutter wissen! Der Mann am Schalter, ein in den USA geborener Chicano, ist sehr, sehr freundlich. Er fragt nach dem Kurs, zeigt sich sehr an Sprache interessiert und fragt auch, wie denn Oberhausen sei. Ich bestätige ihm, dass es eine der schönsten Städte des Landes sei. Auch er macht Werbung: Der Nordwesten sei das Beste an den USA. Ich habe die eine oder andere Schwierigkeit, ihn zu verstehen, als er sich über die Ethnien und Sprachen der Region auslässt. Jedenfalls glaubt ich zu verstehen, dass hinter den Bergen – ganz wörtlich – viel mehr Schwarze und Hispanos leben als vor den Bergen. Dann merke ich, dass er, wenn es spelling sagt, Aussprache meint! Da kann man schon mal aneinander vorbeireden.

So nennt plaudernd, hat er alle meine Unterlagen durchgesehen, und es fehlt nichts!

Ich mache noch einmal einen Versuch bei Macy’s, ein paar Dinge für das Apartment zu kaufen, gebe aber auf, als ich merke, dass der billigste Becher 15$ kostet. Wer kauft das? In der ganzen Abteilung ist außer mir kein Mensch.

Ich laufe noch mal durch die Straßen und versuche, eine Art Woolworth oder Kaufhalle zu finden – vergebens. Überall gibt es nur Kleidung und Essen. Irgendwie lande ich dann doch wieder bei Safeway, und da entdecke ich dann, selbst überrascht, ein paar billige Teller und Becher und Messer und Löffel. Sie sind spottbillig, und so verpackt, dass sie wie Keramik aussehen, sind aber aus Plastik. Macht nichts. Einen Kessel finde ich aber auch hier nicht. Wohl aber eine große Keramiktasse, die tauglich für Backofen und Microwelle ist. Ob man die auch auf Herdplatten stellen kann? Der ersten Verkäufer, den ich frage, sagt ganz klar ja, der zweite ich sich nicht sicher, der dritte sagt ganz klar nein. Besser nicht.

Jedenfalls mache ich einen Großeinkauf. Der hat seinen Namen verdient. Den Käse, Cheddar, gibt es in einem Block von einem ganzen Kilo. Und die Butter in einem von zwei (amerikanischen) Pfund, das sind gut 900 Gramm.

La vache qui rit heißt hier tatsächlich The laughing cow, und Meister Proper heißt Mr Clean.

Mit einem voll bepackten Rucksack, einer der typisch amerikanischen braunen Papiertüten ohne Henkel, einem Baguette und dem Geschirr bepackt, mache ich mich auf den Weg. Alle Nase lang muss ich anhalten und alles auf den Boden stellen. Mir rutscht die Hose runter. Ausgerechnet in Amerika habe ich es geschafft, abzunehmen!

Der Hungerkur wird dann aber zu Hause sofort ein Ende gemacht. Neben Baguette mir Butter und Käse und Salami gibt es ein burrito von dem mexikanischen Food Cart, an sich schon ein vollständige Mahlzeit, eine Art mexikanische Gyros, aber ganz verpackt, mit Reis, Bohnen, Paprika, Zwiebeln drinnen.

25. Juni (Dienstag)

Am Morgen bei der Arbeit am Computer fällt mir auf, dass man in Deutschland bei der Suche nach einem Wort die Funktion Suche aktiviert, in Amerika Find!

Im Unterricht geht es um englische Rechtschreibung. Die Diskussion ist eine wilde Mischung aus guten Ideen, scharfen Beobachtungen und wilden Spekulationen und allerhand Missverständnissen. Das führt dazu, dass ich später eingreifen und eine ganze Reihe von Dingen richtigstellen muss. Das zieht sich hin, und ich sehe, wie der eine oder andere anfängt zu gähnen.

Es geht um Rechtschreibung und die Unregelmäßikeiten, aber auch Regelmäßigkeiten, der englischen Rechtschreibung. Die Unregelmäßigkeiten finden sie schneller. Ich bin überrascht, dass sie von Websters Rechtschreibreform noch nie gehört haben, obwohl sie den Namen natürlich kennen. Sie glauben, die Unterschiede in der amerikanischen Rechtschreibung wären darauf zurückzuführen, dass die Siedler es nicht so genau damit nahmen. Und das meiste nach der langen Überfahrt vergessen hatten! Oder glauben, es liege einfach an den vielen Sprachen, die sich hier vermischt haben. Wenn sie Webster nicht kennen, wissen sie natürlich erst recht nichts von Shaw, und Darwin und Theodore Roosevelt, die alle Rechtschreibreformen vorantreiben wollten. Wohl aber von Carnegie. Da machen sie sogar das gute Argument, dass hier die Motive wohl kaum philanthropisch waren, sondern eher vom dem Zielt der Effiziensteigerung getrieben waren.

Mein besonderer Freund setzt sich heute in einen Sessel an der Wand statt am Tisch. Da bleibt er auch, trotz meiner freundlichen Aufforderung, sich doch zu uns zu setzen. Zwischendurch ruft er mit seinem heiseren Bass die anderen Studenten zur Ordnung. Sie sollten doch beim Thema bleiben. Er spricht mir dabei aus der Seele. Aber die Form ist natürlich ziemlich unangemessen. Später steht er dann unvermittelt auf und schreibt, während die Diskussion weiterläuft, ein deutsches ß an die Tafel. Ich ignoriere das erst einmal und spreche ihn später darauf an, damit er erklären kann, welche Bewandtnis das hat.

Nach dem Unterricht finde ich in meinem Büro eine Lampe und einen Wasserkessel, von Ann Marie zur Verfügung gestellt. Wunderbar! Dazu ein Auswahl an Teebeuteln. Als ich mich bedanke, fragt sie kurz nach dem Seminar, aber irgendwie kommen wir auf ihre “spanischen” Erfahrungen zu sprechen. Sie spricht, wie ich von ihrem Ehemann weiß, fließend Spanisch und hat ein Jahr in Mexiko gelebt. Jetzt erzählt sie mir von einer Aktion der Uni in Nicaragua, wo sie mit einer Studentengruppe geholfen haben, eine Schule aufzubauen – ganz wörtlich, mit den Händen, im Schweiße ihres Angesichts.

Am Anfang jeder Stunde bitte ich die Studenten um eine Erklärung einer amerikanischen Einrichtung. Das läuft unter dem Motto “kultureller Austausch” und bringt sie zum Sprechen. Heute haben sie mir erklärt, wie die Summer School funktioniert. Im Grunde eine Möglichkeit, Kreditpunkte in einem kompakt angebotenen Seminar zu erwerben. Man kann das auch während des Semesters machen. Man hat, innerhalb gewisser Grenzen, die Freiheit der Wahl. Das sollten wir bei uns auch wieder einführen. Was sie nicht erwähnen, ist, dass sie für den Kurs auch eine ordentliche Summe Geld hinblechen müssen. Das wird mir im Gespräch mit Ann Marie klar. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass nicht eine, sondern zwei Studentinnen, die auf der Liste standen, nicht gekommen sind, dafür aber eine, die nicht auf der Liste stand. Ganz nebenbei sagt Ann Marie, das sei komisch. Schließlich hätten sie dafür bezahlt.

Die Texte, die bereit gestellt werden sollten, sind immer noch nicht verfügbar, aber eine Studentin bietet an, den Text für morgen zu scannen und den anderen zu schicken. Die Kommentare, die dabei gemacht werden, lassen erkennen, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Hier scheinen ebenso viele Dinge schief zu gehen, auch bei den elektronischen Medien, wie bei uns.

Heute geht es nach dem Unterricht zur Univeraltung. Da muss die Bestätigung von der Social Security abgegeben werden, dass man eine Social Security Card beantragt hat. Als das erledigt ist, atme ich einmal tief durch, in der Gewissheit, den letzten  Verwaltungsakt getätigt zu haben. Als ich nach Hause komme, habe ich Post vom Auslandsamt: Die Verwaltung habe darauf hingewiesen, dass doch noch ein weiteres Formular fehle. Wir sollten doch bitte noch mal vorbeikommen.

Im Flur treffe ich Jaiwnati und Alexander. Es stellt sich heraus, dass sowohl Chen als auch Jaiwanti bei der Social Security unverrichteter Dinge zurückgeschickt worden sind. Es sei noch zu früh für eine Antragstellung. Da habe ich riesiges Glück gehabt. Eigentlich war uns gesagt worden, wir sollten zehn Tage warten bis zur Antragsstellung, dann war das zurückgenommen worden. Bei der Verwaltung scheint es noch nicht überall angekommen zu sein, dass man das jetzt auch sofort machen kann.

Alexander, der natürlich längst eine Social Security Card hat, empfiehlt uns dringend, ein Bankkonto zu eröffnen. Sonst bekämen wir kein Geld. Bei den Unterlagen war tatsächlich ein entsprechendes Formular, aber es ist uns gesagt worden, ein Bankkonto sei nicht nötig. Soviel zu amerikanischer Perfektion.

Ich mache mich auf Davids Rat hin auf den Weg in ein Geschäft mit dem Namen Ross Dress for Less, aber es fängt an zu regnen und ich lande wieder einmal bei Safeway. Diesmal stelle ich mich erst bei der Information an und frage nach den Artikeln, die man hier kaufen kann. Ja, Regenschirme hätten sie. Nein, Kleiderbügel gebe es nicht. Als ich mit meinem Regenschirm und ein paar anderen Dingen an der Kasse stehe, sagt die Verkäuferin, die mich pudelnass vor ihr stehen sieht, der käme wohl zu spät. Aber sie würde nicht garantieren, dass ich ihn in den nächsten Tagen doch nicht wieder gebrauchen könne.

Als ich dann an der Kasse durch bin, sehe ich vor mir einen Wagen mit einem Riesenangebot an – Kleiderbügeln. Ich mache einen Großeinkauf.

Zu Hause gibt es dann den ersten Tee in Portland und eine Großkation in Um- und Aufräumen.

Am Abend kommt ich, jetzt mit der Lampe ausgestattet, zum ersten Mal dazu, in Ruhe am Schreibtisch etwas zu lesen.

26. Juni (Mittwoch)

Heute laufe ich den ganzen Tag mit dem neu erworbenen Regenschirm durch die Gegend. Es fällt den ganzen Tag über kein Tropfen.

Ich habe inzwischen eine sehr kurzen Weg, sozusagen hintenrum, zum Honors Gebäude gefunden. Es dauert keine zehn Minuten, bis ich da bin. Auf dem Weg passiere ich ein Sportfeld mit vielen Linien und Markierungen. Keine Ahnung, was das ist.

Ich frage die Studenten danach und erfahre, dass es ein Feld für American Football ist – dafür sind die Markierungen – aber das es für verschiedene Zwecke, auch Fußball, genutzt werden kann.

Heute geht es im Seminar um die Eskimo-Wörter für Schnee, die Mutter aller Legenden. Glücklicherweise hat eine Studentin den Text für alle anderen gescannt und verschickt. Das System ist immer noch nicht aktiviert. Die Studenten erfassen die Sache ziemlich gut, vor allem die Geschichte des Mythos, die ein akademisches Armutszeugnis ist. Einer hat einen anderen falsch interpretiert, auf Grund nicht verifizierter Daten eine Geschichte erfunden, und alle anderen haben von ihm abgeschrieben. Nicht ganz so klar ist, jedenfalls meines Erachtens, wie man das vermeiden kann. Das meiste Wissen hat man eben aus Büchern und nicht aus eigenen Studien oder Erfahrungen, und das muss man wohl oder übel akzeptieren. Wie soll ich überprüfen, wie bestimmte Dinge bei den Tarahumara versprachlicht werden? Wenn mehrere Autoren mir dasselbe sagen, bin ich geneigt, es zu glauben.

Schwieriger für die Studenten ist es da schon, die Problematik des Wortes Wort zu erfassen. Aber am Ende schaffen sie es mit etwas Hilfe doch.

Nach dem Seminar geht es dann noch mal zum Auslandsamt, um das noch fehlende Formular auszufüllen. Ist aber keine große Aktion mehr.

Auf dem Weg sehe ich, wie ich auf Sportfeld Sportunterricht stattfindet und tatsächlich gleichzeitig Fußballtraining und Footballtraining. Beim Fußball gibt es ein paar Latinos mehr, und es wird sehr gepflegt gespielt, mit vielen kurzen, eleganten Pässen. Keine Bolzerei. Der Rasen scheint Kunstrasen zu sein.

Und dann ziehe ich los, um ein Geschenk für David zu besorgen. Zielgerichtet zu einem Geschäft mit belgischer Schokolade. Sieht im Schaufenster sehr verlockend aus. Aber die Preise sind nicht ausgezeichnet. Warum nicht, weiß man, wenn man reingeht. Unbezahlbar. Das kann ich den anderen nicht zumuten.

Also laufe ich durch die Gegend und versuche, etwas Passendes zu finden. Für den Anfang finde ich Pralinen, aber nicht mehr. Als ich schon fast wieder zu Hause bin, komme ich an der Oregon Historical Society vorbei. Da gibt es ein paar schöne Mitbringsel. Und das passt auch gut zu dem Ausflug.

Als ich zu Chens Vortrag komme und den anderen die Karte für David zum Unterschreiben gebe, hat Olga sofort wieder Einwände: Karten mit Photos von Oregon? Da lebt er doch. Da hätte ich doch lieber welche mit Photos von Deutschland nehmen sollen. Als sie dann die Karte sieht, mit Sonnenblumen, ist das auch nicht recht: Typisch deutsch!

Chens Vortrag ist nicht einfach zu verstehen, manchmal akustisch, manchmal inhaltlich, manchmal sprachlich. Das scheint allerdings nur mir zu gehen. Jedenfalls, wenn man die rege Beteiligung bei den Fragen nach den Vortrag zum Maßstab nimmt. Der erste, der aufsteht und gleich zwei Fragen stellt, mit seiner hellen, lauten Stimme, ist natürlich Alexander. Die Karte hat er mit Alexander der Große unterschrieben. Das würde man jedem anderen verübeln. Ihm nicht.

Im Publikum sitzen viele Chinesen und Chinesischstämmige. Der Vortrag handelt nur von Wirtschaft. Komisch, Chen war uns als Ingenieur vorgestellt worden. Jedenfalls scheint er eine interessante Karriere hinter sich zu haben. Er habe, wie er es selbst sagt, die Farben gewechselt: von Rot – Arbeiter – zu Gelb – Wirtschaftler – zu Schwarz – Akademiker.

Anhand des Big Mac Index vergleicht er relative Preise in China und den USA. Der Big Mac selbst und viele Gebrauchsgüter sind in China billiger, Luxusgüter und Hightech teuer.

Ein kurioses Detail steht für einen generellen Trend: Die Vuvuzela der WM in Afrika wurden in China produziert, aber konnten dort nicht gekauft werden. Insgesamt konstatiert er, und kritisiert es, dass die ausländischen Firmen China als Produktionsstätte und nicht als Markt nutzen.

Die beste Figur macht er bei der Beantwortung der Fragen: gelassen, vorsichtig, kompetent. Auch bei zu erwartenden Fragen über die Zukunft – Wo soll das alles hinführen? – und zur sozialen Kontrolle. Er verteidigt ausdrücklich das zentralisierte System, plädiert aber für eine Lockerung.

Eine Frau fragt nach einem Kanal, den China in Nicaragua baut. Was für eine Funktion der habe? Den Transport von Öl aus dem Nahen Osten nach China? Davon habe ich noch nie etwas gehört. Chen auch nicht.

Eine andere Frau fragt sehr kritisch, warum er Hong Kong in einer Liste gesondert aufgeführt habe. Das gehöre doch zu China. Ja, sagt er, nach chinesischer Auffassung gehöre auch Taiwan zu China, aber beide seien ökonomisch autark und müssten hier gesondert erfasst werden. Bei der Gelegenheit erfahre ich, dass Hongkong nicht den RMB benutzt, sondern den Hongkong-Dollar!

Nach dem Vortrag stehen wir noch eine Zeitlang zusammen und sprechen über Reiseziele. Alexander macht Werbung für Seattle und für San Francisco. Das seien die beiden Städte hier im Westen, die man gesehen haben müsste. Seattle könne man gut mit dem Zug erreichen.

Ich gehe mit Jaiwanti zum Wohnheim zurück. Sie wundert sich, dass es so lange hell ist. Ich wundere mich, dass sie das wundert. Ob das in Deutschland auch so sei, will sie wissen. Ja, lange Tage im Sommer, kurze im Winter. In Indien gebe es das nicht, sagt sie. Da sei es um sieben Uhr stockdunkel. Das kann ich bestätigen.

27. Juni (Donnerstag)

Beim Laufen ist nach einer halben Runde schon Pause: Auf der Hawthorne Brücke ist eine Schranke runter, und eine lange Schlange von Radfahrern wartet darauf, dass sie wieder hoch geht. Das passiert dann auch bald. Vielleicht habe ich den Moment verpasst, wo die Brücke hochgezogen wird.

Bei der nächsten Runde kommt mir dann ein Radfahrer entgegen, dessen Gesicht mir irgendwie bekannt vorkommt: David. Mit Bart, Brille, kurzer Hose und Helm und einem Rucksack, in dem er vermutlich seine Berufskleidung einschließlich Fliege transportiert.

Zum ersten Mal achte ich auf die brav in einer Reihe den Fluss herunterschwimmenden Enten. Ihre Präsenz scheint zu bestätigen, dass es dem Willamette besser geht.

Heute läuft es im Seminar etwas besser. Die Studenten sind sehr aktiv. Und es wird auch weniger gegähnt. Ich kann einen Punkt dadurch landen, dass ich ein Wort erklären kann, das sonst keiner so richtig versteht: wrought. Nicht ganz überzeugend finden sie meinen Begriff Analogie als Motiv zum Sprachwandel und meine Erklärung für den Wandel bei like: früher wie jemandem gefallen, heute wie etwas mögen, von It liked me zu I liked it.

Nach dem Unterricht gehe ich noch mal zu Safeway. Auf dem Weg komme ich zufällig an einem kleinen Markt auf dem Campus vorbei. Ich gehe rein und sehe fast als erstes einen Kessel. Jetzt habe ich einen. Ich frage nach Spülmittel, aber das ist ausgegangen. Man empfielt mir – Safeway.

Das langsame Gehen tut mir nach der Rennerei am morgen sichtlich gut. Das Wetter wird immer besser. Es ist zwar noch sehr bewölkt, aber warm, etwas schwül sogar.

Als ich bei Safeway einer Frau zeige, wo sie eine Geburtstagskarte für ihren Enkel finden kann, sagt sie mir: You are wonderful. Endlich mal einer, der es begreift!

An der Kasse am Supermarkt wird man gefragt, ob man für eine charity aufrunden will. Da kann man schlecht nein sagen.

Als ich dann nach Hause komme, mache ich mich erst mal ans Aufräumen und bringe den Müll runter. Der muss getrennt werden, und es hat sich einiges angesammelt. Man muss ihn nach unten bringen, wo es verschiedene Fächer für verschiedene Stoffe gibt. Dort liegen auch immer wieder Überbleibsel der Einrichtung eines Ausgezogenen herum, meist in sich wild türmenden Bergen. Heute liegen hier zwei fast nagelneuer Koffer.

Dann macht sich der Hunger bemerkbar. Ich habe außer einer Apfelsine noch nichts gegessen, und jetzt merke ich, dass ich das Brot bei Safeway habe liegen lassen. Also gehe ich wieder zu einem Food Cart, diesmal zu dem indischen. Als ich vor dem Schild mit den vielen Gerichten stehe, spricht mich eine Kundin, eine junge Frau indischer Abstammung, an und fragt mich, ob sie mir etwas empfehlen könne. Ja, gerne. Sehr freundlich. Das nehme ich dann auch. Ein Gericht mit Fleisch, Bohnen, Kartoffeln und Reis. Man fühlt sich wie in Kuba. Dazu gibt es einen Fladen Brot. Also bin ich doch noch zu meinem Brot gekommen.

28.Juni (Freitag)

Bis sieben Uhr geschlafen. Endlich den Dreh gekriegt, was die Zeitumstellung angeht. Hat tatsächlich einen Tag pro Stunde gedauert – und einen Tag als Zugabe.

Vor dem Aufzug treffe ich Alexander mit seiner Tochter. Die ist zu Besuch. Er hat sie cleverweise schon bei seinem ersten Aufenthalt in Portland – damals hatte seine Frau, Dostojewski-Expertin, den Lehrauftrag und er reiste als Ehemann mit – hierher nachkommen und sie dann in Washington studieren lassen. Jetzt hat sie auch noch einen Abschluss von einer italienischen Universität. Sie sind unterwegs, weil das Mädchen nicht gut schlafen kann. Die Matratze ist zu weich. Ich finde sie auch nicht sehr bequem, aber eher zu hart. Er will ihr kurzerhand ein neues Bett kaufen – bei IKEA. Die haben eine Filiale gleich am Flughafen.

Wir gehen ein Stück die Straße hinunter. Alexander bemerkt, dass die Fußgänger hier  manchmal einfach die Ampel bei Rot überqueren. Ich sage, ich täte das auch. Bloß nicht, warnt er mich. Die Polizei lauere überall. Das sei streng verboten, und es werde übel bestraft.

Er dirigiert mich noch zum Service Building. Ich war von Nora ohnehin mit Adresse, Wegbeschreibung und Stadtplan ausgerüstet worden, aber: umso besser. Er emphiehlt mir noch schnell den besten Eingang und geht dann seines Weges.

Bei der Schlüsselausgabe herrscht ein für amerikanische Verhältnisse eher trockene Atmosphäre, aber ich bekomme nach einer kurzen Belehrung über die Konsequenzen eines Verlusts die Schlüssel ausgehändigt, und darauf kommts an.

Dann fasse ich allen Mut zusammen und gehe noch mal zum Helpdesk. Mit dem Netbook und, wie ich hoffe, allen Daten ausgestattet. Dort ist man wieder ausgesucht freundlich. Ein junger Mann, der wie ein Nachkomme irischer Einwanderer aussieht, hört sich meine Litanei geduldig an und ist sofort bereit, die Sache direkt vor Ort in Angriff zu nehmen. Ich habe einen Ausdruck der Mail der Verwaltung mitgebracht, die mir Zugang zu neuer Software erlaubt.

Als ich ihn frage, ob er die Maus haben will, sagt er, wie alle PC-Experten, nein. Es ist eine Fingerübung für ihn. Seit seinem siebten Lebensjahr habe er Umgang mit Computern. Er nimmt auch die meisten Eingaben gleich selbst vor.

Ich bin froh, das alles hier gemacht zu haben. Alleine wäre ich an mehreren Stellen stecken geblieben. Es ist schlimm genug, dass man alle möglichen Daten zur Verfügung haben muss: Tefonnummer, Adresse, Code, Postleitzahl, Kreditkartendetails, Webadresse. Verschiedene davon sind bei mir ganz neu. Schlimmer ist, dass manchmal Fragen kommen, die man gar nicht versteht. Da kann er aber helfen. Als ich dann die eigenen Daten eingeben muss, weiß ich nicht, welche Adresse, die deutsche oder die amerikanische. Er schlägt die deutsche vor. Dann soll man aber beim nächsten Schritt den Staat angeben, und es stehen nur amerikanische Bundesstaaten zur Auswahl. Also wohl doch eine amerikanische Adresse. Die vom Büro weiß ich nicht, also gebe ich einfach eine ungefähre Adresse des Wohnheims an. Das System akzeptiert sie. Dann steht auch er auf dem Schlauch. Beim Eingeben der Webadresse will das @-Zeichen nicht erscheinen. Das Problem hatte ich dieser Tage auch. Da habe ich es schon mal zuhause probiert. Die amerikanische Tastenkombination ist anders: Das @ ist an der falschen Stelle und wird mit Shift statt mit Steuerung aktiviert. Ich komme auf die erlösende Idee, die Rechtschreibstandards zu verändern, von Englisch auf Deutsch. Jetzt klappt es.

Als ich dann meine Kreditkartenangaben gemacht habe, kann der Download beginnen. Ich frage, ob ich bis zum Ende hier warten könne. Kein Problem. Das dauert seine Zeit, aber die ist es mir wert. Irgendwann ist es dann soweit. Hurrah! Zur Sicherheit öffne ich noch eine Datei von dem USB-Stick, und prompt kommt noch eine der Fragen, die man nicht versteht. Auch das erledigt er noch für mich. Ich könnte ihm um den Hals fallen!

Ich gehe kurz am Büro vorbei und probiere die Schlüssel aus. Haustür funktioniert, aber Bürotür nicht. Macht nichts. Das kann mir meine gute Stimmung nicht mehr verderben. Und der wunderbare, warme Tag mit hellblauem Himmel trägt das seine dazu bei.

Als ich Richtung Stadt gehe, sehe ich an einer elektronischen Anzeige 78°. Das sind 26°. Und es ist gerade mal halb elf.

Ich beschließe mir, zur Feier des Tages mir etwas anzusehen. Den Chinesischen Garten. Nachdem es mit dem Japanischen Garten dieser Tage nicht geklappt hat. Aus dem Internet weiß ich, dass es regelmäßig Führungen gibt und dass der Garten in Chinatown liegt gerade außerhalb der alten, von Lovejoy und Overturn markierten Stadt liegt, in der Zone von Couch, da, wo das Straßenraster einen Knick macht.

Man merkt an den Laternen, dass man die Grenzen zu Chinatown erreicht hat. Der Garten liegt hinter einer geschlossenen, weißen, nicht allzu hohen Umfassungsmauer.

Hier ist alles sehr gediegen, sehr gepflegt. Und nicht ganz billig. Nach Eintritt und Tee mit Gebäck im Teehaus bin ich 20$ los.

Auf den Beginn der Führung warte ich im Teehaus, einem der verschiedenen, niedrigen Pavilions mit den typisch geschwungenen Dächern, die man an verschiedenen Stellen des Gartens findet. Der Begriff Garten ist eher irreführend. Es handelt sich eher um ein Haus, das Anwesen eines Aristokraten, das auch einen Garten hat.

Zum Tee gibt es ein Gebäck mit einer dicken Schicht aus roten Bohnen! Süß. Es ist ein rundes Stück Gebäck, das in vier gleichen Teilen serviert wird. Den Tee trinkt man aus einem winzigen, henkellosen Schälchen. Besteck gibt es weder zum Tee noch zum Gebäck.

Ich lese, dass der Name des Gartens, Lan Su Garden, eine Anspielung auf Portland und seine chinesische Partnerstadt Suzhou ist, wobei lan gleichzeitig das chinesische Wort für ‚Orchidee‘ ist und su für ‚Erscheinen‘, ‚Aufkommen‘. Suzhou war jahrhundertelang die blühendste, reichste und vornehmste Stadt Chinas. Sie verwendete viel Geld auf die Anlage von Gärten, von denen heute mehrere zum Weltkulturerbe der UNESCO gehören.

Der Garten ist dem Anwesen eines reichen Chinesen und seiner Familie aus der Zeit der Ming-Dynastie nachempfunden. Er wurde mit Materialien, die zum großen Teil aus China eingeführt wurden – Stein, Holz, Ziegel, Pflanzen – gebaut und im Jahre 2000 eröffnet.

Als ich mich auf den Weg zum Eingang mache, begegne ich einer Gruppe fernöstlich inspirierter amerikanischer Frauen, die, mit langsamen schwingenden Bewegungen der Arme durch den Garten wandeln. Im Gänsemarsch. Später höre ich zwei von ihnen miteinander sprechen und erwische nur ein Wort, das Unwort aller dieser esoterischen Bewegungen: Energien. In dem Moment sendet ein über dem Garten kreisender Hubschrauber ein Hintergrundgeräusch aus der wirklichen Welt.

Zur Führung begrüßt uns dann eine winzige, unglaublich geschmacklos gekleidete Chinesin, die zehn Minuten zu spät kommt – eine Amerikanerin sagt ziemlich bestimmt, es sei zehn nach zwölf, ten after heißt das hier – was sie aber nicht zu stören scheint. Mit einer unsäglichen Stimme und mit einem unsäglichen Akzent redet sie eine Stunde lang ununterbrochen auf uns ein, eine einzige Werbeveranstaltung für China und den Lan Su Garten. Wenn wir mal wieder in einem Pavilion Halt machen, verdrücken sich immer ein paar Besucher und wir werden immer weniger.

Es ist zwar nervtötend, aber nicht langweilig. Immer wieder verblüffend die chinesische Neigung zum Aberglauben. Kein Stein, keine Pflanze, keine Zahl, hinter der sich nicht irgendeine geheime Botschaft versteckt. Gleich der erste Pavilion bietet ein Beispiel. Sein Dach ist bekrönt von zwei Drachenfischen, die die bösen Geister draußen halten. Etwas tiefer ein Granatapfel – der steht für Fruchtbarkeit – und ein Pfirsich – der steht für Langlebigkeit. Die Dachziegel laufen in Figuren aus, die Fledermäuse darstellen sollen. Jeweils fünf. Die stehen für die fünf Segnungen: ein langes Leben, Glück, Gesundheit, Liebe zur Tugend, ein schmerzloser Tod. Außerdem ist flu, das chinesische Wort für ‚Fledermaus‘, gleichklingend mit dem Wort für ‚Glück‘. Und in der geschnitzten Paneele des Pavilions überkreuzen sich Die drei Winterfreuden: Pflaume, Bambus, Kiefer. Die Pflaume fordert den Winter heraus und erblüht während dieser Jahreszeit, die Kiefer bleibt den ganzen Winter über grün, der Bambus beugt sich im Wintersturm, aber knickt nicht um.

Was bei der Führung deutlich wird, ist, dass das Konzept ganz anders ist als das des europäischen Gartens mit seinen geraden Pfaden. Besser gesagt, den Gartens, den sie für den europäischen Garten hält, des Barockgartens. Hier verlaufen die vielen Stege und Wege unregelmäßig. Man kann sich verlaufen, aber man kommt von überall überall hin, ganz egal, in welche Richtung man geht. Alles ist um den zentralen Teich angelegt, der kleiner ist, als er wirkt. Wchtig sind auch die Durchblicke, die es überall gibt. Alle Wände sind durchbrochen, die Mauern und die Wände. Vermutlich herrscht in Suzhou ein sehr gemäßigtes Klima. In Deutschland ginge das vermutlich nicht. Man kann an jeder Stelle in alle Richtungen sehen und bekommt so den Eindruck eines unendlichen Raums.

Jeder Pavilion ist etwas anders als jeder andere und jeder Hof auch wieder etwas anders als jeder andere. Die Pflanzen scheinen immer nur einmal vertreten zu sein. Aber das scheint nur so. Eine Regelmäßigkeit ist jedenfalls nicht zu erkennen. Es gibt Magnolien, Bambus, Gingko, Iris, Kamelien und viele andere. Alle blühen zu unterschiedlichen Zeiten. Besonders stolz ist man auf eine gelbe Magnolie. Das ist das Nonplusultra. Blüht leider jetzt gerade nicht. Ganz besonders ist auch ein Zitronenbaum. Auch er blüht gelb, auch er blüht jetzt gerade nicht, aber er unterscheidet sich von allen anderen Bäumen, indem an jedem Zweig immer zwei Blätter, eins hinter dem anderen, wachsen.

In einem Pavilion, der Schreibstube des Hausherrn, herrscht das Motiv des Pflaumenbaums vor. Man sieht es auf Stickereien, in der Paneele, an den Laternen und in der Inschrift an den beiden Pfeilern, einem Gedicht auf den Pflaumenbaum. Er bezieht seine besondere Bedeutung daher, dass er der erste Vorbote des Frühlings ist und zwar, wenn ich das richtig verstehe, schon im November. Er wird oft von Eisschollen umgeben dargestellt.

Als von der Ming-Dynastie die Rede ist, macht die Führerin eine verräterische Bemerkung, die gut zu dem Seminarthema von Anfang dieser Woche gepasst hätte. Old, very old, America was not there. Na ja, das sehen die Amerikaner sicher anders. Und dann sprechen wir von Eurozentrismus.

In einem Innenhof stehen ein paar Bonsai-Pflanzen. Die Führerin lässt sich die Gelegenheit nicht entgehen, darauf hinzuweisen, dass sie natürlich eine chinesische Erfindung sind und die Japaner nur schlappe Nachahmer. Sie fügt gönnerhaft hinzu: But it’s okay. Es gibt einen Unterschied in der Konzeption: Die japanischen Bonsai haben ein eher künstliches, regelmäßiges, eindeutig von Menschenhand geformtes Aussehen, die chinesischen sehen eher natürlich aus – natürlich, ohne es zu sein. Sie imitieren Bäume, Felsen oder sogar Wasserfälle. Die Füherin lässt keinen Zweifel daran, welcher der beiden Konzeptionen sie den Vorzug gibt.

Dann lässt sie uns genauso unvermittelt stehen wie sie aufgetaucht ist, und man kann aufatmen.

Als ich wieder in die Stadt zurückgehe, sind wir schon bei 87°. Also bei etwas über 30°. Ein Eselsbrücke für die Temperaturen ist: 61°=16°. Aber trotzdem ist man bei den meisten Angaben doch ziemlich ratlos. Ich erinnere mich, dass es früher eine Umrechnungsformel gab, aber die war zu kompliziert, um gut zu sein. Heute guckt man das schnell auf dem I-Phone nach – wenn man eins hat.

Die Sache bei Herrn Fahrenheit war ein bisschen subjektiver als bei Herrn Celsius, der den Gefrierpunkt und den Siedepunkt als Referenzpunkte annahm. Das ist ganz einleuchtend. Bei Fahrenheit war es einfach ein ganz kalter Wintertag. Das war eben das untere Ende der Skala. Dadurch glaubte er, nicht unter Null gehen zu müssen. Er war noch nie in Sibirien gewesen, denn null Grad sind gerade mal -17°. Für das andere Ende der Skala nahm er seine Körpertemperatur. Er muss an dem Tag aber etwas Fieber gehabt haben. Denn das sind 37,8°. Jedenfalls weiß man: Wenn es 100° ist, ist es zu heiß.

Auf dem Weg sehe ich ein ein Cafe namens Potbelly, ein Kleidungsgeschäft namens Mens Wearhouse, das Voodoo Doughnut und ein Theater mit europäischer Schreibweise: Theatre. Und schließlich ein Fischrestaurant, an einer Straßenecke gelegen, aus dessen einer Wand die Hinterflosse herausguckt, aus der anderen der Kopf eines Fisches.

Dann geht es noch mal ins Büro, wo ich wieder eine kulturelle Erfahrung mache: Man muss den Schlüssel nach rechts drehen, um die Tür zu öffnen. Das ist gegen alle unsere Erwartungen. Mir ist das ein bisschen peinlich, aber später frage ich mich, warum ich dann unten zur Haustür reingekommen bin. Ann Marie weist mich noch in ein paar technische Dinge bei der Dokumentenverwaltung und bei der Notengebung ein und sagt, sie werde in den nächsten zwei Wochen nur sporadisch da sein: zwei Tage lang als Schöffin am Gericht, dann eine knappe Woche Urlaub an der Küste, mit der Familie, im Ferienhaus von Freunden.

Dann geht es noch mal zu Safeway. Ich kaufe mir, wo schon so viel davon die Rede war, ein paar Pflaumen und leiste mir ein Sixpack mit amerikanischem Bier. Und bezahle diesmal das Brot nicht nur, sondern nehme es auch mit. Das Mädchen an der Kasse kommentiert: Das Bier der Götter. Da habe ich ja wohl die richtige Wahl getroffen. Sie fragt mich, vorher ich käme. Ich hätte so einen ausländischen Akzent.

29. Juni (Samstag)

Bei der Korrektur der Hausaufgaben der Trierer Studenten begegne ich am Morgen diesem Zitat: Which death is preferable to any other? The unexpected! Und wer hat das gesagt? Cäsar! Er bekam, was er wollte.

Heute steht die Besichtigung des Portland Center for the Performing Arts auf dem Programm, wo ich letzte Woche bei der Stadtführung gesehen habe, dass es samstags Führungen gibt. Die beziehen sowohl das alte als auch die neuen Theater ein. Wunderbar. Zur Sicherheit noch mal im Internet nachgesehen. Ja, jeden Samstag. Als ich ankomme, heißt es: Oh nein, alle unsere Führer sind in einer Besprechung. Heute gibt es keine Führung. Kommen Sie am Mittwoch. Am Mittwoch habe ich Unterricht.

Etwas unschlüssig, gehe ich zum Willamette runter. In der Innenstadt ist es merkwürdig ruhig, unten am Fluss ist etwas mehr Bewegung. Es ist ein heißer Tag. Trotzdem begegnen mir viele Läufer. Alle athletisch, viele mit freiem Oberkörper.

Zufällig sehe ich das Maritime Museum, ein irreführender Begriff für ein Museumsschiff, die Portland. Als ich wieder rauskomme, ist mir richtig mulmig. Dabei liegt das Schiff fest und schaukelt nur ganz leicht hin und her.

Die Portland sieht entfernt aus, wie man sich einen Dampfer auf dem Mississippi vorstellt. Jedenfalls hat sie ein riesiges, hölzernes Schaufelruder vorne. Holz wurde absichtlich verwendet, nicht obwohl, sondern weil es brach, wenn es auf einen Widerstand stieß. Stahl hätte ich verzogen und die anderen Schaufel beeinträchtigt.

Das Schiff wurde tatsächlich mit Dampf betrieben, obwohl das zu der Zeit, kurz nach dem 2. Weltkrieg, schon eine veraltete Technik war. Das Schiff diente ausschließlich als Schleppschiff. Es brachte Frachtschiffe, aber auch Schiffe der Kriegsmarine, in den Hafen und aus dem Hafen heraus. Wenn Maritime Museum eine Übertreibung ist, scheint es mir eine Untertreibung, dass hier ständig von boat die Rede ist, vor allem, wenn man den Maschinenraum sieht. Die Erklärungen hier verstehe ich überhaupt nicht. Überall ist von Kurbeln, Kolben und Konvertierern die Rede, aber was die alle tun, bleibt mir ein Rätsel.

Eine interessante Entdeckung kann man aber machen. An irgendeiner Ecke hängt ein Gewicht, das man mittels einer Winde mit einer Hand hochziehen kann. Nicht unmöglich, aber eher schwer. Man kann das Gewicht aber auch mit einer anderen Winde hochziehen, bei der das Seil dreimal, irgendwie verwickelt, durch verschiedene Schlaufen läuft, und es ist kinderleicht! Da ist man bass erstaunt angesichts der menschlichen Erfindergeists.

Auf einem Photo sieht man, wie die Portland ein anderes Schiff im Schlepptau hat, nicht etwa vorne weg ziehend, wie man das bei einem Auto, sondern halb schräg seitlich an den Körper des Schiffs angelehnt.

Die Begriffe verwirren etwas, denn es ist von pilot und captain die Rede. Das ist nicht dasselbe. Dann komme ich darauf, dass pilot wohl Lotse heißen muss.

Oben in der Kommandozentrale ist ein riesiges, rundes Ruder, wie man es aus Filmen kennt. Es würden zwei oder drei Mann benötigt, um das Ruder zu bewegen. Es diente aber hier nur als Ersatz für die eigentliche Lenkvorrichtung, einen metallenen Schalter.

Oben in der Decke befindet sich eine Art Falltür, die beim Öffnen zu einer Art Bord wird und alle möglichen Karten enthält. Fast alle anderen Vorrichtungen hier dienen der Kommunikation mit der Besatzung, auch eine ganze Menge Schalter, die aussehen, als würde man mit ihnen etwas in Bewegung setzen.

Zum Abschluss sieht man Bilder aus zwei Filmen, in denen die Portland auftrat. Unglaublich, wie sie sie zurechtgemacht haben! In einem trägt sie ein komplettes, weißes Gerüst aus Holzgittern außen und hat einen weiteren Schornstein. In dem anderen Film tritt sie zu einem Rennen gegen ein anderes Schiff an.

Wieder an Land, gehe ich am Flussufer weiter. Hinten, an der Burnside Bridge, ist der Portland Saturday Market, der auch sonntags stattfindet. Es soll einer der Höhepunkte Portlands sein. Hier ist wirklich viel Gedränge. Es gibt Kunsthandwerk: Keramik, Holz, Leder, Schmuck. Alles sehr geschmackvoll, aber nicht sonderlich interessant. Und es gibt natürlich eine Fressmeile. An deren Anfang steht wieder ein Geldautomat unter einem Minizelt. Und ein Schild mit der Aufschrift, dass hinter diesem Punkt kein Alkohol konsumiert werden darf.

Der Markt zieht sich über die Straße hin ein bisschen Richtung Innenstadt hin. Hier gibt es Accessoires wie Handtaschen und andere Dinge, die keiner braucht. Außerdem kitschige Gemälde.

Ich gehe etwas lustlos wieder Richtung Wohnheim und komme wieder bei Voodoo Doughnut vorbei, wo wieder eine lange Schlange steht. Was ist daran nur so verlockend?

Bei dem schönen Wetter wäre der Japanische Garten eine gute Alternative, aber ich gehe stattdessen in das Oregon History Museum.

Auf verschiedenen Etagen gibt es was zur Geschichte des Staates. Die authentischen Exponate sind meist aus der Zeit nach dem 2. Weltkrieg, der typische vorsintflutliche Fernseher, den man jetzt in allen Volkskundemuseen sieht.

