17. Februar (Sonntag)
Kalkutta! Bombay! Das ist Indien. Man fährt zum Ganges oder in den Himalaya. Aber Delhi? Hört sich staubtrocken und mausgrau an. Trotzdem: Die erste Reise ins neue Land geht in die Hauptstadt. Damit habe ich gute Erfahrungen gemacht, ob in Malaysia, in Mexiko oder in Malta. Und der Reiseführer gibt mir recht: Delhi ist tatsächlich älter als Kalkutta und Bombay, es hat außerdem Old Delhi und New Delhi, und Agra mit dem Taj Mahal ist nah genug für eine Tagestour. Ich kann mich noch erinnern, wann ich den Namen Taj Mahal zum ersten Mal gehört habe: Als ich Kind war, machte unsere Zeitung eine Umfrage bei den Lesern, um herauszufinden, welches die sieben Weltwunder der Moderne waren. Das Taj Mahal war dabei.
Am interessantesten bei der Lektüre zur Vorbereitung sind die Religionen: die Vielfalt, die Unterschiede, die Versuche, eine Synthese aus zwei alten Religionen zu machen, die Reformbewegungen innerhalb der Religionen, die historischen Wechselfälle. Zwei Beispiele: Der Buddhismus, der aus Indien kommt, hat hier nur noch einen kleinen Anteil an den Religionen. Und die beiden wichtigsten Religionen, der Hinduismus und der Islam, sind so verschieden, wie man es sich nur denken kann: Vielgötterei gegen Monotheismus, bunte Bilderwelt gegen Bildverbot.
Außerdem gibt es auch im Hinduismus eine Dreifaltigkeit. Sie heißt hier Trimurti, und besteht aus Brahma, dem Schöpfer, Vishnu, dem Erhalter, und Shiva, dem Zerstörer und Erneuerer. Nach der christlichen Dreieinigkeit, der kapitolinischen Trias (Jupiter, Juno, Minerva) und den ägyptischen Isis, Osiris und Horus begegne ich schon zum vierten Mal einer Dreizahl an der Spitze der Götterhierarchie. Zufall? Die Besonderheit der hinduistischen Götter ist, dass sie, wie die Menschen, wiedergeboren werden und in immer neuen Inkarnationen auftreten. So sind Rama, Krishna und Buddha alle Inkarnationen ein und desselben Gottes, Vishnu.
Auf der ganz praktischen Seite gibt es die Besonderheit, dass der Zeitunterschied zu Deutschland nicht vier oder fünf Stunden, sondern viereinhalb Stunden beträgt! Zeitzonen innerhalb von Indien scheint es nicht zu geben. Das Land ist riesig, aber eher lang als breit.
Eher zufällig habe ich herausgefunden, dass man ein Visum braucht. Das kam überraschend. Das indische Konsulat hat die Sache einer privaten Firma übergeben, so dass außer den Konsulatsgebühren auch noch Gebühren für die Abwicklung anfallen. Dafür geht es sehr effizient zu. Kaum ist der Antrag da, bekommt man schon die Nachricht, dass er angekommen ist und welche Daten noch fehlen. Auch als die vorliegen, bekommt man eine Nachricht darüber, dann wird man informiert, dass die Sache in Bearbeitung ist und dann, dass sie abgeschlossen ist. Und am nächsten Tag ist der Pass mit dem Visum da. Am Anfang steht allerdings ein umfangreiches Formular im Internet. Das schrumpft langsam zusammen, wenn man bestimmte Felder, die nicht zutreffen, negativ beantwortet hat. Man muss aber Namen und Beruf von Vater und Mutter angeben. Schwer zu verstehen, was das mit einem Visum zu tun hat, wenn Vater und Mutter seit 50 bzw. 20 Jahren tot sind.
Am Flughafen in Frankfurt geht es bei India Air langsam zu. Eine Geduldsprobe. Vermutlich eine gute Vorbereitung auf das Land. Alle Daten werden auf vorsintflutlichen Computern per Hand eingegeben. Eine der Angestellten beklagt sich sogar laut darüber. Überall stehen Ordner herum, die Unordnung in die herrschende Ordnung bringen. Es grenzt an ein Wunder, dass wir nur mit einer halben Stunde Verspätung abfliegen.
Das Flugzeug, bis auf den letzten Platz besetzt, hat auch ein paar Altersschwächen: die Leselampe geht die ganze Nacht über immer wieder von selbst an und aus, der Bildschirm bleibt schwarz, der Lautsprecher krächzt und dringt nicht bis zu uns auf den letzten Plätzen vor, der Sitz hat eine Feder, die herausspringt und sich mir in den Rücken drückt, der Teppichboden ist voller Flecken und Risse, die notdürftig geflickt sind. Die Plastikfassungen sind brüchig und in den Ritzen stecken noch die Servietten und Zahnstocher der letzten Passagiere.
Über das Schwarze Meer und das Kaspische Meer geht es in einem sanften Bogen Richtung Südost. Delhi liegt ungefähr auf der Höhe von Kairo und von New Orleans, etwas nördlich von Schanghai.
Unter den Passagieren viele junge Rucksacktouristen, meistens Frauen, denen man ansieht, dass sie in Katmandu dem Sinn des Lebens auf den Grund gehen wollen, und ältere Frauen mit strengen Frisuren und Nickelbrillen, denen man ihre Überzeugung ansieht, dass sie die Welt verbessern könnten, wenn man sie nur ließe.
Die Passagiere sind zur Hälfte Deutsche, zur Hälfte Inder. Die gibt es in dunkelhäutig und in hellhäutig. Das sind die Arier, die in der Vorzeit in Indien, vermutlich von Mittelasien kommend, eindrangen und sich die Draviden untertan machten. So jedenfalls eine Konstanze der indischen Geschichtsschreibung. Die aber jetzt ins Wanken gerät. Es gibt Wissenschaftler, die behaupten, die Draviden seien damals noch gar nicht da gewesen. Dann muss die indische Geschichte umgeschrieben werden. Jedenfalls sind es die Arier, die ihre Sprache mitgebracht haben und die, wie das 19. Jahrhundert zu seinem Erstaunen entdeckte, mit unseren Sprachen verwandt ist. Eine Sensation, ausgerechnet von einem britischen Richter entdeckt, der hier nichts Besseres zu tun hatte als Sanskrit zu lernen, die alte Sprache der indischen Religion – so etwas wie das Latein Indiens – und auf einmal merkte, dass es da Ähnlichkeiten mit Latein und Griechisch, aber auch den „gotischen“ Sprachen gab, die es eigentlich gar nicht geben dürfte. Ich mache den Versuch mit Hindi, mit den paar Wörtern, die im Reiseführer stehen. Kein Erfolg, bei keinem einzigen der Wörter kann ich irgendeine Verbindung mit unseren Sprachen herstellen – bis ich die Zahlen entdecke. Da geht es: ek, do, tin, char, panch. Die hätte man identifizieren können, auch sat für sieben und nau für neun.
Wieder mit den Gedanken im Flugzeug angelangt, sehe ich Saris, aber keine Turbane. Eine Frau trägt einen prachtvollen roten Sari, ihr Mann eine dicke, schwarze Lederjacke. Auch die Stewardessen tragen einen Sari, oder zumindest etwas in der Art.
Neben mir sitzt ein indisches Ehepaar aus New York, das dort einen Importhandel für indische Waren betreibt. Offensichtlich ein lohnendes Geschäft. Sie reisen jedes Jahr in die alte Heimat und lassen sich Zeit dabei. Diesmal mit Zwischenaufenthalten in Singapur und Barcelona.
Sie fragt mich nach meinen Plänen und ist überrascht, dass ich so lange in Delhi bleiben will. Das passiert in den nächsten Tagen immer wieder. Langsam kommen mir Zweifel. Sie ermahnt mich, vorsichtig zu sein. Wovor? Warum? Ich vermute, es sind die Schlepper, vor denen sie mich warnen will, aber sie kennt wohl kein richtiges englisches Wort dafür und beschränkt sich aufs Gestikulieren. Statt mich artig zu bedanken, sage ich: Das kenne ich aus anderen Ländern. Aber das lässt sie nicht gelten: The Indians are smart. Smarter than others.
18. Februar (Montag)
Am Gepäcklaufband treffe ich eine junge Frau wieder, die mir schon in Mainz am Bahnhof mit den verspäteten Zügen geholfen und die ich dann beim Einchecken und dann beim Einsteigen wieder getroffen habe. Sie reist weiter, bleibt aber erst mal einen Tag in Delhi. Sie sagt, sie freue sich jetzt aufs Bett. Ich sage, ich auch, aber tatsächlich habe ich eher vor, bis zum Abend auszuhalten, um mich an den Zeitunterschied zu gewöhnen.
Sie tauscht Geld um, ich versuche es an einem Geldautomaten. Nach mehrmaligen vergeblichen Versuchen geht mir auf, dass man erst die Geldkarte herauszieht, bevor man die Daten eingibt. Dann klappt es. Ich hebe 8.000 Rupien ab, ungefähr 100 €. Alles kommt in Tausendern. Das wird sich als Problem erweisen. Wechselgeld ist in Indien knapp.
Ich werde von einem Taxifahrer des Hotels abgeholt. Das hat den Vorteil, dass man dort wirklich ankommt und zu einem festen Preise fährt, den man später im Hotel begleicht und nicht bei den schlitzohrigen Taxifahrern. Die Hotels lassen sich das gut bezahlen. Aber eigentlich geschieht es in ihrem eigenen Interesse. Die Taxifahrer bringen die Passagiere, mit der Begründung, das Hotel sei geschlossen, ausgebucht oder abgebrannt, in ein teures Hotel in die Außenbezirke und kassieren dort eine Kommission.
Erst, als ich an der falschen Seite einsteigen will, merke ich: Linksverkehr! Natürlich, wir befinden uns im britischen Empire.
Der erste Eindruck von Delhi ist alles anderes als berauschend: diesig, wolkig, viel Asphalt und Zement, alles Grau in Grau. Und warm ist es auch nicht, gerade einmal 11°.
Nach einem kurzen Stück Schnellstraße wird es bald indisch: dichtes Verkehrsgewimmel auf engen Straßen. Überholt wird ständig und von allen Seiten, und gehupt auch, mit und ohne Grund. Es gibt drei Varianten: anhaltend, wiederholt und einfach. Das erste bedeutet so etwas wie „Vorsicht!“, das zweite „Weg da!“, das dritte macht man nur so aus Gewohnheit.
An einer Straßenecke warten ganze Reihen von Kleinbussen und gelben, motorisierten Rikschas, dem indischen Äquivalent zu den cocotaxis in Havanna. Sie sind aber eckiger. Und entlang der Straße warten altersschwache Schulbusse auf das Ende des Unterrichts. Einer von ihnen heißt Krishna.
Die Pension, ein Familienbetrieb, liegt in einer etwas ruhigeren Straße, von außen praktisch nicht zu erkennen. Man wird sehr freundlich empfangen. Das Zimmer liegt oben am Rande einer Dachterrasse und ist winzig klein. Es hat nur ein niedriges Bett und eine niedrige Anrichte, die mit Räucherstäbchen, Altären und Heiligenbildern vollgestellt ist. Es gibt keinen Schrank, keinen Tisch, kein Waschbecken. Die Toilette ist draußen und die Dusche auch. Um warmes Wasser zu bekommen, muss man eine Viertelstunde vorher einen Schalter betätigen.
Bei dem Roman, den ich gerade begonnen habe, The God of Smaller Things – indische Autorin, indischer Schauplatz – bin ich anfangs verwirrt, bis sich herausstellt, dass Esta, eine der Hauptfiguren, ein Mann ist. Der Name klingt nach Frau. Ähnlich geht es mir bei den hinduistischen Göttern wie Shiva. Alles Männer. Jetzt kann ich aber feststellen, dass Ushi tatsächlich eine Frau ist, obwohl es sich nach Frau anhört. Das ist die Eigentümerin der Pension. Avnish ist ihr Mann.
Ich bekomme gerade mit, wie sich eine der überadaptierten Amerikanerinnen überschwänglich für das Zimmer bedankt. Sie trägt Plunderhosen – ich erinnere mich, dass Pyjama auf dem Umweg über Persien zu uns gekommen, aber eigentlich ein indisches Wort ist – und bedankt sich auf indische Art, mit gefalteten Händen vor dem Gesicht und einem Kopfnicken. Sie macht das mehrmals, damit auch jeder mitkriegt, wie gut sie das kann.
Dann kommt eine dänische Familie herein, die ich gleich als Dänen identifiziere. Die kleine Tochter fragt mich, ohne Scheu, woher ich denn käme, natürlich in fließendem Englisch.
Mein Plan, mir als erstes den Lakshmi-Tempel anzusehen, einfach deshalb, weil er nicht weit weg ist, scheitert an der indischen Realität: Es gibt überhaupt keine Beschilderung, auch keine Straßennamen, und zu meiner Überraschung kaum jemanden, der Englisch spricht. Die wenigen, die Englisch sprechen, nutzen es dazu, einem etwas anzudrehen oder einen übers Ohr zu hauen. Wenn man nach einem Ort fragt, wird man, statt eine Antwort zu bekommen, eingeladen, mitzukommen oder mitzufahren.
Der Verkehr tut sein übriges. Die bunte Vielfalt ist zwar schön anzusehen – Handkarren, Kleintransporter, Fahrräder, Rikschas, motorisierte und nicht motorisierte, und vor allem Hunderte von Rollern – macht aber das Überqueren der Straße zu einem Abenteuer. Fußgängerampeln gibt es nicht, und die paar Zebrastreifen, die ich später im Zentrum sehe, haben eher dekorative Zwecke. Als ich die erste Querstraße erreiche, stehe ich erst ratlos davor und atme dann tief durch, als ich sie überquert habe.
Auf der anderen Straßenseite entdecke ich das erste Hakenkreuz, an einem Monument, das aus aufgeschichteten Steinquadern besteht und vermutlich religiöse Bedeutung hat. Das Hakenkreuz – auch das haben die Arier mitgebracht – bekrönt das Monument.
Dann kommt das nächste Problem: Bürgersteige sind Mangelware, und da, wo es sie gibt, vollgeparkt oder aufgerissen oder überflutet. Da muss man sich auf der Fahrbahn durchschlagen, und da ist man ganz klar der Schwächste, was die anderen einem auch zu verstehen geben. Might is right, lese ich später in einem alten Reiseführer, der in der Pension herumliegt.
Ich komme an einem riesigen Krankenhaus vorbei. Von dem Tempel ist weit und breit keine Spur. Ziellos gehe ich weiter. Ich sehe einen Frisör, der seinen Betrieb im Freien hat. Der einzige Einrichtungsgegenstand ist ein Stuhl. Hier lassen sich Inder frisieren und vor allem rasieren.
Dann sehe ich einen Park, der seinen Namen nicht so richtig verdient. Auf dem Rasen, der seinen Namen überhaupt nicht verdient, spielen junge Leute mit großer Leidenschaft das englischste aller Spiele: Cricket. An dem Zaun, den das Spielfeld von der Straße abtrennt, hängen Bilder von hinduistischen Göttern. Indien im Kleinformat.
An einem verdorrten Baum am Straßenrand hängen ein Rosenkranz und Devotionalien.
Endlich entdecke ich ein passabel aussehendes Café. Dort gibt es einen guten Kaffee und vor allem einen wunderbaren, warmen Kuchen, eine Art Kaffeekuchen, der etwas wie englische crumpies schmeckt.
Eine Touristin am Nebentisch, die ich nach dem Weg frage, ist eine Deutsche aus Stuttgart. Sie kenne zwar viele Stätten in Delhi, aber nicht, wie man dahin kommt. Sie fahre immer mit dem Auto mit ihrem Freund. Sie weiß aber, dass in der Richtung, aus der ich komme, eine Metrostation ist. Die Untergrundbahn heißt hier wirklich, nicht sehr britisch, Metro. Aber bei der Ankunft an einer Station hört man Mind the gap. Sehr britisch.
Am Eingang der Metrostation, zu der man rauf, nicht runter geht – es ist meist eine Übergrundbahn – fällt mir als erstes ein Schild auf: Spitting is Prohibited.
Es gibt keinen Einheitspreis. Glücklicherweise gibt es richtige Fahrkartenverkäufer, keine Automaten. Für die Fahrt zum Connaught Place, der jetzt nach dem ehemaligen Premierminister Rajiv Chowk heißt, bezahlt man 12 Rupien, knapp 20 Cent. Man bekommt einen elektronischen Chip, den man beim Verlassen der Metro wieder einwerfen muss.
