Ganz natürlich?

In einem Radiovortrag geht es um das selbstständige Lernen. Im “Stationenlernen”, einer Form des sog. “schülerzentrierten Unterrichts”, bestimmen die Schüler selbst über das Tempo, die Reihenfolge und den Umfang ihrer Arbeit an den einzelnen Stationen. Der schülerzentrierte Unterricht erfreut sich großer Beliebtheit, u.a. deshalb, weil er eine Form ist, der immer größeren Heterogenität der Schulklassen gerecht zu werden. Anleitungen für den schülerzentrierten Unterricht finden sich oft in Ratgebern für Praktiker, von Praktikern geschrieben. Die Begründungen für die Unterrichtspraxis greifen aber oft zu kurz oder schließen die Theorie ganz aus und haben keinerlei empirische Grundlagen. Theorieanleihen werden gemacht bei popularisierten Darstellungen der Hirnforschung und nicht aus der Erziehungswissenschaft. Das Gehirn interessiere sich nur für persönlich Relevantes und lerne nur dann, wenn der Aufwand sich subjektiv lohne, heißt es. Die Lernumgebung müssten persönliches Interesse wecken und einen Anschluss an die Lebenswelt der Lernenden herstellen. Der Rekurs auf die Hirnforschung dient also in erster Linie der Legitimation handlungsorientierter und schüleraktivierender Lernformen. Wie sich Lernen tatsächlich vollzieht, wird dadurch aber nicht erklärt, und dass das Lernen selbständig verlaufen soll und kann scheint keiner weiteren Begründung zu bedürfen. Das selbständige Lernen erscheint schlicht als natürliche Form des Lernens. Welche Belege haben wir aber, dass die Kinder, die die verschiedenen Stationen des Stationenlernens (zum Thema Brücken) durchlaufen haben, tatsächlich etwas gelernt haben? Die Kinder haben ihre Arbeitsaufträge erledigt und sie auf ihren Laufzetteln abgehakt. Ob die inhaltsbezogenen Kompetenzen, die der Lehrplan vorsieht, tatsächlich erworben wurde, weiß man nicht. Die Kinder haben zwar ausgefüllte Arbeitsblätter in den Händen und selbstgebastelte Brücken, aber haben sie etwas über deren Konstruktionsprinzip verstanden? Haben sie Transferfähigkeiten entwickelt? So die Argumente einer Freiburger Pädagogin in dem Radiovortrag (Nicole Vidal: “Relevanz neurowissenschaftlichen Wissens für die pädagogische Praxis und Theoriebildung”, in: Aula, SWR 2: 30/09/2018). Mir persönlich scheint hier ein zentrales Problem berührt zu sein, ein Problem, das nicht nur für den schülerzentrierten Unterricht gilt, sondern auch für andere Lernformen: Lernerfolg wird vorausgesetzt, ohne Nachweise. Tun wird mit Lernen gleichgesetzt. Dass man sich mit etwas beschäftigt, heißt aber noch lange nicht, dass dabei “etwas herauskommt”. Das weiß jeder, der mal mit stupidem Fleiß seitenweise Fachliteratur gelesen hat oder jeder, der mal eine Seite Vokabeln gelernt hat. Ob und wann etwas “hängenbleibt”, wann es tatsächlich “Klick” macht, ist oft nicht einmal im Nachhinein zu entscheiden, geschweige denn, vorauszusagen. Lernen ist eine verdammt komplizierte Angelegenheit.

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