Am Eingang sieht man ein Gemälde, auf der Staffel eines Malers, das die Landschaft Oregons, völlig menschenleer, darstellt und daneben ein Zitat, dessen Zusammenhang mit dem Bild mir nicht klar wird, das ich mir aber trotzdem hinter die Ohren schreibe: A lazy person should never think of going to Oregon.

Daneben gibt es Darstellungen des Emblems von Oregon, das immer wieder verändert wurde und jetzt eine Mischung aus allen möglichen Elementen ist, Adler und Zedern und Weizengarben und aufgehende Sonne und Planwagen und ankommende und auslaufende Schiffe.

Es gibt wenige Originalexponate, das meiste sind Nachbildungen oder Darstellungen. Es geht um die Indianer und die ersten Siedler.

Man sieht, dass, entgegen der Chinesin aus dem Chinesischen Garten, Amerika sehr wohl existierte, als in China die Ming-Dynastie regierte. Und sogar schon viel länger. Die ersten Besiedlungsspuren stammen aus der Eiszeit. Als die ersten europäischen Siedler kamen, lebten 50,000 bis 100,000 Indinaner hier, verschiedene Stämme mit verschiedenen Sprachen, die teils sogar verschiedenen Sprachfamilien angehörten. Die wichtigste Einheit war die Dorfgemeinschaft, obwohl es auch darüber hinaus auch ein, meist sprachlich bedingtes, Zusammengehörigkeitsgefühl gab.

Die Indianer machten das, was alle machen. Sie bekriegten sich und trieben Handel miteinander. Die hiesigen Indianer handelten vor allem mit Lachs, Weichtieren und Obsidian, dafür bekamen sie Projektile und Schneiden von anderen Stämmen und Büffelfell und Pferde aus dem Osten – ich dachte immer, hier hätte es keine Pferde gegeben.

Was hier ganz deutlich wird, ist, dass die ersten Europäer, die nach Westen aufbrachen, keine Abenteurer waren, sondern Forscher! Es war eine von Jefferson initiierte Expedition unter der Führung von Lewis und Clark. Was sie im Gepäck hatten, sieht man hier: Bücher über Mineralogie, Geologie und Botanik. Jefferson hatte gehofft, dass sie einen Wasserweg finden würden, und er erhoffte sich von der Erschließung der Küste vor allem eine Aktivierung des Handels mit Japan! Wer hätte das gedacht!

Der große Zug gen Westen setzte dann ein paar Jahrzehnte später ein. Jetzt kamen Händler, Abenteurer, Trapper, Missionare, Holzfäller, Viehzüchter, Bergleute. Die lebten meistens vom Optimismus, von der Hoffnung auf das schnelle Geld. Meistens wurde aber sehr wenig gefunden, und da, wo viel gefunden wurde, ging das meiste nicht an die Bergleute, sondern an die Unternehmer. Man sieht hier die Ausrüstung dieser Bergleute. Sie unterscheidet sich nicht richtig von der unserer Bergleute im Kohlerevier. Es gibt aber wohl das Modell einer Maschine, die merkwürdig aussieht. Es ist eine Maschine zum Zerstampfen des Eisenerzes. Das musste man machen, wenn man Nickel gewinnen wollte. Und davon gab es reichlich. Es gibt hier in Oregon sogar einen Berg, der Nickel Mountain heißt.

Zwischen 1825 und 1855 kamen vier Millionen Siedler hierher in den Westen. In Zeitungen und Anleitungen wurden Ratschläge veröfftentlicht, was man mitnehmen solle, vor allem Werkzeug, Waffen, Bohnen, getrocknete Früchte und gute Schuhe. Man fühlt bei all den Ausstellungsgegenständen – es gibt Nachbildungen der typischen geschlossenen Pferdekarren und des Habs und Guts – fast ein bisschen die Aufbruchstimmung miterleben. Und sieht die kleineren und mittleren Katastrophen. Einer reiste mit zwei Bienenkörben, und die fielen beim Überqueren eines Flusses ins Wasser! Viele nahmen auch Hühner mit, die in der ersten Zeit Eier legen sollten und dann irgendwann gebraten wurden. Wie muss es sich angefühlt haben, wenn die auf einmal weg waren und man das Ziel noch nicht erreicht hatte!

Am Ausgang des Museums gibt es dann den berühmten Portland Penny. Wenn er es denn wirklich ist, aber das will man gerne glauben. Es ist natürlich nur ein mickriger Penny, sonst nichts. Auf der Vorderseite sieht man das Abbild einer Frau mit Zopf. Keine Ahnung, wen sie darstellt. Sie wurde 1835 geprägt und spielte dann in dem Losentscheid 1843 die Hauptrolle.

30. Juni (Sonntag)

Letzte Gelegenheit für ein „ernsthaftes“ Training vor dem Marathon am Donnerstag. Wieder drehe ich drei Runden am Fluss entlang, dazu geht drei mal die Park Avenue rauf und runter. Um sieben Uhr sind es schon 20°, um acht Uhr schon 22°. Ich bin Herrn Benson wirklich dankbar für die Benson Bubblers, denn es ist, trotz des frühen Starts, warm und trocken, und am Ende richte ich die Route so aus, dass ich möglichst oft an einem der Brunnen vorbei komme. Als am Ende das nichts sehr einnehmend aussehende Wohnheim in Sicht kommt, erscheint es mir wie eine Erlösung.

Diesmal bleibe ich an den roten Ampeln immer brav stehen. Man muss sich bremsen, nicht rüberzugehen, wenn weit und breit kein Auto da ist, aber versteckt sieht man immer wieder, auch um sieben Uhr schon, Polizisten in ihren eleganten, weißen Autos an Straßenecken stehen, und hin und wieder tauchen sie heimlich, still und leise hinter einem auf.

Danach versuche ich, im Internet einen Waschsalon ausfindig zu machen, aber die sind alle außerhalb des Zentrums. Erst dann fällt es mir ein, mal hier im Wohnheim nachzufragen. Da gibt es eine Anlaufstelle, die auch sonntags geöffnet hat. Es gibt nicht nur einen, es gibt sogar einen auf der gleichen Etage! Man muss sich erst eine Karte besorgen, die gibt es nebenan, im Ondine, und wie das mit dem Waschpulver ist, weiß die junge Frau auch nicht. Da sehe ich erst mal nach. Das Waschpulver muss man mitbringen. Also geht es auf zum Minimarkt, aber dem ist das Zeug mal wieder ausgegangen. Also geht es wieder zu Safeway, die natürlich auch am Sonntag geöffnet haben. Es gibt sogar ungewöhnlich lange Schlangen, und ich stehe mit meinem riesigen Waschmittelbehälter als einzigem Artikel ziemlich verloren da.

Danach geht es zum Ondine, um die Karte zu kaufen. Alles geht automatisch. Hier muss man ausnahmsweise Bargeld haben, Geldscheine, aber nur ab 5$. Da hab ich Glück, die Maschine erklärt mir auf einem kleinen Display jeden Schritt.

Im Waschsalon gilt es auch, die Instruktionen zu verstehen. Auch das ist nicht schwer, nur finde ich es etwas komisch, dass man das Waschmittel direkt in die Trommel füllt. Aber wird schon richtig sein.

Danach muss ich mich ernsthaft an die Unterrichtsvorbereitung machen. Es ist eine Sache offen, die die Studenten nicht verstanden haben. Aber ich gebe mich noch nicht geschlagen.

Ich finde es immer noch in Portland erstaunlich ruhig. Die Stadt hat immerhin mehr als 500,000 Einwohner. Wo sind die alle? Krach machen nur die Polizeiwagen mit Martinshorn.

Jetzt bin ich schon zwei Wochen hier. Und immer noch nicht in Powell’s World of Books gewesen.

1. Juli (Montag)

Das Warten an der Fußgängerampel wird einem hier leicht gemacht: Es dauert nie lange. Heute morgen ist es aber ganz anders. Ich bin auf dem Weg zu einer Reinigung. Die Adresse habe ich im Internet gefunden. Die Reinigung ist nicht weit vom Broadway Building, aber liegt gerade außerhalb der Innenstadt, und man muss eine Schnellstraße überqueren. Nachdem ich Gott weiß wie lange an der Ampel stehe und immer wieder neue Kolonnen von Autos aus verschiedenen Richtungen an mir vorüberfahren, merke ich, dass es hier ausnahmsweise einen Schaltknopf gibt, den man betätigen muss, ganz wie zu Hause. In den ersten Tagen hier habe ich den immer vergeblich gesucht.

Die Reinigung ist von 6.30 bis 6.30 geöffnet, und auch hier ist man wieder sehr freundlich.

Wegen des frühen Aufbruchs bin ich fast zwei Stunden vor Seminarbeginn im Büro. Heute kommt ein Gasthörer, um sich den Unterricht anzusehen.

Nach dem Seminar geht es zur Post. Da bin ich schon mal vorbeigekommen, aber ich weiß nicht mehr, wann. Als ich sie dann finde, weiß ich wieder, wann: auf dem Weg zum Chinesischen Garten. Sie ist gleich vor Chinatown.

Hier sieht alles sehr altmodisch aus. Und man muss sich in eine lange Schlange stellen. Aber der Mann hinter dem Schalter, der wie eine Mischung aus Zuhälter und Zweitligaprofi aussieht, ist ein Wunder an Effizienz und Freundlichkeit. Er erledigt jeden Auftrag in Windeseile, dabei haben die meisten nicht nur Briefmarken im Sinn, wie ich. Und dann bedankt er sich auch noch bei jedem für die Geduld.

Die Briefmarken haben keine Wertangabe, können also unabhängig von Preissteigerungen weiter benutzt werden. Und sie sind rund. Sie stellen den Erdball dar. Das ist wohl der Hinweis dafür, dass sie für alle Länder gelten. Eine kostet 1,10 $. Das das ist ungefähr wie bei uns.

Von dem Schild US Postal Service wird sofort ein Photo gemacht. Das gehört zu der Kuriositätensammlung beim Thema Britisches und Amerikanisches Englisch: Der Mailman bring die mail und arbeitet für den US Post Service, der postman bringt die post und arbeitet für die Royal Mail.

Ich mache dann noch einen Versuch, den Japanischen Garten zu besichtigen. Da ich jetzt schon einmal hier unten bin, gehe ich sozusagen außen rum. Diesmal habe ich viel mehr Zeit, aber dann wird es doch noch knapp, durch die vielen Steigungen und den riesigen Park bedingt. Und dann geht es ganz zum Schluss noch einen steilen, gewundenen Pfad hoch. Vom Parkplatz aus gibt es dahin sogar einen Pendelbus. Jetzt verstehe ich, warum ich dieser Tage den Parkplatz, aber nicht den Garten gefunden habe. Als ich endlich ankomme, bin ich richtig erschöpft und total durchgeschwitzt.

Der Chinesische Garten von Portlands ist „der authentischste Chinesische Garten außerhalb Chinas“. Der eigenen Beschreibung zufolge. Das lassen sich die Japaner nicht lumpen. Der Japanische Garten Portlands, heißt es, sei „der authentischste Japanische Garten außerhalb Japans“.

Die spindeldürre, stark geschminkte Japanerin, die uns durch den Garten führt, ist eine Überzeugungstäterin. Sie ist zwar zu höflich, das zu sagen, aber zwischen den Zeilen merkt man auch hier, wie wenig wir Europäer doch von Gartenkunst verstehen. Sie gibt aber zwischendurch zu, dass man einiges der chinesischen Tradition verdankt. Die Interpretation ist aber manchmal an den Haaren herbeigezogen. Den Japanischen Garten lese man, wie eine Bildrolle, die man langsam entfaltet, von einer Seite zur anderen. Gerade hier, wo wir stehen, will mir nicht einleuchten, ob man das nicht auch von der anderen Seite aus lesen könnte. Und ob diese Lesart tatsächlich zwingend ist. Und ob man diese Lesart nicht auch für einen europäischen Garten anwenden könnte.

Erst glaube ich, falsch verstanden zu haben, aber dann wird es deutlich, dass sie ernsthaft behauptet, Japanische Gärten reflektierten den Wandel der Jahreszeiten, während europäische immer gleich aussähen. Erst hatte ich geglaubt, sie meine es umgekehrt.

Ganz besonders betont werden immer wieder die Asymmetrie und das Bestreben, die Natur zu beschneiden und sie trotzdem natürlich aussehen zu lassen. Wir sehen gleich am Eingang verschiedene Bäume, die 30 Meter hoch wären, wenn man sie wachsen ließe, aber nur mannshoch sind. Die Pfosten einer Laube, die aus Eisen sind, sehen dagegen so aus, als wären sie Baumstämme.

Der Garten ist 50 Jahre alt und enthält wiederum fünf Gärten, die die japanische Gartentradition verschiedener Epochen wiederspiegeln.

Auch hier regiert die Zahlenmagie und die Symbolik. Eine steinernde Pagode hat fünf Stufen und das, so heißt es, stehe für die 5 Sinne, für die 5 Primärfarben und für die 5 Himmelsrichtungen. Bei denen ist das Zentrum die fünfte. Bei den Primärfarben bin ich mir nicht sicher. Ob Schwarz und Weiß dazugezählt werden?

Die Pagode wurde in Sapporo, Portlands Partnerstadt, gefertigt. Sie steht auf einem Stein, der die Insel Hokkaido darstellt. Ein roter Stein steht für Sapporo.

Eine interessante Symbolik vertritt ein Garten, in dem gebändigte Sträucher und Büsche eine chinesische Landschaft en miniature darstellen. Dieser Garten stammt aus der Zeit des Langen Friedens, die auch eine Zeit der Immobilität und des mangelnden Wohlstands war. Man holte sich deshalb andere Landschaften, auch andere Landschaften Japans, nach Hause.

Zwischen den Gärten steht ein Stein mit einem Haiku, der bei einem japanischen Dichter in Auftrag gegeben wurde. Statt, wie erwartet, ein Blatt Papier zu schicken, schickte der einen Stein.

Der Stein ist das wichtigste Grundelement des Japanischen Gartens, erfährt man. Wenn man es beengt hat, kann man zur Not auch einen Garten anlegen, der nur aus zwei Steinen besteht. Die beiden anderen Grundelemente sind Wasser und Pflanzen. Das Wasser ist auch bei den typischen Kieselsteingärten vertreten, obwohl man weit und breit kein Wasser sieht. Es sind die Furchen in den Kieselsteinen, die die Wellen des Wassers darstellen.

Der Japanische Garten befindet sich auf einem Teil des ehemaligen Zoo-Geländes und ist ganz von dem schönen, amerikanischen Park eingefasst mit seinen hohen Bäumen und seiner unkontrollierten Vegetation, ein schöner Kontrast. Den Japanern macht das nichts, im Gegenteil, die geborgte Landschaft ist Teil des Konzepts.

Auch hier verschwinden während der Führung immer mehr der Gäste, und am Ende sind wir nur noch eine Handvoll. Von dem letzten Garten aus hat man einen direkten Blick auf den schneebedeckten Mt. Hood. Wirklich bemerkenswert bei diesen Temperaturen. Auch den haben die Japaner sich ausgeliehen.

Dann steht mir noch der ermüdende Rückweg bevor, diesmal innen rum. Ich komme an der Korean Church vorbei, an der Lutheran Church, an der Sixth Church of Christ Scientist (Was mag das nur sein?) und an der Congregational Church. Deren Motto ist: Our faith is 2,000 years old but our thinking is not! Irgendwo habe ich in einer Statistik gelesen, dass zwar 51% der Amerikaner Protestanten sind, aber nur 5% Lutheraner.

Wie soll man sich in den letzten Tagen vor dem Marathon ernähren? Die einen sagen Pasta, die anderen Kartoffeln, wieder andere Steaks. Letztlich wahrscheinlich nicht so wichtig. Ich esse eine Pizza aus dem Pizzaladen hier in der Nähe.

2. Juli (Dienstag)

Nach dem Seminar geht es zu Foot Traffic, zum Abholen der Unterlagen für den Lauf. Der Pendelbus fährt am Morgen ab 5 Uhr von einer Stelle am entegegengesetzten Ende der Innenstadt ab und bringt uns auf die Insel, Sauvie Island. Ich werde also ein Taxi nehmen müssen, um zu dem Bus zu kommen, der mich dahin bringt, wo ich laufen soll. Absurd. Wir Menschen sind verrückt. Duschen gibt es auf der Insel nicht, aber ein Aufpassservice für die Klamotten.

Jetzt müsste eigentlich die Vernunft sprechen und mir eindringlich sagen, ich solle nach Hause gehen und die Beine hochlegen. Aber nein, statt dessen mache ich mich auf den Weg zur Aerial Tram, der Gondelbahn, die einen auf irgendeinen Berg bringt. Eine in jeder Beziehung bekloppte Entscheidung. Ich lande zwar zuerst an einem schönen Jachthafen mit einer Promenade mit Straßencafes und Kneipen, aber das ist die Aerial Tram nicht. Statt dessen werde ich in eine unwirtliche Gegend mit riesigen Baustellen und einem Spaghettiknoten von drei Ebenen geschickt. Hier wird gerade die vierte Ebene gebaut, und etwas weiter eine Halle, die wie eine Flugzeughalle aussieht. Nichts ist zu finden, nichts ist ausgeschildert, nichts ist zu sehen, und die Leute aus der Nachbarschaft kennen das Ding auch nicht, jedenfalls nicht unter dem Namen Aerial Tram. Dabei müsste man die ja einfach sehen können.

Als ich dann doch noch hinkomme, stellt sich heraus, dass die Fahrt vielleicht zwei Minuten dauert, absolut unspektakulär ist und nicht zu einer schönen Aussichtsplattform führt, sondern mitten in ein – Krankenhaus.

Da will ich nur noch raus. Auf dem anderen Weg geht es zurück, bis ich ermüdet an einer Bushaltestelle warte, um in die Innenstadt zurückzukommen. Der Bus fährt direkt am Broadway Building vorbei, aber ich bin nicht schnell genug, um den Halt anzufordern und muss dann noch ein gutes Stück zurücklaufen. Am Ende belohne ich mich mit Pasta, die einem Brotring serviert wird. Noch nie probiert.

3. Juli (Mittwoch)

Die Müllabfuhr kommt um vier Uhr morgens, dem Anschein nach jeden Tag, und macht nachts den Krach, den die anderen tagsüber nicht machen. Das gibt es nur die Polizei mit ihrem unsäglichen Martinshorn. Die aber dafür umso öfter.

Auf dem Weg zum Seminar höre ich ein lautes, anhaltendes Hupen. Irgendein Autofahrer hat sich über einen anderen aufgeregt. Das ist das erste Mal in den ganzen zwei Wochen, dass ich so etwas höre, vielleicht sogar das erste Hupen überhaupt. Die Autofahrer sind so rücksichtsvoll, dass es einem schon fast peinlich ist. Man braucht nur so zu gucken, als wolle man in absehrbarer Zeit die Straße überqueren, und schon bleiben ganze Kolonnen von Autos stehen.

Nach dem Seminar gehe ich zur Reinigung, wo man sich wieder an Freundlichkeit übertrifft. First-time customer? Und schon bekommt man etwas abgezogen. Aus 22 $ werden 15,50 $. Das nenne ich einen Diskount. Eine freundliche und gleichzeitig clevere Geste. Ich habe jedenfalls keinen Anlass, eine andere Reinigung zu suchen.

Dann gehe ich noch nach Safeway. Der Einkauf ist ganz auf morgen ausgerichtet. Wenn ich vom Lauf wieder zurück bin. Da soll es an nichts fehlen.

Bei Safeway gibt es rot-weiß-blaue Blumensträuße in patriotischem Papier. Bei den blauen Blumen hat man allerdings gekniept. Die sind wohl teurer als die anderen. Hat nicht mal jemand gesagt, Blau komme in der Natur so gut wie nicht vor?

Auch, wenn ich heute gar nichts mache, habe ich immer noch schwere Beine von der ganzen Rennerei der letzten Tage. Keine kluge Strategie. Der Muskelkater dürfte aber bis morgen früh ganz verschwunden sein.

4. Juli (Donnerstag)

Ist er aber nicht. In den Oberschenkeln ist er immer noch da. Ich habe dieser Tage wohl ordentlich trainiert.

Was isst man vor einem Lauf, der um 6.30 startet? Man braucht ordentlich was für den Lauf, aber es darf auch nicht schwer im Magen liegen. Und um 4.30 hat man auch nicht so richtig Lust auf eine volle Mahlzeit. Also gibt es doch nur ein bisschen Obst.

Der Taxifahrer ist überpünktlich. Er nimmt die Stadtautobahn, und ich fürchte schon, dass er mich zu der falschen Silver Crown Inn bringt, dem Punkt, wo die Busse abfahren. Tut er aber nicht.

An der Silver Crown Inn warten schon die Busse, wunderbare, alte Schulbusse, riesenlange Kisten, die uns zu Sauvie Island bringen. Neben mir sitzt eine junge Frau aus Illinois. Als wir auf die Brücke zukommen, die auf die Insel führt und ich eine entsprechende Bemerkung mache, wundert sie sich: Is that the island. – Yes, I think so, it is a river island, isn’t it? Sie kennt sich noch schlechter aus als ich, ist aber das Opfer derselben sprachlichen Verwirrung wie ich es war: Bei Insel denkt man automatisch an Meer. Aber das kann es hier nicht sein, weil das Meer nicht in 15 Minuten von Portland aus zu erreichen ist. Trotzdem habe ich erst geschaltet, als ich den Begriff river island dann auch tatsächlich gehört habe.

Die Frau läuft, zusammen mit ihrer Schwester, den Halbmarathon. Für den gibt es 2,500 Anmeldungen, für den Marathon 550.

Unterwegs sehe ich ein Schild, das den Ort angibt, zu dem man kommt, wenn man links abbiegt: Germantown. Ist ja vielleicht ein gutes Zeichen.

Wir kommen an ein paar abgemähten Heufeldern vorbei. Das Heu wird hier in länglichen Stapeln, die wie die Sockel von Monumenten aussehen, zum Trocknen ausgelegt.

Auf einem Feld stehen schon ganze Reihe von parkenden Autos. Dann kommen wir auf einen Platz, auf dem verschiedene Scheunen stehen, die zu Geschäften und Ständen umfunktioniert worden sind, heute ganz auf den den Foot Traffic Flat ausgerichtet. Dazwischen alle möglichen Stände mit Informationen und Verkauf zum Laufsport.

Es bleibt noch eine Stunde bis zum Start, und es ist ganz schön kalt. Damit hatte ich nicht gerechnet. Es ist etwa die Zeit, wo ich dieser Tage losgelaufen bin, aber vielleicht ist es auf der Insel einfach kälter.

Vor dem Start habe ich, wie immer, das Gefühl, dass alle anderen schlanker, sportlicher und jünger sind, einmal pro Woche in die Muckibude gehen, sich gesund ernähren und sich seit Monaten systematisch auf den Marathon vorbereiten. Gott sei Dank täuscht der Eindruck.

Es gibt sogar extra einen Sockel, auf dem man sich die Schubänder zubinden kann: Before the races, check your laces.

Alles geht sehr dezent zu. Vor dem Start singt ein elfjähriges Mädchen eine patriotische Hymne, der alle ganz gebannt lauschen. Ziemlich kitschig, aber besser als das Lautsprechergeplärre bei uns.

Die meisten sind auch ganz normal gekleidet. Nur hin und wieder eine amerikanische Laufhose oder einer der albernen Zylinder.

Vor uns startet ein mehrfacher Weltrekordler, David Shipley, der hier besonders angekündigt wird, vermutlich zusammen mit ein paar anderen Läufern. Warum, verstehe ich nicht. Er würde doch ohnehin vorne weg laufen. Von uns würde ihn schon keiner überholen.

Dann geht es los, und zwar, bei uns hinten wenigstens, ganz langsam. Für mich fast zu langsam. Ich laufe einfach meinen eigenen Rhythmus, und nach kurzer Zeit finde ich mich in der Mitte zwischen einem ganzen Pulk vor mir, den mittelmäßigen, und einem kleineren hinter mir, den langsamen Läufern.

Dann überhole ich Miss Joy, eine ältere Frau, die in Intervallen läuft. Jedesmal, wenn ihr Pulszähler piept, verfällt sie ins Gehen. Dann läift sie wieder. Kurz darauf sehe ich einen Mann, dann eine Frau, die, der Auskunft auf ihrem Trikot zufolge, schon in allen 50 Staaten einen Marathon gelaufen sind.

Links am Fluss sehr schöne Holzhäuser, vermutlich Ferienhäuser, die auf Stegen mitten im Wasser liegen, wie an einer Kette aufgereiht, aber alle anders, eingen mit großen offenen Portikos, andere mit Balkonen, ein- oder zweistöckig, in unterschiedlichen Farben.

Dann tauchen zwei Läufer auf, ein Mann und eine Frau, die genau meinen Rhythmus laufen. Eine ganze Zeitlang laufe ich neben ihnen her. Der Mann, eine Mischung aus Koreaner und Kubaner, hat ganz kurz geschorenes Haar, einen struppigen, langen Kinnbart und trägt schwarze Kniestrümpfe und giftgrüne Schuhe.

Gemessen wird in Meilen. Das ist gut. Da braucht man nicht so viele. Ich mache meine Kalkulationen. Müssten etwas 27 Meilen sein. Ich nehme mir vor, bis Meile 20 durchzulaufen, also 32 Kilometer. Naja, vielleicht auch nur 18.

Dann werden wir von der Hauptstrecke weggeleitet, damit wir unsere Meilen  zusammenbekommen. Inzwischen habe ich die beiden aus den Augen verloren. Dafür laufe ich jetzt hinter einer Frau mit rotem Trikot und Pferdeschwanz her. Der baumelt bei ihren Schritten hin und her und verschafft ihr Ventilation. Es ist inzwischen sehr warm. Manchmal ist sie nur ein paar Schritte vor mir, dann ein ganzes Stück, und dann bin ich wieder nur ein paar Schritte hinter ihr. Wer von uns beiden den unregelmäßigen Rhythmus hat, weiß ich nicht. Erst nach langer Zeit verliere ich sie bei einem der Trinkstände aus den Augen. Dafür tauchen jetzt immer wieder ein Mann mit nacktem Oberkörper, der ohnehin schon einen Sonnenbrand hat, auf, und eine Frau, die For Mum and Dad läuft.

Auf der Gegengerade kommen uns jetzt die schnellen Läufer entgegen und dann, nach der Kehre, die langsamen. So langsam sind die aber gar nicht. Wenn man nicht konsequent weiterläuft, haben die einen schnell ein. Aber andererseits gehen einige von ihnen schon, und sie werden ja auch nicht alle eine Leistungsexplosion erleben. Ich erinnere mich an Thomas Devise, erstes Ziel ankommen, zweites Ziel nicht Letzter werden, drittes Ziel unter … Ja, unter was denn bleiben? Bei 10 km-Lauf sind ist es 60 Minuten, aber was ist beim Marathon ein realistisches Ziel? Unter 5 Stunden vielleicht.

Bei Meile 14 sehe ich zum ersten Mal auf die Uhr – und stelle fest, dass ich sehr langsam bin. Ich warte sehnsüchtig auf die Markierung der halben Distanz, und jetzt kommen mir Zweifel an meiner Kalkulation: Was, wenn eine Meile nicht 1,6, sondern 1,4 Kilometer ist. Dann fehlt noch mehr.

Versorgungsstationen gibt es reichlich, aber es gibt nur Wasser und Elektrolyd und so ein komisches Gel. Ich esse es trotzdem, vielleicht hiflt es ja was. Ich bin ansonsten aber sehr vernünftig und bleibe an jeder Versorgungsstation stehen und trinke. Keine Hetze. Alle Helfer sind unwahrscheinlich nett und unterstützen jeden einzelnen nach Kräften. Auch vorbeifahrende Radfahrer und Autos – die Strecke ist für die Inselbewohner nicht gesperrt – lassen sich keine Gelegenheit entgehen, Mut zu machen.

An einer weiteren Kehre frage ich den Aufpasser, wieviel Meilen ein Marathon denn hat. Er weiß es nicht, aber For Mom and Dad hört die Frage aus der Ferne mit und ruft zurück: 26,2 und wir sind jetzt bei 17,5. Hört sich doch machbar an.

Bei Meile 18 werde ich dennoch schwach und gehe ein paar Meter, unwillkürlich. Aber ich nehme mich zusammen und versuche es doch noch, bis 20 zu kommen. Das klappt, aber dann ist Schluss. Jetzt zählt nur noch der Wille, der Körper will nicht mehr. Inzwischen sind die Schmerzen aus den Oberschenkeln in die Hüfte und den Rücken gezogen, und jetzt machen sich auch die Füße bemerkbar. Aber es ist einfach die Anstrengung. Nichts ist richtig kaputt oder blutet. Ich habe mich an allen empfindlichen Stellen ordentlich zugeplastert.

Bei Meile 21 läuft eine ältere Frau an mir vorbei und sieht, wie ich mich mühselig voranschleppe. Sie macht mir Mut: “We’re almost there. Only 5 miles to go.“ Dann zieht sie an mir vorbei und lässt, wie zur Bestätigung, vier gleichmäßige, rythmisierte Fürze los. Ich denke erst noch, es ist vielleicht das Wasser, das in ihren Flaschen hin und her schaukelt, aber dann sagt sie „Forgive me“, und ich bin die Illusion los.

Immer weiter geht es die Straße entlang. Von dem Fluss ist längst nichts mehr zu sehen. Ein paar Felder auf der einen, ein paar Bäume au der anderen Seite, und am Rande der Ebene Hügel. Das ist alles. Der Lauf hätte beste Chancen, zur langweiligsten Strecke der Welt gewählt zu werden. Es geht immer die Landstraße entlang, 42 endlose Kilometer. Bei Sauvie Island hatte ich an ein paar Waldpfade, an Bächen und Seen gedacht, vielleicht an ein paar Bauernhäuser. Davon weit und breit nichts. Das macht das Weiterkommen auch nicht einfacher. Zumindest kommt jetz aber ein kühler Wind auf.

Dann taucht der rote Pferdeschwanz auf. Und läuft locker an mir vorbei. Dann der nackte Oberkörper. Wir laufen eine Zeitlang nebeneinander her und ermutigen uns gegenseitig, jetzt nicht mehr aufzugeben und ins Ziel zu kommen, und sei es auf allen Vieren. Dann lasse ich ihn hinter mir und überhole auch wieder den roten Pferdeschwanz. Es geht jetzt wieder etwas besser. Aber man achtet jetzt wirklich nur noch auf die Meilenmarkierungen.

Wieder verfalle ich ins Gehen, und der nackte Oberkörper läuft an mir vorbei. Der rote Pferdeschwanz auch, und das geht noch ein paar Mal hin und her.

Dann kommt plötzlich das Ziel in Sicht. Der rote Pferdeschwanz läuft nochmal an mir vorbei und wird kurz vor dem Ziel von seinen beiden Kindern in Empfang genommen, die die letzten Meter mitlaufen. Das nimmt alle Aufmerksamkeit in Anspruch.

Als ich im Ziel bin, muss ich einen Moment lang mit den Tränen kämpfen. Geschafft! Und zwar mit dem eisernen Vorsatz: Nie wieder!

Es gibt eine Medaille und ganz viel Wasser. Ein Taiwanese spricht mich an und will wissen, woher ich käme: Germany? Da bin ich schon ein paar Marathons gelaufen: Dresden, Düsseldorf, Hamburg, Mainau … Köln … Münster … und … der erste war in Wolfsburg, dann auch in Holland, in Eindhoven, und in Luxemburg, wie hieß der nochmal? – Echternach? – Ja, Echternach. Ich frage, wie das käme und er erzählt mir, dass heute sein 97. Marathon gewesen sei. Ich lasse mich ja durch nichts mehr überraschen, aber dann verstehe ich erst allmählich, was er meint: 97 konsekutive Marathons, jede Woche einen, in 97 Wochen. Und Oregon ist es schon sein zweiter. Nächste Woche ist Missouri dran, und dann macht er mit zwei Läufen in Australien die hundert voll. Danach will er es langsamer angehen lassen, nur noch einen pro Monat. Er hat natürlich auch seine eigene Website und seinen eigenen Laufverband, und erzählt mit Stolz von der Zahl der Klicks und der Zahl der Mitglieder. Er habe sein Leben lang hart gearbeitet, und jetzt reise er laufend durch die Welt. Es gehe beim Laufen nicht nur ums Laufen. Er ist noch ein paar Jahre älter als ich und trotzdem ein paar Minuten eher im Ziel. Schließlich fragt er auch noch, wo ich denn lebte in Deutschland. Trier? Ja, das kenne er. Schöner Fluss. Da habe er für Echternach trainiert. Ich müsste unbedingt nach Asien reisen. Da seien die Marathons viel billiger, und es gebe mehr zu essen.

Hier gibt es auf Kosten des Hauses immerhin einen Erdbeerkuchen. Dafür ist viel Propaganda gemacht worden. Ich war eher skeptisch, aber er schmeckt wirklich ganz hervorragend. Vermutlich sind es tatsächlich die Erdbeeren, die das ausmachen. Sie schmecken irgenwie voll, und sind gerade süß genug. Die Frau, die sie mir serviert, will wissen, woher ich käme: Germany? Oh, ich bin in Deutschland geboren, in München. Wunderbarer Zufall. Ich bin irgendwie gerührt.

Ich bleibe nicht mehr lange und setze mich in den Bus für die Rückfahrt. Als wir wieder an der Silver Crown Inn abgesetzt werden, stehe ich eine Zeitlang etwas verloren an der Straßenecke herum. Kein Taxi und keine Bushaltestelle weit und breit, und außerdem stinke ich bestialisch nach Schweiß. Also gehe ich zu Fuß. Ich erinnere mich an Köln und wie ich da vom Ziel zum Hotel musste, die längsten 500 Meter meines Lebens. Ich konnte nur ganz langsam einen Fuß vor den anderen setzen und habe mich sogar auf eine Treppe gesetzt, von der ich gar nicht mehr aufstehen wollte. Heute geht es gut. Ich bin zwar müde, kann aber einigermaßen normal gehen. Wenn mir bei Kilometer 38 jemand gesagt hätte, ich würde zu Fuß nach Hause gehen, hätte ich den für verrückt erklärt. Es müssen also doch noch Kräfte da gewesen sein. Warum kann man die beim Laufen dann nicht mobilisieren?

Es geht durch ein Viertel mit sehr schönen Häusern, so ähnlich wie bei dem Kneipenbesuch mit Justin. Dann kommen Reihenhäuser, die in einer alten Fabrik untergebracht zu sein scheinen, oder einer Arbeitersiedlung, alle aus rotem Ziegelstein, aber vom Feinsten. Ich gehe eine ganze Zeit die Overturn entlang, die Straße, die nach einem der Stadtgründer benannt ist. Dann kommt nach etwas Hin und Her der Broadway in Sicht. Eine Frau, die mit ihrem Kind auf dem Schoß vor einem Café sitzt, ruft mir Glückwünsche zu, so, als würden wir uns kennen. Sie ist auch dem Marathon gelaufen, sitzt aber schon frisch geduscht und umgezogen hier und genießt ihren Kaffee.

Als ich dann wieder zu Hause bin, freue ich mich auch auf Dusche und Bett, auf Wasser und Obst, auf Bier und Hähnchen, auf Tee mit Keks, auf Brot und Käse. Am besten von allem so viel wie möglich und so schnell wie möglich.

Es ist erst zwei Uhr, als ich schon wieder zuhause bin. Der Vorteil eines frühen Starts. Da kann man am Abend noch zum Fluss runter gehen. Dort steigt die große Party. Der Bereich ist aber abgesperrt, und es wird niemand mehr reingelassen: voll. Von den Brücke aus kann man aber runter gucken. Alle möglichen Buden und Stände und viel Live-Musik. Direkt vor uns ist ein Stand mit Musikvideos und Disketten. Er läuft unter dem Label: Keep Portland Weird. Vor uns spielt eine Band namens Crossroads. Wunderbarer, fetziger Sound, wie aus den guten, alten Zeiten, etwas an Led Zeppelin und Uriah Heep erinnernd, mit vielen Rhythmuswechseln und Instrumentalpartien. Es sind nur drei Instrumente, Bass, Gitarre, Schlagzeug, aber sie machen einen Heidenlärm und spielen einfach mitreißend. Der Musik-Event ist angekündigt als Blues-Festival. Das hat aber mit dem, was ich unter Blues verstehe, nichts zu tun.

Unten können sich die Leute recht frei bewegen. Es ist ja nicht so voll. Die Begrenzung ist, laut Schuld, den Sicherheitsbestimmungen zuzuschreiben. Gar keine schlechte Sache. Es herrscht kein Gedränge. Ich halte es dann aber nicht mehr bis zum Feuerwerk aus. Das erlebe ich zuhause nur noch akustisch.

5. Juli (Freitag)

Nachdem ich mich seit den frühen Morgenstunden mal wieder mit dem Computer herumgeplagt habe und der sich mehrmals abgemeldet, eine Fehlermeldung produziert und meine Texte schwarz überschrieben hat, lasse ich es einfach sein und gehe in die Stadt zur Touristeninformation.

Als ich gerade unterwegs bin und mir meine Fragen zurechtlege, sehe ich in einiger Distanz vor mir irgendeine ruckartige Bewegung, merke aber dann erst, dass es eine Radfahrerin ist, die in hohem Bogen von ihrem Rad gestürzt ist. Ich laufe hin. Sie reagiert nicht, als ich sie anspreche. Sie sieht aber unverletzt aus, kein Blut, keine Schürfwunden. Entweder ist es ganz schlimm oder ganz harmlos. In der Nähe ist nur eine alte Dame, die kein Handy hat und genauso hilflos ist wie ich. Ich habe zwar ein Handy, aber keine Nummer. Dann kommen glücklicherweise zwei junge Frauen, die zwar auch nicht aus Portland sind, aber wissen, wie man sich verhält. Die Frau lässt sich inzwischen auch wieder ansprechen. Sie will, dass man ihren Ehemann anruft. Und will sich aufrichten. Die beiden sagen ihr, sie solle liegen bleiben und rufen den Notdienst.

Als sie sich über den Anruf verständigen und die Nummer nennen, kommt es mir wieder in den Sinn: 991 in the US, 999 in the UK. Die Nummer war sogar mal Gegenstand eines Seminars, in dem eine amerkanische Studentin war und in dem ich aus der 991 eine 911 gemacht habe!

Bei der Touristeninformation hilft mir eine sehr freundliche, sehr elegant gekleidete Frau weiter. Es geht vor allem darum, wie man wo hin kommt. Nach Oregon City, das ich auf meiner Liste habe, könne man auch mit dem Bus fahren. Fahrkarten gibt es gleich nebenan, am Schalter von TriMet. Das lass ich mir nicht zweimal sagen. Es ist zwar kein schöner Tag, aber die Gelegenheit ist gut, und in Oregon City ist am Wochenend einiges geschlossen.

Die Fahrt dauert fast eine Stunde. Unterwegs ist alles groß: Big Lots, Big 5, Megastore. In habe die Kamera nicht schnell genug zur Hand, wohl aber, als wir vor Shear Perfection stehen, einem Friseursalon. Wieder was für meine Sammlung von Shop Signs. In Oregon City scheint sich das Thema Groß fortzusetzen, aber hier spielt jemand, der Eigentümer von The Wheel, mit dem Konzept: The Biggest Little Bar in Town.

Hier, in Oregon City, taucht überall der Name Clackamas auf. Das ist der Bezirk, dessen Hauptstadt Oregon City ist. Das heißt hier County. Portland liegt in Multnomah. Die Indianer lassen grüßen.

Das ganze Zentrum sieht nicht sehr historisch aus, und, kaum angekommen, werde ich schon wieder weg geschickt. Ich soll durch einen Autotunnel und dann einen Fußpfad entlang, zu The Falls. Das tue ich auch brav, aber nicht mit großer Überzeugung. Es zieht sich ganz schön. Dann kommt irgendein Museum in Sicht, ober auf einem Felsvorsprung gelegen, aber nicht eins von denen, das auf meiner Liste stand. Gegenüber ist der Wasserfall, angeblich der zweitgrößte der USA. Dafür sieht er wirklich mickrig aus. Es muss wohl nach Volumen gehen. Nicht jedenfalls nach Höhe. Es ist eher ein Ensemble von verschiedenen kleinen Wasserfällen, die ihren Namen kaum verdienen, und zwischen denen Teile alter Fabriken stehen. Oder so was.

An einem Wegstein wird das historische Erbe von Oregon City beschworen: Es war die erste selbständige Gemeinde westlich der Rocky Mountains, war die erste Hauptstadt Oregons, hatte die erste protestantische Kirche, die erste Paper Lodge, das erste Freimauererzentrum. Das alles hatte sie einem gewissen John McLoughlin zu verdanken, dem Gründer von Oregon City, um den sich hier alles dreht und dessen Büste gleich daneben steht.

Im Museum werden alle möglichen frühen Industriezweige von Oregon City in kleinen Abteilungen dargestellt: Sägemühle, Dammbau, Eisen, Holzfällerei, Bergbau. Jetzt erahne ich, was es mit dem Wasserfall auf sich hat: Alle diese Industriezweige verdankten sich irgendwie der Wasserkraft oder profitieren davon.