Vor dem Betreten der Metro wird man durchleuchtet. Das muss für die Pendler ziemlich lästig sein, die das jeden Tag über sich ergehen lassen müssen.
Die Metro ist erst zehn Jahre alt. Sie aber älter aus. Die Wagen sind zwar einigermaßen modern, aber kein Vergleich mit Peking oder Medellín, die auch erst in den letzten Jahren eine U-Bahn bekommen haben.
Als ich auf dem Bahnsteig bin, muss ich feststellen, dass der Metro-Plan dort nur auf Hindi ist. Da ist man ziemlich aufgeschmissen. Die Schrift hat oben eine einheitliche Linie, nur nach unten variieren die Zeichen in der Länge. Über der Linie, die oft tatsächlich gezeichnet wird und an der die Zeichen herunterzuhängen scheinen, gibt es nur hier und da einen Bogen oder einen Strich, vermutlich Akzente oder diakritische Zeichen. Verstehen tut man nichts, außer den Zahlen. Die haben wir schließlich aus Indien, auch wenn wir sie arabisch nennen.
Es gibt, wie in Kuala Lumpur, U-Bahn-Wagen für Frauen. Sie sind auf dem Boden rosa markiert.
Ich fahre zum Connaught Place, dem Rajiv Chowk, dem Zentrum von Neu Delhi, dem britischen Delhi.
Rajiv Chowk ist die zentrale Station überhaupt, angeordnet um eine runde Halle, in der die Ströme der Passagiere in die verschiedenen Richtungen laufen. Es ist so voll, dass man sogar Schwierigkeiten hat, den Ausgang zu finden.
In der Metro gibt es sogar Toiletten. Das gab es, wenn ich mich richtig erinnere, in London früher auch, aber man hat es dann aufgegeben. Kaum in Schuss zu halten. In anderen Städten hat man gleich darauf verzichtet. Ein Mann weist mir den Weg, fragt mich, vorher ich komme und bezahlt dann die eine Rupie an den Toilettenmann für mich, da ich kein Kleingeld finde. Dann habe ich ihn am Hals. Ich versuche, ihn loszuwerden – vergeblich. Als wir zum Ausgang kommen, deute ich nach links und biege dann im letzten Moment nach rechts ab. Als ich die Treppe raufgehe, überholt er mich auf der linken Spur, ohne mich zu erkennen. Ich drehe mich um und gehe doch links raus. Geschafft!
Der Connaught Place sieht mit seinen regelmäßig um ein großes Oval angeordneten Straßen sehr übersichtlich aus. Hier herrscht westeuropäische Ordnung. Jedenfalls auf dem Stadtplan. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Der Platz ist viel zu groß, um die Übersicht zu behalten, und außerdem wird an jeder Ecke gebaut.
Der Connaught Place ist das Zentrum der Schlepper. An jeder Ecke wird man angesprochen. You want guide, Sir? – What you lookin, Sir? Ich will mich gerade auf die Suche nach der Touristeninformation machen, als mich einer anspricht: Tourist Information? Im letzten Moment besinne ich mich. Er weist auf ein Gebäude gleich um die Ecke, die Touristeninformation ist aber auf der Janpath, einer Prachtstraße, die vom Connaught Place ausgeht. Die Masche mit der Touristeninformation besteht darin, dass es sich vertrauensvoll anhört. Es sind aber private Organisationen, die einem teure Ausflüge andrehen, statt zu informieren.
Ich gehe die ganze Janpath rauf und runter, ohne etwas zu finden. Hier sieht man ein paar moderne Hochhäuer mit Elefantenfüßen.
Ich sehe ein Verkehrsschild, auf dem es in drei verschiedenen Farben heißt: no halting, no parking, no stopping.
An einer Ecke sehe ich einen Buchladen, der nur aus Reihen von horizontal übereinandergestapelten Büchern besteht und ein ganzes Garagentor einnimmt. Was macht der bloß, wenn man ein Buch aus der Mitte will?
Wieder auf dem Connaught Place angelangt, setze ich mich erschöpft auf einen Stein. Neben mir macht sich ein Hund an einem Beutel mit Fleischresten zu schaffen. Den bekommt er aber nicht auf. Man würde zu gerne helfen, aber Hunde sind gefährlich. Wegen der Tollwut. Man hat mich in Trier beim Gesundheitsamt ausdrücklich gewarnt.
Ausgerechnet hier, in Neu-Delhi, der Vorhut der Zivilisation, sehe ich echte Misere. Eine Familie, die mitten in einem Müllberg sitzt und wohl auch hier lebt. Sonst gibt es viel Armut tu sehen, viele Bettler, die vermutlich nichts haben als das, was sie am Körper tragen. Aber gewöhnlich sitzen sie an besseren Plätzen, zum Beispiel vor dem Gitter eines Parks.
Als ich wieder zurückfahre, will ich mich bei meiner Metrostation in einem Geschäft mit Keksen für den Notfall versorgen. Aber ein bewaffneter Soldat wehrt mich energisch ab, obwohl Kunden in dem Laden sind: Closed. Paradox. Über dem Eingang steht: Open 24/7.
Irgendwie gelange ich dann wieder in die Pension zurück. Dort kann man jederzeit Snacks bestellen. Ich bekomme paratha, das, was man hier Brot nennt. Es entspricht aber eher unseren Pfannkuchen. Sie sind mit Käse gefüllt und werden mit Joghurt und mariniertem Mango serviert. Es gibt eine ganz ordentliche Auswahl einfacher Gerichte, und man kann überall essen. Erst später merke ich, dass alle Gerichte vegetarisch sind.
Auch wenn das Brot kein Brot in unserem Sinne ist, bestätigt es etwas, was ich vorher gelesen habe: Nicht Reis ist das Grundnahrungsmittel in Nordindien, sondern eben Brot. Im Süden ist das anders.
19. Februar (Dienstag)
Es gibt „indisches“ oder „kontinentales“ Frühstück. Ich nehme das indische. Das ist dasselbe wie das Abendessen. Der einzige Unterschied ist, dass die Pfannkuchen statt mit Käse mit Kartoffeln gefüllt sind.
Den Raum verschließt man mit einem riesigen Vorhängeschloss. Darauf steht: Lock with Freedom.
Den Weg zur Metro finde ich heute ohne Probleme. Die Wagen sind so voll, dass ich zwei vorbeifahren lasse, bevor ich einsteige. Sie kommen aber praktisch im Minutentakt. Am Tag davor habe ich einen Bus gesehen, der so voll war, dass er mit offener Tür fuhr.
Heute geht es in die Altstadt. (Warum hört sich Alt-Delhi komisch nicht, nicht aber Neu-Delhi und weder Old Delhi noch New Delhi?). Hier ist der Verkehr noch dichter, das Bild noch bunter, aber die Straßen sind kleiner und irgendwie fühlt man sich besser.
Überall sieht man, wie geschnürte Ballen transportiert werden, auf Leiterwagen, auf Fahrrädern, auf dem Kopf. Sie enthalten vermutlich Stoffe. Jedenfalls habe ich vor einem Stoffbasar besonders viele gesehen. Ein Leiterwagen ist so schwer beladen, dass ein Mann zieht und zwei hinten schieben.
Hier sieht man auch Dreiräder, wie ich sie noch aus meiner Kindheit kenne, kleine, wendige Fahrzeuge mit einem Aufbau für den Transport von Waren. Die sind hier alle grün, und irgendwie glaubt man unwillkürlich, dass sie Obst und Gemüse transportieren. Am Straßenrand überall Gemüsekarren und Obstkarren und Garküchen. Über ihnen kreisen Scharen von Vögeln, die wie Krähen schreien und wie Adler aussehen.
Fahrräder sind hier grundsätzlich Transportmittel. Man fährt nicht mal nur so zum Spaß Rad. Meistens transportieren sie Gasflaschen oder Milchflaschen.
Ein Mann überquert in aller Ruhe die Straße, trotz der vielen Fahrzeuge, und putzt sich dabei die Zähne.
Über einer Kreuzung hängen ganze Bündel von Stromkabeln herunter. Die Elektriker nennen so was Affenschaukel. Ich sehe rauf und da ist tatsächlich ein Affe, der sich da schaukelt.
Von der Metrostation kann ich mich auch ohne Straßennamen zur Moschee, der Jamia Masjid, durchfinden.
Die Jamia Masjid, die größte Moschee in ganz Indien, liegt erhöht. Eine breite, rote Freitreppe führt zu ihr hinauf. Man zieht seine Schuhe aus und steht dann auf einem großen, quadratischen Innenhof. Sehr schön. Rechts liegt die Moschee selbst. Nur kann ich den Eingang nicht finden. Erst gehe ich links herum, dann rechts, dann versuche ich es von vorne. Nichts. Kann doch nicht sein. Da höre ich einen Fremdenführer Spanisch sprechen. Den frage ich. Die Antwort: Es gibt keinen Eingang. Das ist alles. Die Moschee hat kein Inneres. Deshalb sitzen auch Frauen und Männer draußen vor den Nischen und beten.
Die Moschee wurde erbaut von Shah Jahan, einem der letzten Mogulherrscher gebaut. Dem Namen werde ich in den nächsten Tagen immer wieder begegnen. Er war ein Architekturfanatiker und setzte sich mit monumentalen Werken ein Denkmal. Das berühmteste ist das Taj Mahal in Agra. Das nächstgelegene das Rote Fort von Delhi.
Dahin gelange ich zu Fuß, muss mich aber ständig der Rikschafahrer erwehren, von denen man alle paar Meter angesprochen wird und die nicht einfach loslassen, nur weil man nein sagt.
Als ich dann am Fort ankomme, gebe ich nach. Das Fort ist so groß, dass es bis zum Eingang weiter ist als von der Moschee zum Fort. Also lasse ich mich zum ersten Mal von einer Fahrradrikscha kutschieren. Der Junge will am Ende wirklich nur 10 Rupien für seine Leistung, kündigt aber an, auf mich zu warten, um mich danach durch die Altstadt zu fahren. Davon lässt er sich nicht abbringen, ganz egal, was ich sage.
Das Fort sieht von weitem wie der Moskauer Kreml aus und ist auch ähnlich groß, wie eine Stadt für sich, mehr als nur eine Festungsanlage.
Durch das mächtige Lahore-Tor geht man hinein, und dann durch Chatta Chowk, den ehemaligen Basar, in den Innenbereich. Da, wo sich früher der Basar befand, befinden sich heute Souvenirgeschäfte, die Tradition fortführend, sozusagen. Damals wurden hier Luxusgüter wie Seide, Brokat, Edelsteine und Samt angeboten, heute gibt es Krimskrams. Der Basar befindet sich in einer überdachten Passage, mit Geschäften auf beiden Seiten. Damals war es ganz ungewöhnlich, im Fort einen Basar zu haben. Shah Jahan hatte das in Pakistan gesehen und die Idee mitgebracht.
Dann kommt man an ein freistehendes Gebäude, Naubat Khana, das ‚Trommelhaus‘, so genannt, weil hier fünfmal am Tag zur Begrüßung der Gäste aufgespielt wurde. Es ist das Eingangstor in den Innenbereich, und hier mussten die Gäste ihre Elefanten abgeben. Das Gebäude hat auf der Rückseite, der Palastseite, schöne Blumenornamente.
Dann erst kommt man in das eigentliche Innere. Auf dem Gelände laufen überall kleine gestreifte Nagetiere herum, die ich wegen ihres grün-weißen Fells erst nicht als das identifiziere, was sie sind: Eichhörnchen! Sie werde mich in den nächsten Tagen überall verfolgen und viele Photos verursachen, auf denen man gar nichts sieht, weil die Biester im Moment der Aufnahme schon das Weite gesucht haben.
Außerdem stehen hier überall Würgefeigen mit ihren Luftwurzeln. Sie sind wie das botanische Leitmotiv meiner Reisen. Wo ich hinkomme, sind sie schon. Zum ersten Mal habe ich sie in Tansania gesehen, wenn ich mich richtig erinnere.
Auf dem Gelände kommt man sich etwas verloren vor. Vielleicht hätte ich doch einen der vielen Führer, die sich am Eingang angeboten haben – You want guide, Sir? – nehmen sollen. Es gibt eine ganze Reihe niedriger, weißer Marmorbauten mit unterschiedlichen Funktionen: Hammam, Empfangshalle, Moschee, Brunnenhaus und, am schönsten, der Privatpalast. Die Funktion sieht man den Gebäuden aber nicht an. Sie sehen alle ähnlich aus. Ausstattungen gibt es gar keine mehr, und richtige Türen und Fenster auch nicht. Ob nur noch der Rohbau vorhanden ist? Oder konnten sie bei dem milden Klima einfach offen sein?
Man erfährt, dass vor dem Privatpalast, dem Khas Mahal, Kämpfe zwischen Löwen und Elefanten stattfanden. Wie hat man die nur dazu bekommen, sich zu bekriegen? In der freien Wildbahn lassen die sich doch gegenseitig in Ruhe.
Hier stand früher tatsächlich der Pfauenthron, den man immer mit Persien in Verbindung bringt. Ich hätte nie gedacht, dass der ursprünglich aus Indien stammt. Kriegsbeute, vermutlich.
Verbindungen zu Persien findet man immer wieder. Auch in dem Museum, das in der Nähe, ebenfalls in einem alten Palastgebäude, untergebracht ist, sieht man Steintafeln mit persischen Inschriften. Die persische Verbindung hat zu tun mit Barbur, dem ersten Mogulherrscher Indiens. Der war von der persischen Kultur besonders angetan. Er eroberte diesen Teil Indiens eigentlich eher aus Verlegenheit, nachdem er in Samarkand eins auf die Mütze gekriegt hatte. Da dachte er sich: Indien, auch nicht schlecht. Und besiegelte das Ende der Lodi-Dynastie. Der persische Einschlag ist sogar am Namen abzulesen, denn Mogul ist einfach persisch für Mongole, und so nannte die Perser das Volk, das ursprünglich aus Zentralasien kam. Zu den Ahnen Barburs gehörten Timur und Dschingis Khan.
Neben den Marmortafeln mit den persischen Inschriften hängt eine ganz ähnliche Inschrift in arabischer Schrift. Es sind Anweisungen zum Bau einer Brücke in der Provinz.
Daneben gibt es im Museum Gemälde, Kalligraphien, Bücher, astronomische Geräte, Koranschriften, Dolche und dekorative Fliesen, aber auch ein mit Perlmutt besetztes Kästchen, das wie ein Schmuckkästchen aussieht, aber sinnigerweise für Schießpulver verwendet wurde. Dann, umgeben von Sitzkissen aus Samt, ein Schachspiel.
Interessant die erste Seite einer Ausgabe der Delhi Gazette von 1848. Da verstand man unter Zeitung noch etwas ganz anderes als heute. Die ganze erste Seite ist voll von kleinen Anzeigen, in denen Hotels und Häuser angeboten werden, Wein, Soßen, Ketchup. Von Ereignissen oder gar Politik nicht die Rede.
Ich verlasse das Fort und mache mich, nachdem ich den wartenden Rikschafahrer mit einem Trinkgeld abgewimmelt habe – er will mich jetzt für 250 Rupien durch die Altstadt fahren und mich zu verschiedenen Basaren bringen – daran, die Straße zu überqueren, die das Fort von der Altstadt abtrennt. Erst im Laufe der Zeit lerne ich, dass man schon deshalb immer eine Rikscha nehmen muss, um über die Straße zu kommen. Jetzt muss ich erst mal viel Zeit investieren und meine Gesundheit riskieren, um auf die andere Seite zu kommen.
Gleich links befindet sich ein Jain-Tempel. Mit der typischen Unsicherheit des Fremden sehe ich ganz vorsichtig hinein, aber niemand hält mich davon ab, reinzugehen. Man muss nur sofort am Eingang die Schuhe ausziehen. Als es dann in den Tempel selbst geht, muss ich auch die Socken ausziehen, aber auch damit ist man noch nicht zufrieden. Noch irgendetwas stört, und erst nach mehrfachen Versuchen bekomme ich heraus, was es ist: der Gürtel! Darauf soll sich jemand einen Reim machen. Ich mache ihn mir: Die Jains empfinden ein besonderes Mitgefühl für alle Kreatur und legen größten Wert auf den Schutz alles Lebenden, einschließlich der Insekten und Kriechtiere. Jetzt kommt mir das Bild der besonders konsequenten Jains in Erinnerung, die einen Mundschutz tragen und mit einem Stab den Weg vor ihnen freimachen, damit ihnen nicht versehentlich eine Mücke in den Mund fliegt oder eine Spinne unter die Füßen kommt. Das könnte der Grund für den Ausschluss des Gürtels sein: Leder = aus Tierhäuten gemacht = verboten.
Dazu passt auch, dass sich auf dem Gelände ein Hospital für Vögel befindet. Zu spät stelle ich fest, dass man das auch hätte besichtigen können.
Den Tempel selbst kann man als Laie nicht von einem Hindu-Tempel unterscheiden. Unter einer Muschelkuppel befinden sich mehrere, auf einer Längsachse angebrachte Altäre, alle mit bunten Götterfiguren. Man geht von einem zum anderen und verneigt sich. Beim Betreten läutet man eine Glocke, die über einem hängt.
Der Jain-Tempel befindet sich am Anfang der Chandni Chowk, einer schnurgeraden Straße, die vom Fort wegführt und auf eine weitere Moschee, die Fatehpuri Masjid, zuführt. Links befindet sich ein Hindu-Tempel. Der Tempel ist geschlossen, wohl wegen der Tageszeit.
Bis zu dem Tempel kämpfe ich mich noch zu Fuß vor. Dann gebe ich auf und nehme wieder eine Fahrradrikscha. Und es lohnt sich. Zum ersten Mal fühle ich mich wohl in Delhi und sehe mir das bewegte, ohrenbetäubende, verwirrende Treiben von der sicheren Sitzbank der Rikscha an.
Der Fahrer bringt mich ohne Tricks und ohne Probleme zu der Moschee, und ich bin so erleichtert, dass er mir auch keine weiteren Dienstleistungen aufschwätzen will, dass ich ihm ein Trinkgeld gebe, das völlig den Rahmen sprengt und ihn eher verwirrt als befriedigt.
Kaum abgestiegen, gibt es aber neue Verständigungsprobleme. Mehrmals mache ich vorsichtige Versuche, die Moschee zu betreten, aber ich verstehe bis zum Schluss nicht, was Sache ist: Ist die Moschee geschlossen? Soll ich warten, die Schuhe ausziehen, Eintritt zahlen, die Kamera wegstecken? Es geht nicht. Am Ende gebe ich auf.
In der Nähe befindet sich, dem Stadtplan nach, der Mahatma Gandhi Park. Das hört sich doch gut an. Ich mache den verrückten Versuch, dahin zu finden. Dabei lande ich unter anderem in der Old Delhi Railway Station auf der anderen Straßenseite. Wieder auf meiner Straßenseite, werde ich angelockt von rhythmischem Klatschen, Trommeln und Gesängen, so laut, dass es sogar den Straßenlärm übertönt. Für ein besseres Indien wird hier getrommelt und gesungen. Das kann man einem Plakat entnehmen. Aber man kann die Gesänge nur aus der Ferne verfolgen. Ein Gitter schließt den Ort ab, wo gesungen wird. Der Mahatma Gandhi Park ist auch hier nicht. Am Ende, mit trockener Kehle, Blasen an den Füßen, entnervt und frustriert, komme ich zu der Vermutung, dass mit Mahatma Gandhi Park wohl einen dicht vollgestellter Motorradparkplatz gemeint sein muss, an dem ich immer wieder vorbeikomme. Wenn Gandhi das wüsste.
Auf der unendlichen Suche nach der Metrostation sehe ich eine Art Bäckerei mit angeschlossener Snackbar. Da bestelle ich zwei Pasteten, eine runde und eine dreieckige, pyaj kachori und samosa, eine, laut Auskunft des Verkäufers, des einzigen, der Englisch spricht, mit Zwiebeln, eine mit Kartoffeln. Man muss erst zur Kasse gehen und bezahlen und dann mit dem Beleg zurück zur Theke. Die Pasteten werden aufgewärmt und schmecken ganz gut. Der Inhalt ist aber bei beiden eine Paste, die sich hauptsächlich dadurch unterscheidet, dass die eine teuflisch scharf ist.
Nach der Rückkehr setze ich mich mit einem Tee in den Gemeinschaftsraum. Dann hört man plötzlich ein Geräusch, als wenn ein Vogel da wäre. Man sieht aber nichts. Und es gibt auch kein offenes Fenster, durch das er gekommen sein könnte. Immer wieder dasselbe Geräusch. Später kommt einer der Jungen herein und klärt mich auf: kein Vogel, sondern ein Eichhörnchen. Und es ist nicht sichtbar, weil es gar nicht im Raum ist, sondern über die Decke läuft.
Später habe ich eine Unterredung mit Avnish, dem Eigentümer. Oder, besser gesagt, er mit mir. Wortreich erklärt er mir, was ich zu tun und lassen hätte und berichtet ohne jede Spur von falscher Bescheidenheit von seinem bunten Leben, seinen Errungenschaften und seinen Kenntnissen. Alles, was es zu sehen gibt, solle ich mir besser auf seinen Führungen ansehen. Das Problem ist nur, dass keine davon terminiert ist und dass mindestens vier Teilnehmer benötigt werden. Die Teilnahme an den von karitativen Organisationen offerierten Führungen durch versteckte Viertel Delhis lehnt er ab. Man könne nicht beides miteinander vereinbaren: Caritas und Kenntnisse.
Andererseits organisiert er sofort die Zugfahrkarte nach Agra für mich. Oder, besser gesagt, lässt sie organisieren. Einer der vielen Angestellten, die die Pension hat, und der besseres Englisch als die anderen spricht, Sanjiv, ist für solche Dinge zuständig.
Als ich danach frage, wie ich zu Fuß zu dem Hindu-Tempel kommen kann, den ich gestern verfehlt habe, sagt er mir: Gar nicht. Ich solle nirgendwohin zu Fuß zu gehen. Das erweist sich als guter Tipp.
Seine Lebensgeschichte ist wirklich interessant. Er hat an einem britischen Kolleg noch nach britischen Lehrplänen studiert und dann einen Abschluss in Wirtschaft gemacht und für verschiedene Konzerne gearbeitet. Er hat auch ein Radioprogramm zur Wirtschaft, in dem er zweimal wöchentlich auftritt. Er hat in Bombay, in Kalkutta und in Delhi gelebt. Seine Eltern sind noch in Rawalpindi geboren, heute Pakistan, und sind als Flüchtlinge nach Indien gekommen. Sein Vater war bei einer Fluggesellschaft beschäftigt und wechselte alle drei Monate den Standort. So hatte er mit 17 schon fast alle Teile der Welt gesehen.
Im Gegensatz zu seiner schmächtigen Frau ist Avnish ein rundlicher Mann, einer der wenigen in Indien. Übergewicht ist nicht gerade das dringendste Problem des Landes.
Später kommt die dänische Familie herein. Die beiden hellblonden Töchter sind der Renner in Indien. Man macht Photos von ihnen, so wie wir Photos von Turbanträgern machen. 19 Photos, sagt die ältere Tochter ganz stolz, habe man im Laufe des Tages von ihr gemacht. Sie haben die Affen im Zentrum nicht gesehen, wohl aber eine Schlange, eine Kobra, zwischen zwei Autos im Zentrum.
Der größte Keulenschlag kommt am Abend, als ich schon im Bett liege. Irgendein Hotelangestellter fragt den dänischen Mann nach irgendetwas, vielleicht nach der Zugfahrt nach Agra. Nein, nein, sagt der, nicht er sei das, sondern der Mann mit dem Laptop und dem weißen Haar. Gut zu wissen, wie andere einen sehen.
20. Februar (Mittwoch)
In der U-Bahn, wie überhaupt im öffentlichen Leben, sieht man fast nur Männer. Das kann nicht alles mit dem Frauen-Wagen in der U-Bahn erklärt werden. Die Frauen sind einfach weniger präsent. Ich habe noch keine Verkäuferin gesehen, geschweige denn, eine Fahrerin.
Die Turbanträger sind meistens auch Bartträger, aber nicht alle Bartträger sind auch Turbanträger. Die meisten, die keinen Turban tragen, haben einen Schnäuzer. Die Farbe der Turbane variiert, aber am häufigsten ist schwarz vertreten. Der Turban ist auch kompatibel mit Jeans und Sportschuhen.
Ein weißer Turbanträger hat mich schon in der U-Bahn auffällig gemustert. Jetzt erscheint er plötzlich neben mir und fragt mich, wohin ich will. Blöderweise gebe ich Auskunft: Jantar Mantar. Er zeigt mir den Ausgang, und dann schüttele ich ihn auf bewährte Weise ab. Diesmal kommt mir der Connaught Place nicht ganz so chaotisch vor, aber die Orientierung dauert doch etwas. Es sind nur zehn Minuten von hier. Als ich dann die richtige Straße gefunden habe, taucht an der Ecke tatsächlich wieder der Turban auf. Jantar Mantar sei heute geschlossen: Strike. Natürlich lasse ich mich nicht darauf ein. Und natürlich gibt es keinen Streik.
Jantar Mantar ist eine astronomische Anlage, in einem Park gelegen. Sie besteht aus großen Konstruktionen aus rotem Sandstein, die teils an römische Thermen, teils an die Stufenpyramiden der Maya erinnern.
Die genaue Funktionsweise ist kaum zu verstehen, aber der Wille um genaue Erfassung astronomischer Daten ist den Bauten anzusehen. Der an die Thermen erinnernde Rundbau ist durch Querstäbe in 30 Sektoren unterteilt, die jeweils für 6° stehen, also insgesamt 360°. Die Wände sind ebenfalls in 30 Sektoren eingeteilt, so dass man einen horizontalen und eine vertikalen Wert für den Stand der Sonne hat.
Das Herzstück der Anlage, und das meist photographierte Objekt, besteht aus schräg auf einem Wall angebrachten doppelten Halbkreisen, die wirklich wie ein Herz aussehen.
Die ganze Anlage ist wie eine Enklave mitten in der Stadt, aber nicht davon unberührt. Der nicht abbrechende Lärm kommt von allen Seiten herein, und die Anlage ist auf allen Seiten umstanden von Hochhäusern.
Als ich wieder auf den Connaught Place komme, suche ich nach einer Motorrikscha. Keine zu sehen weit und breit. Sie treten sonst immer im Dutzend auf. Es gibt zum nächsten Ziel keine vernünftige Metrostation, glaube ich wenigstens. So mache ich mich auf die Suche. Die Dinger sind einfach verschwunden. Ob es an der Gegend liegt? Ich weiß, dass der Connaught Place für Fahrradrikschas verboten ist, nicht aber für die motorisierten.
Bei der Suche sehe ich einen Mann irgendwo in die Ecke pinkeln, kein seltener Anblick. Er steht gleich neben einem Schild. Auf dem steht No litter please.
Nach langer Suche sehe ich in der Ferne eine Rikscha, aber ohne Fahrer. Dann entdecke ich ihm auf dem Boden liegend, auf der anderen Seite. Er repariert die Rikscha. Dann kommt eine, die nicht frei ist und dann eine, die 350 Rupien verlangt. Dazu bin ich zu stolz. Der nächste, an der nächsten Straßenecke, geht auf 200 runter. Und dann komme ich zu zwei älteren Fahrern, die gerade Kaffee trinken. Sie beratschlagen miteinander und sagen dann: 120. Angenommen. Tatsächlich ist es eine ganze Strecke, die wir zurücklegen. Sieht auf der Karte kürzer aus.
Der Fahrer bringt mich nach Raj Ghat, am Rande der Altstadt. Hier geht es zum ersten Mal um das Thema Gandhi. Dem haben wir die Vorstellung zu verdanken, bei Indien handele es sich um eine friedliche Kultur. Das Gegenteil ist der Fall. Schließlich starb er selbst bei einem Attentat. Auch Indira Gandhi starb bei einem Attentat, auch Rajiv Gandhi. Ihr älterer Sohn, der eigentlich ihr Nachfolger werden sollte, kam bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Die späten Mogulherrscher, Jahandar Schah und Farruk Siyar (XVIII), wurden im Roten Fort ermordet. Von den Massakern nach der Teilung, nach der Erstürmung des Goldenen Tempels und nach der Ermordung Indira Gandhis ganz zu schweigen. Gewalt hat also Tradition.
Raj Ghat ist eine Gedenkstätte, die in einem weitläufigen Park liegt. Und dessen Ausdehnung ich erst am Schluss erkenne. Vom Eingang führt ein schnurgerader Weg zu einem durch einen Steinwall abgetrennten Quadrat, bei dessen Betreten man die Schuhe ausziehen muss. Im Zentrum dieses Quadrats liegt ein ebenfalls quadratischer Stein aus schwarzem Marmor. Hier wurde Gandhi bestattet. Auf dem Stein eine Kerze und Blumenblätter. Sonst gibt es nichts. Die Einfachheit passt zu Gandhi. Vorne an dem Stein sind ein paar Zeichen auf Hindi angebracht, die Oh, mein Gott bedeuten, Gandhis letzte Worte. Die Farben der Absperrbänder sind passenderweise die Farben der indischen Flagge. Wenn man den Blick etwas umherschweifen lässt, sieht man zur einen Seite den Schornstein eines Kernkraftwerks, zur anderen die Scheinwerfer des Indira-Gandhi-Stadions.
Von hier aus geht es zu dem Ort, an dem Rajiv Gandhis Leiche verbrannt wurde. Das Monument besteht aus mehreren Teilen. An einer runden Mauer ist eine Inschrift angebracht. Sie betont Rajiv Gandhis Verdienste, seine fortschrittliche Einstellung. Er setzte auf Förderung von Technik und Wissenschaft, auf die Bekämpfung der Armut, auf die Verteilung der Macht von der Zentrale an die Regionen. Außenpolitisch setzte er besonders auf die Neutralität Indiens, was ihn von einigen seiner Vorgänger unterschied. Er trat das Amt nach dem Tod seiner Mutter 1984 an und wurde wenige Monate danach mit der größten Mehrheit in seinem Amt bestätigt, die je ein indischer Premierminister erhielt.
Die Gedenkstätte für Rajiv Gandhi war schwer zu finden. Die von Indira Gandhi ist fast unauffindbar. Es gibt kaum Hinweiszeichen, und wenn überhaupt, dann nur auf Hindi. Oder mit Bezeichnungen, mit denen man nichts anfangen kann. Immer wieder kommen mir gute gekleidete Teenager in Schuluniformen entgegen. Nur wenige von ihnen können ein paar Worte Englisch. Die Frage nach der Gedenkstätte kann keiner beantworten, manchmal verstehen sie noch nicht einmal. Im besten Falle bekomme ich eine weit ausholende Handbewegung, die mich in irgendeine Richtung schickt, meist in die entgegengesetzte von der, aus der ich gerade komme. Nur einmal winkt mich ein Ehepaar, mitten auf dem Gras sitzend, zu sich heran und bietet seine Hilfe und sogar einen Bissen von ihrem Picknick an, aber richtig weiter komme ich mit dessen Angaben auch nicht.
Ohne zu wissen, wie, finde ich die Stelle dann doch. Die Suche hat sich kaum gelohnt. Indira Gandhis Gedenkstätte besteht nur aus einer einfachen Mauer mit einem großen, bunten Photo von ihr mit dem berühmten bunten Kopftuch und einem am Ende eines Weges befindlichen Monolithen. Es gibt keinerlei Inschrift. Wäre interessant gewesen, zu sehen, wie sie dargestellt wird.
Die Suche nach der Gedenkstätte Nehrus lasse ich dann bleiben und gehe gleich ins National Gandhi Museum. Das liegt gleich gegenüber. Um dahin zu kommen, bedarf es nur einer waghalsigen Überquerung der riesigen Straße.
Das Museum ist eine sehr altertümliche Angelegenheit in einem alten Gebäude. Es gibt Wände über und über mit Photos aus Gandhis Leben, und im Zentrum alle Art von persönlichen Gegenständen: Federhalter, Taschenuhren, Sandalen, Buchstützen, ein Spucknapf, die berühmte runde Brille, zwei Zähne und das Gebiss, das er von 1947 bis zu seinem Tod trug.