Zu den Exportschlagern von Oregon City gehörten auch Wolle und Biberfell. Man sieht eine kofferartige Truhe, in der die Wolle transportiert wurde und einen Eimer voller Rohwolle: Pure Virgin Wool. Und man sieht Zylinder, die aus Biberfell gefertigt wurden!

Erst Tage später komme ich einmal darauf, nach dem inoffiziellen Namen von Oregon zu suchen: Beaver State!

Dazwischen steht eine alte Pferdekutsche, die kurioserweise Buggy heißt. Sie hat riesige Räder und wenig Sitzplatz. Es war die typische Kutsche, mit der ein Arzt durch die Gegend fuhr, zu seinen Patienten. Auf dem Sitz liegt seine Gerätetasche, und daneben passt dann nur noch eine Person.

Auf einem Fernsehschirm erscheinen die Bilder von Gründern von Orten in Oregon, darunter der Gründer von Boring, ein gewisser Mr Boring!

Man sieht auch das Modell einer gut gekleideten Frau der Zeit um 1860. Acht verschiedene Lagen mussten die anlegen: chemise, drawers, corsett, petticoat, crinoline, over- the hood- petticoat, undersleves, dress. Und dann nahm man den Schirm zur Hand und ging Tee trinken.

Und dann stoße ich zum zweiten Mal auf der Reise auf die Meteoriten. Nach Koblenz jetzt Oregon City. Hier sieht man nämlich Teilstücke des Willamette Meteor, des größten Meteoriten, der jemals in Nordamerika eingeschlagen ist, von einem Nickel-Eisen Planeten kommend. Die Indianer nannten ihn Tomanowos, Himmlicher Besucher. Es gab kein Einschlagloch dort, wo der Meteorit gefunden wurde, und man vermutet, dass er tatsächlich in Kanada oder Montana eingeschlagen ist und dann in einer Flutwelle nach Oregon geschwemmt wurde, vor 12.000 Jahren. Es wird berichtet, dass einer der frühen Siedler ihn in einer Nacht- und Nebelaktion mit einem Pferdefuhrwerk auf sein eigenes Grundstück schaffte und ihn vermarkten wollte. Er wurde aber erwischt und angeklagt, und am Ende landete der Meteor im Naturwissenschaftlichen Museum in New York.

Ich mache mich wieder auf den Weg ins Zentrum und laufe dort verloren herum, auf der Suche nach etwas Historischem. Dann merke ich, dass es hier eine Oberstadt gibt. Es führt ein Aufzug rauf. Dort gibt es noch mal eine richtige Stadt mit allen Finessen, und auch hier muss man die historischen Häuser erst mal finden. Am Ende finde ich zwei, eins neben dem anderen, Zwillinge, elegante, weiße, zweistöckige Holzhäuser.

Die sind aber nur mit Führung zu besichtigen. Man erfährt erst einmal allerhand über die finanzielle Notsituation des Museums. Es hört sich alles sehr vertraut an. Bei der nationalen Behörde hat man vier Töpfe, von denen drei voll, aber einer leer ist. Und es darf kein Geld von einem Topf in den anderen transferiert werden. Deshalb gibt es im Moment zwar Geld für die Konservierung des Museums, nicht aber für die Öffentlichkeitsarbeit. Das Museum müsste eigentlich geschlossen sein, aber ein paar freiwillige Helfer sind eingesprungen und machen gelegentlich Führungen.

Wir gehen durch das zweite Haus, das Wohnhaus von McLoughlin. Es stand ursprünglich, genauso wie sein Zwilling, unten im Ort und sollte eigentlich abgerissen werden, wurde dann aber aus irgendwelchen Gründen hierher verlegt, und zwar mit einer von einem einzigen Pferd angetriebenen Vorrichtung. Es gehörte einem schottischen Arzt, der von der Hudon’s Bay Company nach Fort Vancouver geschickt wurde und sich später hierher zurückzog. Er baute das Haus kurz vor seiner Pensionierung für 17.000 $, eine enorme Summe, die sich aus dem Mangel an Arbeitskräften erklärt: Alle waren weg nach Kalifornien, hinter dem Gold her.

Es ist jetzt mit erstaunlich vielen Einrichtungsgegenständen aus der Zeit, meist sogar aus dem Haushalt McLoughlins, ausgestattet. Dessen ganze Geschichte verstehe ich immer noch nicht, aber jedenfalls war er ein in Kanada geborener Brite, der für die Hudson‘s Bay Company ein riesiges Territorium hier im Westen verwaltete und auch amerikanische Siedler anwarb, vermutlich im eigenen Interesse, denn er, ausgebildeter Arzt, war auf Pelzhändler umgestiegen und brauchte dafür vermutlich Arbeitskräfte. Es sprach sich herum, dass man hier gut behandelt wurde, und es kamen immer mehr amerikanische Siedler. Die Details entgehen mir leider, denn das muss von größter Bedeutung für die Geschichte gewesen sein. Es hat wohl letztlich dazu geführt, dass Oregon jetzt amerikanisch, nicht britisch ist. Sonst hätten wir mit der PSU eine britische Partneruniversität in Amerika! Auf jeden Fall will ich darüber noch mehr erfahren.

Vorläufig sehen wir ein geschackvoll eingerichtetes, sehr europäisch aussehendes Haus, unter anderem eine gedeckte Tafel, an der in Schichten gespeist wurde, denn MsLoughlin, so heißt es, nahm auch die Witwen der Männer auf, die auf dem Track ums Leben gekommen waren und denen kein Land zustand. Sie lebten hier, bis sie bei einem anderen Mann untergebracht waren. Es gibt im ganzen Haus keine Küche. Gekocht wurde in einem Nebengebäude, vielleicht auch eine Vorsichtsmaßnahme angesichts des Feuers, und dann wurde das Essen durch den Hintereingang in die Vorratskammer gebracht und durch den Butler serviert.

Man sieht auch einen silbernen Samovar und edles Teegeschirr. Das war das Modegetränk der Zeit, das Getränk der vornehmen Leute. Daneben ein brikettartiges, dunkles Stück, das von weitem wie Schokolade aussieht, aber keine ist. Was ist das nur? Tee! Der kam aus Asien. Für den Transport wurden die Teeblätter gepresst und mittels Honig zu diesem Brikett geformt. Am Ort des Konsums wurde dann das Brikett mittels einer Schleifscheibe wieder „zerlegt“. Davon hatte der Haushalt McLoughlins zwei.

Es werden auch verschiedene Photographien von McLoughlin gezeigt, aus der Steinzeit der Photographie. Das führt unter anderem dazu, dass er auf einigen Photos ein geradezu geisterhaftes Aussehen hatte. Das lag daran, dass die frühen Photographien keine hellblauen Augen abbilden konnten. McLoughlin scheint einen aus leeren Augenhöhlen anzusehen.

Nach dem Ende der Führung kommt dann mein Irrgang durch das Zentrum, Dritter Teil. Ich suche das End-of-the-Trail-Museum. Das kennt hier niemand. Komisch. Erst als ich anfange, etwas von drei überdimensionalen Planwagen zu faseln, in denen es untergebracht sein soll, fällt der Groschen. Ach das. Jetzt werde ich ganz weit rausgeschickt, in die entgegengesetzte Richtung von heute morgen.

Die Planwagen kommen schon von weitem in Sicht. Aber sie haben keine Planen. Planlose Planwagen. Was wie ein schlechtes Omen aussieht, bewahrheitet sich: Museum geschlossen bis 2015. Keine Chance, herauszubekommen, was es mit dem Trail auf sich hatte, wo der begann, warum er hier endete. Da muss ich vielleicht doch noch mal nach Ford Vancouver fahren, der anderen Station, von der im Zusammenhang mit McLoughlin immer die Rede ist.

Zur Entschädigung finde ich in dem Souvenirladen eine wunderbare Auflistung von Regeln für Lehrer von 1872. Da heißt es u.a.: After ten hours in school, the teachers may spend the remaining time reading the Bible and other good books. Oder: Men teachers may take one evening each week for courting purposes, or two evenings a week if they go to church regularly.

Außerdem wird hier die rührende Geschichte eines Mädchens erzählt, das mit vier Jahren hierherkam. Sie hatte eine Schulfreundin, die eine china doll hatte und mit der sie spielen durfte. Als sie aber einmal alleine mit der Puppe war, biss sie ihren Kopf ab. Da sie sich schämte, verpackte sie die Puppe und gab sie so ihrer Freundin zurück. Nach einiger Zeit fragte sie, warum sie nicht mehr mit der Puppe spiele, und die Freundin sagte, eine Ratte habe der Puppe den Kopf abgebissen. Dabei blieb es, bis beide erwachsen waren. Da beichtete die Frau irgendwann ihr Geheimnis. Und erhielt nachträglich die Absolution.

In den Boden vor dem Museum sind Zitate über Oregon eingelassen, u.a.: Don’t live and die in sight of your father’s house, but take a trip to Oregon. [T.D. Wood, 1844]

Dann geht es wieder die Landstraße entlang auf den Rückweg. Jetzt macht sich Muskelkater bemerkbar. Kein Wunder. Unterwegs sehe ich noch ein handgeschriebenes Schild, auf dem Yard Sale steht. Wunderbar. Kann ich gleich am Montag im Seminar verwenden.

6. Juli (Samstag)

Diesmal klappt es mit der Theaterführung. Ich bin der einzige Besucher, aber die Führerin, eine Freiwillige, will nichts davon hören, die Sache zu verschieben. Sie wirkt manchmal etwas unsicher, weiß aber gut Bescheid. Am Ende soll man eine Bewertung ausfüllen, und ich schreibe bei allen Punkten excellent. Da macht sich schon jemand die Mühe.

Sie fragt mich, woher ich käme, und es stellt sich heraus, dass sie ein bisschen Deutsch kann. Sie kennt München und Regensburg, weiß aber mit Trier nichts anzufangen, auch mit der generellen Himmelsrichtung nicht. Später erwähnt sie dann, dass ihre Großeltern aus Deutschland kamen. Der Ort, aus dem sie kamen, heiße Bitburg. Mit Hilfe von Bitte ein Bit können wir dann eine Reihe von Verbindungen herstellen.

In dem neuen Gebäude gibt es drei Theater zu sehen, von denen das dritte, Brunish Hall – alle sind, sehr amerkanisch, nach Sponsoren benannt – mehr wie ein besserer Seminarraum aussieht. Es befindet sich auf einer oberen Etage. Hier finden kleinere Konzerte, aber auch Theaterstücke statt, als Bühne gibt es nur ein kleines Podium. Da muss man experimentieren, aber das kann ja gut sein. Der Raum hat aber eine kleine Besonderheit. Man geht durch eine Seitentür und steht plötzlich vor einem Kirchenfenster, und zwar ganz oben. Der Grund dafür ist, dass der Grund, auf dem das Theater steht, der Kirchengemeinde gehört! Das Theater hat eine 99-jährigen Pachtvertrag, und als es gebaut wurde, hatte die Kirche ein Mitspracherecht und bestand darauf, dass das Theater der Kirche nicht das Licht für die Fenster nehme dürfe. Deshalb gibt es hier diesen kleinen Hof, der sonst keine weitere Funktion hat.

Die beiden anderen Theater sind die reinsten Schatzkästchen. Das kleinere ist einem elisabethanischen Theater nachempfunden, das größere einem aus der Zeit Edwards VII. Das kleine, Winningstad, ist rechteckig, mit roten, gußeisernen Rängen, die sich auf drei Seiten um den schwarzen Innenraum gruppieren. Der kann jederzeit verändert werden, so dass aus Bühne Zuschauerraum werden kann. Außerdem kann die Bühne hinten, vorne oder in der Mitte sein. Das andere, Newmark, ist sehr elegant, mit einer dunklenblauen, sternenübersäten Kuppel, hellblauen Sitzen und einer rötlichen Holzpanele aus Kirsch. Die Bühne ist riesig, größer als der gesamte Zuschaueraum, aber das sieht man erst, wenn man auf ihr steht. Hier gibt es einen halbrunden Vorbau, der zum Spielen benutzt werden, aber bei Konzerten auch aufgeklappt werden kann und dann zum Orchestergraben wird.

Auf dem Weg durch das Theater kommen wir – wie sollte es in Portland anders sein? – an verschiedenen Kunstwerken vorbei, unter anderem an einem länglichen Wandgemälde eines holländischen Künstlers, das Musiker darstellt. Wenn man an ihnen vorbeigeht, wird man von ihren Augen begleitet. Sie scheinen sogar die Köpfe nach dem Besucher zu drehen.

Wir gehen auch in das wunderbare Foyer und blicken von oben auf die Eintretenden hinunter. Es ist tatsächlich so, als wäre man Zuschauer und als wären die Eintretenden die Schauspieler, die die Bühne betreten. Man sieht auch, dass die gläserne Kuppel nicht farbig ist. Es ist wirklich nur der Effekt des Lichts. Hier oben sind die Farben dann auch anders.

Von oben sieht man auch auf das berühmte Portland-Schild, das längliche Neonschild am alten Theater, das man in vielen Bildern sieht. Früher stand da Paramount drauf, denn das Gebäude war ursprünglich ein Kino! Als die Kinokultur sich dann wandelte, wurde die Funktion verändert und auch der Name. Beim Abnehmen des Schildes hatte man aber unterschätzt, wie viel Wasser und Rost sich in den Jahren angesammelt hatten, und das ganze Schild fiel mit Krachen von dem Kran herunter, der es sicher auf den Boden bringen sollte. Da musste ein neues Schild her, dem alten nachempfunden, aber jetzt eben mit dem Namen Portland. Es soll 6.000 Glühbirnen haben.

Wir gehen ins alte Gebäude rüber und sehen beim Übergang an den niedrigen Pfosten, die die Straße begrenzen, bronzene Köpfe von Schelmenfiguren aus verschiedenen Ecken der Erde. Erstaunlich, wie unterschiedlich die aussehen. Der europäische, mit spitzer Schellenkappe, ist sofort als Narr zu identfizieren, die anderen nicht so leicht.

Als das „Schnitz“ noch Kino war, verbrachte man hier ganze Tage und kam auch nicht unbedingt zu Beginn des Films. Alles, Vorfilm, Wochenschau, erster Hauptfilm, zweiter Hauptfilm, Werbung, Vorschau, wurde ohnehin in einer Art Endlosschleife präsentiert.

Als die Sache dem Ende zuging, verramschte der Besitzer die gesamte Einrichtung, nicht jedoch die festen Teile. Die waren denkmalgeschützt. Von den beweglichen Teilen hat aber eins überlebt, weil es voller Russ und Schmutz war und keiner seinen Wert schätzte. Heute glänzt es wieder. Es ist eine Messingapparatur, die auf zwei Füßen steht und ein bisschen wie eine alte Telefonzentrale aussieht. Es gibt gleichmäßig angeordenete Reihen von schmalen Löchern, in die man einen Stöpsel einfügen kann. Diese Apparatur diente zur Kommunikation mit dem Saal. Derjenige, der sie bediente, wusste immer, welcher Platz zu welcher Zeit besetzt war und konnte den Ankömmlingen von hier oben, ohne in den Saal zu sehen, einen Platz anweisen und das außerdem den Platzanweisern im Saal mitteilen.

In den können wir nicht rein, da dort noch geprobt wird. Wir können uns aber die Einganghalle ansehen, in einem Stilmix aus nachgemachtem Rokoko und Art Deco. Die Führerin zeigt mir eine Marmorwand und einen Sockel davor. Ich weiß nicht so recht, was ich damit anfangen soll, aber dann stellt sich heraus, dass nur der Sockel aus Marmor ist, die Wand hat eine aufgemalte Marmorfaserung. Wie bekommt man das heraus? Man legt die Hand drauf. Der Sockel ist kalt, die Wand ist warm!

Nach der Führung schaffe ich es endlich zu Powell’s. Von außen sieht es eher wie ein Matratzengroßhandel als wie eine Buchhandlung aus, und auch innen hat es etwas lagerhallenartiges. Aber es ist rappelvoll – mit Büchern und Kunden.

Die Orientierung in dem großen Gebäude wird einem erleichtert dadurch, dass die einzelnen, klar voneinander getrennten Räumen nach Farben bezeichnet werden: Blue Room, Purple Room, Red Room. Und Schilder verweisen darauf, welches Thema in welchem Raum zu finden ist.

Alle Räume sehen ähnlich aus, mit hohem, etwas nach hinten geneigten Regalen, die das Rausfallen der Bücher verhindern. Vor dem Kopf jeder Reihe ist dann noch einmal ein Regal mit einer etwas anderen Aufteilung, in der besonders große Bände stehen.

Die Besonderheit und der Garant des einmaligen Erfolgs von Powell’s ist die Verbindung von Neu und Alt. Das heißt, gebrauchte Bücher stehen Seite an Seite mit den neuen, und man kann Bücher finden, bei denen man ein gebrauchtes Exemplar neben einem neuen findet.

In den Räumen, in denen ich mich bewege, gibt es aber meistens gebrauchte Bücher. Die Bandbreite ist wirklich erstaunlich, vor allem bei Geschichte und bei Sprachen. Es gibt Márquez auf Schwedisch, Eco auf Polnisch, Dostojewski auf Deutsch und einen Bildband über Danzig auf Baskisch! Es gibt Lehrbücher zu Kishuaheli und amerikanischen Eingeborensprachen und einen Englischkurs für chinesische Geschäftsfrauen.

Die Abteilung zur Sprachwissenschaft ist allerdings erstaunlich dünn. Eine Menge Chomsky und wenig darüber hinaus. Trotzdem verlasse ich das Geschäft mit einem Buch zur Sprachgeschichte, von einem Mann aus New Jersey, Jack Lynch, der sich auf Johnson spezialisiert hat und sehr unterhaltsam schreibt. Das Buch gibt es gebraucht für 7,99.

Oben ist eine Abteilung, in der Ungeheuer von Maschinen herumstehen, wie man sie heute fast gar nicht mehr sieht. Sie sehen wie vorsintflutliche Computer aus oder Kopierer. Es sind Maschinen für den Buchdruck. Hier kann man sich ein Buch drucken lassen, das als Book on Demand publiziert wird!

Statt nach Hause zurückzugehen, mache ich mich noch auf den Weg zur Pittock Mansion. In der Touristeninformation hat man mir eine Broschüre gegeben, die einen schönen Fußweg beschreibt. Er hört sich harmlos an, ein paar Meilen, aber er hat es in sich.

Als ich irgendwann mit meinem Stadtplan an einer Straßenecke stehe, spricht mich ein Ehepaar an: You are lost? Ja, ich suche die Kearney Street. Sie betonen irgendwie, dass Kearney mit K anfängt. Kommt mir komisch vor. Und dann kommt die Erklärung: Die Straßen sind alphabetisch angeordet, von Burnside und Couch bis zu Quimby und Raleigh! Das ist allerdings nur hier oben, im Norden, so, in Couchs Portland. Im Zentrum ist das anders.

Als ich von erzähle, ich wolle zur Pittock Mansion, können sie ihre Überraschung kaum verbergen. Da oben rauf? Zu Fuß? Na ja, die Touristeninformation hat mir diese Beschreibung gegeben und den Weg empfohlen. Hört sich harmlos an, ein paar Meilen.

Fängt auch ganz normal an. Es geht durch ein besseres Wohnviertel mit vielen schönen Holzhäusern. Ich komme an einem Lokal mit dem Namen Title Nine vorbei und an dem Jüdischen Museum und an einem Laden, der Comedy Sportz heißt. Keine Ahnung, was das bedeutet.

Dann beginnt der Austieg. Es geht unendlich lange rauf, immer weiter rauf, und es wird immer wärmer. Es ist nicht nur die körperliche Anstrengung, sondern auch das Gefühl, immer noch nicht und immer noch nicht und immer noch nicht da zu sein. Immer kommt noch mal ein neuer Gipfel.

Irgendwann sehe ich mich verstohlen nach einer Möglichkeit um, hinter einem Baum zu verschwinden, und in dem Moment taucht an einer Ecke ein Dixie-Klo auf. Die Amerikaner denken einfach an alles!

Ganz zum Schluss gibt es dann noch Verwirrung mit den Straßennamen, und dann stehe ich plötzlich vor einem Gitter, quer über die Straße. Auf einem Schild steht, hier gebe es keinen Zugang zu Pittock Mansion. Man möge zur Burnside Street zurückkehren und dort einen anderen Weg nehmen. Dann geht mir ein Licht auf: Das ist nur für Autofahrer gedacht. Links von dem Gitter gibt es ein Schlupfloch für Fußgänger.

Henry Pittock war ein Mann, der über den Trail nach Portland kam, 1850, zu einem Zeitpunkt, als Portland ein verschlammtes Dorf war, hier eine Stelle als Setzer bei The Oregonian fand, seinen Weg machte und am Ende Eigentümer der Zeitung und einer der einflussreichsten – und reichsten – Männer Portlands wurde. Ein amerikanischer Traum. Pittock Mansion ist die Materialisierung dieses Traums, eine Verbindung von europäischer Tradition und amerikanischer Moderne, eine Verbindung von Eleganz und Komfort, majestätisch ganz oben auf einem Felsvorsprung thronend und auf die Stadt hinunter blickend.

Auch hier wird ordentlich abkassiert, und man wird gefragt, ob man das Wechselgeld nicht spenden möchte.

Man kommt in das Foyer, halbrund, mit einer doppelläufigen Marmortreppe nach unten und nach oben. Dort sitzt ein Besucher mit einer Tätowierung, die die ganze Wade herauf (oder herunter) läuft, lauter chinesische Schriftzeichen.

Das Haus, 1914 vollendet, hat bereits einen begehbaren Kühlschrank und einen Aufzug, einen der ersten Personenaufzüge überhaupt in dieser Gegend, und eine Dusche mit riesengroßen Wasserstrahlern von allen Seiten, die wie ein industrielles Gerätschaft aussieht, aber in allem der modernen Dusche entspricht.

Man kommt sich wirklich wie in Europa vor, wenn man durch die Räume geht. Tatsächlich kommen viele der Möbel und Accessoires aus Europa, meist aus Italien und Frankreich.

Es gibt ein Raucherzimmer, in „türkischem“ Stil, ein Musikzimmer, eine Bibliothek, einen Raum für den Butler, einen halbrunden Wohnruam, von dem man aus durch flache Fenster auf die fünf Berge der Umgebung sehen kann, heißt es. Jetzt, im Sommer, ist das allerdings nicht so einfach. Vom Garten aus hat man aber einen guten Blick auf den Mt. Hood.

Der Sandstein, aus dem das Haus gebaut ist, kommt aus Washington und hat den Vorteil, in der Natur weich zu sein und sich später zu erhärten, wie gemacht fürs Bauen.

Auf einem Gemälde sieht man Pittock Mansion, wie es eigentlich aussehen sollte, dem ursprünglichen, noch viel grandioseren Plan zufolge. Im Hintergrund sieht man, als Kuriosität, den Mt. Helens noch mit seiner Kuppe, vor dem Vulkanausbruch.

Der ursprüngliche Plan wurde nie ausgeführt, warum, weiß man nicht. Vielleicht wollte der Hausherr es doch eine Nummer kleiner. Er war eher ein Naturmensch, trotz allem, und bis zu seinem Lebensende ein begeisterter Radfahrer. Das erinnert mich an einen Radfahrer, der mich auf dem Weg hierher überholte und keuchend, gerade noch sagen konnte: „Perfect day today.“

Auf dem Rückweg gerate ich wieder auf eine der gefürchteten Schnellstraßen, die für Fußgänger so ungeeignet sind wie es nur geht, und sowieso für Fußgänger, die mit Espadrillas unterwegs sind. Mir wird angst und bange, und ich bin froh, als ich an eine Bushaltestelle komme, an der zwei Frauen warten, Mutter und Tochter, wie sich herausstellt. Ja, der Bus fährt in die Innenstadt und ja, er kommt bald. Großes Aufatmen. Die beiden kommen aus Los Angeles, und die Tochter, die die Gegend kennt, macht die Reisefüherin für ihre Mutter. Für sie geht es demnächst, erfahre ich noch, auf Hochzeitsreise nach Europa: Wien, Budapest, Bratislava, Zagreb, Graz. Gute Reise!

7. Juli (Sonntag)

Morgen ist Halbzeit im Seminar, und zur Feier des Tages bekommen die Studenten einen Test. Der heutige Tag dient weitgehend der Vorbereitung des Tests und des Seminars und des Vortrags, an dem ich in den letzten Tagen immer wieder herumgebastelt habe und der langsam Form annimmt. Im Laufe des Tages mache ich immer wieder ein paar kleine Ergänzungen und Veränderungen, und am Abend steht der Vortrag praktisch. Es geht um Zahlen. Ich habe absichtlich ein paar deutsche Verweise mit aufgenommen – den Dreikäsehoch, die dreizehnte Fee, die Paderborner Hasen – um es international zu machen. Es kommen aber auch China und Spanien und Amerika vor.

Als ich am Vormittag kurz ins Büro gehe, um ein paar Dinge vorzubereiten, ist die Tür offen. Der Kollege, der morgens schon immer vor mir da ist, ist auch heute, Sonntag, im Büro.

Als ich fertig bin, halte ich auf einmal einen leeren USB-Stick in der Hand. Nur die Hülse. Dann merke ich, dass der Rest noch im Computer steckt. Gott sei Dank sind die Dateien noch drauf. Ich mache aber eine Kopie des gesamten Inhalts auf den Computer, bevor ich gehe.

Mein Aktionsradius heute beläuft sich auf wenige Meter. Ich sehe mir die verschiedenen Kirchen an, nur von außen. Erstaunlich, wie viele sich da auf engstem Raum drängen, machmal Seite an Seite, manchmal gegenüber. Ich sehe die Old Church, die Sixth Church of Christ Scientist, St. James, die First Christian Church, die First Congregational United Church of Christ, die First Unitarian Church, die First Baptist Church, St. Stephen und die First Presbyterian Church. Alle sind historische Kirchen, vom Ende des 19. oder Anfang des 20. Jahrhunderts. Komisch, dass sie alle First im Namen haben. Auch auffällig ist, dass die Lutheranische Kirche einen Patron hat, St. James. Gibt es das bei uns auch?

Die Old Church ist tatsächlich die älteste und die einzige, die aus Holz ist: hellgrau, neugotisch, mit Erkern und Türmchen. Ganz schön.

Viele der Kirche gleichen sich und erinnern ein bisschen an England: dunkler Basaltstein, untersetzte, niedrige Türme, eher lang als hoch. Andere, vorwiegend die mit gotischen Türmen, könnten so auch in Deutschland stehen. Wieder andere sehen mit ihren „venezianischen“, etwas zu groß geratenen Aufsätzen auf dem Turm irgenwie „amerikanisch“ aus. Ganz anders ist die Sixth Church of Christ Scientist. Sie hat von weitem ein etwas bunkerartiges Aussehen, aber aus der Nähe sieht man ein schönes, variantenreiches Muster, aus Ziegelsteinen gebildet. Es heißt, man habe das absichtlich so kompliziert angelegt, um den Menschen Arbeit zu geben. Die Kirche entstand in der Zeit der Depression, 1932.

Die First Baptist Church (?), die letzte auf meinem Streifzug, hat ein besonderes Leckerbissen für die Gläubigen, das in großen Lettern an der Kirche angepriesen wird: Public Parking. Sehr amerikanisch.

Ich bin jetzt gerade über das eigentliche Univiertel hinaus geraten. Hier ist viel mehr Betrieb. Sonntagsausflügler überall. Wie immer in der vergangenen Woche hat der Tag trüb begonnen und ist dann immer schöner geworden.

Hier unten gibt es auch Food Carts, und unter denen entdecke ich dann El Cubo de Cuba. Der ist aber geschlossen und ich bestelle nebenan ein Bento, eins der typischen Reisgerichte, mit viel Gemüse und Fleisch, hier von zwei Amerikanern serviert, die sich wiederum an Freundlichkeit übertreffen. Auf dem Rückweg sehe ich dann, als Ergänzung zu dem kubanischen Stand, noch einen deutschen Bratwurststand.

8. Juli (Montag)

Im Seminar kommt die Sprache auf den Ursprung von Oregon. Ein Student schlägt die folgende, ebenso ingeniöse wie falsche Deutung vor: Er sagt, es komme von ore gone, ‚Eisen weg‘, ein Schlagwort, das man benutzt habe, um zu verhindern, dass noch mehr Siedler nach Oregon kämen.

Endlich frage ich die Studenten, woher sie kommen. Die meisten kommen aus der Gegend, entweder aus Oregon selbst oder aus Nordkalifornien. Keiner kommt von der Ostküste oder auch nur aus nicht benachbarten Staaten. Eine ist in Hawaii geboren, lebt aber schon lange hier, einer hat in Georgia gelebt, ist aber ursprünglich aus Portland. Die Gründe für die Wahl von Portland sind meist ganz praktischer Natur. Auch nicht anders als in Trier. Die Studenten erzählen mir, dass PSU von Auswärtigen eher wegen der Stadt als wegen der Uni gewählt wird.

Nach dem Seminar gehe ich zum ersten Mal zu Subway. In Deutschland kann man heute nicht mehr einfach einen Kaffee bestellen, man muss spezifizieren. Bei den Sanwiches in Amerika wird das System auf die Spitze getrieben: Zuerst wahlt man die Lange – Footlon doer 4.5 inches – dann die Brotsorte, dann die Kasesorte, dann die Gemusebeilagen, dann, ob man Fleisch haben will und wenn ja, welches, dann, ob man das Brot getoastet haben will, dann die verschiedenen Sosen und dann noch, ob man Salz und Pfeffer drauf haben wil. Und nach all der komplizierten Prozedur bekommt man dann ein durchschnittliches Sandwich.

Dann fange ich an, den Test zu korrigieren und muss wegen einiger technischer Dinge in das Computer Lab, aber nach einiger Zeit finde ich, dass der Tag viel zu schön ist, um in einem fensterlosen Raum verbracht zu werden und mache mich auf den Weg zum Bahnhof. Der liegt ganz oben, am anderen Ende der Stadt, aber man kommt gut hin. Er ist in einem ganz ahnsehnlichen, historisierenden Gebäude untergebracht, mit einem Turm, der funktionslos ist und nur ein architektonisches Zitat. Die Mauern sind aus dunklem Ziegelstein, durchzogen mit roten Zierstreifen, die wiederum mit dem roten Ziegeldach korrespondieren.

Drinnen ist es ganz ruhig, und man wird schnell und wiederum sehr freundlich bedient. Ein Traum. Ja, man kann nach Seattle fahren und die Fahrt in Tacoma unterbrechen, nur braucht man dafür verschiedene Fahrkarten. Jetzt sei keine gute Zeit, sagt die Verkäuferin, alles ziemlich teuer, und außerdem könne man eher billige Karten ergattern, wenn man lange vorher reserviere. Ich mache mich aufs Schlimmste gefasst und muss dann mickrige 93 $ – für eine Rückfahrkarte mit Reservierung in eine 280 km entfernte Stadt.

Die Idee mit Tacoma kommt von einer Kollegin aus Trier, die allerdings voreingenommen ist: Sie kommt aus Tacoma. Das war früher eine reine Industriestadt, die sich aber gemausert haben soll und vor allem wegen ihrer Glaswerkstatt bekannt ist.

Auf dem Rückweg komme ich an Theo’s vorbei. Es hat geöffnet, aber nicht das, was ich jetzt gebrauchen könnte, nämlich Kaffee. Da muss ein anderes Mal wiederkommen.

Dann sehe ich ein Lokal, Mary’s, mit einem Schild, das wiederum gleich morgen im Seminar verwurstet werden kann: Eat, drink and be … Mary.

Ich sehe, dass die Klappe an den Bussen, die heruntergelassen wird, wenn ein Fahrrad transportiert wird, Werbung haben. Wenn kein Fahrrad transportiert wird, wird sie hochgeklappt. Sehr amerikanisch.

Ich gehe am Fluss entlang und dann in die Uni-Buchhandlung. Man glaubt, im falschen Laden zu sein: kein Buch weit und breit. Überall T-Shirts, Karten, Geschenkartikel. Die Bücher sind im Keller und im Obergeschoss. Ich sehe mir ein paar Regale an, aber die Auswahl ist begrenzt. Man spezialisiert sich hier vermutlich auf Lehrbücher, die ganz gezielt für die Seminare geordert werden. Genauso wie in Trier.

Als ich wieder zu Hause bin, sehe ich den Rest des Tests durch, damit er morgen gleich zurückgegeben werden kann.

9. Juli (Dienstag)

Vor dem Seminar kommt die Sprache aufs Laufen und die beiden sportlichen Jungs, Charles und Nicolas, laden mich ein, am nächsten Tag mit ihnen zu laufen. Sie wollen, zusammen mit Freunden, zum Fluss runter, gleich nach dem Seminar. Ich sage vorschnell zu. Es ist nicht die Entfernung, sondern die Schnelligkeit, die mir Angst macht. Seit dem Marathon habe ich die Laufschuhe nicht mehr ausgepackt.

Das erste, Salmon Cycle Marker (2005), steht sozusagen gleich vor der Haustür, am Native American Student and Community Center. Es ist ein baumstammartige, aber irgendwie auch an einen indianischen Marterpfahl erinnernde Säule, an deren Spitze zwei silberne Lachse in entgegengesetzter Richtung angebracht sind, den Lebenszyklus der Lachse markierend, der eine mit offenem, der andere mit geschlossenem Mund. An der Säule ziehen sich silberne Bänder hoch, die Flüsse und Lebenswege markierend, und daneben befinden sich auch indianische Köpfe und stellen damit die Verbindung zur Lebenswelt der Indianer her.

Etwas weiter runter, schon auf der Park Avenue, ist an der ganzen Front der Neuberger Hall entlang, ganz unten, fast ebenerdig, das vieleteilige Kunstwerk Oregon Country angebracht, vor den Fenstern des Untergeschosses, fast ebenerdig. Es stellt Szenen der Natur Oregons dar, aber auch Schiffe und Brücken. Es erinnert mich an zwei Darstellungen an der Alleeschule aus meiner Kindheit und tatsächlich stammt Oregon City von 1962. Es ist aus Bronze, ist aber schwarz und sieht eher wie ganz dünnes Eisen aus.

In der ganzen Park Avenue gibt es kleine, nichtgegenständliche Skulpturen. Sie sind manchmal gar nicht so leicht zu finden und, wenn man sie gefunden hat, auch nicht so leicht zu identifizieren. Eine Gruppe von drei, teils geglätteten, teils groben Granitsteinen, teils liegend, teils stehend, heißt Peace Chants. Das weiß ich aber nur deshalb, weil es dransteht. Sonst hätte auch jedes andere als Peace Chants in Frage kommen können.

Leichter zu erkennen sind da schon Roosevelt auf seinem Pferd und Lincoln. Der macht einen Schritt nach vorne, hat aber den Kopf gebeugt, was beides vielleicht symbolisch verstanden werden will. In der Inschrift heißt es, dieses Kunstwerk sei aus einer Spende der Bürger Oregons zu Lincolns 200. Geburtstag errichtet worden. Man wolle damit seinen Verdienst um die Abschaffung der Sklaverei und die Erhaltung der Union würdigen. Beides wird immer in einem Atemzug genannt, aber es ist weniger bekannt, dass die Union für Lincoln das eigentliche Ziel war. Er wollte die Union nicht für die Abschaffung der Sklaverei opfern, und hätte sich auch mit einer Union unter Beibehaltung der Sklaverei abgefunden. Gewürdigt wird hier auch sein Einsatz für Oregon und sein Eintreten für eine transatlantische Eisenbahn.

Vor dem Oregon History Museum, das eine Wandmalerei hat, die sich dem Laien nicht erschließt – es scheint um Figuren unter den Siedlern zu gehen – läuft eine Gruppe junger Spanier herum. Bei ihnen klingt Portland wie Porlan.

Etwa auf dieser Höhe befindet sich das Kunstmuseum, und an dessen Rand und in dessen Innenhof gibt es eine ganze Ansammlung von Skulpturen, einige davon zu modern, um in der Karte vermerkt zu sein, andere nicht zu finden.

Da steht zum Beispiel die Skulptur einer rundlichen Indianerfrau mit langem Rock und geflochtenen Zöpfen, Madrina (2001). Man sieht sie von hinten. Immer. Wenn man einmal um die Skulptur herumgeht, sieht man immer ihren Rücken. Ein Gesicht hat sie nicht.

Über dem Eingang zum Kunstmuseum ist eine bunte Skulptur, die ich dieser Tage schon mal im Vorbeigehen gesehen habe, ohne aber zu merken, woraus sie besteht: Es sind lauter Helme. Vermutlich Helme, wie sie im American Football getragen werden, denn einige haben Nummern und außerdem haben sie Luftlöcher. Die Helme sind bunt und bilden in regelmäßigen Reihen angebracht, ein längliches Viereck. Die äußeren Helme sind eher grün, dann gibt es eine Fläche mit vorwiegend blauen. Die im Zentrum sind rot und bilden ein großes P, mitten in dem Viereck. Das P sieht man aber nur, wenn man sich die Sache aus der Distanz ansieht. Später sehe ich dieses dicke P immer wieder in Schildern und Anzeigen der Stadt. Ob sie es von dem Kunstwerk oder das Kunstwerk es von ihnen hat?

Daneben sieht man den Tale Teller (2012), eine aus einzelnen Buchstaben und anderen Schriftzeichen „zusammengeflickte“ Figur im Schneidersitz. Der Mensch als erzählendes Wesen. Sehr schön.

Die Skulptur, die einem zuerst auffallt, wenn man den Innenhof des Museums betritt, ist eine Pferdegerippe. Es sieht aus, als ware es aus Holz, ist aber aus Bronze. Es heist Dance Horse.

Weiter unten, in der Innenstadt, in der Nähe des Pioneer Platzes, steht eine Skulptur mit schwedischem Namen, Kvinneakt (1975), Frauenakt, eine niedrige, glänzende Bronzefigur, eine üppige Frau mit einem Ganzkörperumhang darstellend, dessen sie sich gerade entledigt und ihre Kurven zeigt. Die Skulptur war das Titelbild zu einer Aktion mit dem beziehungsreichen Namen Expose yourself to Art und ist seit jeher sehr umstritten. Dem Künstler zufolge geht es nciht um Sex, sondern um Bewegung und Grazie, aber dem können nicht alle folgen. In den Zeitungen ist sie als eine der schlechtesten Kunstwerke Portlands bezeichnet worden, nicht würdig, hier im Zentrum einen Platz zu finden. Es hat einen gescheiterten Versuch gegeben, sie zu stehlen, der aber Beschädigungen an der Skulptur hinterlassen hat. Sie ist mit einem überdimensionalen BH ausgestattet und mit mit dem Slogan Jesus Saves bemalt worden. Sie ist an dem Tag einer Bürgermeisterwahl mit einer Schärpe mit der Aufschrift Congratulations versehen worden. Und ein Bild von ihr erschien auf der Website einer Wodka-Herstellers, der sie, als Protest gegen vermeintliche Zensur, ohne Brustwarzen darstellte. Auf unzähligen Photos steht sie gegenüber einem Mann, der, von hinten gesehen, seinen Mantel ausfaltet und sich „entblößt“.

Am Pioneer Square lese ich, das dies auch der Standort der ersten Public School von Portland war. Die stand da noch vor dem Hotel. Wieder was fürs Seminar.

Lange suche ich nach einem Kunstwerk, das Electronic Poet heißt (1984). Daran, oder darunter, könnte man tatsächlich beliebig oft vorbeilaufen, ohne es als Kunstwerk zu erkennen. Es könnte auch Werbung sein. Es handelt sich um eine Leuchschriftanzeige, die oben an einem überdachten Durchgang für Fußgänger angebracht ist. Auf ihr erscheinen, in großen, roten Lettern, in schneller Abfolge Gedichtzeilen, so schnell, dass man nur so gerade mitlesen kann. Es gibt wohl für jeden Tag des Jahres ein Gedicht. Wir sind gerade bei 296. Man kann gerade eine paar Zeilen aufschnappen: The spider’s web, the drunken birds. Wenn man dann wieder aufsieht, ist schon ein anderer Tag dran: The young girl plays with the gynocide doll, her mother.

Dann sehe ich noch irgendwo eine Skulptur die Pile heist und auch aus Bronze ist, aber aussieht, als ware sie aus Holz, ganz in Schwarz. Es ist ein merkwurdiger Stapel: auf einer Holzkiste liegen zwei Kissen, darauf zwei Bucher und auf denen stehen zwei Raben, auch die einer auf dem Rucken des anderen.

Nach der Kultur kommt dann das Fressen. Der kubanische Stand ist immer noch geschlossen, also nehme ich diesmal einfach einen ordinären Gyros vom Griechen. Schmeckt ganz anders als bei uns. Das Fleisch, Lammfleisch, kommt in kleinen, gebratenen Klumpen statt in geschmorenen Streifen. Hier unten gibt es bei den Food Carts noch mehr Auswahl. Sie gruppieren sich um einen ganzen Platz herum. Es gibt auch ägyptische, georgische und hawaiianische Küche und Fish and Chips. Die gibt es bei The Frying Scotsman.