Bei den Photos sind die älteren interessanter: Gandhi als Teenager zusammen mit seinem Bruder, gestriegelt und herausgeputzt, mit säuberlich getrimmtem Bart, Gandhi als Dandy in England, mit Stehkragen, Fliege und kerzengeradem Scheitel, Gandhi als Mitglied einer Fußballmannschaft, Gandhi vor seinem Rechtsanwaltsbüro in Südafrika, Gandhi auf dem Fahrrad auf dem Weg zu einer Gebetsstätte. Dann gibt es Photos von Gandhi in Uniform bei dem Zulu-Aufstand in Südafrika und von der Tolstoy-Farm in Südafrika, die ein Modell für das zukünftige Zusammenleben der Menschen sein sollte. Das war, nachdem Gandhi sein Erweckungserlebnis gehabt hatte und in Südafrika aus einem Zug verwiesen worden war, weil ein Weißer seinen Wagen in der 1. Klasse nicht mit ihm teilen wollte. Alle späteren Entwicklungen lassen sich auf diese Erfahrung zurückführen. Teil dieses Prozesses ist auch die Änderung des Namens von Mohandas in Mahatma. Und der Wechsel der Kleidung.
Dann gibt es die bekannteren Photos von dem Salzmarsch und die Photos von Gandhi bei der Konferenz in London, mit seinem einfachen weißen Umhang inmitten von adrett gekleideten Politikern. Besonders schön Gandhi mit den Mountbattens, er im Zweireiher, sie in einem Seidenkleid, Gandhi wie ein Bettler dazwischen. Und ein Photo von Gandhi auf seinem Bett, mit strahlendem Lächeln, nach einem 21-tägigen Hungerstreik. Später sollte eine indische Politikerin sagen: Gandhis Armut kommt uns teuer zu stehen. Aber das wird in diesem Museum natürlich nicht thematisiert.
Hier gibt es auch den Stock zu sehen, den Gandhi bei dem berühmten Salzmarsch trug. Das Motto war passiver Widerstand, und das Ziel des Widerstands waren das britische Salzmonopol und die als ungerecht angesehene Salzsteuer. Gandhi wurde in diesem Jahr, 1930, von Time Magazine zum Man of the Year gewählt. Die Konkurrenten waren Hitler und Stalin.
Außerdem gibt es einige Dokumente. Die Notizen sind teils auf Englisch. Seine Muttersprache war aber wohl Gujarati. Jedenfalls ist das die Sprache, in die er Ruskins Unto this Last übersetzte oder besser paraphrasierte, ein Buch, das für ihn nach eigenem Bekunden eine Offenbarung war, im Kern eine Kritik an Nutzenmaximierung und Utilitarismus, eine Kritik an Adam Smith und John Stuart Mill.
Am Ende des Raumes gibt es eine Nachbildung von Gandhis Arbeitszimmer. Alles sehr einfach, vor allem nur niedrige Möbel. Nur ein kleines Regal mit wenigen, ausgesuchten Büchern, auf dem Boden stehend. Eine Matratze mit einer Rückenstütze und davor ein kleines Schreibpult. Gandhi arbeitete im Liegen, sozusagen. Sieht bequem aus.
Am Ende der Ausstellung gibt es dann noch Briefmarken mit Gandhis Konterfei aus allen Teilen der Welt: Uruguay, Madagaskar, beide Jemen, Kirgisistan, Obervolta, Panama, Mauritius und so weiter und so fort.
Auch in Indien sollte es schon 1948 Gedenkmarken mit Gandhi geben. Hier sind einige Muster ausgestellt. Es gab aber Konflikte, erstens, weil die Briefmarken in einer ausländischen Druckerei hergestellt werden sollten, zweitens, weil es einen Wert von 10 Rupien gab. Das, so wurde argumentiert, entsprach nicht Gandhis einfacher Lebensweise und seiner Bevorzugung der einfachsten Kommunikationsform, der Postkarte.
Als ich aus dem Museum komme, gibt es kein Transportmittel weit und breit. Ich kann mich aber anhand des Stadtplans einigermaßen orientieren und gehe Richtung Zentrum.
Am Ende finde ich drei Jungen, versteckt in einer Ecke, mit ihren Rikschas. Sie wollen mich tatsächlich zur Metro bringen. Zur Sicherheit will ich den Namen der Station wissen, aber es stellt sich heraus, dass sie den gar nicht kennen. Als ich den Preis und das Wort Metro zur Sicherheit auf ein Blatt Papier schreibe, stellt sich heraus, dass der eine das gar nicht lesen kann. Er muss seinen Kameraden fragen.
Ich werde aber tatsächlich zur Metro gebracht. Es ist die New Delhi Railway Station. Auf dem Platz davor herrscht Hochbetrieb. Und unten auch. Die Schlangen der Fahrkartenkäufer ziehen sich durch die ganze Halle. Alles ist so eng, dass man kaum ans Ende der Schlange kommt. Ich beschließe, es mit einer Motorrikscha zu versuchen. Aber oben gibt es keine, nur Hunderte von Fahrradrikschas, und für die ist der Weg zu weit.
Also gehe ich doch wieder runter und stelle mich in die Schlange. Die bewegt sich kaum. Das ist kein Wunder, denn immer wieder drängen sich ganze Gruppen nach vorn, für die ein Käufer alle Karten kauft. So sieht es jedenfalls aus. Auch alte Frauen stellen sich nicht an. Das wird wohl geduldet. Dann kommen auch zwei Mädchen, die so tun, als wenn sie es eilig hätten oder ein Spezialfall wären, und dann kommen auch noch Käufer zurück mit irgendwelchen Beschwerden. Die Briten waren doch wohl nicht lange genug in Indien, um den Indern Mores beizubringen.
Dann geht es in die Metro. Hier wird geschubst, geschoben, gestoßen, gedrängelt. Ich habe wohl eine Hauptverkehrszeit erwischt. Als ich dann endlich wieder bei meiner Metrostation ankomme, kann ich richtig durchatmen.
Beim Ausgang sehe ich, wie ein älterer Mann zwei jüngere Männer schlägt. Er versetzt ihnen eine schallende Ohrfeige nach der anderen. So etwa habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen. Um die drei hat sich eine Traube Menschen gebildet. Die beiden Jungen wehren sich nicht und laufen auch nicht weg und lassen die Beschimpfungen des Mannes über sich ergehen. Ob er sie bei dem Versuch, zu klauen, erwischt hat? Beim Weitergehen macht eine junge Frau, zu mir gewandt, lächelnd ein paar Bemerkungen auf Englisch, aber ich werde nicht schlau aus dem, was sie sagt.
Als ich mich nach einer Rikscha umsehe, macht ein Schuhputzer gleich zu meinen Füßen auf sich aufmerksam. Ich habe ihn überhaupt nicht wahrgenommen, genauso wenig wie die anderen Schuhputzer, die hier in Reihe und Glied vor dem Bordstein hocken und auf Kundschaft warten. Er will mir für 10 Rupien die Schuhe putzen. Das nehme ich an. Er macht das ganz ordentlich und begleitet die rhythmischen Bewegungen der Arme durch entsprechend rhythmische Bewegungen des Kopfes. Ehe ich es mich versehe, nimmt sich ein anderer Schuhputzer meines zweiten Schuhs an. Er entdeckt eine lose Schuhsohle und macht sich daran, sie zu nähen. Auf einmal näht auch der andere. Dann kommen noch verschiedene Ausbesserungsarbeiten an der Einlage dran. Am Ende beträgt die Rechnung 350 Rupien. Ich zahle aber nur 50.
Als ich wieder in der Pension bin, bin ich dankbar für den wunderbaren Tee, der mir serviert wird.
Auch in der Nacht wird es nicht ganz ruhig. Dann übernehmen heulende Hunde und krächzende Krähen die Versorgung mit Lärm.
21. Februar (Donnerstag)
Am Morgen beantwortet Ushi anderen Gästen, einem jungen Ehepaar aus London, eine Frage, die ich mir auch gestellt habe: Was für eine Wirkung hat eigentlich der Bau der Metro gehabt? Der Verkehr, sagt sie, sei nicht weniger, aber schneller geworden. Man kann sich kaum vorstellen, angesichts der Massen in der Metro, wie das früher gegangen ist. Andererseits hat die Metro selbst vermutlich auch mehr Menschen mobil gemacht und das Verkehrsaufkommen erhöht. Die Londoner, die schon seit vier Wochen unterwegs sind, erzählen, in Bombay habe man mit Neid von dem schnellen Bau der Metro in Delhi gesprochen. Die da oben bekommen alles, bei uns wird alles verzögert. Typische Perspektive aus der Provinz auf die Hauptstadt.
Anschließend macht Ushi für mich ein paar Telefongespräche zu den Organisationen, die in Stadtteilen geführte Touren anbieten, mit bescheidenem Erfolg. Man muss abwarten.
Heute habe ich einen Wagen für mich alleine, der mich zu den Sehenswürdigkeiten bringt, die sonst schlecht zu erreichen sind. Alles von den Gastgebern organisiert. Der Preis ist bescheiden, und man quittiert dem Fahrer nur den Beleg und zahlt später in der Pension. Die Fahrziele werden vorher genau abgesprochen. Ich frage Ushi, ob der Fahrer Englisch spreche. They all say they do, sagt sie. Es reicht dann aber für die wichtigste Verständigung.
Als ich auf dem Weg nach draußen bin, ruft Avnish mich mit strenger Stimme zu sich: I want to talk to you. Hört sich ominös an. Er kündigt aber nur an, dass er am nächsten Tag einen seiner berühmten Rundgänge anbietet. Ein Ehepaar und ich stehen auf der Liste, vielleicht kommen noch andere dazu. Von den Lodi-Gärten und von der Altstadt ist die Rede. Hört sich gut an.
Der Wagen ist ein Toyota mit minimalistischem Armaturenbrett: keine Tankanzeige, kein Drehzahlmesser, keine Temperaturanzeige, keine Uhr, ein Tacho.
Davor steckt ein Andachtsbild. Ich frage, wer das sei: Bolunat. Und der andere? Bolunat. Es ist ein und derselbe Gott in unterschiedlichen Manifestationen.
Der Bahai-Tempel, zu dem es zuerst geht, liegt im Süden Delhis. Die Entfernung ist wieder viel größer als es auf dem Stadtplan aussieht. Immer wieder geht es an den mächtigen Pfeilern der U-Bahn entlang.
Der Bahai-Tempel ist ein beeindruckender Bau, vielleicht der beeindruckendste von ganz Delhi. Er erinnert mich an das Opernhaus in Sydney: beide sind weiß, beide sehen organisch aus, wie eine Pflanze. Der Bahai-Tempel, so heißt es, stellt eine Lotusblume dar. Die Blätter, nach oben und nach innen zeigend, überlappen sich.
Die Bahai-Religion sieht sich als eine „fortschrittliche Religion“ an. Sie betont die Gleichheit aller Menschen, strebt nach Harmonie und Einigkeit, bekämpft Aberglaube und Vorurteile. Sie tritt auch für verpflichtenden Schulbesuch ein, ein Prinzip, dem sich westliche Staaten schon seit dem 19. Jahrhundert verschrieben haben. Man ist auch für die Einführung einer weltweiten Hilfssprache.
Der Tempel liegt in einer gepflegten Parklandschaft, mit kugelrund zugeschnittenen Sträuchern und schnurgeraden Pfaden. Außen ist der Tempel von Wasser umgeben, einer Art modernem Wassergraben.
Das Innere ist enttäuschend und erinnert ein bisschen an eine Halle. Es gibt nur Stuhlreihen, Blumen und ein Pult. Statt glänzend weiß ist es hier matt grau. Der Bau formt ein Zehneck, und eine flache Kuppel öffnet sich in Form eines Sterns nach oben.
Die einfache Ausstattung hat etwas mit dem Konzept der Religion zu tun. Sie kennt keine Rituale, keine Gebete, nur Lesungen.
Diese Einfachheit führt bei mir zu einer großen Sprachverwirrung, die sich erst zuhause am PC auflöst: Warum sagt man wohl Mach nicht so einen Baha, wenn die Bahai doch gerade keinen Bahai machen? Des Rätsels Lösung: Man macht keinen Bahai, sondern Bohei. Da ist bei mir im Kopf etwas durcheinandergekommen. Jedenfalls schafft der Duden Aufklärung. Er kennt beide Wörter, und bei Bohei vermeldet er mit Stolz: Dieses Wort stand 2004 erstmals im Rechtschreibduden. Woher das Wort kommt, darüber gibt es aber nur Spekulationen.
Als ich aus dem Tempel durch eine offene Türe ins Freie trete und mich entschließe, noch mal reinzugehen, werde ich von den sonst sehr freundlichen Mädchen, die einen hier empfangen, sehr bestimmt zurückgepfiffen: Anders herum! Es gibt keinen vernünftigen sachlichen Grund dafür. Die Tür steht offen, und es gibt kein Gedränge. Hier scheint eine unter der vernünftigen Oberfläche der Religion sich verbergenden Schicht von Magie zum Vorschein zu kommen: Man darf immer nur in einer bestimmten Richtung durch den Tempel gehen. Oder ist es übertriebene Ordnungsliebe?
Unvernünftig ist jedenfalls auch die besondere Stellung der Zahl neun. Deshalb ist der Innenraum ein Zehneck – da hat man dann neun Wasserbecken, die den Tempel von der Außenwelt abtrennen. Gleichzeitig sind die Wasserbecken aber auch vernünftig: Sie dienen zur Kühlung, sicher ein wichtiger Gesichtspunkt im Sommer. Auch jetzt, als ich wieder nach draußen komme, scheint mir zum ersten Mal in diesen Tagen die Sonne auf den Pelz.
Vor dem Bahai-Tempel steht auf einem abgetrennten Stück Sandboden ohne jeden Grashalm das Schild: Please do not walk on the grass. In der Nähe stehen buddhistische Mönche, barfuß und mit nichts als ihren einfachen Gewändern ausgestattet – und mit hochmodernen Filmkameras.
In einem Museum lernt man etwas über die Bahai-Religion kennen. Sie vertritt die Ansicht, dass alle Religionen der Welt göttlichen Ursprungs sind und Facetten derselben Wahrheit lehren. Dementsprechend gibt es hier auf großen, farbigen Tafeln Zitate, meist Harmonie und Einheit betonend, aus den heiligen Büchern verschiedener Religionen: Judentum, Hinduismus, Buddhismus, Christentum, Shik-Religion, Jain-Religion, Islam.
Auch zum Ursprung der Bahai-Religion gibt es Aufklärung. Aber da komme ich mit den Namen durcheinander. Neben dem eigentlichen Religionsstifter, Bab, gab es zwei weitere, die sein Werk fortsetzten und die fast den gleichen Rang haben. Der eigentliche Religionsstifter gab sich den Namen Bab, ‚Eingangstor‘, und wollte alle Religionen der Welt miteinander vereinen. Er wurde in seiner Heimat, Persien, wegen seiner Lehre verfolgt, eingekerkert und schließlich hingerichtet.
Draußen erwartet mich der Fahrer. Es geht weiter nach Qutb Minar. Als wir im Stau stehen, klappt ein vorbeifahrender Radfahrer einfach unseren Außenspiegel um, um vorbeizukommen.
Auf einem Auto vor uns lese ich: If you drive, do not drink. If you drink, do not drive. Keine moralische Belehrung, sondern Werbung. Es handelt sich um ein Taxi. Die Rufnummer steht gleich daneben: 41414141.
Es dauert eine Zeitlang, bis ich herausfinde, was dieses Qutb Minar eigentlich ist. Jedenfalls wird es im Reiseführer als Geheimtipp genannt. Das scheint sich herumgesprochen zu haben. Es ist ganz schön voll.
Kurz gesagt: Qutb Minar ist das erste Delhi. Im Laufe seiner Geschichte wurde Delhi mehrmals gegründet. Und zwischendurch verlor es immer wieder seinen Status als Hauptstadt und gewann ihn dann wieder, zuletzt unter den Briten, bei denen bis 1931 Kalkutta die Hauptstadt war. Die Verlegung der Hauptstadt hing meistens mit dem Versuch zusammen, Kontrolle über das Riesenreich zu erlangen und das politische Zentrum Richtung geographisches Zentrum zu verlegen. Das scheiterte immer wieder. Das Reich löste sich in Teilreiche auf oder wurde kleiner, und wieder wurde Delhi zur Hauptstadt. Und musste eben manchmal regelrecht neu gegründet werden. Insgesamt, so sagt man, siebenmal.
Qutb Minar wurde errichtet von der sog. „Sklavendynastie“, Untergebenen, die sich nach dem Tod des Herrschers selbständig machten und das Sultanat Delhi begründeten. Diese Dynastie kam ursprünglich aus Afghanistan. Wir befinden uns historisch in der Zeit vor den Mogulen, etwa im europäischen Hochmittelalter.
Der Namensteil Minar bezieht sich auf den Turm, der alle Aufmerksamkeit auf sich lenkt, wobei Minar vermutlich mit Minarett zusammenhängt. Er wurde errichtet als Symbol des Sieges über die Rajputen, die hier ansässig waren. Dieser Sieg markierte den Beginn der Herrschaft der „Sklaven“.
Der runde, sich nach oben verjüngende Turm aus rotem und beigem Sandstein, mit mehreren „Ringen“ aus Friesen und Balkonen zwischen den Stockwerken, ist ein beliebtes Photomotiv, zu Recht. Er ist ausgesprochen schön. Unten ist er gut 14 Meter breit und oben nur noch knapp 3.
Sehenswert, obwohl alles andere als schön, ist auch ein Eisenpfeiler. Er wiegt unwahrscheinliche 6000 Kilo, obwohl er gar nicht so groß ist. Er trägt eine Inschrift, die man allerdings übersehen würde, wenn man es nicht wüsste. Sie ist in Sanskrit, in der Brahmin-Schrift und ist an den Gott Vishnu gerichtet. Berühmt ist der Pfeiler aber, weil er rostfrei ist. Das wird natürlich göttlichem Wirken zugeschrieben. Wissenschaftler erklären es mit dem hohen Phosphorgehalt, der perfekter Rostschutz sein soll.
Da, wo der Pfeiler in der Mitte steht, stehen am Rande die beträchtlichen Reste eines Gebäudes. Wenn man zwischen den Säulenreihen steht, hat man den Eindruck, in einem christlichen Kloster zu stehen. Tatsächlich ist es eine Moschee, aber die Skulpturen sind aus den eroberten hinduistischen Tempeln! Die hat man als Spolien einfach hier eingebaut, dem islamischen Bilderverbot zum Trotz. Der Blick durch die Säulenreihen mit den einfallenden Sonnenstrahlen gehört zu den bleibenden Erinnerungen der Reise.
Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Gebäude, vor allem die Begräbnisstätte des Sohns und Nachfolgers des Begründers der Dynastie, des ersten muslimischen Herrschers, der sich in Indien beisetzen ließ. Das Mausoleum hat keine Kuppel, man sieht aber an den Ansätzen, dass es ursprünglich eine hatte. Sie soll eingestürzt und wieder errichtet und wieder eingestürzt sein. Zu Schadenfreude gibt es aber keinen Anlass: In Europa war die Kenntnis des Kuppelbaus zu der Zeit völlig verloren gegangen.
Statt Mittagessen gibt es dann auf dem Parkplatz eine Tüte Chips und eine Dose Cola pro Person. Dann geht es weiter zum nächsten Ziel, dem Grabmal Humayuns. Auf dem Weg dahin sehe ich, dass auf unserem Außenspiegel: Objects in the mirror are closer than they appear.
Das Mausoleum Humayuns ist das Gegenstück und der Vorläufer des Taj Mahal. Es wurde von der Frau Humayuns in Auftrag gegeben und von persischen Baumeistern errichtet, die eigens hierher gebracht und auf dem Gelände untergebracht wurden.
Humayun war der zweite Mogulherrscher, der Sohn Baburs und Vater Akbars. Er konnte seine Herrschaft in Indien nicht konsolidieren und musste zwischenzeitlich nach Persien flüchten. Das erklärt wohl zum Teil den großen persischen Einfluss, dem man hier immer wieder begegnet.
Auch hier gibt es ein Tor, das in das Innere der Anlage führt. Es hat Balkone auf beiden Seiten und wird von sechseckigen Sternen flankiert, die den Mogulen als kosmisches Symbol galten.
Außen ist der Bau aus rotem Sandstein mit Einlegearbeiten aus weißem Marmor für die dekorativen Teile. Das ist das Schnittmuster Nummer Eins für die Bauten hier in Delhi. Eine hohe Kuppel im Zentrum wird flankiert von zwei kleineren Kuppeln.
Innen ist alles sehr schlicht, auch der schmale Kenotaph Humayuns, der im Zentrum steht und nur die Silhouette eines Bogens und einen Fries hat. Die eigentliche Grabstätte ist, wie ich das in den nächsten Tagen immer wieder sehe, unsichtbar unter der Erde. Das Kenotaph bezeichnet nur die Stelle, an der sich die eigentliche Grabstätte befindet.
Alles ist auf perfekte Symmetrie ausgerichtet. Von den acht Armen des Zentralraums haben vier vergitterte Fenster, durch die diffuses Licht hineinkommt. Von denen haben wiederum zwei dasselbe, von den beiden anderen abweichende Muster. Und die übrigen vier Arme sind wiederum paarweise angeordnet: zwei sind geschlossen, zwei führen in weitere Kammern, die wiederum achteckig angeordnet sind und viele weitere Sarkophage enthalten. Es scheint, dass im Islam die Zahl vier von besonderer Bedeutung ist. Auch der Garten ist durch zwei zentrale Pfade in vier Teile geteilt, und die wiederum durch Kanäle gittermäßig in exakte Quadrate. Diese Art von Garten nennt man Chahr Bagh.
Hinter dem Mausoleum fließt der Yamuna, wenn man hier überhaupt von „fließen“ reden kann. Zur Zeit der Erbauung war er noch ein wilder Strom, der zur Monsunzeit geradezu zum Meer anschwoll und den Garten mit Wasser versorgte. Auf Farsi ist das Wort für einen eingezäunten Garten pairi daeza, und daher kommt unser Paradies! Denn das waren die Gärten für die Muslime, vor allem für die arabischen Muslime, die aus der Wüste kamen.
Zum Abschluss geht es ins Gandhi-Smriti-Museum. Das ist der Ort, an dem Gandhi ermordet wurde: friedlich, schön, harmonisch, still, ein kleiner Garten, um den sich niedrige Pavillons gruppieren. Sieht nicht gerade nach der Szene für ein Gewaltverbrechen aus.
Im Zentrum ein kleiner, einfacher Gedenkstein, wieder mit den letzten Worten, die Gandhi gesprochen hat. Die Stelle, an der er 1948 umgebracht wurde, heißt hier „Ort des Martyriums“. Auf einem kleinen Pfad, der auf die Stelle zuführt, sind Gandhis letzte Schritte im Boden als Fußspuren nachgebildet. Er war gerade von dem Raum, in dem er hier untergebracht war, auf dem Weg zum Gebet.
Er kam gerade aus Kalkutta und wollte nach Bombay reisen, entschied sich dann aber aufgrund der immer schwieriger werdenden Situation dazu, in Delhi zu bleiben.
Dass er in Gefahr war, wusste er, lehnte aber besonderen Schutz ab. Er vertraute auf Gott. Gleichzeitig ist ein Ausspruch überliefert, der auf unheimliche Weise zeigt, dass er sein Schicksal erahnte: Even if I am killed, I will not give up repeating the names of Rama and Rahin, which mean to me the same God, with these names on my lip I will die cheerfully.
Gandhi war stolz darauf, Hindu zu sein. Der Hinduismus sei eine tolerante Religion und hätte verfolgten Christen und Juden und Parsis Schutz geboten. Sein Mörder, ein Hindu, wollte davon allerdings nichts wissen.
In einem der Pavillons sieht man Photos von Gandhi: Gandhi beim Geigen, Gandhi schert sich die Haare, Gandhi auf einem Elefanten, Gandhi bindet sich eine Krawatte um, Gandhi wird verprügelt. Dort befindet sich auch der Raum, in der er die letzte Unterredung hatte, bevor er zum Gebet ging, eine Unterredung mit Patel. Der Raum ist so belassen, wie er damals war.
Im Garten ist in einem Laubengang die Geschichte des indischen „Freiheitsmarsches“ dokumentiert. Der Ausdruck ist genauso Programm wie die Jahreszahlen: 1857-1947. Da reibt man sich die Augen: Was, so lange? Hier sieht die indische Geschichtsschreibung eine Kontinuität, die die europäische nicht sieht. In England spricht man von 1857 als dem Sepoy-Aufstand. Keine große Sache, bald vergessen. Für die Inder ist es der Anfang einer langen Entwicklung, die in die Unabhängigkeit mündet.
Es heißt, der Aufstand habe eine solche Wirkung auf die Inder gehabt, weil er Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft und Stellung zusammenbrachte. Es begann mit einer Meuterei der Sepoy, indischer Infanterie, ausgelöst durch ein neues Gewehr, dessen Patronen mit Rinderschmalz behandelt werden und von den Soldaten aufgebissen werden mussten, was gegen hinduistische Regeln verstieß. Aus der Meuterei wurde ein Aufstand, aus dem Aufstand ein Krieg, mit Massakern und Belagerungen. Am Ende siegten die Briten.
Vor dem Museum esse ich ein Eis. Es ist zum ersten Mal so warm, dass ich das Gefühl habe, im Sommer unterwegs zu sein.
Langsam werde ich zum Vegetarier. Nicht aus Überzeugung, sondern aus Mangel an Gelegenheit. Bisher hat es noch kein Stück Fleisch gegeben.
Auf allen Geldscheinen ist auf der Vorderseite Gandhi. Auf der Rückseite Motive aus Indien, auf den niederen Werten Tiger und Ähren, auf den höheren Werten Computer und Bohrtürme.
Am Abend in der Pension hat Sanjiv die Zugfahrtkarten nach Agra für mich parat. Es sind zwei komplett bedruckte DIN-A-4-Seiten. Man muss den Pass dabei haben, sonst wird man so behandelt, als existiere das Ticket nicht und wird so zum Schwarzfahrer. Der Zug geht um 6 Uhr, und als ich frage, wie ich am besten zum Bahnhof komme, sagt er, dafür habe er natürlich einen Fahrer organisiert. Der holt mich auch am Abend wieder ab. Für alles gesorgt.
Sanjiv spricht sehr gutes Englisch und hat in der Pension eine ganz andere Funktion als die anderen Jungen: eher Manager als Laufbursche. Er hat einen College-Abschluss und arbeitet schon seit zehn Jahren hier. Sein Englisch habe er vor allem durch die Kommunikation mit den Gästen gelernt. Die anderen Jungen kommen vom Lande und haben nie Englisch in der Schule gehabt und überhaupt kaum eine Schulausbildung. Dafür kommen sie hier gut zurecht. Sie verstehen, was sie verstehen müssen. Für sie muss die Stellung hier zwar vielleicht nicht die Erfüllung aller Wünsche, aber doch ein sozialer Aufstieg sein, der vor allem Sicherheit bietet.
22. Februar (Freitag)
In der Nacht beginnt es zu donnern, und dann kommt ein ordentlicher Regenguss herunter.
Am frühen Morgen hört man in der Ferne die Rufe des Muezzins. Während des Tages werden seine Rufe von Delhi verschluckt.
Gemütliches Frühstück mit dem Londoner und einem australischen Ehepaar. Die Australier sind pensionierte Lehrer, die Engländer Journalisten, er bei Reuter, sie bei der BBC. Alle finden, dass es in Delhi nicht besonders hektisch zugeht, z.B. im Vergleich zu Bombay oder zu Bali. In Bombay, sagen die Engländer, gebe es kaum mal irgendwo einen Meter Raum, der ganz und gar frei ist, und der Verkehr fließe viel langsamer. Delhi habe dagegen breite Straßen und freie Plätze und sei sogar erstaunlich grün. Keine typisch indische Stadt. Erstaunlich!
Die Engländer kennen sich besser mit indischer Küche aus und bestellen zum Frühstück puris, die edlere Version des indischen „Brots“, das in Öl gebacken wird und dabei aufbläht und sich zu Körbchen verformt, in die man dann praktischer weise die Marinade reintun kann. Am Abend esse ich im Hotel chappatis. Das ist die einfachste Version, dünne, auf heißer Herdplatte gebackene Fladen aus Mehl und Wasser. Dazwischen liegen die paratha, die Pfannkuchen, die ich dieser Tage gegessen habe.
Von den Australiern erfahre ich zufällig, dass der Rundgang mit Avnish auf den Nachmittag verschoben worden ist. Also mache ich mich auf den Weg zum Lakshmi-Narayan Tempel, dem Hindu–Tempel, zu dem ich schon am ersten Tag wollte. Auch diesmal keine leichte Aufgabe. Ein Rikscha-Fahrer tut so, als wisse er Bescheid. Er kontaktiert dann aber einen anderen, der als Begleitschutz neben uns herfährt und mehrmals meine Nachfrage bestätigt, dass es zum Tempel gehe. Als wir an dem Krankenhaus links abbiegen, schwant mir Böses. Wir kommen zur Metrostation, und dort werde ich mit unschuldiger Miene abgesetzt. Auf meinen Protest hin – die Metro ist weiter vom Tempel entfernt als das Hotel – kommt eine ganze Traube von Rikschafahrern zusammen und ich werde am Ende belehrt: Not allowed. Ich solle die Metro nehmen. Das hätte ich natürlich ohnehin getan, wenn da eine Metrostation wäre.
Eigentlich will ich zurück zum Hotel gebracht werden, aber ich gebe den Versuch bald, auf, das deutlich zu machen und gehe zu Fuß zurück. Da ich gerade an einer Bank vorbeikomme, nutze ich die Gelegenheit, Geld abzuheben. Eigentlich noch nicht nötig. Man hat hier seine liebe Müh und Not, sein Geld auszugeben. Aber es mangelt immer an Kleingeld. Auf diese Art und Weise kommt vielleicht was rein. Denkste! Der Automat sagt mir, meine Karte sei ungültig.
Also weiter zum Hotel. Und wieder ist Sanjiv meine Rettung. Er schreibt mir den Namen des Tempels auf Hindi auf, sagt mir, wie ich am besten dorthin komme und gibt mir Instruktionen zum Geldtausch.
In der Bank ist man sehr freundlich. Ein Angestellter geht mit mir raus zum Geldautomaten, und diesmal, wie durch Magie, klappt es. Ich habe vermutlich beim ersten Mal die Karte falsch reingeschoben. Das hat der Automat nicht gerne.
Am Krankenhaus stehen Motorrikschas. Aber der erste Fahrer kann selbst auf Hindi mit dem Namen des Tempels nicht anfangen. Auch eine Karte und ein Photo nutzen nichts. Ich suche einen anderen. Der weiß sofort, was Sache ist und bringt mich in zehn Minuten an den gewünschten Ort.
Der Tempel, aus rotem Sandstein mit Inkrustationen in weißem Marmor, ist ein imposantes Gebäude, vor dem sich Touristen und Gläubige drängen. Ein hoher zentraler, oben konisch zulaufender Turm wird geflankt von zwei kleineren Türmen und die wiederum von zwei kleineren. Die Grundform ist, wie bei Hindu-Heiligtümern üblich, das Quadrat. Das gilt als perfekt, nicht, wie uns, der Kreis. Der kann nicht perfekt sein, weil er Bewegung suggeriert!
Der Tempel wurde 1939 nach sechs Jahren Bauzeit von Gandhi eingeweiht und von der Finanziersfamilie Birla finanziert. Die stehen besonders auf Lakshmi, der Göttin der Schönheit und Gattin Vishnus. Narayan ist eine der Verkörperungen Vishnus.
Handy und Kamera muss man abgeben, und natürlich die Schuhe ausziehen. Für Touristen gibt es mal wieder eine gesonderte Aufbewahrungsstelle für die Schuhe.
Über eine breite Freitreppe kommt man auf eine Plattform. Die Fratzen, die sich hier unter der Decke an dem Portikus am Eingang befinden und die das Böse abwehren sollen, erinnern an christliche Kirchen. Auch der breite Narthex, den man zuerst betritt, ist eine Parallele im Kirchenbau. Aber dann kommt kein Innenraum. Es gibt einfach verschiedene Nischen, in denen Altäre stehen.
Die Gläubigen falten die Hände und verneigen sich, ganz wie bei uns. Nur bleibt man nicht an einem Altar stehen, sondern wandert von einem zum anderen, von einem Gott zum anderen. Vor den Altären verstreut man Blumenblätter, die meisten orangefarben.
Hinter den Altären ist ein Rundgang, wie der Chorumgang in unseren Domen. Da stehen unter anderem eine große Bronzeglocke und ein großer Globus. An den Wänden weitere Götterbilder.