Als ich am Abend zu Safeway gehe, um meinen Wasser- und Biervorrat aufzufüllen, merke ich, warum ich eine der Skulpturen in der Park Avenue nicht gefunden habe: Man kann über sie drüber gehen, ohne sie zu bemerken. Es handelt sich um das mittels hellerer Platten in den Boden eingelassene Profil einer Ulme, deren Schatten auf dem Boden sozusagen. Am Abend, in der Dämmerung, kommen die hellen Platten besser zum Vorschein. Der Titel der Arbeit ist In the Shadows of the Elm (1984).

10. Juli (Mittwoch)

Am Morgen sehe ich in der Park Avenue Eichornchen, grau mit rotem Schwanz, wie eine kuriose Kreuzung der zwei Arten. Sie sind Menschen gewohnt und halbzahm, aber rennen sofort weg, sobald man sich irgendwie auf sie zu bewegt, zum Beispiel, um ein Photo zu machen.

Im Unterricht geht es, wenigstens am Rande, um das Wort earworm, das jetzt im OED Aufnahme gefunden hat. Nur zwei der Studenten haben es schon mal gehört und keiner von ihnen gebracht es.

Nach dem Seminar geht es dann schnell zur Bude zum Umziehen und runter zum Pioneer Square zum Laufen. Der Aufzug und die Ampeln scheinen zu wissen, dass ich es eilig habe und tun alles, um mich aufzuhalten. Als ich ankomme, stehen die Jungs aber ganz gelassen bei dem Mann mit dem Regenschirm, einem guten Treffpunkt.

Sie laufen tatsächlich ein sehr gemütliches Tempo. Wir laufen eine Runde am Fluss, und als die zu Ende ist, fragen sie, ob wir noch eine drauflegen sollen. Tun wir. Geht, aber danach bin ich kaputt. Es war der erste Lauf nach dem Marathon, und dies war die bester Art und Weise, das zu tun. Einer der Jungs macht einen Doppelabschluss in zwei auf die Geschäftswelt ausgerichteten Disziplinen und will nach dem Abschluss nächstes Jahr sofort in die Wirtschaft und Geld verdienen. Der andere plant eine Promotion. Er fragt auch nach dem Austausch und scheint scheint sich für einen begrenzten Lehrauftrag bei uns zu interessieren.

Beide empfehlen mir, unabhängig voneinander, nach San Franciso zu reisen. Wenn sie die Wahl hätten zwischen der Küste von Oregon und San Francisco, würden sie San Francisco nehmen.

Nach dem Laufen gehe ich zum Helpdesk, um endlich die Sache mit dem Netbook zu klären. Es stellt sich heraus, dass alle Probleme etwas mit der Hardware zu tun haben. Das ist eine Sache für den Hersteller. Da werde ich mich zuhause noch mit herumzuschlagen haben.

Dann kommt die böse Überraschung, als es darum geht, ein Hotel in Seattle zu buchen. Viele sind ausgebucht, und die noch freien haben satte Preise. Ich hätte besser in Tacoma übernachten und am nächsten Morgen nach Seattle fahren sollen, aber dafür ist es jetzt zu spät. Oder doch nicht? Ich gucke ein bisschen hin und her, aber das, was man auf der einen Seite spart, gibt man für die Zugfahrt wieder aus. Ich nehme das billigste der Hotels – keine Buchungsgebühr – und werde nach der Buchung erst informiert, dass noch 15% Steuern und ein Touristenzuschlag draufkommen.

Als ich mir wegen des Vortrags noch mal die amerikanischen Münzen ansehe, die für den Vortrag von Belang sind, merke ich, dass beim  Quarter Dollar eine Seite oft einen bestimmten Staat darstellt, so wie wir das beim Euro auch haben, vermutlich von den Amerikanern abgeguckt. Ich habe immerhin Münzen aus Washington, Kalifornien, Colorado, New Mexico, Vermont und Rhode Island im Portemonnaie, aber keine aus Oregon.

Am Abend ist der Vortrag von Jaiwanti. Die erste Frage nach dem Vortrag stellt Alexander, die zweite stellt Alexander, die dritte stellt Alexander. Dann sind die anderen dran, und dann wieder Alexander.

Nach dem Vortrag stehen wir noch eine Zeitlang zusammen und sprechen über unsere Pläne. Alexander, stellt sich heraus, ist schon in San Francisco gewesen und gibt uns detallierte Ratschläge zum Besichtigungsprogramm und den Esslokalen.

Der Vortrag handelt vom Dorftrottel, einer Figur in neueren indischen Büchern und Filmen. Der Dorftrottel – The Village Idiot – ist der einfache, einfältige Dorfjunge, der in die große Stadt kommt. Er erlebt dort dieselben Schwierigkeiten wie andere Migranten, auch wenn er innerhalb des eigenen Landes bleibt: sich nicht dazugehörig fühlen, Langeweile, Fremdheit, Heimatlosigkeit, Heimweh. Er Er erlebt einen Kulturschock und eine Identitätskrise und wird zu dann zu einem Hybriden, der zwischen beiden Welten steht. Literatur behandelt ihn, genauso wie der Film, auf zwei Arten: als Ausgebeuteten oder als Exoten. Am besten wird das Thema von Bollywood bewältigt. Da verliebt sich das reiche Mädchen in den ehrlichen Burschen vom Dorf und heiratet ihn.

Die meisten machen die Entdeckung, dass es früher viele Götter gab, jetzt nur noch einen, das Geld, und dass es früher viele Kasten gab, und jetzt nur noch zwei: die mit und die ohne Bauch.

Jaiwanti stellt die modernen Migranten, auch die gebildeten Migranten, die in den Westen gehen, um sich ein besseres Leben zu suchen, in den Kontext der historischen Migration in Indien, beginnend mit den Juden und den Ariern, die nach Indien kamen.

Am Anfang des Vortrags steht ein Zitat aus einem Film: I’ve been looking for the keys for years, but the door was always open. Der Film heißt The White Tiger. Der weiße Tiger, der dem Film den Titel gibt, ist gleichzeitig die Metapher für den Dorftrottel.

Jaiwanti spricht frei, in lockerem Englisch, mit dem wunderbaren indischen Akzent, den ich in Indien so wenig gehört habe. Vielleicht eher typisch für den Süden. Von den Briten spricht sie immer nur als Britishers. Zwischendurch benutzt sie das Wort Kuli, das wir auch übernommen haben. Sie macht das alles sehr souverän, ganz in sich ruhend, ohne Spur von Nervosität. Sie bestätigt uns das später. Sie sei nie nervös. Alexander dagegen ist nach eigenem Bekunden ein reines Nervenbündel und bekommt jetzt schon weiche Knie, wenn er an den Vortrag denkt. Genauso wie ich.

11. Juli (Donnerstag)

Schon wieder ist das Ende der Seminarwoche da, und es ist schon das Ende der vorletzten Woche.

Ein unangehmer Charakterzug der amerikanischen Studenten ist ihre Notenbesessenheit. Heute morgen standen schon wieder zwei vor dem Büro, um in Verhandlungen über Noten von Hausaufgaben und Test einzutreten. Man kommt sich vor wie auf einem orientalischen Basar. Sie würden nie Konzessionen daran machen, dass man selbst in einigen Fragen vielleicht kulant gewesen ist, sondern sprechen nur von dem, wo man noch was rausholen kann.

Heute sind Photos vom Marathon gekommen. Sie sind allerdings sündhaft teuer und schwer zu bestellen.

Am Nachmittag sehe ich im Laden des Kunstmuseums eine Karte, auf der eine elegant gekleidete Frau einen Kinderwagen vor sich herschiebt, sich zu dem Kind hinunterbeugt und mit ihm spricht: Gucci, Gucci, Gucci. Und auf einer anderen sieht man zwei Steinzeitmenschen, Mann und Frau, die sich zerstritten haben, Rücken an Rücken an einem Pfahl sitzen. Sie sagt: We have to talk. Er sagt: Uh? Eh?

12. Juli (Freitag)

Auch die Straßenbahn fährt langsam, merke ich, als ich am frühen Morgen zum Bahnhof fahre. Es ist noch kaum jemand unterwegs.

Vor dem Bahnhof steht eine verzogene Steinsäule, Cairns. Skulpturen dieser Form sieht man hier öfter.

Am Bahnhof ist es ganz ruhig. Während der Stunde, die ich noch warten muss, kommt nur ein Zug an und keiner fährt ab. Nach unserem fährt dann vier Stunden lang keiner mehr ab. Da haben die Amerikaner es leicht, mit ihren sauberen Zügen anzugeben. Züge sind hier kein Verkehrsmittel für den Alltag, sondern Verkehrsmittel für Reisen. Das merkt man auch an dem ganze Theater, das gemacht wird. Eine halbe Stunde vor Abfahrt kommt der Zug, und man muss „einchecken“ und bekommt eine Platznummer. Fünf Minuten vor Abfahrt wird die Sache dicht gemacht. Wer dann nicht da ist, verpasst den Zug. Auch später, als wir in Seattle ankommen, gibt es vorher mehrere Hinweise, wie wahnsinnig hektisch das alles werden würde, man solle doch bitte Platz behalten, um die Gänge nicht zu versperren. Als wir dann aussteigen, ist alles ganz harmlos. Wir sind vielleicht hundert Passagiere in einem langen Zug.

Am Bahnhof kaufe ich mir dann endlich mal eine Zeitung, The Oregonian natürlich. Auffällig ist das Format, dünn und lang, und noch dünner und länger, wenn man sie aufschlägt, wie eine chinesische Tintenzeichnung. Beim Umblättern eher hinderlich.

The Oregonian ist nicht gerade die New York Times. Man muss schon suchen, um was Interessantes zu finden. Die beste Nachricht ist, dass es eine weiter Woche lang gutes Wetter geben soll.

Ein Artikel ist über die unsäglich komplizierte Mülltrennung. Es kommen Leute drin vor, die es ernst meinen und über die Komplikationen klagen. Beim Plastik muss man auf die Nummerierung achten. Das meiste davon kann man nicht recyceln, zum Beispiel all die Verpackungen von Lebensmitteln in den Supermärkten, große, durchsichtige Plastikschachteln, die viel Platz einnehmen. Ist mir auch im Wohnheim schon aufgefallen. Für die ist, trotz aller Differenzierung, kein Platz im System, genauso wenig wie für die ganzen Plastikbecher der Plastikcafés. Jetzt wird die Sache für die Amerikaner schwieriger, da China, bisher der Müllablageplatz der USA, sich jetzt weigert, bestimmte Sorten von Plastik einzuführen.

Auch mit Japan gibt es Ärger. Japan führt riesige Mengen amerikanischen Weizen ein. Für die Nudeln! Jetzt hat man irgendwo genetisch modifizierten Weizen entdeckt und gleich die Bremse gezogen.

Dann erfährt man, dass Microsoft seine Geschäftsstrategie umkrempeln will. Man gerät immer mehr ins Hintertreffen gegenüber Apple und Google. Der Grund: Computer sind nicht mehr in. Die neue Generation macht alles mit Smartphones. Der PC ist von gestern! Zu der neuen Strategie gehört auch die Eröffnung eigener Geschäfte, wie in Portland bereits geschehe.

Es ist auch von dem Unfall auf dem Flughafen in San Francisco die Rede. Davo hat Alexander dieser Tage erzählt. Der Unfall war kurz vor seinem Ablfug passiert. Ein Flugzeug hatte nach der Landung in eine Mauer gefahren. Die Stewardessen wurden aus dem Flugzeug herausgeschleudert, überlebten aber! Zwei chinesische Frauen kamen um, aber, wenn ich das richtig verstanden habe, auf der Landepiste, nachdem sie das Flugzeug verlassen hatten.

Bei dem Titel eines Artikels bin ich völlig verwirrt: Handful shift bras to Salem. Erst wenn man den Artikel liest und feststellt, dass Handful eine Firma ist, wird die Sache klar.

Dann geht es noch um die Nachnamen spanischer Einwanderer, die ihre beiden angestammten Namen, den des Vaters und der der Mutter, hier, entgegen der spanischen Tradition, mit Bindestrich schreiben, damit keiner verloren geht! (The Oregonian, 12/07/2013: C1)

Dann, nach dem zeremoniellen Gang über den Bahnsteig, im Gänsemarsch, geht die Fahrt los. Wir kommen gleich zu Beginn über zwei große Flüsse, den Willamette und den Columbia, und schon sind wir in Washington. Nach Tacome sind es gut drei Stunden. Je weiter nach Norden wir kommen, umso schlechter wird das Wetter. Die Wolken werden immer dichter.

Kurz vor Tacoma kommt links eine große Wasserfläche in Sicht, und das erinnert mich an eine andere sprachliche Kuriosität. Im Reiseführer war immer vom Puget Sound die Rede, und ich dachte, es handele sich um eine Musikrichtung. Es ist aber Sund gemeint. Dies ist aber nicht der Puget Sound. Dies sind die Tacoma Narrows. Über die führt eine beeindruckende, inzwischen renovierte oder erneuerte Brücke, die früher Galloping Gertie hieß.

Der Taxifahrer, der mich zum Museum of Glass bringt, stammt aus Tansania. Er ist seit zehn Jahren hier. It’s home now. Hakuna matata.

Im Internet gibt es widersprechende Eindrücke von Tacoma, von Drecksloch bis Sehenswürdigkeit. Es ist eigentlich keins von beiden, jedenfalls kein Drecksloch. Aber es ist ziemlich kalt, mindestens zehn Grad weniger als in den letzten Tagen in Portland. Es regnet aber nicht, und das teile ich auch, als bemerkenswerte Nachricht, meiner Kollegin aus Tacoma auf einer Ansichtskarte mit. Nachdem ich eindlich eine gefunden habe mit einem Motiv von Tacoma. Als ich sie in den Briefkasten geworfen habe, dauert es noch fünf Minuten, und es fängt an zu regnen. Klar, mein Regenschirm ist zuhause. Die Regenwahrscheinlichkeit für heute war laut Zeitung 0%.

Zuerst gehe ich aber ins Museum of Glass. Das ist das Vorzeigestück von Tacoma. Für mich eine Enttäuschung. Ich kann weder mit der Vorführung noch mit der Ausstellung viel anfangen. Man sieht, wie sich unten unter der Tribüne, verschiedene Akteure an einer großen, mangoartigen Sache zu schaffen machen, die, am Ende eines Stabs hängend, immer wieder in den Ofen geschoben und dann bearbeitet wird, aber was genau geschieht und was daraus werden soll, kann man nicht erkennen. Der eigentliche Künstler, ein Australier, der sich wie ein Künstler durch den Raum bewegt, ist an einer kleinen Sache dran, deren Sinn man noch weniger verstehen kann. Die Halle selbst sieht aus wie ein moderner Gasometer. Den sieht man von weitem schon, silbrig glänzend, schräg, und er würde im Sonnenschein vermutlich besser zur Geltung kommen. Ebenso die gläsernen Kraniche und Seerosen auf einem Weiher vor dem Museum.

In der Ausstellung, auch die ist Australien gewidmet, gibt es meist nichtfigürliche Objekte, bei denen am besten ist, wie sie anderes Material imitieren: Keramik, Marmor, Leinwand, sogar Blätter und Papier (es gibt dünne hellgrüne Papierschiffchen), aber meine Begeisterung hält sich in Grenzen, auch, nachdem ich ein zweites Mal durchgegangen bin in der Vermutung, irgenetwas übersehen zu haben.

Ich mache mich dann auf die Suche nach der Glass Bridge. Auch die hält nicht, was sie verspricht. Es ist keine gläserne Brücke, sondern eine ganz Fußgängerüberführung über eine Schnellstraße, deren Brüstung zu einer Art Museum ausbegaut ist. In regelmäßigen, gläsernen Kästen stehen Ausstellungsstücke des berühmten Künstlers, meist vasenartig, sehr bunt, mit allen möglichen Figuren, die aus ihnen herauswachsen.

Am anderen Ende der Brücke ist ein Café. Dort bekomme ich den bisher besten Kaffee in Amerika und zum ersten Mal eine richtige Tasse!

Gleich daneben ist der Eingang zu dem Museum of the History of Washington, dem zweiten Tipp, den ich bekommen habe, und das macht die Enttäuschung über das Glasmuseum wett.

Hier ist alles mögliche nachgestellt und nachgebaut: ein Treffen zwischen Siedler und Indianerhäuptling, ein Planwagen, ein Kolonialwarenladen, eine Potlatch, das Versammlungshaus der Indianer. An einem aus Holz gefertigten Baum im Zentrum hängen ebenfalls aus Holz gefertigt, die Früchte der Zivilisation herab, eine Schreibmaschine zum Beispiel. Als Ausstellungsstücke sieht alles vom indianischen Korb bis zum ersten Auto der Siedler.

Anhand eines vollbepackten Planwagens sieht man, was die Siedler alles mitschleppten, vom Gemüsesamen bis zum Klavier. Als Grundversorgung wurden 200 Pfund Mehl und 75 Pfund Bacon empfohlen, pro Person, dazu kamen Werkzeuge und Ersatzteile. Als Folge davon liefen sie meistens neben dem Planwagen her, auch um die Ochsen zu schonen, die auch so schon genug Last hatten.

Man kann die Figuren zum „Sprechen“ bringen und etwas über ihren Weg erfahren. Viele kamen auf eigene Faust, wie ein Bergmannssohn mit seinem Vater, andere reisten bequem in Karawanen.

Man kann auch einer „Verhandlung“ zwischen einem Anführer der Siedler, Isaac Stevens, und einem Indianer zuhören. Spokan Garry, einem der ersten, die Englisch gelernt hatten. Er war zu seinem Stamm zurückgekehrt und war nach einiger Zeit zu den alten Traditionen zurückgekehrt, nachdem er zunächst einige Missionierungsversuche unternommen hatten. Hier fordert er Stevens heraus. Er meldet Zweifel an dessen Motiven und an der Ehrlichkeit der Siedler an.

Sonst wurden die Verhandlungen meist in Chinook geführt, einer Hilfssprache mit wenigen hundert Wörtern, einer Mischung aus Englisch, Französisch und Indianersprachen. Die größte Vertrag kam in Walla Walla zustande. Da überließen die Indianer den Siedlern ca. 70,000 km2 Land.

An einer Leine sieht man die Nachbildungen indianischer Totenmasken durch moderne Künstler, darunter eine schwarze mit Federn, kriegerisch aussehend, eine bunt bemalte mit genau ausgebildeten Gesichtszügen, karnevalesk aussehend, eine braune mit langen, zotteligen Haaren und nur schemenhaft ausgebildeten Gesichtszügen, geisterhaft aussehend. Dazu erfährt man etwas über das Leben der modernen Indianer. Ihre Lebenserwartung liegt nur bei Mitte 40. Die magischen Zahlen sind 19, das klassische Alter für den Selbstmord, und 45, das klassische Alter für den Tod durch exzessiven Alkoholkonsum. Die Selbstmordrate liegt 45 mal höher als bei der Durchschnittsbevölkerung.

Auch in diesem Museum ist der Biber allgegenwärtig. Es wird deutlich, dass man „gute“ Gründe hatte, ihn zu jagen: Die Population der Bieber in Skandinavien und Russland war im Rückzug, und die Nachfrage war weiterhin groß, denn Zylinder waren in Mode! So einfach ist das. Ebenso hatten die Indianer, in diesem Falle die Nez Perce, vertreten durch ihren Häuptling Twisted Hair, „gute“ Gründe, sich auf die Geschäfte mit den Weißen, in diesem Fall Lewis und Clark, einzulassen:  Ihre Feinde, die Blackfeet, waren schon von den Weißen mit Munition und Waffen ausgerüstet worden, und da sollten die Nez Perce nicht hinten an stehen.

Die Dezimierung der Indianer erfolgte aber letztlich nicht durch Kriege oder Ausrottung, sondern durch Krankheiten. Poken und Malaria vor allem. Paradoxerweise überlebten gerade die Alten und Schwachen, denn die legten sich ins Bett und gaben dem Körper die Möglichkeit, zu regenerieren. Die Jungen und Starken taten das nicht und wurden zum Opfer. Man kann sich allerdings vorstellen, dass das wiederum zu Depressionen und Mutlosigkeit bei den Alten und Schwachen geführt haben muss.

Bei den Siedlern stellte die sich in der Zeit der wirtschaftlichen Schwierigkeiten ein, die ungewollt, diesen Effekt in ihrem Namen trägt: Depression. Hier, in Washington, gab es ganz besondere Selbsthilfeinitiativen. Der Staat hatte sich, mit den sehr amerikanischen Worten von Präsident Hoover, seine Position klar gemacht: <it is not the function of the government to relieve individuals of their responsibilites to their neighbors. Daraufhin bildete sich hier ein Verband, dem Arbeitslose und Arbeitende beitraten und zu seiner besten Zeit 40,000 Mitglieder hatte. Die Arbeitenden traten zwei Tageslöhne pro Woche an den Verband ab, und man inititierte einen Tauschhandel unter den Arbeitslosen. Auf lange Sicht aber zerbrach die Sache an den typischen internen Streitereien und der Entmutigung angesichts der Größe der Aufgabe.

Dann geht es wieder zu den Indianern und in eine geradezu furchterrgend echt nachgebaute Indianerhütte. Es ist so dunkel, dass man nichts sieht, und bekommt dann einen gehörigen Schrecken, als man Figuren sieht, die am Feuer sitzen und plötzlich zu sprechen anfangen.

Eine Frau erklärt einem jungen Mädchen, wie man Körbe flechtet, zwei Frauen sitzen zusammen und tratschen, ein Mann flickt ein Netz. Am Rande stehen Körbe mit Wurzeln und Nüssen, und an der Decke hängen Fische zum Trocknen.

Der alte Mann erzählt, dass man den Fluss sauber halten müsse, damit die Lachse im nächsten Jahr wiederkämen. Deshalb werfe man nichts in den Fluss. Wenn die Lachse kommen, erzählt er weiter, wird der erste Lachs, der Häuptling der Lachsleute, feierlich von dem Fluss ins Dorf getragen, und jeder bekommt einen Bissen davon. Dann trägt man das Skelett wieder zum Fluss hinunter und setzt es in die Richtung, aus der der Lachs gekommen ist.

Dann erzählt er die Geschichte von der Entstehung der Welt. The Great Changer, der Schöpfer der Welt, habe im Osten begonnen und im Westen seine Arbeit beendet. Als er anfing, hatte er eine Tasche voller Sprachen bei sich und gab jedem Volk seine Sprache. Als er dann nach Puget Sound kam, hatte er noch jede Menge Sprachen übrig und verstreute sich einfach. Deshalb gibt es in dieser Gegend so viele Sprachen!

Die Menschen waren allerdings nicht zufrieden mit der Arbeit des Great Changer, denn der Himmel war zu niedrig, und die großen Menschen konnten sich daran den Kopf stoßen. Also beschloss man, etwas dagegen zu tun, wusste aber nicht, wie man das anstellen sollte, ohne gemeinsame Sprache. Dann verfiel einer der Weisen auf das Wort Yehaw (hört sich die Jacha an), ‚proceed‘, und langsam verbreitete sich das Wort Yehaw als Zeichen dafür, den Himmel nach oben zu schieben. Am Ende versammelte sich eine Unzahl von Menschen mit Stöcken, und auf das Signal Yehaw hin, schubsten alle gemeinsam den Himmel ein Stückchen höher. Er war immer noch niedrig, und man brauchte drei weitere Versuche, um ihn in die heutige Position zu bringen. Unglücklicherweise waren genau zu dem Zeitpunkt drei Fischer genau da, wo der Himmel die Erde trifft, mit ihrem Kanu unterwegs. Sie wurden mit dem Himmel nach oben geschoben und konnten nicht mehr zurückkehren. Desahlb sieht man heute in einer klaren Winternacht das Sternbild von drei Fischern, die an ihrem Kanu hängen!

Aus der Hütte in die Moderne zurückgekehrt, voller Dankbarkeit an den Indianer, der mir Material für den Unterricht am Montag mit auf den Weg gegeben hat, höre ich mir noch an einem Bildschirm Begrüßungen in verschiedenen Inidianersprachen an. Die haben klangvolle Namen wie Lummi, Quileute, Spokane, Nez Perce, Walla Walla und Puyallup. Die Begrüßungen sind vor allem sehr unterschiedlich, in Länge und Form. Auch die englischen Entsprechungen sind sehr unterschiedlich. In einer Sprache ist es ein schnödes Good Day, in einer anderen Give me your hand, in wieder einer anderen ein zeremonielles Glad you come to my poor house, do as you please. Dazu gibt es auch Oh, is that you? Und What is in your heart und das wunderbare What do you want? Ein schöner Abschluss der Besichtigung.

Danach laufe ich etwas verloren die Pacific Avenue, die große Straße, die parallel zum Wasser verläuft, auf und ab, kann aber zu keiner Seite so etwas wie ein Stadtviertel finden. Das ändert sich erst, als ich im zweiten Versuch doch noch eine Ansichtskarte finde. Die freundliche Verkäuferin gibt mir einen Stadtplan und weist mir die Richtung. Diesmal werde ich gefragt, ob ich aus Schottland käme.

An einer Ampel stehend, sehe ich einen vorbeifahrenden Bus mit der Aufschrift: No nickeling, no diming, no dollaring.

Im Zentrum gibt es das Rathaus mit einem hohen Uhrenturm und ein von weitem sehr schön aussehendes weißes, palastartiges Gebäude, das sich bei näherem Hinsehen aber als ziemlich heruntergekommen erweist. Renovierungsbedürftig, um es vorsichtig zu sagen. Ich kommen in den Theaterbezirk und an ein paar schönen Geschäften und Lokalen vorbei. Irgedwo dort sehe ich die Werbung Berry, berry tasty. Ob da jemand die Spanier auf die Schüppe nimmt? Ein Konfektionsgeschäft für die reifere Frau heißt Anew thyme.

Dann muss ich mich auf den Weg zum Bahnhof machen. Die Fahrt von Tacoma nach Seattle ist sehr kurz.

Der Taxifahrer in Seattle kommt aus Somalia. Die Afrikaner scheinen sich dieses Terrain unter sich aufgeteilt zu haben. Er erklärt mir ein paar Gebäude, und dabei fällt immer wieder das Wort bike. Keine Ahnung, was er damit meint. Dann dämmert’s mir: Er meint Pike. In Seattle gibt es den Pike District, bekannt für seinen Markt. Die Araber haben auch Schwierigkeiten mit dem /p/, und das könnte hier sogar arabischer Einfluss sein.

Das Wahrzeichen von Seattle ist die Space Needle, ein Fernsehturm, ein eleganter Fernsehturm, aber eben doch „nur“ ein Fernsehturm, den man von überall aus sieht. Auch vom Hotelzimmer aus. Er ist sogar in der Nähe. Am schönsten ist er aber, wenn man ihn freistehend erwischt, vor allem jetzt bei dem blauen Himmel als Hintergrund.

Dass Seattle etwas Besonderes ist, merkt man erst, wenn man an der Waterfront ist. Sonst ist es eher wie eine Mischung aus Portland und Tacoma. Unten, an der Waterfront, hat man einen weiten Blick auf die Bucht, Wasser überall, meint man, mit einer grünen Insel, vermutlich einem Arm der Bucht, im Vordergrund, Wolken oder Bergen im Hintergrund, der tiefstehenden Sonne rechts und weißen Segelschiffen dazwischen. Es riecht nach Meer, und an einigen Stellen sieht der Strand auch wie Meeresstrand aus. Hier sind viele Spaziergänger unterwegs. Weiter links ist ein Skulpturenpark, der Olympic Park heißt, aber wohl nichts mit Olympischen Spielen zu tun hat, sondern mit Olympic, der Hauptstadt Washingtons.

Weiter oben ist die Stadt wie ausgestorben, und man läuft etwas verloren zwischen den Wolkenkratzern her. Dann kommt eine Drogerie was gut zu Pass kommt. Die sind hier nicht so breit gesät wie bei uns. Man bekommt zwar auch in den Apotheken Drogerieartikel, aber selbst wenn man die mitrechnet, sind es noch nicht so viele.

Als es dunkel wird, komme ich dann doch noch in ein belebteres und, für amerikanische Verhältnisse, gemütliches Kneipenviertel. Es gibt sogar ein paar Plätze draußen. Vor einem Rundell steht ein Pappschild mit der Aufschrift: Bet you 5 dollars you read this. Und an dem Fenster eines Lokals steht in Neonbuchstaben: we cheat tourists-n-drunks since 1929. Da lässt man wegen der Originalität die Grammatik gerne durchgehen.

Ich gehe in ein Thai-Lokal an der Ecke, das einfach aussieht und wo man auch als Einzelner einen guten Platz bekommt. Ich frage die Bedienung, ob ich zu meinem Orange Beef braunen oder weißen Reis nehmen soll: „White rice is tasty, brown rice is healthy. Da nehme ich weißen, und dann gleich noch ein Bier aus Thailand dazu, Shinga, hergestellt in der USA! Shinga ist ein Fabelwesen, eine Mischung aus Drachen und Löwe.

13. Juli (Samstag)

Beim Frühstück stehe ich vor verschlossener Tür und einem vollen Frühstücksraum. Dann merke ich, dass man sich hier mit dem Zimmerschlüssel selbst aufschließen muss. Das erspart die Kontrolle. Für das Frühstück lohnt sich allerdings der Aufwand nicht.

Entschädigt wird man durch das schöne Wetter. Bei hellem Sonneschein gehe ich zur Waterfront runter. Das ist ein Glücksfall, denn Seattle gilt als Regenloch und hat 260 Regentage pro Jahr. Trotzdem ist die Regenmenge geringer als in Washington D.C. oder in New York. Es fisselt meistens nur.

Seattle hat noch mehr Wolkenkratzer als Portland, und sie stehen noch dichter beeinander. Sie sind rechteckig und quadratisch und rund und getreppt und habe versetzte Teile oder abgeflachte Fronten. Von allem etwas. Und einer hat einen Turm, der wie ein Kirchturm aussieht. Das ist der Smith Tower, erbaut von Lyman Cornelius Smith, einem Industriemagnaten und Schreibmaschinenhersteller (Smith Corona). Er baute den Wolkenkratzer auf Anraten seines Sohnes, aus Gründen der Publicity. Es sollte etwas wirklich Besonderes her, um die Aufmerksamkeit auf die Firma zu ziehen. Der Smith Tower, 1914 erbaut, war damals der höchte Bau westlich des Mississippi und überragte alles in Seattle. Er wurde erst von der Space Needle übertroffen.

Wie groß er war, merkt man im Vergleich zu dem Uhrenturm des Bahnhofs, der King Street Station, der bis dahin das höchste Gebäude war. Ein Turm, der dem Turm von San Marco in Venedig nachempfunden ist. Man baute um diese Zeit repräsentative Bahnhöfe, genauso wie in Europa, und das war auch hier der Fall. Drinnen ist alles in Stuck und Goldverzierung, wie bei den russischen Bahnhöfen.

Auf der anderen Straßenseite steht gleich noch ein Bahnhof, und die Gebäude spiegeln die Geschichte um den Anschluss Seattles an die Eisenbahn. Man muss sich vorstellen, wie umständlich und teuer jeder Warenverkehr vorher war, entweder über den beschwerlichen Landweg einmal quer durch den Kontinent oder auf dem langen Seeweg einmal um den Kontinent herum. Als dann die Eisenbahn nach Westen kam, erhielt Tacoma, der ewige Rivale Seattles, den Zuschlag, und Seattle war der große Verlierer. Dann trat ein Industrietycoon, James Hill, auf den Plan, der eine eigene Strecke baute, ganz privat finanziert, die Great Nothern Railway. Jetzt hatte Seattle seinen Eisenbahnanschluss, und später kam dann noch der Anschluss an die Great Pacific Railway dazu. Jetzt hatte man die Eisenbahn im Doppelpack. Und zwei Bahnhöfe.

Seattle ist die Heimat von Boeing, und die Boeing-Werke kann man auch besichtigen. Aber sie liegen ein ganzes Stück außerhalb, zu weit für den kurzen Besuch. Das gilt auch für andere Sehenswürdigkeiten. Davon hat Seattle eine ganze Menge.

Aber auch in der Innenstadt gibt es was zu sehen. Zuerst geht es in den Pike District, von dem der Taxifaher gestern erzählte. An der Waterfront, ein anderer Abschnitt als gestern, ist jetzt schon ordentlich Betrieb. Es herrscht eine lebendige Atmosphäre. Es gibt einen kleinen Park mit Bänken und einem indianischen Totempfahl vor der Bucht. Da liegt ein großes Kreuzfahrtschiff vor Anker. Links sieht man ein Riesenrad, die rostigen Kräne des Hafens, eine schöne, weiße Brücke mit doppeltem Bogen, und am Horizont kann man heute auch die Berge erkennen.

Der Pike District mit seinem berühmten Markt ist ein eigener Bezirk innerhalb der Innenstadt. Es gibt 600 Stände und auch ein paar Hundert Bewohner und 10 Millionen Besucher pro Jahr!

Markstände befinden sich unten (Down Under) und oben, und die sind überdacht oder offen. Ein überdachter kostet 30 $ pro Tag, ein offener 12 $. Die Stände werden jeden Tag neu vergeben, und es geht nach Seniorität: Wer am längsten da ist, darf als erster seinen Stand wählen. Man kann also von einem auf den anderen Tag eine andere Verteilung finden. Die Markthalle ist verwinkelt und lang, die meisten Stände sind aus Holz. Es ist schon jetzt rappelvoll. Der Teil, durch den ich mich bewegen, hat Blumen und Gewürze, und dann später Fisch. Dort werfen sich die Verkäufer zur Belustigung des Publikums und kreischender Teenager die Fische gegenseitig zu.

Die Stände rechts werden durch eine schmale Straße mit Kopfsteinpflaster von einer Ladenzeile auf der anderen Seite getrennt. Hier ist die älteste Filiale von Starbucks. Der Gründer von Starbucks ist Seattelite, genauso wie Jimi Hendrix und Bill Gates. Er war ausgebildeter Englischlehrer und wollte seine Kette nach einer Figur aus Mobby Dick benennen, entschied sich dann aber für Starbucks, des Klangs wegen. Vor dem Café, das die Hausnummer 1912 hat – die jetzt häufig für das Gründungsdatum gehalten wird – steht jetzt schon eine Schlange. So wird aus der Gegenwart Geschichte. Diese Filiale, die tatsächlich älter aussieht und einen wenig auffälligen, grauen Schriftzug trägt, wurde 1971 eröffnet. Streng genommen ist es die zweite, die erste, in der Innenstadt, brannte ab, aber das verschweigt man hier aus Pietätsgründen.

An der Ecke Pike Street und Pike Square biegt die Straße links ab und der Markt rechts. Hier ist der eigentliche Eingang, mit einer Uhr aus der Zeit der Gründung und einer Neonanzeige, die die älteste in den USA sein soll: Pike Center Market.

Der Markt selbst, nach europäischem Vorbild geplant, ist auch der älteste der USA. Er entstand als Resultat der Preissteigerungen Anfang des 20. Jahrhunderts, als der Preis für ein Pfund Zwiebeln auf einen Dollar stieg, das Gegenstück zu 25 Dollar heute. Der Grund dafür waren die Zwischenhändler, die ihr Geschäft machten, die Bauern schlecht bezahlten und den Konsumenten das Geld abknöpften. Daraufhin gründete sich eine Initiative, die die Bauern einlud, doch selbst zu kommen und ihre Ware zu verkaufen. Beim ersten Mal kamen ganze acht Bauern. Durch ein System von Drohungen und dissuasion hatten sich die anderen abhalten lassen. Es kamen aber Tausend Kunden, und den Bauern wurde, wie man auf alten Photos sieht, die Waren geradez uaus der Hand oder gleich vom Pferdefuhrwerk gerissen. Das spach sich herum, und beim nächsten Mal kamen vierzig Bauern. Der Erfolg des Markts war nicht mehr aufzuhalten. Dann kam die Errichtung von Ständen, eine zentrale Organisation, große Pouplaruät. Dann kamen der unvermeidliche Niedergang und schließlich die Rettung des Marktes durch eine Volksbewegung, von einem der Architekten der Space Needle angeregt.

An verschiedenen Stellen des Markts stehen unterschiedlich bemalte, bronzene Schweine herum, Resultat einer Kunstaktion, Publikumsmagneten für Besucher und Orientierungspunkte für Einheimische.

Am Rand des Marktes steht das Hotel Lasalle, das seine eigene Geschichte hat. Es war ursprünglich ein Bordell, wir sind gleich am Hafen, und wurde von einer sehr dynamischen Frau betrieben, die sich für die Belange ihrer Kunden, aber auch für alle möglichen Projekte einsetzte und allseits beliebt war. Als sie das Hotel verkaufte, ging es an ein ausländisches, nicht eingeweihtes Ehepaar, das nach ein paar Jahren merkte, dass ihr Erwartungen, was den Umsatz anging, nicht annähernd erfüllt wurden. Sie kamen hinter die Sache und verklagten die Verkäuferin wegen Täuschung. Die Klage wurde abgewiesen, aber in dem Zusammenhang kam es ans Tageslicht, dass die Frau jahrelang Steuern hinterzogen hatte. Sie wurde verurteilt und musste tatsächlich ins Gefängnis. Lehre: immer schön brav deine Steuern bezahlen. Sie kommen dahinter.

Eine Etage tiefer kommt man an ein ganz eigenes „Kunstwerk“, die Gum Wall, eine bunte, etwas kitschige Wand, aus vielen kleinen Stücken bestehend. Man fragt sich, was das ist, und erst, wenn man davor steht, merkt man, was es ist: Kaugummi. Nichts als Kaugummi. Die Wand gehört zu einem Kino, das, nachdem eine neue Bestuhlung eingebaut worden war, seine jugendlichen Besucher heftigst darauf aufmerksam machte, doch bitte keine Kaugummis mit ins Kino zu nehmen. Die Jugendlichen klebten daraufhin vor dem Betreten des Kinos ihre halb gegessenen Kaugummis an die Wand. Die war nach einiger Zeit fast ganz mit Kaugummis voll. Man reinigte sie, und das Spielchen fing von vorne an. Nach dem dritten Versuch gab man sich geschlagen, und hat jetzt The Gum Wall als Volkskunstwerk an seiner Seite. Inzwischen werden die bunten Streifen nicht mehr ganz wahllos an die Wand geklebt, und man sieht bestimmte Formen erscheinen, darunter die schwedische Flagge!

Auf dem Weg vom Markt zum Pioneer Square, dem Herzen des alten Seattle, komme ich an dem Kunstmuseum vorbei und dem davor stehenden Hammering Man, einer riesigen, schwarzen Figur, die in regelmäßigen Intervallen langsam einen Hammer auf und ab bewegt, eine Figur, die für den fleißigen Handwerker steht und nur nachts und am Tag der Arbeit Pause macht.

Da lese ich, dass es die gleiche Figur an anderen Orten gibt, unter anderem in Frankfurt! Das ist was für diejenigen, die immer sagen, man solle nicht so in der Weltgeschichte herumreisen. Da ist man am anderen Ende der Welt und sieht sich etwas an, das man vor der Haustür und nie gesehen hat!

Der Pioneer Square ist ein für amerikanische Verhältnisse schöner Platz, mit einer gusseisernen Pergola, viktorianischen Gebäuden, vielen Bäumen und wieder einem indianischen Totempfahl. Er ist die Keimzelle der Stadt, und hier startet die Underground Tour.

Die Touren wurden ursprünglich gestartet, um das historische Viertel zu erhalten und zu renovieren, sind jetzt aber eine Gelddruckmaschine. Wir sind 200 und sehen den Untergrund, nach einer witzigen, aber uninformativen Einführung, in vier Gruppen. Der Eintritt kostet satte 17 $. Das lohnt sich eigentlich nicht. Man sieht nicht viel, aber die Geschichte selbst in brennend interessant.

Ein entscheidendes Jahr für die Geschichte Seattles war 1889. Da brannte die gesamte Stadt, ganz aus Holz errichtet, ab. Das Feuer entstand in einer Schreinerwerkstatt und wurde von einem Lehrling ausgelöst. Der musste Leim herstellen. Das machte man, indem man große Brocken Tierfett über dem offenen Feuer flüssig machte. Der Arme verlor die Sache im entscheidenden Moment aus den Augen, der Topf lief über, das Fett fing Feuer. Der Junge versuchte, es mit Wasser zu löschen, was, wie man erfährt, den gegenteiligen Effekt hat. Das Feuer nährte sich von den Sägespänen und dem Terpentin und den Holzdielen der Schreinerwerkstatt und griff auf das Untergeschoss über, wo ein Eisenwarenhandel war. Dort wurde damals auch Schießpulver aufbewahrt, und das war der Anfang des Endes von Seattle, wie man es bis dahin kannte, innerhalb von zwölf Stunden.

Die Seattlites, bekannt für ihren Durchhaltewillen, beschlossen, aus der Not eine Tugend zu machen und beim Neubau einen Geburtsfehler der Stadt zu beseitigen: Sie lag zu niedrig, auf Meereshöhe, und das Wasser trat zweimal pro Tag bei Flut in die Straßen. Was das für Konsequenzen für das Abwasser hatte, das dabei von der Flut zurückgespült wurde und die WCs hinaufstieg, wurde bei der Einführung plastisch und drastisch beschrieben.