Auf der Plattform vor dem Tempel sind zu beiden Seiten weitere Tempel angebracht. Auch die sucht man alle auf. Überall üppig verzierte, mit viel Schmuck und kostbaren Gewändern angetane, bunte Götterstatuen. Sie erinnern ein bisschen an kitschige Marienstatuen in unseren Kirchen. Auf den Bildern und Reliefs kommen die Götter schlichter daher. Einige erinnern, mit langen weißen Gewändern und Sandalen angetan, an griechische Göttinnen. Es gibt auch gleichnishafte Bilder wie das über ein tosendes Meer voller Krokodile gleitende Boot. Die Krokodile sind Lust, Gier, Zorn. Das Boot, mit Weisheit und mit guten Rudern durch die Meeresgewalten gebracht, ist auf dem Weg in das Land der Freiheit – dem Nirwana.
In einer Darstellung heißt es, diejenigen, die die Leidenschaften unterdrückten, könnten ebenso gut zu Hause bleiben (Karma-Yoga) wie in den Dschungel gehen (Jnana-Yoga). Beides ist gleichwertig. Mit dem Dschungel ist vermutlich die Universität gemeint. Oder Delhi. Yoga ist neben Santi einer der beiden Regeln, die vom großen Vater für den Weg des Menschen festgelegt wurden. Sie stehen für Frieden und Einheit. Von seinem Namen soll das Wort manava, ‚Mensch‘, abgeleitet sein.
Den Glauben an das Nirwana teilt der Hinduismus mit dem Buddhismus. Auch den Glauben an die Wiedergeburt haben sie gemeinsam. Nur kennt der Buddhismus keine Kasten.
Überall präsent ist das Hakenkreuz, die Swastika. Nach einer Inschrift hier steht es symbolisch für das Gebet um Erfolg, Vollendung, Perfektion. Es soll schon in den Veden vorkommen, und auf die Swastika sollen alle indischen, aber auch andere asiatischen Schriftsysteme letztlich zurückgehen.
Hinter dem Tempel liegt noch ein großer Garten, der wiederum mehrere Tempel hat. Von hier aus hat man einen guten Blick auf den Tempelkomplex mit allen seinen Türmen, Pyramiden, Fialen und anderen Aufbauten. Am Eingang zum Garten findet man auch einfache, im Schneidersitz dargestellte, fast unbekleidete Figuren mit dickem Bauch, die man sonst eher im Buddhismus erwarten würde.
Beim Verlassen des Tempels lasse ich mir eine Elefantenfigur aufschwatzen, aber nicht ohne vorher gefragt zu haben, ob der Händler wechseln kann. Auch die Postkarten bezahle ich mit 1000 Rupien, und wieder gibt es Wechselgeld.
Auf dem Boden hockt ein Junge mit einem merkwürdigen Objekt vor sich. Es ist eine Waage. Für zwei Rupien kann man sich wiegen lassen. Als ich mich auf die Waage stelle, kommen sofort mehrere der Umstehenden auf mich zu, sehen auf die Anzeige und teilen mir mit, wie viel ich wiege. Für meinen Kommentar – too much – hat man wenig Verständnis.
Der Schuhaufpasser drückt mir beim Verlassen des Tempels noch eine Broschüre in die Hand, und ich will ihm den kleinen Nebenverdienst nicht verweigern. Der Broschüre zufolge kennt der Hinduismus keinen Propheten, und auch sein Ursprung ist nicht bekannt. In den Veden soll es sogar heißen, dass der Mensch den Ursprung des Glaubens nicht kenne.
Die Broschüre preist den Hinduismus für seine Toleranz, weil er alle anderen Religionen akzeptiere. Man kann Hindu und gleichzeitig Christ sein. Alle Religionen sind wahr! Allerdings sind alle anderen, nach dem Verständnis des Hinduismus, aus dem Hinduismus erwachsen.
Es heißt sogar, man vertrete den Monotheismus. Das wäre so ziemlich das Letzte, woran man beim Hinduismus mit seiner bunten Götterwelt denkt. Aber alle Götter sind eben nur Manifestationen des einen Schöpfergottes. Das wiederum unterscheidet den Hinduismus vom Buddhismus, der eine gottlose Religion ist.
Etwas verschämt nimmt die Broschüre auch zum Kastenwesen Stellung. Das sei menschengemacht, nicht göttlich, heißt es, und es bedürfe der Reform. Ursprünglich habe es der Disziplinierung gedient, aber es sei im Laufe der Jahrhunderte sehr entstellt worden. Auch wenn man sich vor schnellen Urteilen hüten sollte – Kasten gewähren auch eine gewisse Sicherheit, einen gewissen Schutz – ist das Kastenwesen das hässliche Antlitz des Hinduismus, vor allem, was die Ärmsten der Armen, die Unberührbaren angeht. Der Glaube an die Kasten ist aber wohl so tief verwurzelt, dass man ihn nicht durch ein paar Verordnungen verbannen kann. Aberglaube ist stärker als Gesetze. Vor allem sollte man sich vor Überheblichkeit hüten. Richtig durchlässig ist unsere Gesellschaft auch nicht, „Kasten“ haben wir auch, wenn wir sie auch nicht so nennen und wenn auch das System durchlässiger ist.
Auf dem Rückweg setzt mich der Fahrer wegen einer Baustelle hinter der Pension ab und ich muss ein paar Schritte gehen. Ich habe tatsächlich Schwierigkeiten, die Pension zu finden. Der Eingang befindet sich in einer schmalen Passage zwischen zwei Häusern, und es gibt kein Hinweisschild und keine Hausnummer.
In der Pension bitte ich die Jungen, insgesamt fünf, mir ihren Namen aufzuschreiben. Einige tun es in unserem Alphabet, andere im Schriftsystem des Hindi. Dabei ziehen sie erst eine kerzengerade Linie, an die sie die Zeichen – Silbenzeichen, vermute ich – dranhängen. Sieht sehr ordentlich aus. Sie sind alle sehr gut, immer freundlich und immer sofort zur Stelle. An verschiedenen Stellen des verwinkelten Baus gibt eine Schelle, und es dauert nur Sekunden, bis sie da sind, um einen hinauszulassen oder eine Bestellung entgegenzunehmen.
Dann geht es mit Avnish und drei anderen Gästen in seinem Auto zu den Lodi Gardens. Das ist alles, was von seiner großartig angekündigten Stadtführung übrig geblieben ist. Zu den Gebäuden kann er wenig sagen – lässt sich dadurch aber nicht vom Reden abhalten – und die angekündigten Schmetterlinge und Vögel sehen wir nur auf Bildtafeln, außer zwei grünen Sittichen in den Ästen eines hohen Baums.
Am meisten lohnt sich die Fahrt zu den Gärten, die außerdem sehr bequem ist. Es geht über breite, nicht sehr befahrene Straßen. Delhi ist nicht wiederzuerkennen. Dies ist das europäische Delhi. Und man kommt sich wie in Europa vor: keine Rikschas, keine Handkarren, meist PKW und Busse. Der Connaught Place mit seinem Chaos gehört zwar auch zu New Delhi, aber er liegt am äußersten Rand und zählt irgendwie nicht.
Zuerst fahren wir an einer langen Steinmauer entlang, die für die Commonwealth Spiele erbaut wurde. Warum, bekomme ich nicht mit. Noch in der Nähe der Pension sieht man einen Shik-Tempel mit einer goldenen Kuppel. Die ist bei den Shik-Tempeln die Regel, nicht die Ausnahme. Avnish erwähnt den Goldenen Tempel von Amritsar. Den wertet er noch einen Tick höher als das Taj Mahal.
Dann ist von importierten, schnell wachsenden Bäumen die Rede, die ihren Zweck erfüllen, gleichzeitig aber die einheimischen Bäume verdrängen, ein Problem, wie man es auch aus anderen Ländern kennt.
Wir fahren an dem unendlich langen Präsidentenpalast entlang, genauer gesagt an dessen niedriger, roter Mauer. Hier residierte früher der britische Vizekönig. Der Präsident lebt also wirklich königlich.
Den riesigen Palast mit seinen 340 Räumen in Schuss zu halten, war schon zu Lord Mountbattens Zeiten keine leichte Aufgabe. Der Palast beschäftigte alleine 419 Gärtner, darunter 50 Jungen, die nur dafür zuständig waren, Vögel zu verscheuchen.
Der Präsident ist in Indien ein nicht politisches Amt und wurde auch zunächst nicht politisch besetzt. Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Jetzt ist der ehemalige Finanzminister Präsident. Das findet Avnish nicht gut, und das kann man verstehen.
Dann sieht man Ministerien, alle in schönen, weißen Bungalows untergebracht. Dann eine Skulptur, die an den Salzmarsch erinnert, mehrere Figuren hintereinander, angeführt von Gandhi, in der typischen, gebeugten Körperhaltung, auf seinen Stock gestützt.
Dann geht es an dem riesigen, runden Hotel vorbei (wo Avnishs bemerkenswerte Karriere begann) und an einem staatlichen Radiosender (wo Avnish zweimal wöchentlich sein Radioprogramm zur modernen Wirtschaft hat) und an dem Finanzministerium (dessen Amtsinhaber Avnish persönlich kennt).
Dann ist die Rede von Wellington und Lady Wellington und einem deutschen Landschaftsarchitekten, Joseph Stein, der in ihrem Auftrag die Lodi Garten angelegt hat, indem er die Reste der teils verfallenen Mausoleen in den neu anzulegenden Park integrierte.
Es handelt sich um die Mausoleen der Herrscher der Dynastien der Lodi und der Sayyid, den Vorgängern der ebenfalls islamischen Mogulherrscher.
Die Bauten in den Gärten sind das Gegenstück zu Qutb Minar. Das jüngste Mausoleum ist oktogonal, im Gegensatz zu den anderen, die rechteckig sind. Die Moschee, die einem der Mausoleen angeschlossen ist, ist gewestet. Mekka liegt westlich von Delhi.
Interessant die unterschiedlichen Materialien, der Kontrast zwischen dem hellen, nicht dekorierten, weil zu hartem und dem rötlichen, reich verzierten Stein und dem reichlich verwendeten Stuck mit vielen dekorativen Inschriften aus dem Koran.
Am Schluss müssen wir noch ein bisschen Yoga machen, was mir einerseits peinlich ist, mich andererseits schmunzeln lässt, denn wir machen nichts anderes als bei den Aufwärmübungen beim Lauftreff, nur dass die Sache spirituell aufgeblasen wird: Energie ablassen, Vibrationen spüren. Dann müssen wir noch schweigend – nicht „wertend“, nur „aufnehmend“ – an einer Reihe von Palmen entlang laufen. Ganz wertfrei überlege ich mir, dass die Palmen hier Royal Palm, in Kuba, wegen ihrer in der Mitte aufgeblähten Stammes, Schwangere Palmen heißen. Die Stämme haben Ringe, an denen man ihr Alter ablesen kann.
Auf dem Rückweg, als es wieder am Gandhi-Denkmal vorbeigeht, gibt es noch ein interessantes Gespräch. Jemand fragt nach dem Mörder Gandhis. Avnish erklärt, es habe sich um einen Hindu gehandelt, für den Gandhi ein Verräter war. Es gebe ein Buch mit dem Titel Why I Killed Mahatma Gandhi, beruhend auf den Prozessakten. Komisch, darüber hat man sich nie Gedanken gemacht. Auch der Mörder Gandhis muss seine Motive gehabt haben. Und seine Tat als gerecht empfunden haben. Avnish zufolge ist die Tat deshalb erfolgt, weil sich Gandhi über einen klaren Mehrheitsbeschluss hinweggesetzt und Nehru statt Patel als Premierminister durchgesetzt habe. Für den hatten tatsächlich 13 von 16 Staaten gestimmt. Deshalb bringt man jemanden nicht gleich um, aber man kann sich vorstellen, dass auch ein friedfertiger Mann wie Gandhi Aggressionen hervorruft, vielleicht gerade durch seine friedfertige Art. Besonders dann, wenn er seinen Einfluss ausnutzt, um eigene Vorlieben durchzusetzen, die andere nur mit Gewalt durchsetzen könnten.
Der Mörder wurde zum Tode verurteilt. Und das Todesurteil wurde auch vollstreckt, obwohl Gandhis Söhne und Nehru dagegen waren. Es ist merkwürdig, dass ein Friedensapostel gewaltsam umkommt und sein gewaltsamer Tod einen weiteren gewaltsamen Tod verursacht.
23. Februar (Samstag)
Indien hat drei Jahreszeiten: heiß, nass, kühl. Wir sind jetzt am Ende der kühlen Jahreszeit und kurz vor dem Beginn der heißen. Hier in der Ebene wird es schon bald unerträglich heiß, und dann kommt der Monsun und bringt Regen aus Kübeln. Ein Segen für die Landwirtschaft, ein Fluch für den Verkehr und eine große Gefahr für viele Menschen. Einen Vorgeschmack darauf gab es heute Nacht, mit heftigem Regen, der auf das flache Dach des Zimmers prasselte und das Gefühl vermittelte, es regne hinein.
Beim Frühstück lese ich in einem Reiseführer von den Irula, einem Volk im Süden Indiens. Die haben sich, nachdem das Fangen von Schlangen verboten worden ist, auf Ratten spezialisiert und eine Kooperative gebildet, die systematisch auf Rattenfang geht (und rats heißt). Unterstützt werden sie von einem Regierungsprogramm, das der Rattenplage auf den Leib rücken will, ohne Pestizide einzusetzen. Die Irula bekommen 2 Rupien pro Ratte, bei 100.000 Ratten pro Jahr ein lukratives Geschäft. Das Rattenfleisch wird dann außerdem an Krokodilfarmen verkauft. Die Ratten haben es inzwischen aber auch auf den Speiseplan der Irula gebracht. Sie beteuern, das Rattenfleisch, mit Reis serviert, sei eine Delikatesse.
Ich bekomme mit, wie Avnish einem Gast erzählt, dass er seinen Sohn morgens mit dem Auto zur Schule bringt: 30 Minuten Fahrzeit. Unterrichtsbeginn: 7.30. Um 7.20 muss man da sein, sonst kommt man in die Late Lane, was immer das sein mag. Da um diese Zeit dichter Verkehr ist, verlängert sich die Fahrtzeit sogar. Das ist die indische Mittelschicht. Die bekommt man als Tourist kaum zu sehen. Da, wo man ist, sind sie nicht. Sie wohnen in ihren eigenen Vierteln und fahren mit dem eigenen PKW.
Wieder gibt es den ganzen Tag Ärger mit Rikscha-Fahrern, so sehr, dass ich am Ende richtig ärgerlich werde. Ich fühle mich wie ein alter Kolonialherr, der kein Verständnis für diese blöden Inder hat. Den ganzen Tag über habe ich nur einen gehabt, der mir einen überhöhten, aber reellen Preis genannt und mich wirklich dahin gebracht hat, wo ich hinwollte: zum National Museum.
Vor dem Museum steht, vermutlich als Nachbildung, ein Felsblock, unscheinbar, aber von allergrößter Bedeutung für die indische Geschichte. Der nach hinten sich erhöhende, aber abgeflachte Felsbrocken ist über und über mit Schriftzeichen versehen. Und um die geht es. Es sind Anweisungen des Kaisers Ashoka an sein Volk, Regeln für das Zusammenleben, eine Art Moralkodex. Es wird unter anderem dekretiert, dass keine Menschenopfer gebracht werden dürfen. Es heißt auch, dass der Kaiser alle fünf Jahre Kundschafter durch sein Land schicken will, die überprüfen sollen, ob die Regeln eingehalten werden. Und dass sich die Untertanen an den Kaiser wenden können, wenn die Regeln verletzt werden. Wie das praktisch funktionieren soll, ist dabei vermutlich egal. Immerhin ist es eine Geste des Kaisers, die zum Ausdruck bringt, dass er sich um sein Volk kümmert.
Die Maßnahmen und die systematische Verbreitung der Regeln erinnern mich an den ersten chinesischen Kaiser, und man könnte Ashoka als den ersten indischen Kaiser bezeichnen, der erste jedenfalls, der das ganze Riesenreich beherrschte.
Ashoka bekehrte sich zum Buddhismus und leitete die Hochzeit des Buddhismus in Indien ein. Verblüffender als der Erfolg des Buddhismus ist sein Niedergang, ausgerechnet hier, in seinem Stammland, im Gegensatz zu den anderen Ländern Südostasiens und im Gegensatz zu Japan, wohin er exportiert wurde und wo er weiterhin von größter Bedeutung ist. Von den Indern sind weniger als ein Prozent Buddhisten.