Jedenfalls sollte die neue Stadt aus Stein gebaut werden und zehn Meter höher als die alte liegen. Der Stadtrat entwarf einen Plan, jeden Block mit Umfassungsmauern zu umgeben, die Schächste zuzuschütten und die neue Stadt darauf entstehen zu lassen. So lange aber wollten die Bürger und die Geschäftsleute nicht warten. Sie begannen sofort mit dem Bau, mussten dann aber feststellen, dass sie nicht heraus kamen. Sie traten aus dem Haus und befanden sich vor der Umfassungsmauer. Man musste also über Leitern auf die neue Ebene, und auch über Leitern alle Güter herein- und hinaustransportieren. Als dann die Stadt vollendet war, war das eigenen Erdgeschoss zum Keller geworden. Diese Keller werden heute noch häuifg als Lagerräume genutzt. In einem Spielwarengeschäft kann man durch einen Graben nach unten und in die Kellerräume hinein sehen. Die nicht genutzten Teile sieht man während der Führung. Aber da so gut wie alles abgebrannt ist, sieht man nicht viel, und statt dessen gibt es allerhand Anekdötchen. An einer Stelle sieht man noch die erhaltenen Wohnzimmerwand eines Hauses. Es fällt schwer, sich vorzustellen, was früher Haus und was Straße war, denn jetzt ist alles überdeckt.

Damit unten Licht reinkommt, hat man an einigen Stellen Oberlichter angebracht. Die sieht man auch oben im Pflaster. Heute ist es so, dass die Passagen unter den Straßen aufgefüllt, die unter den Bürgersteigen hohl sind.

Nach der Führung gehe ich noch ein bisschen durch die Gegend und komme über einige schöne Plätze und dann noch einmal an die Waterfront. An verschiedenen Stellen sind Tafeln aufgestellt, die etwas zur Geschichte Seattles sagen. Es kommen immer wieder die drei zentralen Ereignisse vor: Foundation (1851), Fire (1889), Fever (1897). Mit dem Fieber ist das Goldfieber gemeint.

Dem widmet sich das Klondike Museum, benannt nach einem Fluss (und einer Region) in Nordwestkanada, an der Grenze zu Alaska. 1897 landete ein Schiff, aus Klondike kommend, in Seattle. Es hatte eine Tonne Gold an Bord. Einige wenige hatten den großen Fund und das große Geschäft gemacht. Sofort verbreitete sich die Nachricht und erschien in Zeitungen an der Ostküste und in anderen Ländern. Und zog unzählige Abenteuerer an. Hier kann man die Geschichte von einigen von ihnen verfolgen. Die meisten gingen völlig leer aus, andere machten einen Gewinn. Dazu gehörte Nordstöm, ein Einwanderer aus Schweden, der nach seiner Rückkehr nach Seattle von dem Gewinn ein Schuhgeschäft gründete, die Keimzelle für das heutige Imperium. Er war an der Ostküste, als er am Morgen in der Zeitung von dem Goldfund las, entschied sich auf der Stelle, hin zu fahren, fragte seinen Freund, ob der mitkomme, erhielt eine Absage und saß am Nachmittag im Zug nach Westen.

Die meisten erlebten eine harte Zeit und machten keinen Profit. Die Arbeit war lang und mühselig, die Lebensbedingungen hart, Krankheiten grassierten, die Frustration war groß. Eine Stadt wie Dawson in dem Goldgräberbezirk wuchs innerhalb eines Jahres von 1,500 Einwohnern auf 30,000. Da kann man sich die Schwierigkeiten leicht ausmalen.

Am meisten profitierte Seattle, das zum begehrtesten Ausgangspunkt für die Reise wurde. Hier deckte man sich mit Proviant und Werkzeug ein.  Insgesamt 70,000 kamen über Seattle, und der Umsatz der Stadt wuchs von einem Jahr zum anderen von 325,000 $ auf 25,000,000 $! Das Geschäft wurde weiter angetrieben, als die kanadische Regierung, die sich nicht mit all den unterernährten und schlecht ausgerüsteten Abenteueren herumschlagen wollte, dekretierte, jeder müsse genug dabei haben, um sich für ein Jahr selbst versorgen zu können. Sonst würde die Einreise verweigert. Die Seattelites trugen das ihre dazu bei, indem sie phantastische Geschichten über Gold verbreiteten, das auf den Straßen lag und nur aufgehoben zu werden brauchte.

 

Dann ist nur noch Zeit für einen Tee im Café Zeitgeist, bevor es zurück geht, zurück nach Portland. Im Bahnhof steht ein Plakat von Amtrak, das die Passagiere um Mitarbeit bei der Identifizierung auffälliger Personen oder Objekte bittet. Man sieht einen voll besetzten Eisenbahnwaggon und die Aufschrift: We’re all in this together. Literally. Hier spielt jemand mit der Bedeutung von literally, das, wie die Studenten dieser Tage kommentierten, immer mehr im nicht wörtlichen benutzt wird und damit fast ins Absurde geht, indem er es betont im traditionellen Sinne benutzt.

Während der Rückfahrt im Zug gestern erinnere ich mich aus gegebenem Anlass daran dass dieser Tage im Seminar einmal die Zahl 2500 vorkam, im Zusammenhang mit der Diskussion um die Entstehung von Sprache. Der Student sagte es aber auf Amerikanisch, und ich musste einen Moment nachdenken, was gemeint ist: Twenty-five hundred.

Nach der Rückkehr verpasse ich zwei Straßenbahnen. Alles eine Geldfrage. An der ersten Haltestelle ist der Automat kaputt, und ich traue mich nicht, ohne Fahrkarte einzusteigen. An der nächsten nimmt der Automat keine Scheine an und ich muss mir erst Münzen besorgen. Man braucht mindestens zehn, wenn man so viele Quarter auftreiben kann. Das ist ungünstig. Der Wert der höchsten Münze ist zu gering. Ein Quarter ist gerade mal 20 Cent. Da haben wir mit der 2-Euro-Münze eine, die zehnmal so viel wert ist. Die Amerikaner müssten wenigstens 1-Dollar-Münzen haben. Die gibt es zwar, aber sie sind rar gesät. Ich habe bisher nur einmal eine gehabt.

14. Juli (Sonntag)

Nach einem Vormittag am Computer geht es zum ersten Mal ins Portland Art Museum, keine zehn Minuten vom Wohnheit entfernt. Dessen Größe und Vielfalt habe ich unterschätzt. Es besteht nicht nur aus dem Eingangsgebäude, sondern aus einem weiteren Gebäude auf der anderen Straßenseite, das man unterirdisch erreicht und das weitere vier Stockwerke hat. Angesichts der Fülle sehe ich mir alles, vom Mittelalter bis zur konzeptuellen Kunst, nur flüchtig und nur wenige Werke genauer an.

Auch hier ist der Mt. Hood vertreten, und zwar in dem Gemälde eines deutschstämmigen Malers namens Albert Bierstadt (1869). Irgendwie kommt mir der Berg größer und spitzer als in Wirklichkeit vor, und dann erfährt man auch noch, dass es diese Perspektive, mit dem Berg im Hintergrund und dem Muntnomah Wasserfall im Vordergrund, gar nicht „gibt“. Das ist kein Zufall. Bierstadt lebte an der Ostküste und malte seine Bilder dort, nach Skizzen, die er hier vor Ort angefertigt hatte. Er war begeistert vom amerikanischen Westen und wollte für ihn werben. Dabei waren Monumentität und Dramatik der Landschaften wichtiger als die photographische Abbildung.

Ein kurioses, ein wenig aus den Fugen geratenes Bild ist Portrait of a Young Woman (1830) eines Malers namens Erastus Field, eines Alleskönners, der am Ende zum Wandermaler wurde. Er fuhr aufs Land um bot seine Dienste bei den reichen Bauern an. Mit Erfolg. Hier gab es eine soziale Gruppe, die sich nach oben bewegte, der aber die höheren Weihen fehlte. Field reiste bereits mit halbfertigen Büsten an, auf die er dann den Kopf der Frau, die sich portraitieren ließ, draufsetzte. Das sieht man dem sonst ganz gelungenen Portrait an. Auf den mitgebrachten Teilen waren bereits die Insignien der Mittelklasse angebracht: ein paar Bücher und Schmuck.

Dann gibt es noch ein Portrait von Washington von Rembrandt Peale. Der war einer der wenigen, der Washington schon zu Lebzeiten portraitiert hatte. Er nahm sich vor, jetzt das verbindliche Bild von Washington zu malen, das Bild, das zur Ikone taugte. Er benutzte dabei als Vorlage eine ganze Reihe verschiedener Portraits und ermittelte aus ihnen sozusagen die ideale Mitte. Unter den Portrais Washingtons war auch eines, das sein Vater, ebenfalls Maler, gefertigt hatte. Der hatte ihm den sinnstiftenden Namen Rembrandt gegeben. Peale orientierte sich bei seinem Portrait an klassischen römischen Vorbildern und gab dem Bild auch einen klassischen Rahmen. Washington erscheint in Dreiviertelansicht, mit einer eleganten Uniform angetan, vor einem mystisch leuchtenden Schimmer im Hintergrung. Tatsächlich hat man von weitem das Gefühl, einen Heiligenschein zu sehen, eine Deutung, die Peale vermutlich gefallen hätten. Das Gemälde hatte so viel Erfolg, dass es verschiedene Nachfolgegemäle gab. Eins davon ist dies im Portland Art Museum.

Interessant, wie alle drei Gemälde, die sonst so verschieden sind, konzeptionell etwas miteinander gemeinsam haben: Sie formen Wirklichkeit, bilden sie nicht ab.

15. Juli (Montag)

Beginn der letzten Seminarwoche mit einer guten Sitzung. Die Studenten erklären mir einen Werbeslogan für eine Kreditkartenfirma, den ich auf einem Bus in Tacoma gesehen haben: No nickeling, no diming, no dollaring. Hatte ich nur so aus Interesse photographiert. Wegen der Namen der Münzen. Hat aber noch einen anderen Hintergrund: nickeling and diming heißt auch so was wie ‚übers Ohr hauen‘, besonders dann, wenn man auf den Nettopreis noch alle möglichen Sonderchargen draufschlägt. Wie es mir jetzt gerade bei dem Hotel in Seattle passiert ist.

Ich frage auch nach cab und taxi, nachdem ich am Bahnhof am Samstag beide Wörter auf Taxen gesehen habe. Alle sind sich einig: Wir benutzen beide. Dann kommen wir noch etwas weiter: Wenn ich ein Taxi rufen will, sage ich I’m gonna hail a cab, und wenn ich dann das herbeifahrende Taxi sehe, sage ich „Taxi!“. Leuchtet ein.

Nach dem Seminar mache ich mich pflichtschuldig daran, eine Befragung unserer Uni und eine Befragung der PSU auszufüllen. Man fragt sich, was das alles soll. Gibt es eigentlich Daten darüber, ob solche Befragungen jemals etwas bringen?

Ann Marie ist von ihrem Urlaub an der Küste wieder da. Ganz begeistert. Und braun. Sie ist in Cannon Beach gewesen, dem feineren Pendant von Seaside. Im Wasser ist sie nicht gewesen, heutztage sei ihr das zu kalt, als sie jünger war, habe ihr das nichts ausgemacht. Die Studenten finden, dass das mit dem kalten Meer in Oregon ein kalifornischer Mythos sei. Man könne ohne weiteres ins Meer, auch wenn es nicht so warm wie in Palm Springs ist.

Ann Marie empfiehlt mir dringend, an die Küste zu fahren, und als ich sage, das mit San Francisco habe ich mir inzwischen fast aus dem Kopf geschlagen, sagt sie, ich könne doch beides verbinden. Wie, mit dem Auto? Ja, mit dem Auto. 500 Meilen. Da bringt sie mich auf eine Idee. Das hätte den Vorteil, dass man flexible wäre. Genug zu sehen an der Küste, kein San Francisco. Langweilig an der Küste, auf nach San Francisco.

Also mache ich mich gleich am Nachmittag auf nach einer Autovermietung. Es gibt eine gleich um die Ecke, in dem Hotel der Uni, wo ich vorher untergebracht war. Da bekommt man allerdings nur sehr knappe und unwillige Auskunft. Es stehe alles im Internet. Vielleicht bin ich inzwischen durch amerikanische Freundlichkeit verhätschelt, aber ich hätte dem was um die Ohren hauen können. Da mache ich mich zu einer weiteren Adresse auf. Lincoln Street. Habe ich noch nie gehört, aber wird ja wohl in der Nähe von Washington und Jefferson und Madison sein. Erst da unten gucke ich dann mal auf die Karte. Ist wohl weiter oben, eine schräge Straße, die vom geraden Muster abweicht. Auf einem großen Bogen komme ich auf die Straße und stehe – wieder vor der gleichen Autovermietung. Die war in der Lincoln Street.

Ich mache einen Spaziergang durch die Stadt. Schönstes Sommerwetter. Irgendwo komme ich an einer Apotheke vorbei: Rite Aid. Muss wohl eine Kette sein, den Namen habe ich schon öfter gesehen. Was Apotheke heißt, ist eine Drogerie – mit angeschlossener Apotheke. Hier gibt es alles, nur wieder keine Messer, jedenfalls keine richtigen, alles Plastik. Immer noch breche ich alle Naselang eins der Plastikmesser beim Schneiden von Brot oder Käse ab. Ich besorge eine Salbe und eine Creme und stelle mich in die Schlange. Das Mädchen an der Kasse fragt mich a) ob ich alles gut gefunden hätte (Ja, danke), b) ob ich eine Paybackcard hätte (Nein), c) ob ich eine wolle (Nein, danke), d) ob ich eine Tüte wolle (Nein, danke), e) ob ich meine zwei Cent Wechselgeld wolle (Nein, danke) und f) ob ich den Bon haben wolle (Ja, bitte).

Der Bettler vor der Apotheke freut sich wie ein Scheekönig über den einen Dollar, den ich ihm gebe. Die amerikanischen Bettler sind wirklich nicht anspruchsvoll.

Wieder komme ich am Electronic Poet vorbei. Diesmal lese ich: The purple ways, the catway, the ginger. Hört sich wirklich nach Lyrik an. Das muss wohl am Rhythmus liegen.

Ich komme an einer Art verschließbarem Briefkasten vorbei. Hier können geliehene Bücher aus der Bücherei zurückgegeben werden. Nicht schlecht. Macht unabhängig von Öffnungszeiten.

 

16. Juli (Dienstag)

Bei dem Versuch, Mineralwasser zu kaufen, habe ich Wasser mit Geschmackszusatz erwischt: Black Cherry Essence. Schmeckt widerlich. Bei dem Versuch, es beim nächsten Mal besser zu machen, erwische ich Mandarin/Orange.

Nachts höre ich aus der Distanz die Durchsage der Straßenbahn, wenn sie an der Endstation ankommt. Man kann nicht jedes Wort verstehen, aber man hört ohne weiteres, dass die Durchsage auf Englisch und auf Spanisch gemacht wird.

Vor dem Seminar kommt die Rede aus irgendwelchen Gründen auf die Obdachlosen in Portland. Hier, und in Oregon überhaupt, gebe es davon mehr als in allen anderen Teilen Amerikas, heißt es. Man führt das auf den Niedergang der Holzindustrie und die schwierige Wirtschaftsituation zurück. Wichtiger ist aber ein anderer Aspekt: Man sieht die Obdachlosen. Sie dürfen im Park und an der Waterfront schlafen. Das ist durchaus keine Selbstverständlichkeit. Die Stadt habe versucht, das zu verhindern, aber das Gericht des Bundesstaates habe das unmöglich gemacht.

Nach dem Seminar gebe ich dem kubanischen Food Cart noch mal eine Chande, aber diesmal ist er nicht nur geschlossen, sondern verschwunden! Ich sehe mich um, ob ich an der richtigen Stelle bin. Ja, kein Zweifel. An der Stelle des kubanischen steht jetzt irakischer. Also nehme ich etwas von nebenan, polnische Küche: Bigos, das hier auch unter Hunter’s Stew läuft, im Wesentlichen Fleisch mit Sauerkraut, wobei man hier mit dem Fleisch sehr sparsam umgeht. Das ist klassische Hausmannskost, und es gibt es gute Gründe, warum es zum Nationalgericht wurde: nicht aufwändig, kann lange vor sich hin köcheln, benötigt keine verfeinerten Soßen, erlaubt Resterverwertung, kann einfach variiert werden. Schmeckt gut, aber nicht berauschend. Als ich mich auf den Weg mache, sehe ich einen Hinweis auf den verschwundenen kubanischen Food Cart: ist verzogen, macht an anderer Stelle Anfang August wieder auf. Zu spät.

In der Reinigung werde ich heute schon beim Reinkommen mit Namen begrüßt. Unglaublich, die Amerikaner! Oder liegt es daran, dass ich so ein guter Kunde bin?

Auf dem Rückweg merke ich, dass die moderne, halbrunde Konstruktion, die den Abschluss der Straßenbahnstrecke markiert, aus Sonnenkollektoren besteht.

Was ich noch nicht herausbekommen habe, ist, wie das System mit den Hausnummern passiert. Die sind immer sehr hoch, aber das liegt nicht an den langen Straßen, sondern am System. Hier um die Ecke, am Broadway, folgen 1948, 1962, 1968, 1974, 1988 aufeinander. Das sind zwar lauter Lokale, aber bei den Privathäusern ist es nicht viel anders.

Heute bin ich seit genau einem Monat in Portland. Am Nachmittag ist es immer noch richtig heiß, aber es wird auch schwül und der Himmel ist bewölkt.

17. Juli (Mittwoch)

Zur Beruhigung der Nerven gehe ich am Morgen zum Laufen raus, diesmal auf den Hügel gleich am Ende der Park Avenue, stadtauswärts sozusagen. Den hatten die Studenten mir empfohlen.

Im Seminar erklären die Studenten mir das mit den Hausummern. Es wird nicht einfach abgezählt, sondern es gibt 1000 Hausnummern, die auf einen Block (oder eine ähnliche Einheit) verteilt werden. Das hat zur Folge, dass man an den Hausnummern die Lage erkennen kann. Einer der Studenten, der im Nebenberuf Pizzafahrer ist, erklärt das. Wenn eine Hausnummer mit 35 anfange, könne er das Ziel ziemlich gut lokalisieren. Gutes System. Haut allerdings wohl in erster Linie bei den zentralen, geraden Blöcken hin.

Die Studenten schlagen für das Bierchen morgen zum Abschluss des Seminars ein Lokal vor, Rogue Hall. Als ich frage, wo das sei, bekomme ich zur Antwort: zwischen Starbucks and Subway. Sehr amerikanisch.

Neues Ungemach droht: Nach dem Seminar kommt eine mir unbekannte, freundlich lächelnde Studentin auf mich zu, mit der Information, die Sitzung morgen (oder ein Teil davon) solle gefilmt werden. Zähneknirschend stimme ich zu, und schweren Herzens mache ich mich auf den Weg zu Radio Shack. Mein Handy muss aufgeladen werden, die erste Rate galt nur für einen Monat. Dann gehe ich zu einem Photokopiegeschäft, um ein paar Farbphotokopien zu machen. Eine Kollage von Photos, die ich für die Studenten gemacht und an der ich in den letzten Tagen herumgebastelt habe.

Dann gehe ich noch am Auslandsamt vorbei. Im letzten Moment habe ich noch einen Fehler auf der Datei für den Vortrag gefunden, ausgerechnet auf der ersten Seite. Dort, im Auslandsamt, ist aber niemand zu erreichen.

Am Abend geht dann der Vortrag gut über die Bühne, aber der Aufwand hat sich insgesamt nicht gelohnt. Mit einem anderen Thema wäre ich genauso gut und mit weniger Vorbereitung dabei gewesen.

Vor dem Vortrag kommt die neue französische Kollegin und stellt sich vor. Sie ist Spezialistin in amerikansicher Geschichte, macht aber hier etwas über franzsöische Geschichte. Die Frau in der französischen Geschichte. Schon in dem zweiten Satz, den sie mit mir spricht, kommt das Wort männlicher Chauvinismus vor. Die ideologischen Grenzen sind gezogen.

Anschließend mit Ann Marie in den Laughing Planet, einem Lokal, wo man draußen sitzen kann. Hier gibt es Entschädigung für den verpassten kubanischen Food Cart in Form eines Gerichts, das Cuban Bowl heißt: „Plantains and sweet potatoes on a bed of brown rice and black beans topped with fresh pico de gallo“. Ann Marie erzählt von ihren Kindern und der Wahl der Schule und davon, dass sie in Deutschland die soziale Sicherheit geschätzt habe und das weniger kompetitive Leben. Vor allem gab es viel mehr Feiertage als in den USA. Ihr Mann habe hier nur zwei Wochen pro Jahr.

18. Juli (Donnerstag)

Die Studenten müssen alle erst ihr schriftliches Einverständnis geben, dass im Unterricht gefilmt wird. Man merkt die Präsenz der Kamera deutlich, die Kommunikation ist nicht so dynamisch wie sonst. Paradoxerweise diskutieren wir ausgerechnet das Observer’s Paradox der Linguisten, das besagt, dass man Menschen nicht beobachten kann, wenn sie nicht beobachtet werden und deshalb kaum natürliche Daten bekommt.

Nach dem Seminar geht es dann in gelösterer Stimmung in die Rogue Hall, ein für amerikanische Verhältnisse gemütliches Lokal, wo man draußen sitzen kann, unter Bäumen zwar, aber an der Straße. Zu meiner Überraschung zücken alle gleich zu Anfang ihre Personalausweise. Es wird strikt kontrolliert, und die, die keine 21 sind, dürfen kein Bier bestellen. Nachdem sie in einem Seminar im Honors Degree vier Wochen lang intellektuelle Reife bewiesen haben. Sie bestellen auch nichts anderes. Schwer zu sagen, warum.

Es gibt alle möglichen verrückten Biere, unter anderem welche mit Schokoladengeschmack. Die überlasse ich allerdings den Studenten. Ich probiere drei verschiedene, die alle ein bisschen wie englische Bitter schmecken.

Bei Toilette hat man die Wahl zwischen Hops und Barley, eine schwierige Entscheidung. Ich nehme Hops und liege richtig. Von den Studenten sagen einige, sie hätte beim ersten Mal die falsche Wahl getroffen, aber das ist wohl nur die Minderheit. Gibt es etwas, das Hops als männlich auszeichnet? Die Diskussion passt perfekt zu einer, die wir am Tag zuvor im Seminar geführt haben.

Die Studenten erzählen von ihren Nebenjobs, als Pizzafahrer und auf dem Farmers‘ Market. Die Bezahlung ist miserabel und man ist weitgehend auf Trinkgeld angewiesen. Davon gibt es aber reichlich. Sie sprechen über erstaunlich anspruchsvolle, wählerische Kunden und wie sie damit umgehen . Und wie sie die immer gleichen Fragen beantworten müssen. Am besten diese: „What is on your mozarella and tomato pizza?“ Und es gibt Kunden, die von der neuen Mode, dass alles gluten-free sein muss, angesteckt, fragen: “Do you have it with that gluten?“

Und über das Honors Programme und die Seminare, die sie gewählt haben. Über die weiteren Studien erfahre ich, dass ich einige gleich in das Doktorandenprogramm einsteigen und den Master unterwegs „mitnehmen“ können, falls sie zu dem Programm zugelassen werden. Und dass die meisten, genauso wie bei uns, sich nicht mit einem Bachelor-Abschluss begnügen.

Sie fragen auch nach der Evaluation des Seminars. Ich habe keine Ahnung, ob es eine gibt und ob ich das veranlassen muss.

Als ich bezahlen will, merke ich, dass die Studenten schon ein paar Portionen der Pommes, die wir gemeinsam verzehrt haben, bezahlt haben.

Nach einer kurzen Siesta zur Erholung vom Bier geht es dann zum Autoverleih. Der sauertöpfische Mann taut etwas auf, als er feststellt, dass wir fast auf den Tag gleich alt sind. Natürlich fehlen mir mal wieder alle möglichen Daten wie die Adresse des Wohnheims, aber die kann ich am Montag beim Abholen des Autos nachreichen.

Am Abend geht es dann zum Empfang der Uni (oder des Auslandsamtes). Eine kleine Gesellschaft in dem schönsten Gebäude der Universität, dem Simon Benson House, dem eigentlichen Wohnhaus des Industriellen und Philanthropen. An einer Tafel draußen am Haus heißt es, Benson sei mit 30 nach Portland gekommen, mit 40 reich gewesen und habe sich mit 60 aus dem „operativen Geschäft“, wie es heute heißen würde, zurückgezogen und sich ganz seinen Plänen für Portland gewidmet. Dieses Haus vermachte er nach seinem Tod der Uni.

Nach dem Bier vom Vormittag gibt es jetzt Wein, sehr guten Pinot Noir, von einem eigenen Sommelier serviert, und dazu ganz elegant, auf einem Aufbau mit weißen Tischdecken servierte Häppchen. Alles sehr stilvoll. Dazu gibt es die unvermeidlichen Plastikteller!

Ich spreche mit einem Franzöisch-Professor, der sich angetan davon zeigt, dass wir alles auf Englisch unterrichten und Englisch auch außerhalb des Unterrichts benutzen. Ich spreche ihn auf das erfolgreiche Russischprogramm hier an der PSU an, und er bestätigt, dass das wirklich das Flagschiff der PSU ist, was Fremdsprachendidaktik angeht. Sie selbst gehen mit Französisch einen Mittelweg und benutzen, je nach Unterrichtsgegenstand, Französisch oder Englisch als Unterrichtssprache. Guter Kompromiss.

Dann spreche ich mit einem Ehepaar, bei dem die neue französische Kollegin untergebracht ist. Sie kennen die Mosel, da ihr Sohn in Ramstein stationiert war, und erzählen ganz angetan von Weinfesten und Weihnachtsmärkten und wie sie sich einmal verfahren haben und plötzlich, ohne es zu merken, die Grenze nach Frankreich passiert hatten.

Dann wird uns Davids Partner vorgestellt, ein viel gereister, der mir noch ein paar Tipps für die Küste mit auf den Weg gibt, kleinere Orte, die ihre Authetizität bewahrt haben und abseits der touristischen Route liegen. Die beiden nehmen sich auf ihren Reisen Zeit – in Paris waren sie einen ganzen Monat – und beschäfigen sich vorher immer mit der Sprache des Landes, auch wenn sie nur ein paar Brocken lernen. Er spricht Spanisch, David Französisch.

Dann erfahren wir, dass David auch zwei Jahre lang in Japan, in Yokohama, gelebt hat und auch Japanisch kann. Er berichtet genau dasselbe wie Jörn: Wenn er Japaner auf Japanisch anspricht, weichen sie sofort zurück und betonen, sie könnten kein Englisch. Man erwartet einfach nicht, dass eine Langnase Japanisch kann.

Am längsten halten es die Russen aus. Sie sind ganz enttäuscht, als ich vorsichtg zum Aufbruch mahne, da sonst alle gegangen sind. Von Alexander erfahre ich, dass er drei Jahre lang in Afrika gelebt und gearbeitet hat, in Uganda, noch unter Idi Amin. Er ist ganz und gar begeistert, und hat auch Ruanda und Tansania besucht. Von all den Ungeheuerlichkeiten in Uganda habe er nichts mitbekommen. Das kann ich mir gut vorstellen.

19. Juli (Freitag)

Der zweite Familienausflug steht auf dem Programm, mit den International Scholars unter der Leitung von David Brandt. Diesmal geht es zum Mt. Hood. Als wir auf dem Weg zum Parkplatz sind und an einem kleinen, verlassenen Platz zwischen einer Reihe von nichtssagenden Verwaltungsgebäuden vorbeikomme, merke ich auf einmal, dass dies die Gegend ist, an der ich mich am ersten Abend, nach der Ankunft mit der MAX, verirrt habe. Der Parkplatz ist gleich hinter dem Hotel der Universität.

Die Tochter von Alexander ist mit von der Partie, und sie ist außer mir die einzige, die sich für die Version kurze Hose entschieden hat. Das wirkt am Morgen sehr gewagt, aber das Wetter sollte uns recht geben. Es wird immer heller und wärmer im Laufe des Tages, wie schon in den letzten Tagen.

Als wir in die Gegend kommen, wird es bald einsam, wenn man von den Autos absieht. Links und rechts Berge und Täler, alle mit dichten und hohen Fichten- und Tannenwäldern bedeckt. Bei der Anfahrt zu dem eigentlichen Gelände muss man eine Art Gebühr bezahlen, damit man dort picknicken darf, und an dieser Stelle warten die Amerikaner wieder mit tadellosen Toiletten auf, genau, wenn man sie braucht, blitzsauber, mit allem ausgestattet. Alexander ist angetan: Ich Russland gebe es bei solchen Fahrten nach ein paar Hundert Kilometern mal eine Grüne Pause: Alles ab in die Büsche, Frauen links, Männer rechts.

Ich habe das Glück, gerade vorne zu sitzen, als der Mt Hood in Sicht kommt. Der Blick ist wirklich majestätisch. Er steht mit seiner schneebedeckten Spitze ganz alleine, mit den grünen Wäldern als Kulisse.

Da wir vorher getankt haben, habe ich so auch die Gelegenheit, Fragen dazu los zu werden. In Oregon wird man immer bedient, in Washington und in Kalifornien tankt man selbst. Am besten gibt man dem Tankwart eine Kreditkarte und verlangt nach Regular. Gut zu wissen.

Als es dann weiter hoch geht, ist auf einmal Schluss mit der Vegetation. Jetzt steht nur noch der graue Vulkanberg mit seiner weißen Spitze vor uns. Das Blockhaus, zu dem wir fahren, hat den bezeichnenden Namen Timberline Lodge. Es ist eine Art Skifahrerhütte und bezieht seine Bedeutung vor allem daher, dass sie auch als Beschäftigungsmaßnahme unter Roosevelt entstanden ist.

Wir werden durch die Hütte von einer sehr jungen, haspeligen Frau geführt, die mit großer Naivität ihr Unwissen zu erkennen gibt und ihre Sprache mit ständig wiederkehrenden Floskeln wie basically, yeah, like, , kind of nice, you guys und vor allem kind of cool durchsetzt.

Der Bau entstand in gerade mal achtzehn Monaten und gab vielen Leuten aus der Gegend Arbeit. Man achtete bei dem Bau darauf, nur Materialien aus der Gegend zu verwenden, Stein wie Holz, oder alten Materialien eine neue Funktion zu geben. So sieht man Schneeketten von Autos als Schirm vor dem Kamin, alte Telefonmasten, die, mit Schnitzarbeiten versehen, als Ornamente in die Eingangshalle integriert wurden, Teile von Eisenbahngleisen als Schuhabtreter für die Skifahrer, alte Uniformen, aus denen schön verzierte Decken wurden.

Immer wieder taucht das Motiv des Sechsecks auf. Die Halle selbst ist ein Sechseck, aber auch Einrichtungsgegenstände wie Tische und Ornamente an den Pfeilern.

Als der Bau fertig war, 1937, kam der große Roosevelt selbst zur Einweihung, machte aber von dem eigens für ihn eingerichteten Zimmer mit einem eigens für ihn gezimmerten Sessel keinen Gebrauch. Zwei Jahre später kam dann der Skilift dazu, der zweite in ganz Nordamerika. Mit dem kann man auf den Gipfel fahren.

David kommentiert den Ruf Oregons als Regenloch. Der halte sich hartnäckig, obwohl zwei Drittel des Staates, nämlich dieses Gebiet, das, vom Meer aus gesehen, hinter den Bergen liegt, ausgesprochen trocken sei.

Wir sehen den Berg von verschiedenen Seiten und fahren dann an einen See, um Picknick zu machen. Der See heißt Trillium Lake, nach einer kleinen, dreiblättrigen Pflanze, die aber nichts, wie wir meinen, mit dem Kleeblatt zu tun hat. Wir finden ein einziges Exemplar und sehen, dass sie tatsächlich größer als das Kleeblatt ist und längere, spitzere Blätter hat.

Bei dem Picknick erfahren wir, dass die PSU im Laufe eines Jahres ca. 200 Visiting Scholars hat, von denen jeweils ca. 50 gleichzeitig da sind. Er betreut zwar nicht alle so intensiv wie uns, da für das Rahmenprogramm teilweise von den Fakultäten selbst gesorgt wird, muss aber mit allen das immer gleiche Programm mit Visabeantragung, Unterbringung und Besorgung der Social Security Card absolvieren. Wie man denn da den Überblick behalten könne, fragen wir uns – und ihn.

Wir gehen einmal ganz um den See herum. Von hier hat man noch mal schöne Ausblicke auf den See. Ich erfahre, dass Alexanders Tochter einen russischen, einen amerikanischen und einen italienischen Abschluss hat. Unglaublich. Mit ihrem italienischen Freund spreche sie nur Italienisch, aber in Italien wohnen, das habe sie sich abgeschminkt. Die Vorstellung sei am Anfang sehr verlockend gewesen, habe aber zunehmend ihren Charme verloren, je weiter sie hinter die Kulissen geblickt habe.

Alexander wehrt sich mit Händen und Füßen dagegen, photographiert zu werden, erfolglos natürlich. Er meldet auch grundsätzliche Zweifel an der ganzen Photographiererei an. Er käme ohnehin nie dazu, sich die Photos anzusehen, abgesehen von dem ganzen Aufwand bei der Auswahl und Bearbeitung. Da ist was dran.

Er bedauert es, dass ich schon bald wieder abreise. Ich müsse ihn unbedingt in Nischni Nowgorod besuchen. Es gebe eine direkte Verbindung von Frankfurt. Mach ich glatt.

Dann geht es zurück nach Portland. Ich hole am Ende noch im Auslandsamt meinen Scheck für den Flug und meine Social Security Card ab, die gerade eingetroffen ist. Die muss ich noch am Montag vor der Abfahrt an der richtigen Stelle abgeben.

Heute ist der erste Tag der Reise, an dem ich kein Geld ausgegeben habe. Keinen Dollar, keinen Dime, keinen Nickel.

20. Juli (Samstag)

Als ich vor einem Monat hier zum ersten Mal gelaufen bin, war es um fünf Uhr hell. Heute ist es um fünf Uhr stockdunkel, und ich muss meinen Turnus abwarten. Als es dann hell ist, geht es, statt zum Fluss runter, zum Rose Garden rauf. In der Park Avenue wird schon für den Bauernmarkt aufgebaut, aber nachdem ich abbiege, herrscht überall absolute Stille. Erst auf dem Rückweg kommen mir Radfahrer entgegen, für die der Aufstieg genauso hart sein muss wie für Läufer.

Durch den Rose Garden geht es weiter rauf zum Hoyt Arboretum. Immer wieder hört man einen Specht am Werk, so laut und deutlich, wie ich es noch nie gehört habe.

Das Hoyt Arboretum ist ein großes Areal mit über 1000 Baumarten, davon einigen, die nur noch hier überleben. Raufzufinden ist einfach, reinzufinden schon schwieriger, rauszufinden fast unmöglich, und als ich es dann doch geschafft habe, bin ich völlig verloren. Ich komme am Zoo vorbei, am Children’s Museum, am Forestry Discovery Center, an einem Denkmal für die in Vietnam gefallenen Soldaten und immer wieder über einen großen Parkplatz.

Unterwegs erinnere ich mich an eine einschlägige Sprachlernerfahrung, die ich dieser Tage bei Starbucks gemacht habe. Ich hatte meinen kleinen Kaffee bestellt und schon die Frage vorweggenommen, ob Platz für Milch gelassen werden sollte. Dennoch kam eine Gegenfrage. Die ich aber nicht verstand. Ich verstand nur, dass es eine Alternative war, denn or war das einzige Wort, das ich verstanden hatte. Auch die Wiederholung brachte nichts. Der erste Teil der Frage klang wie Adams, und ich versuchte krampfhaft, dem irgendeinen Sinn abzugewinnen. Vergebens. Dann zeigte das Mädchen einen Becher – kleiner als der, den ich normalerweise bekomme – und wiederholte die Frage. Jetzt fiel der Groschen: eight ounce. Die Alternative war vermutlich twelve ounce oder so etwas. Warum habe ich das nicht verstanden? Erstens, weil ich die Frage nicht erwartete. Ich hatte inzwischen genug Starbucks Erfahrung, um zu wissen, welche Fragen gestellt werden, und bisher hatte ich immer die größere der beiden Varianten bekommen, ohne Nachfrage, wenn ich einen kleinen Kaffee bestellt hatte. Zweitens rechnete ich nicht mit dem Maß ounces im Zusammenhang mit Getränken. Drittens konnte ich phonetisch die Trennlinie zwischen eight und ounce nicht ausmachen. Das erste endet auf einen Konsonanten, das zweite beginnt mit einem Vokal, also werden die beiden verbunden. Mein Adams beinhaltet sowohl eight als auch ounce. Viertens könnte auch der Gebrauch des Singular eine Rolle spielen, der hier zwar idiomatisch richtig, aber vermutlich schwerer zu verstehen ist als der Plural. Und schließlich, fünftens, ist es die amerikanische Realisierung des /t/ als flap, die das Verstehen erschwerte. Eine wunderbare Erfahrung, für die alleine ich nach Portland gefahren wäre. Und ein schlagendes Argument gegen den Anspruch von Situational Language Teaching, man könne den Lerner auf kommunikative Situationen im Ausland vorbereiten. Hier haben Jahrzehnte Englisch in Schule und Universität nicht den Effekt gehabt, eine ganz banale Alltagssituation zu bewältigen.

So in Gedanken verloren, finde ich dann doch irgendwann eher zufällig den Weg zurück.

Für das Wochenende stehen nur unliebsame Arbeiten an: Listen und Anerkennungen für Trier, Korrekturen und Bewertungen für Portland. Ich fange mit Portland an und dem, was ich in den letzten beiden Tagen, auf den letzten Drücker – nicht anders als zu Hause – von den Studenten bekommen habe. Einer der Studenten schreit einen packenden Bericht über seinen Einsatz als Leutnant in Afghanistan und den Versuch, sich mit der Bevölkerung zu verständigen. Er musste mit seinen Leuten eine Tankstelle sichern und Autos, die sich näherten, anhalten lassen. Und alle wussten, dass kurz zuvor ein Fahrer mit zwei Kindern an Bord an einer Patrouille gehalten hatte und sich mitsamt den Soldaten und den Kindern in die Luft gesprengt hatte!

Als ich zwischendurch schnell auf den Farmers‘ Market gehe, um ein paar Mitbringsel für die Gastgeber zu kaufen, werde ich am Honigstand gefragt, woher ich komme, und als ich Deutschland sage, ist man überrascht. Man hätte auf England getippt. Es stellt sich heraus, dass der Besitzer fünf Jahre lang auf der American Air Base in Hahn gearbeitet hat und Trier kennt. Auch seine Frau, die ihn dort mehrmals besucht hat, habe er immer wieder nach Trier geführt.

Bei der Suche nach geeigneten Mitbringseln sehe ich auf dem Markt auch einen Stand, der einfach Meat Here heißt.

In dem Buch mit Texten über Amerika lese ich, dass 65% der Amerikaner glauben, Erfolg im Leben liege in der Hand des Einzelnen, doppelt so viele wie in Italien oder Deutschland, dreimal so viele wie in der Türkei oder Indien. 81% der amerkianischen College-Studenten glauben, sie werden reicher als ihre Eltern sein, und 59% glauben, dass sie zu Millionären werden. Es gibt nicht genug soziale Mobilität wie der Mythos es nahelegt, aber gerade genug, damit er weiterbestehen kann. Der Kulturhistoriker Jackson Lears führt das zurück auf die zwei Archetypen der amerikanischen Geschichte, den Glücksritter (the gambler) und den Selfmademan. Der eine glaubt, das Glücksrad werde sich im nächsten Moment drehen, der andere glaubt, harte Arbeit werde sich auszahlen. In der Ausdehnung nach Westen haben beide Typen Form angenommen.

Am Abend dann die Einladung bei dem Ehepaar von der PSU, das auch an dem Austausch beteiligt ist. Sie ist Anthropologin, er ist Literaturwissenschaftler, sie US-Amerikanerin, er Kanadier. Sie sind sehr international. Er hat in Brasilien und in Kuba geforscht, sie hat in Kolumbien promoviert, in Bogotá. Sie haben eine kleine, sehr freundliche Tochter, und leben in einem modernen, mit schlichter Eleganz eingerichteten Haus in Mooreland, einem Vorort von Portland. Sie sind gerade alle drei in Trier gewesen, wo er ein Blockseminar gegeben hat, und sind dann anschließend noch in England gewesen. Er ist angetan von dem Niveau unserer Studenten. Der ganze Abend ist sehr erfreulich, gutes Essen, guter Wein, lockere und ernste Gespräche über Gott und die Welt. Amerikanische regionale Akzente werden nachgemacht, Anekdoten über Missverständnisse werden erzählt, Weinkultur und Präsidentenwahlen und Universitätsstrukturen werden diskutiert.

 

21. Juli (Sonntag)

In dem Buch über Amerika lese ich, dass man bis heute nicht so recht weiß, wie es zu dem Krieg zwischen den USA und Großbritannien kam und dass der Friedensvertrag von Ghent (1815) schon geschlossen war, als die letzte Schlacht geschlagen wurde, in New Orleans.

Zwischen Korrekturen am Vormittag und Korrekturen am Nachmittag gehe ich noch einmal zu Powell’s City of Books. Gute Gelegenheit heute, wo für größere Unternehmungen keine Zeit ist. Am Ende komme ich mit 6 Bänden raus, ein Buch (neu) über Geschichtenerzählen und lauter Triviales (gebraucht) über kuriose Wörter, dumme Zitate, Alltagsfragen und tragische und merkwürdige Todesarten.

Vor dem Eingang von Powell’s sind Fahrradständer. Sie sind gekennzeichnet mit Buchtiteln, die was mit dem Radfahren zu tun haben: Metal Cowboy, Round Ireland in Low Gear, Three Men on Wheels, It’s not About the Bike (Lance Armstrong!).

Auf dem Weg dahin mache ich ein Photo von einer modernen Skulptur, die an der Wand eines Amtsgebäudes angebracht ist. Sie stellt, mit mehreren längs angeordneten Aluminiumplatten, eine modern Kommunikationsform dar, Internet oder Telefon, und fängt links mit einer Sprechblase an und endet rechts mit einer Gedankenblase. Dazwischen befinden sich die Innenteile technischer Geräte, aber auch ein Haus, eine Kerze, ein Satellit.

Auf dem Pioneer Square gibt es Sand in the City (mit leichtem Anklang an Sex in the City), einer Veranstaltung mit Jazzmusik und Essensständen und  Figuren aus Sand in der Mitte des Platzes. Ein Gefühl von Meer kommt aber nicht auf.

Auf dem Rückweg komme ich an Pita Pit vorbei, einer Imbissbude, die mit Fresh Thinking, Healthy Eating wirbt. Darunter tut man es in Portland nicht. Da geht ein Food Cart gegenüber ganz anders zur Sache und bietet unverholen Euro Trash an!

Am Abend fäät mir zum ersten Mal auf, dass auf den Computern der Uni steht: Welcome to the Portland State University. Merkwürdiger Artikel.

22. Juli (Montag)

Am Morgen der vorläufig letzte Schritt mit der Social Security Card. Nach Ausfüllung des Antrags, Einreichen des Antrags, Überbringung der Antragsbestätigung an Human Resources und Abholung der Karte beim Auslandsamt jetzt Überbringung der Karte an Human Resources.

Dann wieder so eine der amerikanischen Widersprüche. In der US Bank löse ich den Scheck ein, mit dem die Hälfte unseres Flugs finanziert wird. Alles sehr modern, und neben dem Ausweis wird ein Daumenabdruck benötigt. Das Geld aber wird in einer uralten Holzschublade aufbewahrt, in Bündeln, die mit Clips zusammengehalten werden. Wieder eine Verbindung zur Heimat: Die Schwester der Kassierin studiert in Bonn!

Auf dem Rückweg sehe ich ein Schild, mit dem Porklandia für seine Produkte wirbt: We be Wieners.

Bei dem Autoverleih wird kein Versuch gemacht, mir irgendetwas zu erklären oder mich gar bis zum Auto zu begleiten. Also plage ich mich den ganze Tag mit Fragen herum: Wie geht der Kofferraum auf? Wo ist der Schlitz für den Anlasser? Wie geht das Licht aus? Und wer hat das überhaupt angemacht? Warum wird der Sitz so heiß? Wo stellt man das Radio an? Warum geht die Alarmanlage an, wenn ich den Wagen abschließe? Das Armaturenbrett sieht aus wie das eines mittleren Raumschiffs, mit Schaltern, Knöpfen, Hebeln und verschiedenen Menus.

Die vorsichtige Fahrweise der Amerikaner hilft mir, nicht völlig den Kopf zu verlieren. Ich muss ja schließlich auch noch den Weg finden. Und das klappt natürlich erst mal nicht. Ich gelange, bei dem Versuch, die 30 zu finden, nach Beaverton und kehre von da wieder zurück. Nach einer halben Stunde bin ich wieder in Portland. Dann gelange ich ein langes Industrieviertel, ohne jedes Hinweisschild. Und da geht die Straße irgendwann einfach zuende.

Dann geht es wieder zurück, und ich versuche, auf die parallel laufende Straße zu kommen, und dann kommt auf einmal das glückverheißende Schild Astoria. Ich bin auf der 30. Und dann merke ich auf einmal, dass ich hier schon einmal war: links geht es nach Germantown und rechts nach Sauvie Island. Dahin ging es am 4. Juli mit dem Bus.

Die Strecke zieht sich hin, obwohl es noch nicht eimal hundert Meilen sind. Die Gegend ist eher normal. Auffällig sind nur wieder die ganz dichten Wälder.

Dann kommt Astoria, gegründet 1811, die älteste Stadt westlich der Rocky Mountains, ein Attribut, das hier ständig ausgeschlachtet wird.

 

Ich parke irgendwo auf dem Marine Drive, der parallel zum Wasser veraufenden Hauptstraße. Sieht ganz vorzeigbar aus, ohne dass man unbedingt ins Schwärmen gerät.

Es ist warm, aber sehr wolkig. Ich gehe einfach auf ein Hotel zu, dass man vom Marine Drive aus sieht: The Elliott Hotel. Sieht von Außen fast zu vornehm aus, aber das relativiert sich schnell, wenn man reinkommt. Ausgebucht. Aber man gibt mir eine Karte mit und die Information, wo ich die Touristeninformation finden kann. Bevor ich da ankomme, sehe ich zufällig ein anderes Hotel, das Columbia heißt, wie alles hier. Sieht ein bisschen wie das Motel in Psycho aus, und scheint auch ebenso verlassen. Die kleine, dicke Frau, die dann kommt, sieht aber nicht aus wie Antony Perkins. Es gibt aber freie Zimmer, allerdings nur smoking. Soll mir recht sein. Der Preis ist passabel und das Zimmer auch, und es gibt Parkplätze direkt vor dem Zimmer. Der Duschvorhang passt dann wieder zu Psycho. Und in der Nacht habe ich wilde Träume von Giftmischerei. Als ich am Abend ins Hotel zurückkomme, ist der Parkplatz voll besetzt.

Ich fahre durch ein paar Wohngebiete zur Astoria Column, dem Wahrzeichen Astorias. Die liegt nicht hier unten an der Waterfront, sondern erhöht auf einem Hügel, und man sieht sie von hier unten. Auf dem Weg dahin komme ich an dem Stadion vorbei. Hier spielen die Fighting Fishermen.

Die Astoria Column wurde von einem Enkel Astors gestiftet und stellt die Geschichte Astorias bis zur Ankunft der Eisenbahn dar. Sie soll der Trajanssäule in Rom nachempfunden sein, sieht aber aufgrund ihrer Farbigkeit nicht so aus. Die Farben sind erdig-dunkel, und kommen nur durch den Einsatz verschiedener Verputze zustande. Wie an der Trajanssäule zieht sich ein Spruchband wie eine Wendeltreppe die Säule entlang nach oben.

Man kann nach oben steigen und hat hier einen noch großartigeren Ausblick als von unten. Der breite Fluss, das offene Meer, auf der anderen Seite von Inseln markierte Bucht und die Brücke, die das Ufer mit dem anderen Flussufer und damit mit Washington verbindet. Die Wolken machen die Aussicht sogar noch schöner.

Zu einer Seite hin liegt in der Ferne der Saddle Mountain, Gegenstand eines indianischen Schöpfungsmythos. Hier hat der Thunderbird auf der Spitze Eier abgelegt. Die wurden dann von einer Riesin aus dem Nest gestoßen und fielen auf die Erde und gingen zu Bruch. Und heraus kamen die ersten Indianer! Man vermutet, dass der Thunderbird sein Vorbild in dem Condor hat, der in dieser Gegend zu Hause ist.

Der ganz besondere Clou ist die Brücke, eine meilenlange Brücke, die dieses Flussufer mit dem anderen, dem von Washington, verbindet. Sie scheint aus zwei ganz unterschiedlichen Teilen zu bestehen. An unserer Seite die eigentliche Brücke, mit zwei geschwungenen Geländern, auf hohen Pfeilern stehend, und deren Verlängerung zum anderen Flussufer hin, die wie ein Steg aussieht und immer näher aufs Wasser hinabführt, so dass man von hier aus den Eindruck hat, die Brücke liege direkt auf der Wasseroberfläche.

Die Brücke wurde, wie immer bei solchen Projekten, gegen heftigsten Widerstand gebaut (The bridge that leads to nowhere). Sie wurde dann 1962 in Angriff genommen und 1966 fertig gestellt. Nach dem Verkehr zu urteilen, der heute hier herrscht, wollen viele nach Nowhere.

Es gibt ein Souvenirgeschäft, dessen Verkaufsschlager kleine Sperrholzflugzeuge sind, die man von oben fliegen lassen kann. An der Außentür des Souvenirgeschäfts werden ein paar Mythen richtiggestellt, darunter die, dass Jakob Astor auf der Titanic ums Leben kam. Genau das ist mir dieser Tage beim Abendessen noch erzählt worden. Er war übrigens auch nie in Astoria.

Johann Jakob Astor, in Deutschland geboren, wurde durch den Pelzhandel in Amerika reich. Er schaffte es, fast den gesamten Pelzhandel an sich zu ziehen und gründete einen Vorposten am Pazifik, das Fort Astoria. Noch reicher wurde er aber durch Grundstückspekulationen in Manhattan. Als er 1848 starb, war er der reichste Mann Amerikas. Die Astors wurden zu einer einflussreichen Familie. Ein Spross der Familie gründete ein Hotel, das er nach dem Stammvater benannte: Astor. Ein anderer gründete ein Hotel, das er nach dessen Geburtsort benannte: Waldord. So entstand das Waldorf Astoria.

Was es hier oben nicht gibt, ist ein Café. Warum um Himmels willen nicht? Sonst gibt es doch alles in diesem Land. Und es ist eine Geschäftsidee. Das lassen sich die Amerikaner doch sonst nicht zweimal sagen. In jedem europäischen Land würde man sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen.

Dafür gibt es aber Schautafeln, die auf die Expedition Bezug nehmen, die Lewis und Clark mit 40 Soldaten unternahmen. Sie entdeckten damit den Landweg zum Pazifik, und dies war 1805 die lang ersehnte Endstation ihres Abenteuers. Für die letzten 16 Meilen brauchten sie alleine, wegen des schlechten Wetters, 10 Tage. Lewis war 1803 in Washington aufgebrochen und war in Kentucky mit Clark zusammengetroffen. 1804 waren sie gemeinsam von ihrem Winterquartier in der Nähe von St. Louis aufgebrochen. Ocean in view! O! The joy! ist eine viel zitierte Passage aus ihrem Tagebuch.

Dann geht es wieder in die Stadt runter. Ich entscheide mich gegen Museen und für die Waterfront. Dies ist noch der Fluss, noch nicht das Meer, aber es riecht schon nach Meer.

Man kann von der Innenstadt aus ein paar Meilen stadtauswärts gehen, parallel, aber getrennt von der Straße, zum Teil auf Bohlen, die die alte Stadt nachahmen. Die brannte 1887 völlig ab. Sie war praktisch auf dem Wasser gebaut, auf Pfählen. Auf alten Bildern sieht man Kirchen, Kneipen und sogar die Straßenbahn, alle auf diesen Holzplanken errichtet. Man konnte, während man auf die Straßenbahn wartete, zwischen den Bohlen angeln.

Nach einem weiteren Brand zwanzig Jahre später errichtete man dann die heutige Innenstadt, auf Land, das dem Wasser abgerungen war, denn das ging ursprünlich bis an die Hügel. Die Häuser auf den Hügeln, in skandinavischem Stil errichtet, sind deshalb älter. Sie wurden vom Brand verschont. Die Innenstadt hat dagegen das Aussehen einer amerikanischen Stadt der Zwanziger Jahre.

An der Waterfront wird auf Schautafeln etwas vom alten Astoria erzählt, von Salmon Derby, einen populären Angelfesttag, bei dem Lachse von bis zu 60 Pfund gefangen wurden, von der Konservenfabrik, die als die größte der Welt galt, und von den vielen, vielen Schiffen, die bei der Einfahrt in den Columbia untergingen. Die Stelle gilt als Schiffswrack und als eine der gefährlichsten der Welt. Stürme, Nebel und Sandbänke, die sich durch das Aufeinandertreffen der beiden Wassermassen immer wieder verschieben, machen die Stelle besonders gefährlich.

Man sieht auch die Stelle bezeichnet, an der früher die Fähren abfuhren. Ein Steg führt etwas weiter aufs Wasser raus. Er ist zweigeteilt, links Private Drive (?), rechts steht Public Viewing. Dabei erzählen uns die besserwisserische Amerikaner immer, das wäre eine Leichenschau.

Etwas weiter sehe ich an einer Schaufensterscheibe diese merkwürdige Inschrift: Come try what we’ve been smoking. Es handelt sich um ein Fischlokal.

Am Ende des Weges, auf der Höhe der Brücke, gibt es ein Denkmal für die an dieser Stelle ums Leben Gekommenen, auch in letzter Zeit noch. Auf mehreren schwarzen Marmorwänden werden die Toten namentlich genannt, oft mit dem Zusatz ihres Berufs: Skipper, Cannery Worker, Shipwright, Carpenter. Manchmal erscheint statt des Berufs ein Attribut, das hier unheimlich wirkt: Served Proudly, Master of the Chance, Loved to Hike Along the River. Bei einem steht Jesus, Savior, Pilot me und bei einem anderen They Called him Do-Do.

Mit einem alten Straßenbahnwagen kann man von hier in die Innenstadt zurückfahren. Ich gehe ein bisschen durch die Straßen und sehe ein Bekleidungsgeschäft namens Klearance Kloset, eine Schreibweise, an der Webster seine Freude gehabt hätte. Gegenüber ist Mixed Marriage, ein Restaurant. An der leeren Schaufensterscheibe steht For Rent.

Ich lande in einem italienischen Restaurant. Das sieht aus wie eine Wartehalle, die man durch Dekoration einen gewissen Charme geben wollte, nur bedingt erfolgreich. Schwarz gekleidete Frauen mit nackten, tätowierten Oberarmen eilen die Halle rauf und runter und fragen einen ständig, ob man zufrieden sei, eine professionelle Freundlichkeit, die einem im Laufe der Zeit auf die Nerven gehen kann. Es gibt Brot mit Olivenöl, Salat und hervorragende Rigatoni mit einer Kräuter-und-Senf-Soße. Eine willkommene Abwechslung nach all dem Reis der letzten Wochen.

Sogar in meinem Touristenoutfit bin ich hier der best gekleidete Gast, gefolgt von einem rüstigen Männertrio, alle mit gepflegten Bärten und gepflegten Bäuchen, die Jeans und Polohemden tragen. Ansonsten Kapuzenpullover, bollige Hosen, klobige Schuhe, Baseballkappen. Der Chef des Hauses selbst, der einen Gast berät, erscheint in gemusterten, weiten Hosen, die man für Schlafanzugshosen halten könnte.

Als ich ins Hotel komme, merke ich, dass ich mir einen ordentlichen Sonnenbrand eingefangen habe.

23. Juli (Dienstag)

Im Columbia River Maritime Museum, einem modernen, einstöckigen Glasbau gleich an der Waterfront, geht es auch gleich mit den Unglücksfällen los, die sich hier an der Mündung des Columbia im Laufe der Jahrhunderte ereignet haben. Insgesamt 2000 Schiffe sind hier untergegangen, darunter Schiffe, von denen keine Spur übriggeblieben ist, wie der Schoner Americana 1918. Für eine Landratte ist das kaum vorstellbar. Von dem Fischerboot Electra, das 1944 unterging, war ein Jahr später immer noch ein Mast zu sehen, der aus dem Wasser herausragte. Das bekannteste Schiff, das hier unterging, ist die Peter Iredale, eins der größten und feinsten Schiffe seiner Zeit, deren Wrack immer noch im Fort Stevens zu sehen ist.

Im Museum sieht man auch das keel timber eines gesunkenen Schiffs, einen Felsbrocken, der an der Waterfront stand und auf dem Seeleute ihr Unglück festgehalten haben (1848) und ein dekoratives Offiziersschwert, das 131 Jahre lang im Wasser lag, bis es von einem Anwohner im Fluss entdeckt wurde! Seine Spitze ragte aus dem Wasser!

Im Museum wird auch noch mal an verschiedenen Stellen erklärt, warum die Passage so schwer ist. Man sieht eindrucksvolle Aufnahmen von Schiffen, die mit den Wellen kämpfen. Die können bis zu 40 Fuß hoch werden. Das zentrale Problem sind der Unrat und der silt, die der Fluss mit sich schleppt und die hier auf die Wassermassens des Ozeans stoßen und nicht weiterkommen und daher die teuflisch gefährlichen Sandbänke bilden. Die gesamte Gefahrenzone misst 17 Meilen. Auf Englisch nennt man die bar, schon wieder eine neue Bedeutung dieses flexiblen Wortes.

Das Museum hat Schiffsmodelle zu Hauf, aber auch Schiffsgegenstände: einen Anker, ein Steuerrad, ein Rettungsboot, Netze, Glocken, Fässer, Lampen.

Ein Fass diente zur Reinigung. Das gepökelte Fleisch musste, um seinen Salzgehalt zu reduzieren und es essbar zu machen, in Wasser gebadet werden. Das geschah in diesem doppelbödigen Fass. Schon deshalb musste man große Mengen an Frischwasser mit sich schleppen.

Daneben hängt eine smoking lamp. Das war die Lampe, an der die Seeleute, bevor der Erfindung von Streichhölzern, ihre Pfeifen anzündeten. Rauchen war gestattet, aber streng reglementiert. Nur zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten. Die Sache war einfach zu gefährlich. Wie hält man das heute wohl auf Schiffen? Ich muss daran denken, wie militant hier die Kampagne gegen das Rauchen geführt wird. Wenn man im Mietauto raucht, muss man 250 $ bezahlen. In vielen Gebäuden ist das Rauchen nicht nur drinnen verboten sondern auch im Umkreis. Die genaue Entfernung, etwas 25 Yard, wird auf Schildern angegeben.

Auf ganz kuriose Weise wird die Seekrankheit behandelt. Why don’t I feel well? heißt es in verzerrten Lettern, bei deren Anblick einem schon ganz mulmig wird. Seekrankheit komme im Wesentlichen von der Erfahrung, Bewegung zu erleben, die man nicht sehen kann. Die einzig wirksame Methode, Seekrankheit zu bekämpfen sei es, kein Schiff zu besteigen. Medikamente bekämpften nur die Symptome wie Übelkeit. Kurioserweise hat ein fest um die wrist gewickeltes Band bei manchen Menschen Wirkung. Es gibt keine vernünftige medizinische Erklärung für diese Wirkung. Vielleicht ist es ein psychologischer Effekt, der die Konzentration auf etwas anderes lenkt. Neben der Erklärung stehen Ausdrücke in verschiedenen Sprachen, die das Brechen auf dem Schiff beschreiben, darunter Fische füttern.

Dann gibt es eine Abteilung zum Columbia. Der ist heute ein gezähmter Strom, den Lewis und Clark kaum wiedererkennen würden. Früher hatte der Stromschnellen, Überschwemmungen und Sandbänke und zwei praktisch unpassierbare Stellen, an denen man über den Landweg weiter musste, die Cascades und eine Flussenge mit Felsen zu beiden Seiten, die Celili Falls. Heute hat der Columbia alleine auf den letzten 800 Meilen 14 Dämme.

Heceta, Cook und Vancouver fuhren alle an der Mündung des Columbia vorbei. Dann findet John Meares den Fluss, schafft es aber nicht, reinzukommen und fährt enttäsucht weiter, überzeugt, dass es eine Bucht und kein Fluss ist: There is no river (1788). Von ihm stammen die Namen Deception Bay und ??? of Disappointment. Erst Robert Gray, der neun Tage auf gutes Wetter wartete, um hineinzukommen, identifizierte die Stelle als Flussmündung (1792). Er gab dem Fluss den Namen seines Schiffs: Columbia.

Lewis und Clark schafften es dann über den Landweg. Schon 60 Jahre nach ihnen waren 100 Dampfschiffe auf dem Columbia unterwegs. Sie brachten Dienstleistungen, Post, Ärzte, Verwandte, sogar die Teile der ersten Eisenbahn in den Westen.

Die wichtigste Energiequelle der Dampfschiffe war Holz. Man verbrauchte 40 cords pro Tag. Heute braucht man für ein komplettes Haus 20 cords.

In einer Vitrine sieht man Felle, mit den gehandelt wurde, erstaunlich groß, das dunklere eines Seeotters und das hellere eines Bibers. Der Pelzhandel wurde richtig attraktiv, nachdem Seeleute von Cooks dritter Expedition (begonnen 1776), die ihn u.a. nach Hawaii führte, erfahren hatten, dass es in China große Nachfrage nach Pelzen gab! Die cleveren Geschäftsleute kauften dafür chinesisches Porzellan, das sie hier teuer verkauften. Auch davon sind hier Beispiele ausgestellt. Ebenso von chinesischen Münzen mit einem quadratischen Loch in der Mitte, die bei den Indianern beliebt waren und als Zahlmittel eingesetzt wurden. Und eine blaue russische (faceted glass) Glaskette. Blau war die beliebteste Farbe bei den Indianern.

Davor ein Kanu der Indianer, aus einem einzigen Stamm Zedernholz gefertigt. Das Holz wurde durch kontrolliertes Anbrennen bearbeitet und mit Walöl.

Sehr schön zu sehen sind auch die frühen Karten. Sie sind nicht nur Dokumentation, sondern auch Schmuck. Zwischen den Erdteilen tümmerln sich auf dem Meer alle Arten von Ungeheuern. Meistens kann man eine Ähnlichkeit mit tatsächlich existierenden Tieren erkennen: Delphine, Tintenfische, Flusspferde. Die Vorstellungen kamen nicht aus dem Nichts.

Man sieht einen alten Taucheranzug (1944) mit einem schweren Helm mit Ventilen, Schrauben, Gittern, Fenstern. Sieht nicht sehr bequem aus.

Einige Wale haben balfen statt Zähne. Davon ist auch ein Exemplar ausgestellt. Es sieht wie eine ganz dünne Säge aus. Meterlang. Daraus wurden Angeln, Schirme und Korsettstangen gemacht!

Dann kann man Signale kennen lernen, die in der Schifffahrt gebraucht werden, um bestimmte Nachrichten zu übermitteln: Rot und Weiß vertikal bedeutet Lotse an Bord, Blau-Gelb in abwechselnden vertikalen Streifen bedeutet ‚Lotse gebraucht‘, Rot-Gelb diagonal bedeutet ‚Mann über Bord‘. Gut gemacht. Die Signale sind so verschieden, dass es kaum Verwechslungen geben kann.

Darunter kann man verschiedene Arten von Tauen befühlen und lernen, wie wichtig es ist, da keinen Fehler zu machen. Es war das erste, was Seeleute lernten und ist der Ursprung von learning the ropes!

Zum Museum gehört auch ein Schiff, die Columbia, die vor dem Museum vor Anker liegt. Hier habe ich mich durch die Sprache täuschen lassen. Das Schiff ist ein Lightship, und das hat nichts mit leicht, sondern mit Licht zu tun! Es ist ganz einfach ein mobiler Leuchtturm, von 1951 bis 1979 an der Mündung des Columbia im Einsatz. Seine Vorgänger waren schon seit 1892 hier im Einsatz. Es war der erste Leuchtturm an dieser Seite des Pazifik.

Der Leuchtturm hat neben dem Licht ein Nebelhorn, mit dem nachts auf die Gefahr aufmerksam gemacht wurde.

Das Leben an Bord muss eine Mischung aus Monotonie und Langeweile einerseits und Aufregung bei Stürmen andererseits gewesen sein. Wegen seienr Verankerung bewegt sich ein Leuchtschiff nicht hin und her, sondern auf und nieder, und Seekrankheit war hier auch bei erfahrenen Seeleuten an der Tagesordnung.

Man war gerade mal fünf Meilen von der Küste entfernt, und bildete doch ein eigenens Dorf. Im Winter konnte oft kein Nachschub kommen, und man hatte 12 Tonnen Nahrungsmittel und unvorstellbare 13000 Gallonen Frischwasser an Bord.

Die Crew bestand aus 17 Leuten, und man arbeitete zwei Wochen am Stück und hatte dann eine Woche frei.

Das Leuchtschiff war auch Gegenstand einer der glücklichen Errettungen an der Mündung des Columbia. Eines Tages löste es sich aus seiner Verankerung, trieb auf das Ufer zu und stieß am Morgen auf Land. Das Leuchtschiff blieb unversehrt und keiner erlitt Schaden.

Astoria hat viel zu bieten, aber jetzt soll es endgültig an die Küste gehen. Der Weg führt tatsächlich über die Brücke. Die ist allerdings beim Überfahren weniger spektakulär als in der Ansicht. Dafür entlohnt die fast mystische, in Nebelschwaden gehüllte Landschaft mit den Bergen im Hintergrund.

Ich komme auf den Highway 101, den Highway der Oregon Coast, aber von Küste ist erst mal nichts zu sehen. Unterwegs wird immer wieder an das Anlegen des Gurts erinnert: Click it or tick it. Es kostet 97 $ Strafe, es zu unterlassen.

Der nächste Ort ist aber wegen seines Namens schon vielversprechend: Seaside. Er hält, was er verspricht: Die Küste. Die rechteckig vom Highway abbigende Broadway führt geradewegs auf den Strand zu. Es tummeln sich unten viele Leute, aber im Wasser ist keiner.

Seaside ist ein richtiger Touristenort für die Familie, mit viel Karussels, Klamauk und Buden aller Art. Erinnert etwas an die Orte an der englischen Südküste, nur fehlen die Spielhöllen.

Am Ende des Broadway ist auf einem halbrunden Platz mit direktem Blick aufs Meer eine schöne Bronzestatue von Lewis und Clark zu sehen. Auf dem Sockel Szenen aus der Expedition, oben die beiden, dargestellt nach dem Prinzip Gleichheit in der Vielfalt. Der eine hat den Hut auf, der andere hält ihn in der Hand, der eine stützt sich auf das Gewehr, der andere trägt es auf dem Rücken, der eine steht, der andere setzt einen Fuss nach vorne, (nach monatelanger Expedition!), der eine ist glatt rasiert der andere hat einen gepflegten Backenbart, und beide schauen in unterschiedliche Richtungen. Einer hat Feder und Buch in der Hand und macht Notizen. Aber beide sind fest aneinandergeschweißt und tragen das gleiche Outfit, unter anderem Lederhosen mit Riemen und dreieckige Hüte. Auch haben beide scharf geschnittete Gesichter. Einer von beiden sieht aus wie Uli Stein.

Um das Denkmal herum stehen Bänke, aber es ist zu kalt, um lange sitzen zu bleiben. Vor den Bänken Gedenktafel für Tote. Erst glaube ich, dass es sich um Ertrunkene handelt, aber es sind vielleicht nur Tafeln, mit denen Angehörige an die gemeinsame verbrachte Zeit in Seaside erinnern.

Der Ort hat eine kleine Buchhandlung, aber ich finde nichts über Lewis und Clark, und die Cafés sehen nicht sehr einladend aus. Also mache ich mich wieder auf den Weg. Auf dem Broadway sehe ich noch Werbung für Shaved Icecream. Was das wohl ist?

Dann geht die Fahrt auf dem Highway 101 weiter nach Ecola Park. Man biegt in den Park ein und befindet sich von einem Moment auf den anderen in der allerschönsten Umgebung. Wilde Wälder mit großen Bäumen, in die die Sonnenstrahlen fallen. Der Weg windet sich langsam weiter und führt dann irgendwann wieder aus dem Wald heraus. Plötzlich steht man am View Point und ist überrascht, hier einen voll besetzten Parkplatz vorzufinden. Nicht umsonst. Die Aussicht ist atemberaubend. Es ist das Schönste, das ich auf der Reise bisher gesehen haben: Das Meer mit dunklen Felsbrocken, in der Ferne die Berge im Nebel, links ein Sandstrand, von einem grünen Abhang begrenzt, und die Sonne, die sich gerade rechtzeitig zeigt, um das Alles ins rechte Licht zu setzen. Die Leute schauen meist in andächtiger Stille aufs Meer.

Auch hier haben die Amerikaner aber für die rein praktischen Bedürfnisse vorgesorgt und ein adrettes, hölznernes Toilettenhäuschen installiert.

Zum Indian Beach kann man von hier aus mit dem Auto fahren oder zu Fuß gehen. Es sind gerade einmal anderthalb Meilen und ich entscheide mich für den Fußweg, kaum vermutend, worauf ich mich einlasse. Es ist ein Wurzelweg, der immer unregelmäßiger wird und auf dem man sich manchmal nur kraxelnd weiterbewegen kann, vor allem, wenn man mit Sandalen nicht gut ausgerüstet ist. Außerdem schleppe ich den ganzen Tag meinen Rucksack mit Computer mit mir herum. Es lohnt sich aber auf alle Fälle. Man hat fast ein bisschen Gefühl von Urwald. Man lässt den Wald hier so wachsen, wie er will. Überall liegen abgestorbene Äste und Stemme herum, die Bäume wachsen quer und schief und sich ganz unterschiedlich hoch. Besonders schön sind die abgestorbenen Teile, die von den neuen Pflanzen als Boden genutzt werden. Denen geht es gut. Das hat etwas Versöhnendnes.

Zwischendurch wird man immer wieder mit einem Blick auf das Meer überrascht. Wie vorher, aber von ganz oben. Es geht rauf und runter, aber runter erst ganz zum Ende, und dann mächtig, und plötzlich steht man am Indian Beach. Hier sieht man viele im Wasser, aber auf den zweiten Blick sieht man, dass es keine Schwimmer sind, sondern Surfer.

Ich gehe fast postwendend zurück, da es etwas spät geworden ist. Ganz in der Nähe des Ecola Park liegt Cannon Beach, ein fein herausgeputztes Örtchen mit grauen Holzhäuschen. Ferienwohnnung, Cafés, Hotels, Souvenirgeschäfte, eine Klasse besser als Seaside, aber auch etwas gediegen, mehr für ältere Herrschaften mit dem nötigen Kleingeld.

Hier ist überall von dem Leuchtturm die Rede, aber ich finde ihn nicht. Das liegt daran, dass ich ihn auf dem Felsen vermute, der hier das Photomotiv Nr. 1 ist. Dahin kommt man über den Strand. Eine knappe halbe Stunde lang geht man den breiten Strand entlang. Purer Sand, kein Steine, keine Hölzer, keine Tiere, nur hier und wieder eine kleine Muschel, die herausguckt. Aber der Sand ist fest gebacken, so sehr, dass er gar keine Fußabfrücke hinterlässt. Es fühlt sich an, als laufe man über Asphalt. Nur kurz halte ich die Füße ins Wasser. Wäre mir zu kalt zum Schwimmen.

Der Felsen, auf dem ich den Leuchtturm vermutete (oder auf dem er früher war), ist ganz und gar mit Moos bewachsen, eine riesiges Ding, das, umgeben von einem Ensemble kleinerer Felsen, am Strand steht, an drei Seiten vom Wasser umgeben. Ganze Heerscharen von Vögeln, Kormorane, Möwen und Puffins, sitzen auf ihm und fliegen um ihn herum. Sie haben sich ihr Terrain wiedererobert, heißt es, seitdem der Leuchtturm nicht mehr da oder nicht mehr in Betrieb ist.

Für mich geht es weiter auf dem Highway 101, der jetzt oft direkt an der Küste entlang führt und weitere schöne Ausblicke bietet. Man kommt durch einen kleinen, gepflegt, aber wie verlassen aussehenden Ort names Wheeler und dann durch Garibaldi. Die Straßen sind mit italienischen Flaggen geschmückt!

Ich komme nach Tillamook und lande dort im Red Apple Inn. Die Frau des Besitzers ist Koreanerin und hat eine Schwester, die in Hamburg lebt.

Jetzt geht es nur noch darum, etwas zu essen. Als ich um sieben Uhr endlich im Rodeo sitze, einem mexikanisch angehauchten Lokal, das sich selbst fünf Sterne verleiht, habe ich den ganzen Tag mit zwei Tassen Kaffee und einem Keks überstanden, eher unfreiwillig. Irgendwie schien es nie eine gute Gelegenheit zu geben.

Ein Feinschmeckerlokal ist das nicht gerade, aber das Bier, mexikansich mit Salz und Zitrone serviert, schmeckt gut, und satt wird man auch. Sobald man sich setzt, wird ein kleiner Eimer mit Erdnüssen serviert, die amn sich knachen kann. Der gnaze Boden ist voller Erdnussschalen. Der junge Mann, der mich bedient, spricht Englisch und Spanisch.

24. Juli (Mittwoch)

Am Morgen fahre ich Richtung Stadtmitte, zur Tillamook Cheese Factory. Ein Lastwagen kommt mir entgegen und ein PKW auf gleicher Höhe auf meiner Spur. Will der jetzt noch überholen? Dann fällt mir plötzlich auf, dass ich in einer Einbahnstraße bin. Es kommt gerade rechtzeitig eine Kreuzung, an der ich abbiegen kann.

Vor der Cheese Factory steht ein Schiff, und ein Schiff ist auch in dem Logo der Fabrik vertreten. Der Zusammenhang erklärt sich nicht von selbst.

Aus hygienischen Gründen darf man nicht in die eigentliche Produktionshalle, aber man kann von oben hineinsehen. Es ist wirklich wie eine Fabrik. Hier könnten genauso gut Würste oder Bauklötze hergestellt werden. Alles Fließbandarbeit. Milch sieht man überhaupt nicht, die lagert in riesigen Kesseln links. In der anderen Halle ist mehr Betrieb. Hier kommt der Käse in paketgroßen Einheiten an, 40 Pfund jedes Stück! Die kommen auf eine Abzweigung und gehen abwechselnd in die eine oder die andere Richtung, um entweder geviertelt oder in kleinere Teile geteil zu werden. Auch die kleineren sind noch ganz schöne Kawenzmänner. Neben mir wird diskutiert, warum die Arbeiter dem einen oder anderen Stück einen ganz leichten Schubs geben und es so am Weiterlaufen verhindern. Diese Stücke landen in einer Schachtel am Rande des Fließbands. Keiner weiß eine Antwort. Später lese ich dann die Antwort: Das sind die untergewichtigen und die übergewichtigen Stücke.

Die Käsestücke verlassen fertig verpackt die Halle. Dafür sorgt eine Maschine im Zentrum, die wie ein Tintenfisch aussieht und ihre Füße (?) nach den Stücken ausstreckt.

 

Alle Arbeiter tragen eine Uniform und ein Haarnetz. Später sehe ich das Photo eines bärtigen Mannes, der außerdem ein Bartnetz trägt. Das ist Rabbi , der regelmäßig hierher kommt, um die koshere Produktion von Käse für die jüdische Gemeinde zu überwachen und eine Substanz (microbial rennet) hinzuzufügen. Die Tillamook Cheese Factory hält etwas darauf, die erste große Käserei zu sein, die koshere Käseproduktion ermöglicht.

An den Schautafeln erfährt man, dass zehn Pfund Milch für ein Pfund Käse benötigt werden und dass die Fabrik pro Woche eine Million Stücke produziert!

Unten gibt es dann Information zu der Milchproduktion. Für die sorgen die Bauern der Umgebung, viele als Familienbetrieb organisiert, insgesamt 120 Betriebe mit 28,000 Kühen. Die Betriebe haben zwischen 30 und 1,400 Kühe. Unterschiedliche Farmer bevorzugen unterschiedliche Rassen. Gut vertreten ist die Holsteiner Kuh. Die Flecken auf ihrer Haut sind wie ein Fingerabdruck. Jede hat ihr individuelles Muster. Kühe gibt es in Amerika seit 1611. Im Westen gab es die ersten Kühe 1838.

Eine ausgewachsene Kuh produziert hundert Glas Milch am Tag! Dazu brauchen sie hundert Pfund Futter am Tag: Heu, Getreide, Silage. Und fünfzig Gallonen Wasser! Die Hälfte des Einkommens der Bauern geht für das Futter drauf!

Dann kommt man auch noch der Sache mit dem Schiff auf die Schliche. Ganz einleuchtend. Es ist das Schiff, das von der Käserei selbst gebaut wurde, 1855, um die eigenen Produkte in Portland und Astoria verkaufen zu können! Teil der Strategie der Markterweiterung.

Dann stellt man sich in eine Schlange und bekommt Käsestückchen zu probieren. Zuerst ein etwas salziges, weißliches curd, dann ein kräftig schmeckendes Stück reifen Käse und dann den Habanero, mit scharfem Gewürz versetzt. Es scheint also doch verschiedene Sorten zu geben. Oben war immer nur von Cheddar die Rede. Vielleicht werden unterschiedliche Sorten zu unterschiedlichen Tageszeiten produziert. Wovon hier überhaupt nicht die Rede ist, ist die Reifezeit. Scheint vereinheitlicht zu sein.

In einer viel längeren Schlange stellt man sich für Eis an, eine andere Spezialität der Tillamook Cheese Factory. Hier wird allerdings kassiert, aber es lohnt sich: 2,35 $ zahle ich für die kleinste Waffel, aber es ist das beste Eis, das ich je gegessen habe. Wenn man mal von der Kindheit absieht, in der jedes Eis die reinste Glorie war. Aber geschmacklich ist dies praktisch nicht zu übertreffen. Danach dürfte man eigentlich nie mehr Eis essen.

Dann geht es von der 101 ab auf eine kleine Küstenstraße. Zuerst erreiche ich Netarts. Es ist eine kleine Bucht in einer Gegend, die für clamming, Muschelsuche, bekannt ist. Überall sieht man Tafeln mit Vorschriften. Auf der Weiterfahrt sehe ich dann Menschen am Strand und in kleinen Booten auf der Muschelsuche. Der Strand ist hier etwas grünlich, und das Wasser hat sich gerade zurückgezogen. Am Rande wächst Seegras.

Als ich an der Bucht gerade in eine Information vertieft bin, meine ich einen Autoalarm zu hören, aber es ist – falscher Alarm. Ich sehe aber einen Mann mit Photoapparat vor meinem Auto stehen. Ich laufe hin und erkläre die Sache. Es geht einfach um Parkgebühr. Ganz freundlich und ohne Verägerung erklärt er mir, wie es geht. Man nimmt einen der bereitgestellten Umschläge, tut seine drei Dollar rein und wirft ihn in einen dafür bereitgesellten Kasten. Er hat sogar schon so einen Umschlag hinter meinen Scheibenwischer geklemmt.

Auf dem Weg zurück zu den Informationstafeln werde ich von einem kleinen, alten Mann angesprochen. Der hat zwei Jahre in Deutschland gedient, in der Nähe von Frankfurt. Lang ist’s her. Der Name der Stadt, Baumholder, sei in keiner Karte verzeichnet gewesen. Das liege daran, dass das Hitlers Versteck gewesen sei. Ich bekenne meine Unwissenheit. Trier kennt er nicht, verständlicherweise, aber auch von Ramstein hat er noch nie etwas gehört.

Auf den Tafeln kann man etwas über die New Zealand Snail und über eine Pflanze erfahren, knotweed, Staudenknöterich, beide ungern gesehene Gäste. Der Staudenknöterich wurde aus Japan eingeführt, weil er dem Bambus ähnelt, ist aber eine invasive Pflanze, die überall wächst und schwer zu kontrollieren ist anderen Pflanzen die Lebensgrundlage nimmt. Und damit den Tieren auch wichtige Nahrung entzieht. Die Schnecke ist ein winziges Tierchen, das sich gerne in Kleidung festsetzt. Die Muschelsucher werden deshalb aufgefordert, mehrere Ausrüstungen zu haben. Warum das besser ist, ist schwer zu sagen. Die Schnecke lebt in trübem und klarem Wasser und in Salzwasser und Süßwasser und ernährt sich von Pflanzenresten, die die anderen Tiere nicht essen. Beste Voraussetzungen für die Vermehrung. Auf einem Square Yard soll es bis zu 500,000 von ihnen geben!

Dann geht es zu Cape Lookout, hoch gelegen, wieder mit tollem Blick aufs Meer. Hier ist es sehr einsam und ganz schön kalt. Am Meeresrand gibt es Warntafeln für Tsunami. Im Laufe der Tage sehe ich immer mehr davon. Die ganze Küste von Washington und Oregon, in diesem Zusammenhang Cascades genannt, ist gefährdet, als Folge der vulkanischen Aktivitäten.