Am Eingang des etwas verstaubt wirkenden Museums hängt eine große Schautafel, die in verschiedenen Farben die Entwicklung der verschiedenen Hochkulturen schematisch darstellt: Ägypten, Mesopotamien, Indien, China. Auch Indien hatte also eine frühe Hochkultur, aber die ist weniger bekannt als die anderen. Erstaunlich die großen Parallelen. Das Aufkommen der Schrift und das Aufkommen der Bronze sind, ganz grob gesprochen, gleichzeitig! Und keine davon ist in Europa oder in Amerika!
Im ersten Saal gibt Exponate über die erste indische Hochkultur, paradoxerweise heute in Pakistan gelegen, im Industal! Wofür es keine Erklärung gibt, ist der Untergang dieser ersten indischen Hochkultur. Sie ist einfach verschwunden und wurde von bäuerlichen Gemeinschaften abgelöst.
Dies, so heißt es, sei eine städtische Kultur gewesen – was man sich vorstellen kann. Aber im Gegensatz zu den Ägyptern und den anderen seien hier die Errungenschaften, wie die Steinarchitektur, allen zugutegekommen, nicht nur der Oberschicht – was man sich nicht so gut vorstellen kann.
Einige der Exponate erinnern an die anderen Hochkulturen, und man ist verblüfft, dass es das damals (ca. 2700-2500 v. Chr.) schon gab: ein zweirädriges Fahrzeug, die Bronzefigur eines Wagenlenkers. Daneben gibt es Spindeln, modern wirkende Halsbänder aus Lapislazuli und Agathe und eine große Anzahl von Siegelringen, die hier, im Gegensatz zu Mesopotamien, nicht rund oder zylindrisch, sondern rechteckig sind. Sie enthalten Schriftzeichen, aber über die Schrift ist nichts zu erfahren. Ob sie entziffert worden ist? Sieht nicht so aus.
In einer Vitrine ein sehr gut erhaltenes Skelett. Ein Armreif am linken Handgelenk bedeutet, dass die Frau verheiratet war. Grabbeigaben zeigen, dass man an ein Leben nach dem Tod glaubte.
Es gibt auch alle möglichen Tierfiguren aus Terrakotta, die fast alle zwei Köpfe haben. Was das wohl zu bedeuten hat? Man ist versucht, einen Bezug herzustellen zu den hinduistischen Göttern, die auch oft mehr Köpfe oder Arme als nötig haben. Ebenso hält man die Figuren im Schneidersitz unwillkürlich für Vorläufer der Buddha-Figuren in Meditationshaltung.
Zum nächsten Saal gibt es einen Sprung von 2000 Jahren. In dieser Zeit sind die Arier nach Indien eingedrungen.
Hier kommen die Maurya und der wichtigste Vertreter der Dynastie, Ashoka, ins Spiel. Unter ihm erreichte das Reich eine solch große Ausdehnung wie erst wieder unter den Mogulen und unter den Briten.
Hier gibt es Steinsäulen mit den Inschriften Ashokas und große Steinplatten mit Reliefs, die ein bisschen an die römischen Grabmäler in Trier erinnern. Bei dieser und der folgenden Dynastie sind die Skulpturen meistens für die buddhistischen Stupas bestimmt und enthalten Legenden aus dem Leben des Buddhas. Dabei geht es sehr phantasievoll zu, und wenn es offensichtlich nichts mit dem überlieferten Lebensgeschichte Buddhas zu tun hat: Macht nichts! Ist aus einem früheren Leben! Daneben gibt es rätselhafte Steinplatten, bei denen sich das Volk dicht um eine Figur im Zentrum drängt.
Dann kommt der Sprung in die Zeit, als der Buddhismus wieder von Hinduismus verdrängt worden war. Vishnu und Ganesha erscheinen häufig, und Paruati, eine Göttin mit strammen Brüsten, die lasziv ein Bein hebt und den Körper im Tanz windet, mit einem ganz dünnen Höschen angetan und Schmuck an Ohren, Beinen und Armen und mit kunstvoll gebundenem Haar. Da denkt man nicht so unbedingt an Religion.
Neben ihr befindet sich dann tatsächlich eine Göttin mit 3 Köpfen und 4 Armen, Marichi, mit einem Schmuckreifen an jedem Oberarm. Viele Arme erhöhen das Schmuckbudget.
Alle diese Figuren haben keine Farbe, und es sind auch keine Farbreste zu erkennen. Ob sie früher farbig waren?
Dann hört man plötzlich laute Stimmen. Ganze Schulklassen werden durch das Museum geschleust. Das geht so: Man geht schnellen Schritts, ohne stehenzubleiben, im Gänsemarsch, die beiden benachbarten Schüler an der Hand haltend, durch das Museum.
Die beiden wichtigsten Abteilungen, die für Manuskripte und die Cafeteria, sind geschlossen. Also sehe ich mir oben, in der Folklore-Abteilung, noch die Musikinstrumente an. Als Laie denkt man bei indischer Musik an die Sitar, und die Instrumente, die hier ausgestellt sind, sehen auch so aus, heißen aber anders, meistens Sarod. Diese Saiteninstrumente gibt es in einer Unzahl von Variationen, mit breiten und schmalen und langen und kurzen Stegen und mit vier Saiten und Dutzenden von Saiten. Meistens haben sie sehr bauchige Resonanzkörper. Einige sind so groß, dass man sie gar nicht halten kann, sondern wie eine Zither spielt.
Die Sarangi, ein Saiteninstrument mit breitem Steg und einem Hals ohne Stege, wurde von Yehudi Menuhin als Seele der indischen Musik bezeichnet. Sie soll das Musikinstrument sein, das der menschlichen Stimme am nächsten kommt. Sie wird senkrecht gespielt, im Sitzen. Sieht unbequem aus. Paradoxerweise ist gerade sie jetzt auf der Verliererstraße, weil sie immer mehr von dem Harmonium verdrängt wird.
Alle Instrumente gruppieren sich um eine große Statue. Das ist Saraswati, die Göttin der Weisheit, des Wissens und der Musik, die Gattin Brahmas. Sie hält in der Hand eine Rolle aus Palmenblättern, dem Zeichen des Wissens. Sie heißt auch Vak Deu und ist als solche die Göttin der Sprache.
Es regnet, als ich aus dem Museum komme, und ich bin unschlüssig, was zu tun ist. Nachdem mich ein Rikscha-Fahrer zu einer Metrostation gebracht hat, zu der ich nicht wollte – er hat überdies einen Aufpreis für Regen verlangt – fahre ich einfach in die Altstadt. Von dem Platz, an dem die Metrostation ist, führen mehrere Straßen weg, und ich gehe aufs Geratewohl drei von ihnen rauf.
Die erste ist die beste. Es ist die Straße der Gemüsehändler. In kleinen Läden, auf Karren und auf dem Boden sitzend, bieten sie ihre Ware an. Es ist kaum etwas „Exotisches“ dabei, und ich kann fast alles identifizieren, außer kleinen gelblichen Bällchen. Könnten Mirabellen sein oder auch Limetten.
Ansonsten gibt es Kartoffeln, Zwiebeln, Ingwer, Knoblauch, und vor allem Bohnen, Bohnen, Bohnen. Am besten sehen die Tomaten aus. Es gibt bei jedem Gemüse, und auch beim Obst, keine große Variation, ein Zeichen dafür, dass alles aus der Gegend stammt. Beim Obst gibt es Äpfel, Bananen, Apfelsinen, Papaya, Granatäpfel, Ananas, Melonen. Alles gibt es natürlich lose, nur Erdbeeren werden, wie bei uns, in Plastikschälchen verkauft.
An einem Getränkestand bestelle ich eine hervorragende Bananenmilch. Die Kommunikation geschieht ausschließlich über Gesten. Ich bin hier weit und breit der einzige Europäer. Wie auch fast immer in der Metro. Oft wird man argwöhnisch, manchmal fast feindselig angesehen. An dem Stand wird auch Gemüsesaft zubereitet, aus Möhren – wenn es denn welche sind – und einer Art Rote Beete. Bei den Gemüsesäften wird erst ein Kraut in den Mixer gestopft, mit langen Blättern. Für die Gemüsesäfte ist der Sohn zuständig. Er sieht mich aus Augen an, die traurig sind, auch wenn er lächelt. Der Vater wischt ständig die Theke ab. Seine Fingernägel sind schwarz. Meine auch. Jeden Abend. Ganz Geschäftsmann, füllt er mir mit einer höflichen Geste noch einmal nach und bedankt sich für mein Lob.
An einem anderen Stand bekomme ich wieder eine der ausgezeichneten Pasteten. Der Verkäufer kann zwei entscheidende Wörter: sweet und spicy. Ich nehme spicy. Die sehen nach einem Snack aus, füllen aber den Magen ordentlich. Oder mein Magen ist inzwischen geschrumpft. Dann deute ich noch auf rötliche Bällchen, die in einer Soße schwimmen: sweet oder spicy? Die sind sweet. Ich nehme zwei. Sie heißen Gulab Jamun, kleine Bällchen aus Dickmilch, Zucker und Mehl, gewürzt mit Kardamom und Rosenwasser. Eine Delikatesse.
Irgendwo sitzt am Boden ein Mann, der Blätter zu runden Einheiten formt und übereinanderschichtet, bis eine ganze Rolle fertig ist. Die Rollen warten neben ihm auf den Abtransport. Ich versuche, mit Gesten herauszubekommen, ob es ich um Tabak handelt: Nein. Erst später fällt mir die Lösung ein: Betel! Darüber habe ich doch im Reiseführer gelesen. Das erklärt auch die ständige Spuckerei und die Verbotsschilder.
Dann gehe ich noch eine Straße runter, die der Eisenwarenhändler. Die meisten winzigen Läden scheinen nur ein einziges Ersatzteil zu haben, und das in allen Größen und Formen. In dieser Straße ist überhaupt kein Durchkommen, und ich wende mich wieder um.
Dann kommt die dritte, und die wird am Ende, da, wo der Asphalt aufhört, noch ärmlicher. Von dieser Straße gehen wiederum kleine, oft überdachte düstere Passagen weg, in die man sich noch nicht einmal bei Tag hinein trauen würde. Vielleicht zu Unrecht.
Die Straße zieht sich unendlich hin. Immer wieder fahren Motorräder mit ganz verschleierten Frauen hinten drauf an mir vorbei. Man muss aufpassen, dass einem niemand über die Füße fährt, dass man niemanden umrennt, dass man nicht in ein Loch im Bürgersteig fällt, dass man nicht in einer der großen Lachen baden geht, dass man nicht in Hundekot tritt, dass man nicht umknickt, dass man nicht beklaut wird. Und man muss die Schlepper abwimmeln. Wenn man sich dann noch umsehen und photographieren will, ohne allzu sehr aufzufallen, ist man rundherum beschäftigt.
Ganz am Ende komme ich dann auf einen Platz, auf dem Obstverkäufer stehen. Schließlich nehme ich dann eine Motorrikscha nach Hause. Keine gute Idee. Jetzt erlebe ich, was in Delhi Stau heißt. Und dann kommt natürlich das unweigerliche Problem mit dem Fahrer, der mich, statt zum Hotel, zur Metrostation bringt.
Beim Tee am späten Nachmittag in der Pension frage ich den Jungen, der mich bedient, ob er auch samstags arbeite. Ja. Jeden Samstag? Ja. Und sonntags auch? Ja. Jeden Sonntag? Ja. Da bekommt der Name Master Guesthouse einen ganz neuen Klang. Sie wohnen, finde ich weiter heraus, alle zusammen in der Nähe der Pension, in Fußentfernung. Er kommt aus den Bergen, und da ist auch seine ganze Familie: drei Stunden mit dem Zug, vier Stunden mit dem Bus.
24. Februar (Sonntag)
Bei blauem Himmel und strahlendem Sonnenschein Frühstück auf der Terrasse der Pension. Ich nehme die puris, die die Engländer vorgestern hatten. Keine Offenbarung, im Laufe der Zeit wird das ewige indische Curry doch etwas langweilig. Curry ist hier natürlich kein Gewürz, sondern einfach das Wort für ‚Soße‘, und davon gibt es unendlich viele Variationen.
Man isst die puris mit der Hand, wobei ich immer wieder vergesse, dass man mit der rechten Hand isst. Mit der linken geht es bei mir einfach besser. Ein echter Fauxpas in Indien. Dazu gibt es ausgezeichnete Papaya.
Die ganze Pension ist vollgestellt mit Statuen, Spiegeln, Schnitzarbeiten, Bildern, Glocken und Lampions, die Avnish von seinen Reisen mitgebracht hat. Durchaus geschmackvoll, aber zu viel. Auf der Terrasse steht eine Statue von Ganesha, dem bekannten Gott mit dem Elefantengesicht. Über den Ursprung des Gesichts gibt es mehrere Legenden. Eine besagt, er sei von seinem Vater, Shiva, nach langer Abwesenheit für einen Liebhaber seiner Gattin, Parvatis, gehalten worden. Der habe ihm daraufhin den Kopf abgeschlagen. Als er seinen Fehler bemerkte, habe er geschworen, den Kopf zu ersetzen durch den Kopf des ersten Lebewesens, das ihm über den Weg laufen würde. Das war ein Elefant. Mit dem armen Elefanten hat kein Mensch Mitleid. Ganesha ist einer der populärsten Götter. Er hat einen abgebrochenen Zahn. Mit dem hat er, der Patron der Schreiber, die Mahabharata geschrieben, einen der heiligen Texte des Hinduismus.
Von der Straße her kommen die Stimmen der ambulanten Verkäufer herauf, eines der allgegenwärtigen Geräusche dieses Landes.
Die Straßen sind leer, aber die Metro ist voll wie eh und je. Die Wagen haben keine Sitze, sondern Bänke, auf denen man mit dem Rücken zum Fenster sitzt, eine Variante, die sich jetzt in vielen modernen U-Bahnen durchgesetzt hat und die sich sehr vom alten System unterscheidet, bei dem man wohl annahm, dass man normalerweise sitzend reist und nur in Ausnahmefällen stehend. Heute ist es umgekehrt. In Delhi gibt es nicht nur den Waggon für Frauen, sondern auch Frauensitze in den anderen Waggons, und man wird aufgefordert, seinen Platz für Alte, Behinderte und Frauen frei zu machen. Dazu habe ich in der ganzen Zeit noch keine Gelegenheit gehabt. Ich habe bisher in all den Tagen überhaupt nur eine Station lang einen Sitzplatz gehabt. Als ob er meine Gedanken lesen könnte, bietet mir in diesem Moment ein junger Mann, der sich so gerade mit seinem Sohn auf dem Schoß ein kleines Stückchen Bank erobert hat, seinen Platz an. Um Gottes willen. So war es ja nun auch nicht gemeint. Das alles wäre ohnehin nicht so wichtig, wenn man sich draußen mal irgendwo hinsetzen könnte. Aber selbst in Parks gibt es kaum einmal eine Bank, und es gibt auch kaum ein Lokal mit Sitzplätzen.
Auf einer Ansichtskarte habe ich einen sehr schönen Tempel gesehen, besser gesagt einen Tempelkomplex, der wie aus dem Bilderbuch aussieht, von dem aber in keinem Reiseführer was steht: Akshardam. Er ist in Delhi. Da will ich hin.
Wieder einmal werde ich das Opfer der Entfernungen oder, besser gesagt, meiner falschen Einschätzung der Entfernungen. Der Tempel hat eine eigene Metrostation, und die liegt gleich hinter dem Yamuna, dem Fluss Delhis. Da kann ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und den Tempel und gleich den Fluss sehen, der zu Indiens sieben heiligen Flüssen zählt, zusammen mit Sarasvati, Narmada, Godavari, Cauvery, Indus und Ganges. Ich stelle mir vor, dass der Tempel schön am Ufer des Flusses steht. Weit gefehlt. Es sind nach längerer Fahrt, noch mehrere Kilometer bis zu der Metrostation, nachdem wir den Yamuna, einen breiten, trägen, fast still stehenden Fluss mit sandigem, flachem Ufer überquert haben.
Als ich mich dann zum Tempel fahren lasse, ist der gar nicht zu sehen. Es sieht so aus, als wäre man auf dem Parkplatz eines großen Fußballstadions gelandet. Auch wenn man sich Richtung Eingang vorarbeitet, bleibt der Tempel teils hinter Mauern, teils hinter Absperrungen verborgen. Vor der Kasse drängeln sich die Leute. Hier gibt es einen Park, und es werden Ruderfahrten und Elefantenritte angeboten. Jetzt schwant mir was. Dies ist kein Tempel an sich, sondern eine Art hinduistisches Disneyland. Das wird auch der Grund sein, warum in keinem Reiseführer davon die Rede ist. Der Tempel ist, einer Inschrift am Eingang zufolge, noch ganz neu, und von einem Industriellen finanziert und initiiert worden. Ich mache unter vielen Verrenkungen ein paar Photos und ziehe dann wieder ab.