Dann kommen Kreuzungen, an denen es nicht klar ist, wo es weiter geht, und irgendwie gelange ich wieder auf die 101. Sie führt durch eine ziemlich abgelegene Gegend. Auf einmal geht es nicht mehr weiter. Ein Transporter vor mir steht mitten auf der Straße, scheinbar mit Motorschaden. Aber tatsächlich steht er am Ende eines Staus, hier, in dieser gottverlassenen Gegend. Es tut sich nichts, aber auch gar nichts. Auch aus der entgegengesetzten Richtung kommt nichts. Es ist unheimlich ruhig. Einige der Autos hinter mir geben es auf und wenden. Ich bin lange unentschieden und hole dann ein Buch aus dem Rucksack. Das tut Wirkung, sofort kommt Bewegung in die Sache. Aber wir kommen nur ein Stück weiter, dann ist wieder Stillstand. Dann tut sich endlich etwas in der entgegengesetzten Richtung, und der Strom der Autos will gar nicht mehr abreißen. Muss wohl eine Baustelle sein. Die Kolonne wird angeführt von einem Wagen mit Blaulicht. Aus Langeweile beginne ich die Autos zu zählen und auf die Marken zu achten. Am besten sind Chevrolets und Toyota vertreten, dann Hyundai und Kia. Deutsche Autos gibt es nur ganz selten, und französische und italienische überhaupt nicht. Vielleicht haben die Europäer an der Ostküste bessere Möglichkeiten. Dann nimmt der Wagen mit Blaulicht uns ins Schlepptau und begleitet uns an einer kilometerlangen Baustelle vorbei.

Dann kommt wieder eine belebtere Gegend mit den typisch amerikanischen Abfolge von Motels, Supermärkten, Restaurants, alle mit hohen, am Straßenrand stehenden Leuchtschildern gekennzeichnet, wie bei uns die Tankstellen. Hier heißt alles 101: Deli 101, Roadhouse 101, Mall 101.

Es geht durch Lincoln City, einer größeren Stadt, in der alles im Zeichen der Wale steht. Und die mich außerdem um ein weiteres Shop Sign bereichert, das ich im Vorbeifahren photographiere: Fuddy Duddy Fudge.

Die Wolken werden immer dicker, die Menschen laufen mit Windjacken und Kapuzen durch die Gegend. Und es wird fast dunkel.

Die Straße führt immer weiter nach oben, und dann kommt man zu Cape Foulweather. Das wird seinem Namen ganz und gar gerecht. Und das an einem schönen Sommertag. Den Namen hat das Kap von Cook, aus dessen Tagebuch hier zitiert wird und der das Kap entdeckte (1778). Es ist die erste Benennung eines Kaps am Pazifik. Die Winde sind hier besonders stürmisch und können 100 Meilen pro Stunde haben. Man steht auf einem festen Felsen aus Basaltstein, der das Meer über all die Jahrtausende ausgehalten hat und blickt auf eine dramatische, unregelmäßige Küstenlinien hinunter, mit sedimentary rock, den das Wasser im Laufe der Zeit angenagt hat. Die braune, tönige Innere des Felsens kommt zum Vorschein.

Lange hält man es hier wegen des stürmischen Winds aber nicht aus. Im Auto ist es schön warm, da es mir in all den Tagen noch nicht gelungen ist, die Sitzheizung auszuschalten.

Trotz der schönen Natur ist die Fahrt doch etwas einsam, und das Radioprogramm hilft auch nicht viel, obwohl ich einen guten Sender finde, Fresh Air. Aber der kommt und geht und wenn er kommt, ist die Qualität auch nicht gut. In den letzten drei Tagen habe ich Brocken, alle interessant, von Interviews mit einem Mithäftling von Nelson Mandela, mit einem amerikanischen Schriftstellter, David Gilbert, Autor von & Sons und mit einem britischen Historiker, Keith Low, der über das Europa der Nachkriegszeit geschrieben hat: Savage Continent. Sonst gibt es nur Werbung, meistens schrill, und Musik, von der ich aber gar nichts kenne, mit einer Ausnahme. Und bei der Ausnahme handelt es sich dann ausgerechnet um die Stones: Satisfaction. Das versöhnt.

So komme ich nach Newport und fahre gleich zu seiner Sehenswürdigkeit Nummer Eins, dem Aquarium. Der Weg führt einen zufällig gleich über die Sehenswürdigkeit Nummer Zwei, die Yaquina Bridge, einer Brücke, die aus der Ferne nicht ganz mit der von Astoria mithalten kann, aber schöner zu überfahren ist. Gleich dahinter liegt das Aquarium.

Das Aquarium ist viel mehr als ein Aquarium. Und so lande ich auch als erstes an einer Voliere mit Geiern, turkey vultures. Zwei von ihnen, schwarz gefiedert, sitzen reglos auf einer Stange im Hintergrund. Aber man erfährt etwas von ihrer Lebensweise. Wenn sie sich durch die Luft gleiten lassen, dient das auch der Reinigung: Die ultravioletten Strahlen töten Bakterien ab, die sich beim letzten Fraß in das Gefieder gesetzt haben. Aus ähnlichen Gründen befeuchten sie ihre Füße und Beine mit dem eigenen Urin. Und auch die Abwehrtaktik gegen Feinde ist nicht gerade fein, aber wirksam: Sie würgen heruntergeschlungene Nahrung wieder aus und schlagen ihre Feinde durch den Gestank in die Flucht!

Das eigentliche Aquarium führt in drei röhrenähnlichen Gängen durch drei Landschaften: das offene Meer, die Halibut Flats, das Reef. Im offenen Meer sind die Fische meist silbrig oder gräulich: Thunfisch, Mackarelen, Lachse, Haie und der platte Bat Ray. Sie ernähren sich vor allem durch Plankton und fressen sich erstaunlicherweise nicht gegenseitig, jedenfalls hier nicht.

In den Halibut Flats wird der sandige Meeresboden durch die Bewegung des Meers aufgewühlt. Hier sieht man sehr realistisch aussehnde Teile untergegangener Schiffe. Es gibt wenige Pflanzen.

Im Reef sind die Fische bunter. Hier ist das Wasser ruhig. Die Wellenbewegung kommt nicht bis hierher runter. Man sieht Anemonen und rockfish.

Wieder draußen, sieht man ein Gehege mit Seelöwen. Einer reckt sich unbeweglich in der Sonne, mitten auf einem kleinen Felsen. Er sieht wie eine moderne Skulptur aus. In der Wildnis fressen die Seelöwen auch Krustentiere. Hier sind sie auf Diät gesetzt und bekommen nur Fisch und squid.

Nebenan sind die Seeotter, bewegliche Tiere, die aber, wenn sie sich nicht bewegen, wie ein Holzstamm aussehen. Die Wärterin erzählt mir, dass alle drei Männchen seien. Mit Weibchen würde es wohl zu viel Aufregung geben. Der ältere kümmert sich um die beiden jüngeren, nachdem ein noch älterer, der sich eigentlich dieser Aufgabe verschrieben hatte, gestorben ist.

Dann gibt es noch ein Haus mit vielen kleinen Aquarien und sogar einem Streichelzoo: Man kann die Anemonen (?) sanft an den Rändern berühren, aber vorsichtig! Nicht in der Mitte. Es sind fleischfressende Wesen, und sie verachten auch einen menschlichen Finger nicht.

In einem eigenen, zylinderförmigen Becken schwimmen weiße Quallen, moon jelly, die wie eine Kreuzung aus Hut und Schirm aussehen. Mit langsamen, eleganten Bewegungen klappen sie sich auf und zu.

Am Boden eines ganz dunklen Beckens sieht man zwei Exemplare der Japanese Spider Crab, der größten Krabbe der Welt. Sie hat eine Spanne von dreizehn Fuß und ernährt sich von toten Fischen. Bleibt auch gar nichts anderes übrig. Sonst gibt es hier nichts.

Bei Tageslicht gibt es dann noch ein richtiges Highlight, das gar nicht besonders aussieht: Alkenvögel. Sie sehen wirklich Pinguinen erstaunlich ähnlich, sind aber nicht mit ihnen verwandt! Sie kommen nur auf der Nordhalbkugel vor, Pinguine nur auf der Südhalbkugel. Sie füttern ihre Jungen mit ganzen Fischen, während Pinguine heruntergeschlungenes Futter raufwürgen. Die Alkenvögel nutzen ihre Flügel zum Schwimmen und zum Fliegen, Pinguine nur zum Schwimmen.  Alkenvögel sind durch Federn gegen die Kälte geschützt, Pinguine durch Federn und blubber. Bei all den Unterschieden ist die Gemeinsamkeiten aber viel offensichtlicher: Farbe, Größe, Gang, Kopfform, Schnabel. Als Laie könnte man sie ohne Weiteres für Pinguine halten, und sie tun mir auch noch den Gefallen, ganz nach Pinguinart dicht versammelt auf einem Felsen zu stehen.

Form follows function, heißt es, sei hier die Leitlinie. Ja, das leuchtet ein. Das erklärt, dass sie so ähnlich sind, obwohl sie nicht verwandt sind. Aber was genau ist damit gemeint? Erklärt die Funktion die Gemeinsamkeiten oder die Unterschiede? Oder beides? Und: Warum können die Pinguine nicht fliegen? Könnte doch nicht schaden. Und warum können es die Alkenvögel?

Im dem Gehege gibt es noch weitere Meeresvögel: Murre, Guillemot, puffin, Auklet. Alle mausern sich zweimal pro Jahr, einmal (partiell) im Frühling, einmal (komplett) im Herbst. Der Auklet verliert sein ‚Horn‘, der Kopf des Puffins wird schwarz.

Als ich schon zum Ausgang gehe, merke ich in einem Bassin am Rande noch den Riesenoktopus. Ob das Exemplar, das man sieht, wirklich der Riesenoktopus ist, darüber wird spekuliert. Einige sagen, der verstecke sich unter einem Stein. Der, den man sieht, ist jedenfalls nicht so groß. Auch hier verblüffende Informationen über die Lebensweise. Trotz seines Rufs als furchterregendem Tier ist der Oktopus ein sehr scheues Tier. Er ist tagsüber untätig und holt sich nachts eine „Handvoll“ Beute, mit der er in seiner Höhle verschwindet. Bei Angriffen verteidigt er sich durch die Änderung der Farbe und, in gravierenden Fällen, dadurch, dass er Tinte verspritzt und sich dann in dem schwarz gewordenen Wasser versteckt. Er bewegt sich ganz langsam vor, und nur wenns schnell gehen soll, auf eine raffinierte Art: Er verspritzt eine Wasserfontäne und lässt sich von der in die entegegengesetzte Richtung treiben. Er hat, was man ihm nicht ansieht, scharfe Zähne. Mit denen bricht er die Schalen der Krustentiere auf und betäubt sie dann mit einem Gift, bevor er sie verzehrt. Die harten Reste ordnet er um seine Höhle herum: The Octopus’s Garden. Männchen und Weibchen treffen sich nur zur Paarung. Die kann Stunden dauern. Das Männchen hat im dritten Arm rechts ein Spermapaket. Diesen Schatz überlässt er dem Weibchen und verabschiedet sich dann. Das Weibchen legt die Eier und hängt sie an die Decke ihrer Höhle. Die Eier sind reiskorngroß, und zählen bis zu 80,000! Von den dann geschlüpften Jungen erreichen nur zwei das Erwachsenenalter! Das Weibchen isst in diesen Monaten fast nichts und stirbt kurz danach.

Über diese merkwürdigen Vorrichtungen der Natur nachsinnend fahre ich zur Bayfront zurück. Hier ist mächtig was los. Die Bayfront hat links Lokale und Läden, rechts Anlegestellen für Ausflugsboote und für Fischfänger. Hier unten gibt es aber keine Hotels. Ich gehe den ganz steilen Berg zum 101 rauf, und da ist eins nach dem anderen.

Auch diesmal ist der Wirt Asiat, vermutlich Chinese. Erst als ich ihn nach dem Weg frage, merke ich durch ein Missverständnis, wie die Sache hier liegt: Die Brücke überspannt die Bucht, und zu anderen Seite der hoch gelegenen 101 und des Stadtzentrums liegt das offene Meer. Dort ist die Atmosphähre ganz anders als an der Bayfront. Keine Läden, keine Lokale, nur eine lange Reihe von Ferienwohnungen direkt am Strand.

Der Hunger treibt mich in die Rogue Brewery, auch fast eine Sehenswürdigkeit von Newport. Hier wird auf klassische Art Bier gebraut. Man bekommt gleich zu Anfang ein Probierglas hingestellt, um eine der Varianten zu testen. Ich trinke zum Essen erst ein anderes und dann das berühmte Dead Guy’s Ale. Dessen Logo sieht man hier überall, ein Skelett mit einem Honig hive auf dem Kopf, ein Zitat eines Mythos der Maya.

Es gibt eine dickflüssige Suppe, in der auch gleich Bier ist und dann Hummus mit sehr leckerem, warmem Fladenbrot und dann Tacos mit Tillamook Cheese. Der Tag endet, womit er angefangen hat.

25. Juli (Donnerstag)

Am Morgen sieht es sehr ungemütlich aus, und das kleine Museum gleich beim Hotel ist noch geschlossen. Also fahre ich zum Yaquina Leuchturm, etwas außerhalb Newports. Der steht nicht einfach in der Gegend herum, sondern liegt in einem Park, dem Yaquina Head Park. Je weiter ich in den Park hineinkomme, umso dunkler, diesiger und kälter wird es. Der Leuchtturm liegt am Ende eines promontories Felsvorsprungs, der eine ganze Meile ins Meer hinausragt. Und das merkt man: Als ich aus dem Auto aussteige, kann ich die Tür kaum schließen, und die Kamera wird mir fast aus der Hand geweht. Die Aussicht entschädigt einen dafür, aber ich froh, als die Tour beginnt. Ich habe in dem Visitors Center Glück gehabt und noch eine Karte für die erste Tour bekommen. Vor dem Eingang zum Leuchtturm steht noch einmal ausdrücklich, dass man ihn nur besichtigen kann, wenn man sich vorher angemeldet hat. Und es geht, wie das Schild vermeldet, nach dem Prinzip First come, first serve. Ich fühle mich im Nachhinein bestätigt in einer Diskussion, die wir in dieser Sache einmal an der Uni hatten.

Der Leuchtturm selbst hat einen kleinen rechteckigen Vorbau mit zwei Räumen. Rechts wird Öl gelagert, in 100-Liter-Fässern. Bis zur Einführung der Elektrizität, die die Aufgabe für den Leuchturmwärter mächtig vereinfachte, lagerte man 800 Liter Öl hier, am Anfang lard oil, später Kerosin. Das Öl musste in einer Kanne die ganze Treppe hinaufgetragen werden, etwa viermal pro Tag. Das Öl war teuer und musste teils auch dem Mittleren Westen importiert werden. Sein Verbrauch musste minutiös festgehalten werden. Zur Überprüfung des Leuchtturms kam viermal pro Jahr unangemeldet ein Inspektor. Der beste Leuchturm des Jahres wurde ausgezeichnet und bekam ein Banner, das er oben anbringen konnte. So eins bekommen wir noch zu sehen.

Die Inspektoren waren allerdings auch sehr willkommen, denn sie brachten Nachschub und vor allem ein begehrtes Gut, das in einem eigens abschließbaren Holzschränkchen, das man hier sieht, aufbewahrt wurde: Bücher! Die wurden bei jedem Inspektorenbesuch komplett ausgetauscht. Es bestand hoher Bedarf nach Abwechslung, denn man lebte hier praktisch isoliert. Man konnte zwar über den Strand nach Newport laufen, aber nur bei gutem Wetter. Und Newport war ein ziemlich verschlafenes Nest mit gerade mal 250 Einwohnern. Wir sehen ein altes Photo von der Bayfront mit gerade mal einem Haus!

Anonsten liegt hier allerhand Werkzeug herum. Die Reparatur- und Instandsetzungsarbeiten wurden weitgehend von dem Second Assistant oder von dem First Assistant durchgeführt. Dazu gehörte auch das Anstreichen. Das war immer wieder nötig, drinnen und draußen. Der Second Assistant verdiente 600 $ pro Jahr, der First Assistant 800 $ und der Leuchturmwärter 1000 $. Das war ein gutes Gehalt für die Zeit, zumal man keine Miete zahlen musste.

In dem Leuchtturm selbst wohnte keiner. Auf alten Photographien sehen wir kleine Häuser, die ursprünglich vor dem Leuchtturm standen, einschließlich Gemüsegarten und Ställen. Man konnte sich also weitgehend selbst versorgen. Für die Arbeit in Haus und Stall waren die Kinder zuständig.

Dann geht es die schöne, schwarze, gusseiserne Wendeltreppe hoch, die sich vor den weiß getünchten Wänden besonders gut macht. Sie war gut in Schuss, als der Leuchtturm Museum wurde und musste fast gar nicht behandelt werden. Man brachte aber ein paar Verankerungen an den Wänden an. Bis dahin war die Treppe freischwebend!

Oben kommt man in den Warteraum. Der ist natürlich sehr klein. Er befindet sich an der engsten Stelle des Leuchtturms. Es gibt einen kleines Schreibbord und ein paar Haken für die Kleidung. Die Leuchturmwächter trugen Uniformen und bei schmutzigen Arbeiten eine Jacke, die darüber gezogen wurde. Die hängt hier, mit Öl- und Russflecken.

Eine winzige Treppe, die wir nur einzeln betreten können, lässt in das Innere des eigentlich Leuchtturm blicken. Der hat nur eine ganz kleine Lampe. Der helle Schein, den man bis zu zwanzig Meilen weit sehen kann, wird durch Prismen erzeugt. Als Laie stellt man sich ja vor, dass die da eben ein Feuerchen gemacht haben, aber die Sache ist technisch hochkompliziert. Der gesamte Leuchtkörper, dessen zentraler Teil eine Fresnel-Linse ist, wurde aus Paris eingeführt! Dort gebaut, dann in Teile zerlegt für dne Transport, nach New York verschifft, dort zusammengebaut, um zu überprüfen, ob auch alles da ist, dann wieder in seine Teile zerlegt, dann nach Panama verschifft, dann mit dem Zug ans andere Ende Panamas – den Kanal gab es noch nicht – dann mit dem Schiff nach San Fransiso, und von dort hierher, um hier zusammengebaut zu werden! Man stelle sich nur vor, die Sache funktioniert dann nicht! Es müssen ja nicht nur alle Einzelteile da sein, sondern auch Techniker und Mechaniker, die genug von der Sache verstehen und sich irgendwie mit den Erbauern der Leuchte verständigen können – vermutlich mittels Übersetzer.

Eine Besucherin stellt dann die alles entscheidende Frage: Drehte sich der Leuchtturm? Die überraschende Antwort lautet: Nein. Das war, wenn ich es richtig verstanden habe, gerade das Kennzeichen des Leuchtturms von Yaquina Head: Er sendete ein gleichmäßiges weißes Licht aus und war damit zu identifizieren. Die anderen Leuchttürme – auf einer Karte sieht man, wie sie sich an der ganzen Küste entlangreihen – sendeten auch alle individuelle Zeichen aus, je nach Geschwindigkeit und Zahl der Bullaugen, durch die das Licht fällt. Darüber hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht.

Es ist mir zu ungemütlich in Yaquina Head, obwohl die meisten Familien wohl den ganzen Tag hier verbringen wollen, und ich fahre nach Newport zurück, um mich aufzuwärmen, bei Kaffee und Pfannkuchen in Pig’n’Pancake, auch einer Kette, die ich schon öfter gesehen habe. Es ist schon um diese Zeit hier rappelvoll, meist Familien oder Cliquen. Alle sehen sehr wohlgenährt aus. Kein Wunder bei den Portionen. Ich bestelle die einfachste Variante, Buttermilchpfannkuchen, runde, dicke Dinger. Davon gibt es gleich sechs.

Inzwischen hat das Burroughs Museum, das kleine Museum, das nur ein paar Schritte entfernt ist, geöffnet, und da ich schon einmal hier bin, gehe ich auch gleich rein. Es ist ein bescheidenes, aber sehenswertes Museum über Newport und Lincoln County. Deren Entstehung ist dem Bedarf nach besseren Straßen geschuldet, vor allem nach der Einführung des Autos. Bis dahin fuhr man, wie man auf wunderbaren alten Photos sieht, über den Strand. Das sieht man bis nach oben mit Schlamm bedeckte Pferdefuhrwerke und solche, die nur halb aus dem Wasser herausragen. Flut und Ebbe richten sich nicht nach dem Fahrplan der Reisenden. Dann mussten sich die Pferdefuhrwerke auch noch den Strand mit den Autos teilen.  Als dann ein Vertreter von Newport in Corvallis vorständig wurde, der Hauptstadt von Benton, und um Materialien für den Straßenbau bat, wurde ihm gesagt, die Muschelgräber von dort unten, die clamdiggers, bräuchten so etwas nicht. Das wirkte. Es führte zu Protesten und schließlich zur Abspaltung von Benton und der Entstehung von Lincoln!

Man sieht eine komplette alte Kücheneinrichtung mit gußeisernem Ofen und Gerätschaften. Davor steht eine hölzerne Kinderwiege, aus Einzelteilen eines Fuhrwerks gefertigt. Und am Rande tatsächlich eine „Waschmaschine“! Die gab es hier schon 1894! Sie hat eine mächtige, eiserne Trommel und Hebel und Kurbel aus Holz und in der Trommel drei Näpfe, mit denen die Wäsche bewegt und gedrückt wurde. Tatsächlich ging alles mechanisch, die Wäsche brauchte nicht mehr mit der Hand gewaschen zu werden! Dazu gibt es auch Erklärungen zu ungeschriebenen gesellschaftlichen Regeln: Montags und dienstags kam man nicht zu Besuch. Da waren Waschen und Bügeln angesagt.

Man bekommt ein Photo von einem offenen, voll mit Koffern beladenen Auto zu sehen, bei dem man sich fragt, wie die sicher an ihr Ziel kommen konnten, und gleich davor einen Koffer aus der Zeit, genauso wie die auf dem Auto.

Und dann gibt es noch die Einrichtung einer Anwaltskanzlei. Ein Mann namens Lichfield mit einem Rechtsdiplom aus Benton fand keine Arbeit und verdingte sich als Lehrer, bis die einzige Rechtskanzlei von ganz Newport zum Kauf anstand. Er langte zu: 150 $ einschließlich der gesamten hier zu sehenden Büroeinrichtung, mit Radio, Schreibmaschine und einem wunderbaren hölzernen Schreibtisch mit vielen fächern und Schubladen. Er eerwarb sich einen Ruf als Spezialist für Testamente und verfasste 7000 davon im Laufe seines Berufslebens. Besonders bekannt wurde er für seine Abneigung von Gerichtsverfahren. Die kosteten nur Geld und Nerven. Wie wahr!

Zum Abschluss fällt mir noch ein merkwürdiges Photo auf, das Photo einer Frau mit merkwürdiger Kleidung. Sie trägt eine lange Schnur über quer über den ganzen Körper, hat einen riesigen Hut auf und hält einen Stab mit einer Art Banner in der Hand. Dann sieht man, dass alle diese Teile voller Glühbirnen sind. Es handelt sich um eine stadtbekannte Frau mit dem passenden Namen Lulu, berühmt für ihren lockeren Lebensstil, die sich hier zur Miss Electricity wählen ließ. Den Leuten sollte die Angst vor der Elektrizität genommen werden.

Jetzt geht es ins Auto und weiter den Highway 101 runter. Kurz Halt mache ich in Waldorf. Am Ortseingang wird die Einwohnerzahl mit nichts zu wünschen übrig lassender Genauigkeit mit 2050 beziffert. Gleich hinter dem Ortseingangsschild liegt die Touristeninformation. Die heißt, wie überall in der Gegend, Interpretative Center. Die ältere Dame sagt mir ganz offen, hier gebe es nichts zu sehen, bestätigt mir aber, dass ich nach ein paar Meilen zu den Sea Lion Caves kommen würde.

Das ist dann auch so. Hier ist richtig Rummel. Die Caves sind einer der Haupanziehungspunkte der Gegend. Man kann die Seelöwen sozusagen in freier Wildbahn beobachten. Das ist ungewöhnlich, denn normalerweise leben sie auf Felsen mitten im Meer, nur hier eben an der Küste. Man geht auf den Felsvorsprung und sieht, weit unten, auf dem Felsen, eine ganze Kolonie von Seelöwen, mit braunem Fell, dicht gedrängt. Ihr heiseres Brüllen dringt bis hier oben. Als wir am Geländer stehen, erblickt ein Vater mit guten Augen ein Reh auf dem Abhang.

Hier kommen auch Wale vorbei, Grauwale, auf ihrer Wanderung, und zwar gleich zweimal im Jahr, von Februar bis Mai auf ihrem Weg nach Alaska, von November bis Januar auf ihrem Weg nach Kalifornien. Sie legen die größte Strecke zurück, die Säugetiere zurücklegen, 6000 Meilen! Einige bleiben auch hier in der Gegend, aber sie haben keine Absicht, sich zu zeigen.

In die Höhle selbst hinunter geht es mit einem Fahrstuhl, 200 Fuß tief. Wie draußen, steht man hier erhöht auf einem Felsvorsprung und sieht auf eine andere Kolonie von Seelöwen hinunter. Deren Felsen befindet sich eben nicht unter freiem Himmel, sondern in der 125 Fuß hohen und zwei acres großen Höhle. Auch hier liegen die meisten untätig herum, ein paar umschwimmen den Felsen und ein paar sind auf einen Nachbarfelsen ausgewichen.

Interessanter als der Anblick selbst sind die Informationen, die man bekommt, vor allem, was den Unterschied zwischen Robben und Seelöwen angeht. Bei den Seelöwen sind die Ohren sichtbar, bei den Robben nicht, Seelöwen schwimmen mit den Vorderflossen, Robben mit den Hinterflossen, Seelöwen können gehen, Robben müssen kriechen, Seelöwen sind polygam, Robben entweder polygam oder monogam, Seelöwen stillen ihre Jungen bis zu drei Jahre lang, Robben entwöhnen sie nach wenigen Wochen, Seelöwen wiegen bis zu 2400 Pfund, Robben bis zu 5900 Pfund!

Der Felsen ist durch vulkanische Aktivität entstanden und hat dann zwei Risse bekommen. Einen davon kann man noch deutlich an der Decke erkennen. Das Wasser hat diese Risse als Schwachstelle entdeckt und im Laufe der Zeit die Höhle geschaffen, in Tausenden von Jahren. Die Höhle wurde 1880 von einem Captain Cox entdeckt. Dann muss eine tolle Empfindung gewesen sein.

Am anderen Ende der Höhle ist, etwas erhöht gelegen, auch ein Durchblick durch den Felsen, direkt aufs Meer hinaus. Von dort fällt helles Licht ein. Hier weht ein eiskalter Wind. Angeblich kann man von hier aus das Heceta Lighthouse sehen, den meistphotographierten Leuchttum der Welt. Aber der versteckt sich heute im Dunst.

Im Souvenirladen entdecke ich dann ein Buch mit einem kuriosen Titel: Fifty Animals that Changed the Course of History. Die Auswahl ist ganz und gar einleuchtend. Es geht nicht nur um Haustiere wie das Schaf oder die Kuh, sondern auch um Tiere, die Epidemien bringen wie die Ratte oder die Tse-Tse-Fliege, um Tiere, die für die Forschung wichtig waren wie Darwins Finken und die Fruchtfliege, und um Tiere, die wegen ihren symbolischen Werts für Bedeutung sind wie der Skarabäus oder der Adler. Da bin ich dabei, mit 29,95 $.

Danach geht die Fahrt weiter nach Florence. Hier fahre ich an die Küste, wo es aber nicht viel zu sehen gibt, und dann in das sehr schöne historische Zentrum, einem restaurierten Fischereiviertel. Das liegt nicht am Meer, sondern an einem Fluss, dem Siuslaw, über den wieder eine schöne Brücke führt. An den Häusern, die jetzt touristischen Zwecken dienen, steht, welche Funktionen sie früher hatten. Eins war sogar ein Theater, das am längsten im Betrieb gebliebene lokale Theater Amerikas. Ich trinke einen Kaffee mit Blick auf Fluss und Brücke und gehe noch einmal die Promenade entlang. Es ist spät geworden, aber es ist noch hell und warm und ich entscheide mich dummerweise, noch zurückzufahren. Bei der Fahrt nach Florence habe ich festgestellt, dass ich am Nachmittag nicht mehr wusste, was ich am Morgen gesehen habe. Der Kopf ist voll und müde von all dem Suchen.

Die Fahrt zieht sich aber in die Länge, und in Eugene, einer richtigen Großstadt, suche ich lange den Weg nach Portland, das nicht ausgeschildert ist. Dann geht es zum ersten Mal auf eine Autobahn. Bisher habe ich immer gedacht, das Highway die amerikanische Entsprechung zu unserer Autobahn wäre, aber der Highway 101 ist eher wie eine Bundesstraße. Die Straße von Eugene nach Portland heißt Interstate.

Richtung Portland wird der Verkehr immer dichter, und es wird langsam dunkel. Gut, dass die Amerikaner so gesittet fahren. Dann fahre ich an Portland haarscharf am Wohnheim vorbei und komme jetzt in die Bedrouille, weil ich nicht mit dem Einbahnstraßensystem gerechnet habe. Als ich dann abbiegen will, habe ich links vor mir einen Radfahrer und rechts von mir die Straßenbahn, beide zur Unzeit erscheinend. Ich lande am anderen Ende der Innenstadt und erst nach vielem Hin und Her auf dem Parkplatz. Aber dann kommt erst die böse Überraschung: Hier braucht man eine Genehmigung zum Parken. Reserviert für Unifahrzeuge. Also mache ich mich in der Dunkelheit auf die Suche nach einem anderen Parkplatz. Unten an der Waterfront finde ich einen. Man muss mit Kreditkarte bezahlen, und bei der ganzeb Aktion ist mir nicht sehr wohl, zumal am anderen Ende des Parkplatzes eine unheimliche Gestalt auf und ab geht. Man kann für den ganzen Tag zahlen, aber das Dumme ist, dass der Tag um vier Uhr morgens endet!

26. Juli (Freitag)

Am Morgen um vier schleiche ich durch die dunklen Straßen und sehe mich nach verdächtigen Gestalten um, aber es gibt keine. Als ich zu dem etwas abseits gelegenen Parkplatz komme und meine Kreditkarte heraushole, fühle ich mich dennoch nicht ganz wohl in meiner Haut. Als ich dann den Parkzettel in der Hand halte, merke ich, dass ich den Autoschlüssel zu Hause vergessen habe!

Als ich dann wieder aufwache, merke ich, dass der Photoapparat noch im Auto ist. Es geht zum dritten Mal zum Parkplatz.

Als ich am Vormittag zu einer vorher im Internet lokalisierten Drogerie gehe, gibt mir der freundliche Mann an der Theke, als er hört, dass ich an der PSU bin, ungefragt und ohne Nachweis einen Preisnachlass. Den bekämen die Studenten auch. Die zwei Dollar teile ich mit einem Bettler, der vor der Drogerie steht und der sich artig bedankt und ein schönes Wochenende wünscht. Sogar die Bettler sind hier höflich.

Als ich am Nachmittag zum Art Museum gehe, fällt mir der Name der Kneipe auf, in die ich zum Seminarabschluss mit den Studenten gegangen bin: Rogue Hall. Das hört sich genau wie der Name der Kneipe in Newport an. Bin ich in die Ferne gefahren, um etwas zu sehen, was vor der Haustür liegt? Sieht so aus. Dann erinnere ich mich an den Namen des Pommesgerichts, das wir hier bestellt haben. Genauso stand es auf der Speisekarte in Newport!

Alexander, immer im Bilde, hat uns informiert, dass das Art Museum heute nach fünf keinen Eintritt verlangt. Das lassen sich die Portlander nicht zweimal sagen, und vor dem Museum steht eine lange Schlange, die sich drinnen fortsetzt. Hinter mir in der Schlange steht eine Frau, die bei mir alle denkbaren Vorurteile auslöst: älteres Semester, dünn, mit gräulichen Haaren, die zu Zöpfen gebunden sind! Dazu schlabbrige Kleidung und eine altmodische Brille. Das sind die Frauen, die Kunstausstellungen besuchen und für moderne Kunst, die keiner versteht, schwärmen und für primitive Kunst, die keine ist.

Die Schlange kommt nur langsam vorwärts. Das liegt daran, dass man seinen Namen und andere Angaben an einem Tablet eingeben muss, bei dem man für jedes Sonderzeichen die Seite wechseln muss. Wenn man einmal drin ist, verteilen sich die Massen ganz gut auf die vielen Abteilungen, und bald stoße ich auch auf die anderen, die alle Alexanders Ruf gefolgt sind.

Bei der modernen Kunst bleibe ich unbeeindruckt, auch von einem Stapel Wolldecken, der hier ausgestellt ist. Bei einem anderen, einer Videoinstallation von Susie Lee (2010), habe ich das Gefühl, dass es sich um ein Plagiat handelt. Man sieht drei Frauen, Mutter, Tochter, großmutter, mit der Mutter in der Mitte, die durch eine Band, eine Kordel, verbunden sind. Das habe ich in gleicher Form als Photo von einer mexikanischen Künstlerin in Colchester gesehen.

Auch die Abteilung für Native American Art, die alle so sehr empfehlen, haut mich nicht um. Alles ganz schön anzusehen, aber man muss den Kunstbegriff schon ganz schön strecken, wenn man die Mokassins, Ponchos und Körbe darunter fassen will. Interessanter sind da schon die Masken. Da gibt es auch regionale Unterschiede. Die der Cherokee sind einfacher, die der Tingit kunstfertiger und bunter, haben aber auch etwas karnevaleskes. Die anderen sind eindrücklicher, eine schwarze mit Kuhgestalt, eine schwarze mit Bärengestalt und ein braune mit menschlicher Gestalt, mit Schlitzaugen, eine Reihe gleichmäßiger Zähne, die wie die einer Säge aussehen, und einer langen, stilisierten Nase.

Interessant sind auch die Statuetten, kachinas darstellend, überirdische Lebewesen, die zwischen Himmel und Erde vermitteln. Hier gibt es zwei Traditionen, und das ist an sich schon interessant: Bei den Pueblo sind die individuellen kachinas zu identifizieren, bei den anderen nicht, da das ein Sakrilieg wäre! Die Gestalten sind sehr vielfältig, mit schlitzartigen und kreisrunden Augen und Augen, die nur als Punkt angedeutet sind. Alle sind bunt, aber in ganz unterschiedlichen Farben bemalt, und zu den Materilien gehören neben Holz auch Stoffe, Haare und Birke. Sie sehen aus wie Mischungen aus Roboter, Osterhase, Seeräuber und Superman.

Bei der Northwest Art herrscht in erster Linie Landschaftsmalerei vor. Besonders der Mt. Hood und andere Berge erscheinen auf den Bildern.

Also geht es zur guten alten europäischen Kunst. Meist keine großen Namen, aber eindrückliche Bilder. Darunter Portrait of a Man, ein Gemälde einer Malerin, Marianne Loir (1750), das Portrait eines gebildeten Mannes, an dem Folianten zu erkennen, auf den er sich, an seinem Schreibtisch sitzend, halb aufstützt. Man kann die Zeilen gut erkennen, nicht aber die einzelnen Buchstaben, genauso, wie es in der Wirklichkeit wäre. Zwei Buchseiten sind leicht nach oben gewölbt, und der Pelz wirft einen Halbschatten auf das Buch. Die elegante Kleidung ist kunstfertig dargestellt, vor allem die hauchdünnen Enden des seidenen Hemdes, die unter dem Rock hervorgucken. Der Mann sieht den Betrachter direkt an, mit einem freundlichen Blick und einem ganz zarten Lächeln auf den Lippen. Das war ungewöhnlich, denn die Portraitierten erschienen zu dieser Zeit meistens in strenger Ernsthaftigkeit. Vielleicht hat die Malerin hier dem Portrait einen weiblichen Zug verliehen. Sie konnte aber in Paris trotz ihrer Fertigkeiten nichts werden und siedelte später nach Südfrankreich über.

Sehr gelungen auch die Darstellung von einer Familie von Straßenhändlern in Paris, Peasant Family (1650) einer Darstellung des städtischen Proletariats sozusagen, Mann und Frau und zwei Söhne, mit ihren Körben mit Fasanen oder Hühnern, die sie zum Kauf anbieten und ihren zerrissenen, zusammengeflickten Kleidern. Ganz genaue Beobachtung, man sieht die verschiedenen Nähte und die Löcher und Fransen. Es ist eine Alltagsszene, aber nicht folkoristisch ausgeschlachtet. Ein tiefer Ernst liegt über der Szene. Mann und Frau haben tiefe Furchen in den Gesichtern. Nicht eine Andeutung von Lächeln ist auf den Gesichtern zu erkennen, alle Blicken stumm und direkt, aber nicht effektheischersisch den Betrachter an. Interessant auch die drei Hüte, einer auf dem Kopf, zwei in der Hand, der eine nach außen, der andere nach innen gekehrt, wie eine Studie der verschiednene Erscheinungsformen des Hutes. Kurioserweise weiß man den Namen des Malers, Jean Michelin, kann ihn aber nicht identifizieren, denn es gab mehrere des gleichen Namens in Paris und sie waren alle protestantisch und alle miteinander verwandt!

Dann gibt es eine Beschneidungsszene eines flämischen Malers, Van Oostsanen (1517). Die Beschneidung ist hier als aristokratische Zeremonie dargestellt, mit lauter Honoratioren, in schwere Brokatkleider gehüllt oder feine Seidentücher. Und mit goldenen, verzierten Gefäßen und Geräten. Der Mann, der die Beschneidung vornimmt, sitzt auf einem goldenen Sessel. Das Christuskind, nackt und kreidebleich, alles andere als schön, mit dem Gesicht eines Erwachsenen, hebt sich durch seine Blässe von dem Hintergrund ab. Es krümmt sich und verziert schmerzverzerrt das Gesicht. Genau in diesem Moment wird das Messer angesetzt, und Bluttropfen werden sichtbar. Diese jüdische Zeremonie erhält hier eine christliche Deutung, denn im Hintergrund erscheint die Szene am Getsemaneh mit den schlafenden Jüngern. Die Beschneidung wird als Beginn des Leidens verstanden. Auch kurios: Zwei Männer, einer davon kurzsichtig, sehen nicht der Operation zu, sondern lesen in einem dicken Buch, das einer der Männer in der Hand hält, in einer Szene, die Hunderte von Jahren vor der Erfindung der ersten Bücher spielt.

Ich werfe auch noch einen Blick in die asiatische Abteilung. Ganz zu Anfang steht eine Statue von Ganesha, dem elefantenköpfigen Gott, Sohn Shivas. Die Statue ist aus grauem Stein, nicht genauer identifiizierbar. Ganeshas Gewand ist in ganz fein ziselierten Einkerbungen in den Stein markiert. Er ist, wie immer, dickbäuchig, was eher gemütlich aussieht, zumal er lässig dasitzt,  mit einem hoch gezogenen und einem auf dem Boden liegenden Bein, aber, wie man hier erfährt, eine andere Bedeutung hat: Es ist die komplette, dreifache Weisheit, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfasst. Hier erfährt man auch den Grund für die Maus, die man immer im Zusammenhang mit Ganesha sieht und die hier am Sockel erscheint: Die Maus frißt sich durch alles durch und kennt keine Hindernisse und ist damit ein perfekter Begleiter für Ganesha, der für den Erfolg im Leben steht. Die Maus ist Ganeshas Vahana, sein Vehikel, so wie jede Gottheit ihr eigenes vahana hat.

Daneben steht die Skulptur des vierarmigen Shiva, dem Zerstörer und Schöpfer, die ich schon für den Vortrag genutzt habe. Er vollführt den kosmischen Tanz, in dem der Tänzer ganz in der Welt aufgeht. Diese Statue ist aus Bronze und war deshalb vermutlich für Prozessionen bestimmt, die anderen, aus Stein, waren in der Regel für die Tempel bestimmt.

Dann kommt eine Statue des Sambhava, aus Sandstein (XII), ganz anders als die anderen. Sambhava ist nackt dargestellt, was vermuten lässt, dass die Statue einer bestimmten Sekte angehörte, die irdischen Besitztum ganz ablehnte. Sambhava steht steif und gerade, mit heruntergestreckten Armen, die nicht am Körper anliegen, ganz in Meditation versunken.

Am Ende des Ganges eine große Holzstatue eines Bodishattva, aus China. Langes Haar, Schmuck und lange Gewänder zeichnen ihn als einen Prinzen aus, eine Erinnerung an Buddhas ursprüngliche Position. Die Statue war ursprünglich ganz bunte und hat noch deutliche Farbreste. Hinten gibt es drei Einlassungen. Die waren für Schriftrollen bestimmt, die man dort aufbewahrte.

Aus Japan gibt es Wandschirme. Einige stellen farblich kaum markierte, strenge Landschaften dar, andere bunte Abbildungen von Flora und Fauna. Die waren für die Gästezimmer gedacht, die anderen für den Hausherrn. Einige dieser Schirme sind das Resultat einer wichtigen Neuerung (XV), Najio Gami. Die Wanschirme bestehen jetzt aus mit Lehm verstärktem Papier. Dass lies nicht nur die Farben besser zur Geltung kommen, sondern hielt auch Mäuse und Insekten ab!

Es geht auf acht Uhr zu, es wird langsam Zeit, das Museum macht gleich zu und leert sich. Vor dem Ausgang treffe ich Alexander, aber die anderen sind verschwunden. Ich schlage vor, noch irgendwo hinzugehen, und Alexander übernimmt sofort die Führung. Wir gehen in einen eher feinen Tempel, Louisiana oder so ähnlich, wo ziemlich laute Musik gespielt wird und nur an der Bar Platz ist. Er bestellt einen Gin & Tonic. Er trinkt weder Bier noch Wodka! Ich bekomme ein sehr gutes, dunkles lokales Bier.

Er tut sich auch schwer mit Dostojewski und hat eine große Vorliebe für Tschechow. Hier macht er moderne russische Kurgeschichten. Er nennt die Autoren, aber ich kenne keinen einzigen, nicht einmal vom Namen her.

Die ganze amerikanische Kunst könne nicht mit der europäischen mithalten, sagt er. Das habe er auch in Washington gesehen, im Nationalmuseum, wo alle amerikanische Kunst versammelt sei, die man sich nur denken kann und die dennoch neben der dort ausgestellten europäischen verblasse. Die Museen in Washington seien alle frei, das sei eine Entscheidung der Bundesregierung, die die Kultur allen Einwohnern öffnen wolle. Er sei nach Washington mit einem Fulbright-Stipendium gekommen. Er sagt das sehr bescheiden, aber als ich nach dem Prozedere frage, merkt man, dass das keine leichte Sache war und er unter vielen Kandidaten gewählt wurde. Er musste zu dem Interview sogar eigens nach Moskau reisen. Er beantragte ein reines Forschungsstipendium, mit dem Thema amerikanischer Übersetzungen russischer Autoren. Das könnte man eigentlich auch zu Hause am Schreibtisch erledigen. Wie er die Kommission überzeugt hat, dass er dafür nach Amerika musste, wäre interessant zu wissen. Die Kollegen in Washington seien sehr hochnäsig gewesen, er hätte insofern besser eine der anderen Universitäten nehmen sollen, aber Washington sei als Stadt natürlich großartig. Es gibt dann noch eine Runde, und dann geht es nach Hause. Für mich ist um vier Uhr wieder Tag.

27. Juli (Samstag)

Am späten Vormittag fahre ich mit dem Auto zum Hoyt Arboretum, wo um zwölf eine Führung stattfindet. Darauf freue ich mich besonders. Ich habe aber wieder Schwierigkeiten mit den Einbahnstraßen und anderen Einschränkungen und verzettele mich so sehr, dass ich glaube, es nicht mehr zu schaffen. Dann stehe ich zwei Minuten vor zwölf auf dem Parkplatz des Hoyt Arboretum. Später sollte ich bereuen, nicht doch zu spät gekommen zu sein.

Ich werde stürmisch von einem laut sprechenden Mann begrüßt, der nicht ganz richtig in der Birne zu sein scheint. Er kann seine Stimme nicht kontrollieren und reagiert auf jede, aber wirklich jede Bemerkung, die irgendwer macht, mit einem lauten, langgezogenen Yeaaaaah. Es ist kaum auszuhalten. Später stellt sich heraus, dass er irgendwas mit Biologie macht und einen Universitätsabschluss in Theologie hat. Sein Pendant ist ein Mann mit Hut, der ganz bei Trost zu sein scheint, es aber nicht ist. Er fängt, bevor die Führung überhaupt angefangen hat, zu pontifizieren an und gibt ungefragt philosophische Sentenzen von sich: „Every man is a scientist.“ Als wir dann unterwegs sind, faselt er ständig was von mother earth, energy und gibt Empfehlungen wie Listen to your body. Wir werden komplementiert von einer Mutter mit Tochter aus San Diego. Nur der Führer kommt nicht. Wir warten eine Viertelstunde, aber es tut sich nichts. Dann wird eine freiwillige Helferin gebeten, uns zu begleiten. Die fühlt sich offenbar geschmeichelt und nimmt an. Sie hat aber keine Ahnung und macht auch gar nicht den Versuch, irgendwas zu erklären. Wenn überhaupt, spricht sie davon, wie sie hier Unkraut jäten. Sie fängt dann an, mit der Mutter und der Tochter über belanglose Dinge zu reden, und man sieht sich Photos von den Reisen der Mutter und der Tochter an. Stehen bleiben wir nur, um zu sagen, wie schön es hier sei und ab und zu, um eine Beere zu kommentieren, als wäre sie das sichere Zeichen, wir befänden uns im Garten Eden. Eine Katastrophe. Ich kann das Ende kaum abwarten, auch wenn wir dann doch noch an den Sequoias und an den Redwoods vorbeikommen, den Stars des Arboretum. Warum wir ausgerechnet den Fichtenpfad genommen haben unter allen, die zur Auswahl stehen, ist mir unerklärlich.

Als die Tortur dann endlich vorüber ist, flüchte ich in mein Auto und will so schnell wie möglich zurück. Leichter gesagt als getan. Ich komme über eine Schnellstraße mit sehr viel Verkehr nach Portland rein, aber zu weit nördlich und kann von hier aus nicht zum Parkplatz kommen. Ich nehme einen neuen Anlauf und gerate dabei auf die Busspur. Dann komme ich gleich am Parkplatz vorbei, kann aber von meiner Spur aus nicht abbiegen und muss ihn links liegen lassen. Jetzt ist das Unheil perfekt. Ich komme auf den Barbur Boulevard, und hier sind meine beiden Spuren durch Steine von den beiden anderen getrennt. Es gibt keine Wendemöglichkeit. Ich komme in einen Tunnel und dann nach Beaverton und kann nur durch ein unerlaubtes Wendemanöver an der nächsten Ampel verhindern, dass ich nicht auf eine Interstate Highway gelange.

Als ich dann endlich auf den Parkplatz komme, habe ich den Kaffee auf. Ich gehe zur Entschädigung in das Baal, ein thailändisches Restaurant, das ich vom Fenster meines Zimmers sehen kann und an dem fast jeden Tag vorbeikomme. Nur ein Gast ist in dem Lokal, ein Amerikaner, der laut geschäftliche Telephonate führt. Zwischen den Telephonaten drängt ihm der Besitzer ein Gespräch auf. Er ist schwer zu verstehen, auch für den Amerikaner. Aber der macht das sehr geschickt. Nachdem er zweimal eine Bemerkung zu der Ex-Ehefrau des Thais nicht verstanden hat, fragt er einfach: „And how many children do you have?“

Ich bestelle ein chinesisches Bier und eine hervorragendes Curry Chicken, mit einer sähmigen, grünen Soße und sehr leckerem Gemüse. Und natürlich Reis.

 

Am Abend, als es schon dunkel ist, mache ich noch einen Spaziergang durch die Gegend. Die Strasen sind wie ausgestorben. Wenn Portland ein Nachtleben hat, hier findet es nicht statt. Auf dem Ruckweg sehe ich, dass man auf dem Parkplatz gleich neben dem Wohnheim sonntags nicht zu zahlen braucht. Davon sollte man Gebrauch machen.

28. Juli (Sonntag)

Um vier Uhr bin ich wieder an meinem Parkplatz. Ich fahre gleich auf den Parkplatz zu, alles kein problem dismal. Dann stehe ich gleich an einer Seite des Parkplatzes, aber hier ist keine Einfahrt. Ich muss einmal den Parkplatz rumfahren. Dann kann ich aber da, wo der Eingang ist, nicht rein: Einbahnstrase. Also geht es einmal um den Block. Aber hier ist eine Baustelle, man wird in eine Sackgasse direkt hinter dem Parkplatz geleitet. Also wenden. Aber mir schwant schon Boses. Und das trifft auch ein. Diesmal lande ich wirklich auf der Interstate 5. Es gibt weder Hinweise noch Abfahrten, und als eine kommt, bringt die mich in ein Industrieviertel, das ich kilometerweit entlang fahre, in Dunkelheit und Einsamkeit. Der Weg endet irgendwann vor einem Zaun. Ich wende und komme in eine hell erleuchtete Gegend, mit Neonreklamen an Kinos und Lokalen und heller Strasenbeleuchtung. Es sieht aus, als ware es eine eigene Stadt, aber welche, bleibt unklar. Und Wegweiser nach Portland gibt es auch nicht. Zu meiner Erlosung sehe ich dann eine Tankstelle. Der Tankwart weist mich in die richtige Richtung.

Um elf habe ich mich mit Alexander und seiner Tochter verabredet, um nach Fort Vancouver zu fahren, gerade auf der anderen Seite des Columbia, in Washington. Ich gebe Instruktionen, wie wir fahren mussen, aber Alexander ist noch hoffnungsloser als ich. Wir landen auf der richtigen Interstate, aber in der falschen Richtung. Dann schaffen wir es irgendwann, zu wenden und kommen schon bald ans Ziel.

Unterwegs, als wir auf dem Irrweg waren, erzählt Alexander passend von einem russischen Volkshelden, Iwan Susanin, dessen Name sprichwörtlich geworden ist für jemanden, der sich verirrt hat. In der Zeit der Wirren, als es noch viele polnische detachments in Russland gab und polnische Truppen den jungen Zar, Michael, nach dem Leben trachteten, bat den Polen an, ihnen eine Abkürzung zu zeigen. Dabei führte er sie in die tiefsten Wälder, aus denen sie nie wieder herausfanden. Gleichzeitig wurde sein Enkel in das Kloster geschickt, in dem sich Michael aufhielt, um vor den polnischen Invasoren zu warnen. Er wurde von Mönchen versteckt gehalten und wurde später zum Begründer der Romanov-Dynastie.

Alexander erzählt, wie bei seinem letzten Portland-Aufenthalt eine Kollegin um zwei Uhr morgens an einem Sonntag ihr Auto auf einem Parkplatz abgestellt habe, um es um acht Uhr morgens abzuholen. Und prompt ein Knöllchen hatte.

Bevor wir ankommen, erzähle ich eine Anekdote, die ich in einem der Bücher gelesen habe, die ich dieser Tage von Powell’s weggeschleppt habe. Die Amerikaner, heißt es da, investierten eine Million Dollar, um einen Kuli zu entwickeln, der im Weltraum funktionieren würde. Die Russen lösten das Problem, indem sie ihren Astronauten Bleistifte gaben.

Das Fort liegt inmitten einer Kaserne, aber das Wort ist hier irrefuhrend. Man hat das Gefuhli, in einem besseren Wohnviertel zu sein. Am Rande, hinter einem hohen Palisadenzaun, befindet sich das Fort Vancouver, besser gesagt eine Nachbildung davon, wenn auch keine komplette.

Das Fort war das Hauptquartier der Hudson’s Bay Company, also britisch, und so ist auch in die Flagge der Organisation, die uber dem Fort gehisst ist, der Union Jack integriert.  Dies war eine Stadt im Kleinen, eine Handelsstation, mit 600 Angestellten, die ein Territorium von 700,000 Quadratmeilen kontrollierte und 24 Forts, vom russischen Alaska bis zum spanischen Mexiko. Allein die Verwaltung des Territorium erforderte so viel Papierkram, das die Dokumente jedes Jahr per Ochsenkarren zum Fluss transporiert warden mussten, um nach Europa verschifft zu warden.

In einer Barracke sind Tauschgegenstande ausgestellt. Es wurde nicht mit Geld gehandelt, sondern mit Waren. Ohne Pelze hatte man keine Chance, und die Richtwahrung war der Biberpelz. Dafur gab ees 2 Silberfuchs, 10 Waschbaren oder 4 Wolfspelze.

Man sieht auch Werkzeug und Schmuck und Decken. Die Decken wurden in England gefertigt und hier verkauft. Sie haben farbige Streifen am Rand, die den Preis benennen.  Die Axte wurden hier hergestellt, aber mit Eisen, das auch England eingefuhrt wurde!

In einer anderen Baracke sind Teile der Wohnungen nachgebaut, mit einem interessatnen alten Toilettentisch. Man sieht einen Wasserkrug, einen Rasierpinsel, eine Zahnburste und eine schone, runde, verschliesbare Dose aus Keramik. Was das wohl ist? Zahnpasta, vor der Erfingung der Tube. Die wurde in Manchester hergestellt und eigens eingefuhrt!

In der Schreinerei sieht man, wie viel Arbeit allein hier anfiel. Turen, Fensterahmen, Wagen, sashes, aber auch die holzernen Teile der Werkzeuge wurden hier gemacht. Es gab drei bis vier Schreiner und dazu Lehrlinge.

In der Resindenz des hochsten Offiziers ging es sehr vornehm zu, mit echtem Porzellan, Gemalden, weisen Tischdecken.  Lange war hier McLoughlin der erste Offizier, bis er von den Briten in Rente geschickt wurde und nach Oregon City zog.

Die Briten sandten, als es zunehmend Konflikte gab, ein Kriegsschiff hierher, und dessen Kapitan, Baillie, machte sich einen guten namen, indem er nicht angriff, sondern vermittelte. Das Land gehorte noch keinem, jedenfalls keiner der europaischen Machte, und es ist bezeichnend, dass die Briten sich dann darauf einliesen, den 47. Breitengrad als Grenze anzunehmen und damit dieses Territorium den Amerikanern uberliesen.

Interessant ist auch das Gefangnis. Es ist zwar nur eine einfache Baracke, aber das allein sagt schon etwas. Man wurde nicht mehr in ein Verlies geworfen, obwohl es auch hier nachts dunkel war. Die Behandlung der Gefangenen verbesserte sich im Laufe der Zeit. Sie mussten wenigstens vernuntig ernahrt und behandelt werden. In den Anfangsjahren gab es noch korperliche Zuchtigung, aber das war spater untersagt. Ausnahmen gab e saber trotzdem. Es wird von einem Fall berichtet, in dem McLoughlin nach mehreren Fallen von Ungehorsam zwolf Peitschenhiebe anordnete. Man konnte zwar danach dagegen eine Eingabe an die Regierung verfassen, aber die war weit weg und es gab sicher Mittel und Wege, die Gefangenen davon abzuhalten. Auserdem ware es sowieso zu spat gewesen. Die Prugel konnte nicht mehr ruckgangig gemacht warden.

Die Unterhaltung mit Marie und Alexander ist immer interessant. Wir fragen uns, wie wir die Bemerkung des freundlichen Mannes im Vistors’ cnter verstehen sollen, die Briten hatten sich mit den Indianern vermischt , die Amerikaner aber nicht. Warum gibt es dann keine Mischlinge? Und was konnte den Unterschied erklaren, wenn er den Tatsachen entspricht? Alexander findet, heute habe sich das Rad gedreht. Es sei jetzt angesagt, indianische Wurzeln zu haben. Das ist meines Erachtens Vorurteil von ausen nach innen gedreht.

Es gibt immer wieder Parallelen zwischen Russland und Deutschland, auch bei solchen Kleinigkeiten wie dem Entfernen von Preisen an Geschenken, was ich tue, nachdem ich in dem Laden noch ein paar Mitbringsel gekauft habe. Das mache man nicht uberall so. Auch das schwierige Verhaltnis zur eigenen Nation und den trockenen Umgangston auf der Strase, bei Behorden und in Geschaften teilen wir miteinander.  Und die Uberraschung daruber, dass es be i dem Begrussungstrunk der PSU und den Ausflugen keinen Alkohol gab. Das sei sehr amerikanisch, sagt Alexande. Zu Hause werde ordentlich gesoffen, aber an der Uni gelte das ungeschriebene Gesetz: keinen Alkohol. Schon mehr al seine Universitatskarriere sei daran gescheitert, dass dieses Gesetz nicht beachtet wurde. Auch bei der Hochzeit in Alabama, die ihm so gefallen hat, habe es keinen Alkohol gegeben. Sie hat ihm aber nicht deshalb, sondern trotzdem gefallen.

Auch sie geniesen die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Amerikaner, kritisieren aber auch die “Unehrlichkeit”’ die dahinter steht. Das sehe ich etwas gelassener. Alexander erzählt, wie er einem allzu freundlichen  Verkäufer dieser Tage antwortete, als der ihn noch einmal fragte, ob es etwas für ihn tun könne: „Could you make me young and slim and tall?“

Am Nachmittag gehe ich noch mal zu Powell’s. Dort komme ich mit allen möglichen Mitbringseln raus, vom T-Shirt bis zum Ohrring. Und finde, nach langer Suche, einen Band zur Expedition von Lewis & Clark, der nicht zu detalliert ist. Er ist geschrieben von einer Frau, die eine Nachfahrin einer der beiden ist und den Trail nachgelaufen ist. Beim Durchblättern stoße ich auf eine Passage, in der Lewis‘ rätselhaftes Wesen diskutiert wird, seine Einzelgängerei und einige merkwürdige Reaktionen. Der Autorin zufolge leidete er an Asperger.

 

29. Juli (Montag)

In einem der Bücher, die ich bei Powell’s gekauft habe, wird die Frage gestellt, warum man in Amerika rechts fährt. Oder warum man in England links fährt. Es gibt keine klare Antwort. Gelegentlich wird behauptet, das sei eine bewusste Entscheidung der Amerikaner nach dem Unabhängigkeitskrieg gewesen, um sich von den Briten zu unterscheiden, aber es gibt noch Bilder aus dem Bürgerkrieg, wo weiter links gefahren wird. Auch die ersten Autos in Deutschland hätten noch das Steuer rechts gehabt. Das habe ich erst mit Fords T-Model geändert. Links ist man, einigen Anzeichen zufolge, schon im römischen Reich gefahren.

Eine andere Frage, die mich schon seit Jahren beschäftigt, wird auch diskutiert: Warum wird in der Leichtathletik gegen den Uhrzeigersinn gelaufen? Die Antwort: Es gibt keine! Ein Mann, der zehn Jahre lang Technischer Direktor der IAAF war, Mike Gee, berichtet, wie er alle möglichen Quellen und alle möglichen Autoritäten konsutliert habe, um eine Antwort auf diese Frage zu finden, die ihm immer wieder gestellt wurde. Vergebens. Es ist so einfach so, und zwar nicht nur in der Leichtathletik, sondern auch bei den Bahnfahrern, den Eisschnellläufern und den Greyhounds! Und gilt, heute jedenfalls, ohne Ausnahme. Im 19. Jahrhundert, in den Anfangszeiten der Leichtathletik, wurde es noch unterschiedlich gehandhabt. Die Tradition des Laufs gegen den Uhrzeigersinn ist aber uralt: Schon auf vorchristlieinfach griechischen Amphoren soll es Belege dafür geben, dass gegen den Uhrzeigersinn gelaufen wird!

Am Morgen muss ich dann noch einmal ins Auto, um den Tank aufzufullen. Diesmal finde ich den Weg an der Baustelle vorbei und zur Tankstelle und zuruck. Dann gebe ich das Auto ohne weitere Komplikationen, aber immer noch mit Verargerung uber die unfreundliche Behandlung und den absurd hohen Betrag fur die Versicherung ab.

Auf dem Weg zum Buro sehe ich einen Studenten im Schneidersitz, in Meditationshaltung, auf dem Fussballfeld sitzen und beten. Ob er um gute Prufungsergebnisse oder um gute Fusballergebnisse betet?

Nach den Korrekturen gehe ich zur Bank, um mein Gehalt abzuholen. Diesmal ist es ein junger Mann, der mich bedient,nicht die mit der studierenden Schwester in Bonn. Auf dem Schalter steht ein Schild, das das persönliche Profil des jeweiligen Angestellten angibt. Lieblingsfarbe: Grün. Lieblingsfilm: Atlantic. Lieblingsgericht: Mac’n’Cheese. Hobby: Hah! As if I had the time! Ich spreche ihn darauf an. Es stellt sich heraus, dass er nebenbei studiert. Psychologie im 5. Studienjahr. Demnächst abgeschlossen. Und seit zweieinhalb Jahren dazu in der Bank arbeitet. Alle Achtung! Es sei anstrengend, aber gut. Er könne evening classes belegen, und alles sei ganz in der Nähe. Das wäre in Deutschland nicht zu machen.

Dann gehe ich zu Housing, um die Miete zu zahlen und, schwupps, ist die Hälfte des Gehalts wieder weg. Aber na ja, man tut es ja nicht um des Geldes willen.

Dann raffe ich mich endlich mal wieder zum Laufen auf. In der Nachmittagshitze. Großer Schweißfaktor.

Spater geht es ins Kino. Der Vorschlag kommt, wie sollte es anders sein, von Alexander. Er weis, dass es montags Sonderpreise gibt. Die Alternative ist ein Film uber eine psychodelische Erfahrungen einer Gruppe junger Leute auf einer Reise nach Chile und einer Adaptation von Shakespeares Mucho Ado About Nothing, der 120. Nicht gerade eine Auswahl, die einen vor Freude auf den Stuhl springen lasst, aber die Gelegenheit, hier einmal ins Kino zu gehen, sollte man sich nicht entgehen lassen.

Als ich das Wohnheim verlasse, um neun Uhr, ist es noch hell, aber es fangt dann bald an zu dunkeln. Ich bin jetzt schon sieben Wochen hier und die Tage werden kurzer.

Am Kino sind dann nur Alexander und seine Tochter. Die anderen haben sich wohl fur die psychodelische Sache entschieden, die fruher los geht. Alexander besteht darauf, fur mich zu bezahlen, und als wir dann im Kino sind, geben sie mir sogar auch noch ein Geschenk, ein Buch> Bulgakovs Master and Margerita. Mit sicherem Gespur fur das Richtige ausgesucht. Seit Jahren will ich das Buch lesen. Alle, die es kennen, schwarmen davon. Ich kenne Bulgakovs Hundeherz, und es stellt sich heraus, dass er Schauspieler, der in der Verfilmung den Professor spielt, aus Nischni stammt.

Das Kino heist Living Room, und das ist sehr passend. Man sitzt in sehr, sehr bequemen, breiten Polstersesseln mit breiten Armlehnen und so viel Raum nach vorne, dass man die Beine ganz ausstrecken kann. Es wird sogar, vorausgesetzt, man hat das rechtzeitig bestellt, Essen und Trinken serviert. Der ganze Raum hat vielleicht 25-30 Platze, mehr nicht.

Der Film ist in Schwarz-Weis, mit moderner Ausstattung und modernen Kostumen, aber Shakespeares Sprache. Man hat also Krawatten, I-Pods und Whisky-Glaser und hort dazu elisabethanische Sprache: Nay, by my trooth, good morrow. Ist gewohnungsbedurftig, aber man gewohnt sich tatsachlich daran. Wenn man das Stuck nicht gut, ist es aufgrund der Sprache und des grosen ??? nicht so einfach, zu folgen.

Es gibt ein paar schone Sentenzen zur Liebe und auch zu Barten: „What should I do with him—dress him in my apparel and make him my waiting gentlewoman? He that hath a beard is more than a youth, and he that hath no beard is less than a man; and he that is more than a youth is not for me, and he that is less than a man, I am not for him.  (II.i.28–32)

Man is a giddy thing, Film in 12 Tagen im Haus des Direktors gedreht, Benedikt und
Beatrice sind, eine einzige Zeile des Stucks ausschlachtend, als ehemaliges Liebespaar
dargestellt, das nicht wieder zusammenkommen will. Shakespeare spielt mit dem, was man unter romantischer Liebe versteht, es bedarf nur der Impulse von ausen, um aus
angeblichen Feinden und eheuntauglichen Einzelgangern ein Liebes – und Ehepaar zu machen.

Insgesamt sind wir nicht sonderlich begeistert. Alexander findet die Polizisten am besten. Die werden ein bisschen Slapstickartig und parodistisch behandelt. Er findet, fur das Stuck benotige man einen Palast, kein Privathaus.

Alexander bleiben noch zwei Wochen, und er sagt, er habe das Gefuhl, dass es schon langsam reiche. Es stellt sich heraus, dass er sich mit schriftlichen Aufgaben viel weniger Arbeit gemacht hat, aber am Ende mit jedem einzelnen Studenten ein Einzelgesrpach fuhren wird, um die Note zu begrunden. Diskussionen lasst er nciht zu. Das hat er auch von vornherein klar gemacht. Wir wurden auch evaluiert, meint er, wurden aber von dem Resultat nichts erfahren. In russland gebe es auch Evaluationen, aber keiner interessiere sich dafur oder nehme grosartig Notiz davon. In Russland gilt im Allgemeinen, was der Professor sagt.

30. Juli (Dienstag)

Am Morgen packe ich Kessel und Lampe ein, die wieder zuruck mussen. Ich habe tatsachlich meine 110 Teebeutel aufgebraucht. Fur die letzten Tage muss noch mal Starbucks her.  Im Buro mache ich mich an die letzten Feinheiten bei den Bewertungen und mache die Endnoten fertig.  Und bringe dann den Buroschlussel weg. Moglichst wenig fur morgen lassen.

Danach geht es zum OMSI. Ich nehme die Strasenbahn, aber das bringt nicht viel, da sie zwar zur Waterfront runter, aber nicht uber die Brucke fahrt. Da hatte ich gleich zu Fus gehen konnen.

Vor der OMSIsthene ganze Reihe der alten, gelben Schulbusse mit groser Schnauze und entsprechen laut geht es drinnen zu, aber auch ganz gesittet. Leider sind verschiedene Abteilungen geschlossen, um Platz zu machen fur eine grose Mumienausstellung, die gerade stattfindet. Es gibt aber dennoch genug zu sehen.

Als allererstes sehe ich eine Autokarrosserie. Komisch, da fahrt man seit Jahrzehnten Auto und so etwas noch nie gesehen. Sie ist aus einem Stuck und erstaunlich dunn. Sieht fast wie blech aus. Dass sie aus einem Stuck ist, macht sie leichter, heist es. Das war wohl nicht immer so.

Nebenan spielen Kinder an einer Vorrichtung, bei der Wasserflaschen aus Plastik in die Luft geschossen werden, mit erstaunlichem Druck und so schnell, dass man mit den Augen nicht folgen kann. Das illustriert das dritte Newtonsche Gesetz, demzufolge jede Aktion eine entsprechende, entgegengesetzte Reaktion auslost. Wie das genau auf dieses Phanomen Anwendung findet, wird mir nicht ganz klar, aber die Aktion ist wohl die, dass der Flasche das Wasser, das in ihr ist, entzogen wird, und die Reaktion ist die, dass die Flasche nach oben schnellt. Nach diesem Prinzip sollen auch Raketen fliegen.

In einem Versuchsfeld wird HAL vorgestellt, ein Roboteranzug, mit dem menschlichen Fertigkeiten verbessert werden. Man wird starker und schneller. Das wird hier auf einer Leinwand illustriert. Der Anzug empfangt Signale des Gehirns und kann darauf reagieren. Hort sich nach Science Fiction an, ist aber wohl ernsthaft in der Entwicklung. Vielleicht gibt es dann auch bald einen HAL, der auf Signale in meinem Gehirn reagiert und die Kopfhaare nachwachsen lasst.

Dann gibt es ein Erdbebenhaus. Sieht nicht so dramatisch aus, ist aber eine richtige Erfahrung. In dem Haus wird ein Erdbeben aus dem Jahr 1993 nachempfunden, dessen Zentrum in Oregon war und das die Halfte aller Bewohner gefuhlt haben. Es erreichte die Starke 5,6. Das geht noch. Und hier hat man naturlich die Gewissheit, dass es nur ein Versuch ist und man ist darauf vorbereitet. Dennoch wird es einen ganz anders. So wie in einer Strasenbahn, die plotzlich zu wanken anfangt und zu entgleisen droht.  Wie sich ein Erdbeben anfuhlt, ist nicht nur von der Starke, sondern auch von der Beschaffenheit des Bodens und des Baus abhangig, von der genauen Lokalisierung und von der Tiefe des Bebens. Das Erdbeben von 1993 ereignete sich wahrend der Schulferien. Vermutlich ein Segen.

Am Rande sieht man eine kleine Sache, die man leicht ubersehen kann, die aber auf den zweiten Blick richtig wichtig ist. Es ist eine Plastiktrommel, die man mittels eines langeren Griffs bewegen kann, entweder schieben oder ziehen. Eine Nichtigkeit, sollte man denken, aber von allergroster Bedeutung. Es ist eine Vorrichtung, mit der das Wasserholen in armeren Landern erleichtert wird. Man braucht die schweren Kruge nicht mehr zu tragen, kann grosere Mengen leichter transportieren und erspart sich Wege. Groses Kompliment an den, der sich das ausgedacht hat. Uber der Vorrichtung sind Zitate von Menschen angebracht, deren ganz normales Alltagsleben davon betroffen ist: Kinder haben mehr Zeit zum Spielen und Lernen, Mutter haben mehr Zeit fur Haushalt und Kinder.

Oben auf einer Galerie, wo es viel ruhiger ist, gibt es eine Photoausstellung. Die Photos sind atemberaubend. Schon und unkonventionell.  Alle Photographien bilden Muster dar, die Mensch oder Natur irgendwo geformt haben, von
Sanddunen an der Pazifikkuste uber Flamingos, die vor dem schwazen Hintergrund dessen,
was das Meer sein konnte, ein Muster zu bilden scheinen, als hatten sie sich eigens dafur
dort aufgestellt, ebenso wie Touristen in einem israelischen Swimmingpool bis zu den
Grundmauern einer Wustenstadt aus dem 12. Jahrhundert, die langsam im Sand verschwindet.
Alle Aufnahmen sind on oben gemacht, und erst beim Verlassen der Ausstellung lese ich,
wie das kommt: Der Photograph, Steinmetz, benutzt ein motorisiertes Paraglider. Seine
Ziele sind entfernte, abgelegene Kulturen und Gegenden. Die Aufnahmen kommen aus dem
Tschad, aus Algerien, aus Athiopien, ausdem Iran, aus Jordanien, aus Bolivien, aus China.
Europa ist uberhaupt nicht vertreten.
Dann geht es ans andere Ende des Museums, wo es Skelette ehemaliger Tiere aus dieser
Gegend zu sehen gibt, Wolfen, Sabelzahntiger, Mastodont (mit dem Mammut verwadnt). Man
erfahrt, warum Zahne immer so gut erhalten sind: Das in ihnen erhaltene Enamel ist die
hartste Substanz im Korper eines Vertrebras und schutzt vor Wetter und decay.

Dann gibt es eine schone Mineraliensammlung. Mineralien sind nicht organisch, da sie aus
Substanzen bestehen, die nie lebendig waren. In diesem Sinne ist die Kohle, obwohl sie
manchmal dazu geahlt wird, kein Mineral.
Einige Minerale wie Gold bestehen aus einem Element, andere wie Quarz aus zwei, in diesem Fall aus Silikon und Sauerstoff. Die ausgestellten Quarze sind sehr, sehr verschieden. Das liegt daran, dass sie impropieties aufweisen, zum Beispiel mit Spuren von Eisen durchsetzt sind und dann violett werden, zu einem Ametyst. Es ist schon zu sehen, dass ausgerechnet ein Fehler diese Besonderheit hervorbringt.

Den Ruckweg lege ich dann zu fus zuruck, und das geht gut. Wieder komme ich an dem Gebäude vorbei, das sich im Bau befindet und wie eine Flughafenhalle aussieht. Es ist das neue Universitätsgebäude. Einige Fakultäten werden  hierher ausgelagert, Biologie und Chemie und vielleicht auch Physik. Es gibt durchaus  Uneinigkeiten in dieser Hinsicht.

Gestern, als ich gerade vom Laufen zuruck kam, erhielt ich eine Nachrihct von eiem Student, der mich zum Laufen fur heute einlud. Da muss ich dann wohl wieder ran. Als ich am Nachmittag zum Treffpunkt furs Laufen erscheine, bin ich vollig verwirrt. Es ist ein ganz anderer Student da, als den, den ich erwartet habe, einer, der nur bei dem Vortrag war. Es hadurch eine Namenskollision ein mussverstandnis gegeben, und ich habe mit einer ganzanderen Person korrespondiert, als ich dachte. Was muss der sich nur gedacht haben, als ich auf einmal vom Laufen zu reden anfing! Er hat eine wirklich unorthodoxe Strecke ausgesucht, die standig uber Treppen fuhrt. Er bleibt an jeder zweiten Strasenecke stehen und fragt sich, ob wir jetzt besser abbiegen oder geradeaus laufen. Wir kommen dann oben ans Krankenhaus, gehen quer durch die riesige Anlage, uber eine Fusgangertunnel, fahren mit der Tram runter und laufen dann durch einen Park zuruck. Selten bin ich so froh gewesen, als eine Laufstrecke zu Ende geht.

Als ich mich am Abend dann mit einem italienischen Essen belohnen will, stehe ich vor verschlossenen Türen: um neun wird dicht gemacht! Also geht es wiederr zuruck. Unterwegs sagt eine Frau, die auf dem Gehweg steht, Excuse me, und ich will schon stehen bleiben, um eine Frage von ihre zu beantworten, aber Excuse me heist hier einfach das, was in England Sorry heist.

Ich lande ich in einem weiteren Thai-Restaurant in der Nähe des Wohnheims. Das hat im Internet sehr gute Kritiken bekommen. Das gleich nebenan, bei dem ich dieser Tage schlecht bedient worden bin aber ein gutes Curry bekommen hat, teilt die Thai-Gemeinde. Es gibt nur Verrisse oder Lobgesänge. Aus den Kommentaren kann man entnehmen, dass die  Amerikaner mit der thailändischen Küche vertraut sind. Was sie selbst essen, wenn sie nicht auswärts essen, habe ich noch nicht herausbekommen. Es scheint über all nur Sandwiches und Burger z ugeben. Dieser Tage bin ich an einem Restaurant vorbeigekommen,  das Mummys Kitchen heißt. Und was gibt es da zu essen? Sandwiches und Burger!

Die große Ausnahme ist der Truthahn an Thanksgiving. Aber er scheint wirklich die
Ausnahme zu sein. viele behaupten, der Brauch stamme aus dem Bürgerkrieg, andere, wie  Alexander, behaupten, er stamme aus der Zeit der ersten Siedler. Das sei das Essen, das denen von den Indianern angeboten worden sei. Für mich hört sich das eine so unwahrscheinlich wie das andre an. Der Brauch ist vermutlich viel jünger.

Im Zusammenhang mit Palindromen lese ich, dass es auch ein musikalisches Palindrom gibt, eine Symphonie von Haydn, die man vorwarts und ruckwarts spielen kann und die sich dadurch nicht andert. Unglaublich. Das merkt man als Laie naturlich nicht. Und vielleicht merkt das auch ein Musiker nur dann, wenn er die Partitur liest.

 

31. Juli (Mittwoch)

In einem der Bucher von Powell’s lese ich, dass Der Präsident der USA muss nach der Verfassung 35 Jahre alt sein und mindestens 14 Jahre
Resident der USA sein. Das war Washington nicht, als er gewählt wurde, 1788. Das
existierte die USA erst gut zwölf Jahre.

Auch lese ich, dass man, schon in den 80er Jahren, den Versuch gemacht hat, Dollarmunzen einzufuhren, und auch eine grose anzahl pragen lies. Die seien aber, heist es, nicht angenommen worden. Kann das sein? Wie kann man Munzen, wenn sie im Umlauf sind, veweigern? Da mussten ja praktisch alle mitmachen.

Am Morgen geht es ins Buro, zum Verabschieden. Am Kunst Museum steht, wie auch gestern am Pioneer Square, ein Klavier in der Gegend herum, an dem man sich probieren kann. Die Leute scheinen keine falsche Scheu zu haben. Der von heute spielt genauso schlecht wie der von gestern.

Am Pioneer Square stehen an der Haltestelle zwei Frauen mit vierfachkinderwagen. Sie sind auf dem Weg zum Zoo. In die Richtung will ich auch, zur Forestry Experience.  Nach drei, vier Stationen geht es unterirdsich weiter, und am Zoo befindet sich der Bahnhof weit, 450 Fus, unter der Erde. Deshalb habe ich damals beim Laufen hier die Schienen vergeblich gesucht.

 

Das Museum ist nur ein paar Schritte von der Bahnstation entfernt. Es  ist nur an drei Tagen pro Jahr geschlossen: Thanksgiving, Christmas  Day, New Year’s Eve. Das war mir auch bei anderen Museen schon  aufgefallen.

 

Hier geht es viel ruhiger zu als im OMSI. Aber es ist mindestens so  interessant. Gleich zu Anfang sieht man einen wunderbaren  versteinerten Holzstamm, quer liegend. Er sieht von Außen noch ganz  nach Baum aus, man würde sich täuschen lassen. Drinnen sieht es aber  ganz anders aus, da hat er eine schöne, glatte, gemaserte Fläche aus  Stein. Das Wasser trägt Mineralien herbei, und die ersetzen im Laufe der Zeit die Zellen des Baums. So entstehen diese Werke der Natur.

Dann gibt es drei Baumscheiben, versetzt hintereinander prasentiert, eine grose, eine sehr grose und eine sehr, sehr grose, 60 Jahre alt, 240 Jahre alt, 635 Jahre alt. Die erste, die aus einem Wald stammt, der fur Holzproduktion aufgeforstet wurde, hat breitere Ringe als die beiden anderen. Der Wald wird ausgedunnt und so kommt Sonne dran! Bei der zweiten kann man sehen, wie die Ringe im Laufe der Jahre kleiner werden. Das Wachstum hat sich verlangsamt. Bei der dritten kann man besonders gut sehen, dass es abwechselnd breitere, helle und dunklere, feinere Ringe gibt. Es werden namlich zwei Ringe pro Jahr ausgebildet, einer im Fruhling, einer im Herbst.

Dann gibt es etwas zu Waldbranden. Die hat es schon immer gegeben, in Oregon seltenere und grosere im Westen und kleinere und haufigere im Osten. Heute werden alle Waldbrande geloscht, aber es gibt auch Stimmen, die das nicht gutheisen. Sie sagen, dass durch das Loschen brush und andere fuels entstehen.

Auf einer Karte sieht man, dass fast der gesaamte Westen Oregons Waldgebiet ist, mit der Ausnahme eines Streifens von Eugene nach Portland. Da verlauft auch genau die Autobahn her, uber die ich dieser  Tage gekommen bin. Der Osten hat nur gut ein Drittel Wald.

In einem Fenster sieht man Produkte aus Holz, unter anderem eine Bluse, Rayon, aus
Baum-Zellulose gemacht, in Frankreich entwickelt als Alternative zu den teuren Seidenblusen. Sieht wie eine Baumwollbluse aus. Sie fangt aber leicht Feuer! Und wird in der hier prasentierten Form nicht mehr produziert. Es sind auch Tahnpasta, Medikamente, Terpentin, Cellophan, Reifen, Farbe und Eis zu sehen. Alle enthalten Elemente, Zucker, Ol, Chemikalien, Rosinen usw. Die aus Holz gewonnen werden.

Dann kann man fund Holzer zum Vergleich heben. Das Gewicht ist erstaunlich unterschiedlich. Fichte ist das leichteste, Cocobolo das schwerste.

Im Obergeschoss gibt es dann noch etwas zu Waldern in anderen Teilen der Welt. Auf dem Weg dahin sieht man einen nachgebauten Kakaobaum. Er ist erstaunlich klein. Er wachst unter anderen Baumen, und nur am Aquator in einer Entfernung von nicht mehr als 20$ davon. Es muss warm, feucht, schattig und regenreich sein. Wenn nur eine dieser Bedingungen fehlt, wachsen keine oder keine nennenswerten Fruchte.

Oben kann man in einem Waggon der Transibirischen Eisenbahn, in einem chinesischen Schiff, in einem Jeep des Kruger National Park und in einem Baumaufzug aus dem Regenwald sitzen und eine virtuelle Fahrt durch die Walder russlands, Chinas, Sudafrikas und Brasiliens antreten. Sibirien hat ein Funftel des gesamten Waldbestands der Erde und die Halfte des Gesamtbestands an Nadelbaumen. Dennoch gibt es Probleme, vor allem fur die Holzfaller. Die Gebiete sind entweder abgeholzt oder geschutzt. Es gibt aber ein groses Aufforstungsprogramm.

Dasselbe gilt fur China. Da wird der Tag des Baumes dargesellt, an dem jeder Chineses drei bis funf Baume pflanzen soll. Da kommt schon ordentlich was zusammen: 50 Billionen Baume sind gepflanzt worden. Das ist deshalb notig, weil durch den wachsenden Bedarf der wachsenden chinesischen Mittelklasse China inzwischen Holz importiert und sich nicht mehr selbst versorgen kann.

In Sudafrika sieht man, wie die Einheimischen, wie ich das auch in Tansania gesehen habe, die Aste der Baume abtrennen und dann grose Ladungen auf dem Kopf wegtragen. Man brauchte das Holz tradionellerweise furs Bauen und Kochen und Heizen, wie in allen Gegenden der Welt. In anderen Gegenden kam dann noch der Schiffbau hinzu.

Im regenbogenwald kann man einer Forscherin oben auf die Kuppe der Baume folgen. Hier spielt sich das richtige Leben im Urwald ab, nicht unten. Es gibt Tiere, und naturlich Pflanzen, die sich nur hier oben finden. Dies ist auch die ursprungliche Heimat der Orchideen.

Zum Schluss gibt es noch ein Zuckerstuckchen. Man sieht den Stamm einer Weide, die auf den ersten Blick nichts Besonderes ist. Dann sieht man aber, wie an einem Ende ein Stuck Eisen herausguckt. Es ist das Ende des Laufs eines Gewehrs. Das wurde irgendwann in einem crotch in dem Baum vergessen, und der Baum hat es jetzt, bis auf die Spitze, ganz in sich aufgenommen!

 

 

 

 

 

 

 

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