Als ich wieder in der Metro bin und mich für meine Karte anstelle, weist eine ganz junge Frau hinter dem Schalter freundlich, aber bestimmt, zwei Jungen zurück, die sich vorgedrängt haben und bittet einen anderen, der ganz gemütlich vor dem Schalter stehen geblieben ist, Platz zu machen, damit ich auch meine Fahrkarte kaufen kann.
Mit der Metro geht es ein paar Stationen zurück. Die Stationen haben teils englische Namen, teils Namen auf Hindi. Diese schwierigen Namen entschlüsseln sich manchmal, wenn man bestimmte Wortteile kennt: bagh wie in Karol Bagh, meiner Metrostation, heißt ‚Markt‘; marg wie in Rama Krishna Ashram Marg, der nächsten Metrostation, heißt ‚Straße‘; chowk, wie in Rajiv Chowk, dem Connaught Place, heißt ‚Platz‘. Das hilft auch außerhalb der Metro: desh, wie in Bangladesch, heißt ‚Land‘; pur wie in Jaipur (und in Singapur?) heißt ‚Stadt‘.
Während der Fahrt sehe ich einen altmodisch gekleideten, unscheinbaren Mann, der in einer deutschen Beamtenstube aus den 50er Jahren sitzen könnte, nur, dass er rötlich gefärbtes Haar hat. Mode oder Religion? Später sehe ich das noch ein paar Mal.
Von der Metro geht es mit der Motorrikscha zum India Gate. Das ist ein Tor, das sein Vorbild nicht verleugnen kann: den Arc de Triomphe in Paris.
Das India Gate ist dicht von Polizisten abgesperrt, und man kann es nur aus der Ferne sehen und photographieren. Das hat seinen Grund. In den letzten Tagen ist in Hyderabad eine Bombe explodiert, die mehrere Menschen das Leben gekostet hat, vermutlich ein Vergeltungsanschlag. Vor ein paar Jahren ist auf das Parlament in Delhi ein Bombenanschlag verübt worden, und der wichtigste Täter ist vor ein paar Monaten hingerichtet worden. Ein perfektes Beispiel dafür, wie eine Gewaltspirale funktioniert.
Wahrscheinlich verpasst man nicht schrecklich viel, wenn man das India Gate nicht aus nächster Nähe sieht, aber es wäre interessant gewesen, die vielen Inschriften zu sehen. Das India Gate ist nämlich kein Triumphbogen, sondern ein Kriegsdenkmal und enthält die Namen von 85.000 indischen Soldaten, die im 1. Weltkrieg gefallen sind. Wer hätte das gedacht! Wer denkt schon an Indien beim 1. Weltkrieg?
Als ich weiter gehen will, werde ich geradezu gewaltsam von drei Mädchen festgehalten und muss mir mit einer Art Schokoladensoße ein Muster auf die Hand malen lassen, das sich nach einer Stunde rötlich verfärben soll. Die Mädchen haben ungeahnte Kräfte. Jetzt habe ich zwei Probleme am Hals: die Mädchen loszuwerden und die Bemalung. Aus der Umklammerung kaufe ich mich frei, und dann muss ein Reinigungstuch aus dem Flugzeug die gröbsten Spuren an der Hand beseitigen.
Dann geht es, wieder mit einer Motorrikscha, zum Indira Gandhi Memorial. Es geht über breite, fast menschenleere Straßen, die zweimal von einem Kreisverkehr unterbrochen werden, und an gepflegten Parks vorbei. Delhi ist nicht wiederzuerkennen. Und wieder habe ich die Entfernung unterschätzt. Ich wollte eigentlich zu Fuß hierhin kommen.
Die Ampeln springen direkt von Rot auf Grün um, und es gibt Ampeln, an denen die Sekunden gezählt werden, die noch verbleiben, bis es wieder Rot oder bis es wieder Grün wird. Das kenne ich sonst nur von Fußgängerampeln.
Leider ist der Eintritt kostenlos. Der Mangel an Kleingeld wird allmählich zu einem Problem.
Die Gedächtnisstätte ist in dem Haus untergebracht, in dem Indira Gandhi lebte und vor dem sie getötet wurde. Es ist ein in einem schönen Garten gelegener weißer, weitverzweigter Bungalow. Hier ist man nicht bei armen Leuten zu Besuch.
Do you smoke? Mit der Frage werde ich bei der Eingangskontrolle überrascht. No. Should I? Daraufhin der Mann. No, never. Was der Sinn der Frage ist, weiß ich immer noch nicht. Rauchen, fällt mir bei der Gelegenheit auf, ist aus dem gesamten öffentlichen Leben verschwunden. Es wurde schon vor Jahrzehnten untersagt. Und zwar zu einer Zeit, als das Einatmen der Abgase einem täglichen Konsum von 20 Zigaretten (im dichten Verkehr 40 Zigaretten) entsprach! Das wird sich wohl verbessert haben. Jedenfalls habe ich nicht den Eindruck, in einer der verpestetsten Städte der Welt zu sein. Komischerweise sehe ich gerade heute beim Essen am Nachbartisch zwei junge Europäer, die beide rauchen, inzwischen auch bei uns ein seltener Anblick.
Durch die Gedenkstätte wird man, wie das in Indien wohl Sitte ist, in einer endlosen, sich ständig bewegenden Schlange geschleust, durch die einzelnen Räume und von Raum zu Raum. Es geht entlang an einer ganzen Galerie von Tageszeitungen und Photos, alles in Schwarz-Weiß, was gut zu dem weißen Bau passt und ganz nebenbei auch gut zu Indira Gandhis Haarschopf, der im mittleren Alter halb schwarz, halb weiß war.
Dazwischen gibt es Schaukästen mit persönlichen Gegenständen, Gastgeschenken von Politikern und Auszeichnungen. Es ist kaum Zeit, sich etwas näher anzusehen, denn von hinten wird gedrängt. Ich kann aber schnell einen Blick auf eine Tafel werfen, auf der unter ihren Verdiensten u.a. die Unterstützung Bangladeschs, das Abkommen mit der Sowjetunion (und damit die Aufgabe der Neutralität Indiens nach dem amerikanischen Liebesaffäre mit Pakistan) und die Ausrufung des Notzustandes aufgeführt werden. Na ja, das kann man wohl auch alles anders sehen.
Auf einer Karikatur sieht man einen niedergeschlagenen Politiker neben dem Siegerpodest sehen und zu einem anderen sagen: Ich dacht, ich würde erster, du zweiter und sie dritter. Auf dem Podest steht Indira Gandhi. Auf Platz 1, auf Platz 2 und auf Platz 3.
Bei den privaten Bildern sieht man sie mit Nehru, ihrem Vater (mit der charakteristischen weißen Kappe) und mit ihren Söhnen, Sanjay und Rajiv. Nirgendwo taucht aber ein Ehemann auf. Wo war der?
Dann kommen noch ihr Ankleidezimmer mit ihrem Spinnrad und ihrem Strickbeutel, mit den handgewebten Saris und den Holzschuhen, die sie trug, und mit Bildern, gemalt von einfachen Frauen, die sie protegierte. Dann kommt ihr großzügiges Arbeitszimmer mit ganzen Wänden voller Bücher, aber auch genügend Ruhemöglichkeiten und dem Telefon, an dem sie die Nachricht von der Unabhängigkeit Bangladeschs erhielt.
Dann kommt, etwas makaber, der Sari, den sie am Tag ihrer Ermordung trug, mit verblassten Blutspuren.
Dann kommen die Räume von Rajiv Gandhi. Man sieht ihn bei der Beerdigung seines Bruders zusammen mit seiner Mutter und mit Sonia und ihren Kindern. Er stand immer im Schatten Sanjays und hatte sich, zum Pilot ausgebildet, sicher ein anderes Leben vorgestellt. Dann ließ er sich aber vor den politischen Karren spannen und übernahm das Parlamentsmandat seines Bruders. Kann man das so einfach? Wie einen Betrieb übernehmen?
Auch seine Räume sind zu besichtigen, sehr großzügig und sehr geschmackvoll eingerichtet, und dann auch bei ihm die Montur, die er trug, als er getötet wurde, ein Anzug, der hier als Pyjama bezeichnet wird, und ziemlich alte Socken und Turnschuhe.
Ich hatte zuerst verstanden, dass er auch nach dem Tod der Mutter noch hier gelebt hat und mir vorgestellt, wie es ist, in einem Haus zu leben, in dem die eigenen Mutter ermordet worden ist, aber dann heißt es doch, dass er, sobald er Premierminister wurde, in das Haus umgezogen ist, in dem seitdem alle indischen Premierminister leben.
Dann geht es in den Garten und zu der Stelle, an der Indira Gandhi getötet wurde. Wie bei Mahatma, sind die letzten Schritte gekennzeichnet, aber, um den Unterschied zu respektieren, anders. Sie ging diese Strecke jeden Morgen zu Fuß, um am Ausgang mit Menschen aus aller Herren Länder zu sprechen. An dem Tag war ein Interview mit der BBC vorgesehen. Als sie fast an der Straße angekommen war, wurde sie von einem ihrer Leibwächter erschossen. Wenn man den Kopf verreckt, kann man unter der Glasplatte noch die Blutstropfen sehen.
Obwohl Indira Gandhi noch heute sehr verehrt wird und hier, wie bei Mahatma Gandhi, von ihrem „Martyrium“ die Rede ist, hatte sie auch alles dafür getan, sich Feinde zu schaffen. Kompromisslose Härte, Skandale, umstrittene Programme wie das der Zwangssterilisation forderten Widerstand hervor, die Erstürmung des Goldenen Tempels in Amritsa, dem spirituellen Zentrum der Shiks, war eine Provokation, jedenfalls für die Shiks. Fast alle 3.000 Besetzer kamen ums Leben. Und da traf es sich gut, dass die meisten ihrer Leibwächter Shiks waren.
Die Shiks sind die großen Verlierer der Teilung Indiens. Irgendwann wurde es klar, dass die Teilung nicht mehr zu vermeiden war. Und da musste man eben eine Linie ziehen. Und die ging mitten durch den Punjab, dem „Vaterland“ der Shiks. Die sich im Goldenen Tempel versteckt hatten, waren Nationalisten, und die forderten ihren eigenen Staat, Khalistan.
Die Religion der Shiks ist der verrückte Versuch, eine Synthese aus Hinduismus und Islam zu schaffen: Seelenwanderung, Brahman und Karma, aber keine Vielgötterei und keine Kasten. Die Gleichheit aller wurde besonders betont. Daher tragen alle Shik einen Turban – vorher Zeichen einer Elite – und tragen allen den Nachnamen Singh. Letztlich ist der Shikismus eine Gegenbewegung zum Hinduismus, genauso wie der Buddhismus und der Jainismus, nur jünger. Er geht auf den Hinduprediger Guru Nanak (XVI) zurück.
Die Shiks, besonders streng mit sich selbst und stets auf ein mustergültiges Äußeres bedacht – gepflegter Bart, frisch gebügeltes weißes Hemd, silberner Armreif, kunstvoll gebundener Turban – prägen wie kein anderer unser Bild vom Inder. Dabei wollen sie sich selbst gerade von den anderen Indern unterscheiden.
Dann finde ich, ist es mal Zeit für ein ordentliches Essen, mit Fleisch und Wein, im Lodi Garden Restaurant. Über einen mit Blüten bestreuten Fußweg wird man in einen halboffenen, von Gärten umgebenen Holzpavillon geführt. Erst erschrecke ich über die Preise, aber dann merke ich, dass es ganz normale europäische Preise sind. Zu Kebab mit Knoblauchdip und leckerem gerösteten Brot, gefüllter Hähnchenbrust und Mousse au Chocolat gibt es erstaunlich guten indischen Wein. Das Wasser kommt aus dem Himalaya.
Das war heute eine ausgesprochen erholsame Angelegenheit. Wurde auch Zeit. Die Orientierungslosigkeit, die Sprachlosigkeit, die Ohnmacht, die Hektik, die Enge, der Schmutz, der Gestank, der ständige Mangel an Bequemlichkeit und die Jagd nach Kleingeld fordern ihren Tribut. Im Reiseführer steht, dass Indien viele Menschen gefangen nimmt, andere nach ein paar Tagen am liebsten wieder abreisen würden. Es ist ihnen einfach zu anstrengend.
25. Februar (Montag)
Der Sprachenvielfalt bin ich bis jetzt noch überhaupt nicht begegnet. Hier sprechen alle Hindi. Jedenfalls sind alle Beschriftungen in Hindi, und ich habe es noch nicht erlebt, dass ein Inder mit einem anderen Inder Englisch spricht, mit einer Ausnahme: Im Lodi Garden Restaurant sprachen die Kellner mit einer indischen Familie, angeführt von einem Mann mit mächtigem blauen Turban, Englisch. Die Sprachen verteilen sich wohl eher geographisch.
Auf den Geldscheinen bekommt man aber eine Ahnung von der Sprachenvielfalt: Auf der Rückseite sind in einem Kasten in vertikaler Anordnung 15 Sprachen zu erkennen, in sehr unterschiedlichen Schriften. 18 Sprachen sind von der Verfassung offiziell anerkannt, darunter Hindi, Urdu, Kannada, Kaschmir, Bengalisch, Tamil, Telugu, Punjabi, Marathi, Malayalam und auch Sanskrit (was so ist, als stände es bei uns auf Latein). Sie zerfallen im Groben in zwei Gruppen: den dravidischen Sprachen des Südens und den indischen, also indoeuropäischen Sprachen des Nordens, die auf die alten arischen Einwanderer zurückgehen. Die einen haben mit den anderen nichts zu tun: Hindi dudh gegen Tamil paal für ‚Milch‘, Hindi aanda und Tamil muttai für ‚Ei‘, Hindi din und Tamil pagal für ‚Tag‘, Hindi bherra und Tamil periyadhu für ‚groß‘.
In The God of Small Things spricht man Malayalam, aber die Kinder der großbürgerlichen Familie werden angehalten, Englisch zu sprechen, was wiederum die Köchin kaum versteht. Die verdächtigt die Kinder, schlecht über sie zu reden oder unflätige Ausdrücke zu verwenden, wenn sie Englisch sprechen oder sogar, wenn sie was Lateinisches zitieren. (Gibt es eigentlich auch flätige Ausdrücke?)
Montags haben die Museen geschlossen. Zeit für einen Marktbesuch und dafür, eine ruhige Kugel zu schieben. Sofern man das in Delhi kann.
Vorher gehe ich aber noch in den Shik-Tempel ganz in der Nähe der Pension. Auf dem Weg dahin kommt mir ein ambulanter Käufer auf dem Rad entgegen, und es kommt mir so vor, als wenn ich in Kuba wäre: quépan. Das ist weder Hindi noch Spanisch, aber das ist es, was ich in beiden Ländern verstehe. Überhaupt habe ich manchmal den Eindruck, Spanisch zu hören, und dann drehe mich um und es ist Hindi.
Der Tempel ist so nah, dass es mir gegenüber dem Rikscha-Fahrer fast peinlich ist, ihn gefragt zu haben. Vor dem Tempel fragt mich ein alter Mann mit Bart und Turban, ob ich eine Zigarette für ihn habe. Das hat mich hier noch niemand gefragt.
Der Tempel ist ausgesprochen schön, mit weißen Mauern und einem blauen, verzierten Fries aus glasierten Kacheln oben und an den vereinzelten Türmchen. Darüber thront die goldene Kuppel. Das Ensemble ist einfacher und übersichtlicher als bei dem Hindu-Tempel dieser Tage.
Man betritt den Ort durch ein ornamentiertes Gitter. Man muss die Schuhe ausziehen und, anders als bei den Hindu-Tempeln, den Kopf bedecken. Bei den buddhistischen Stupas muss man die Kopfbedeckung sogar abnehmen.
Der Gebetsraum, eine einfache, einschiffige, fast schmucklose Halle, erinnert an eine Moschee. Für einen Moment frage ich mich, ob das wirklich ein Shik-Tempel ist. Allerdings gibt es keine der üblichen Ausstattungen einer Moschee.
An der Decke hängen in mehreren Doppelreihen Ventilatoren, mehr als sechzig. Die stehen zwar im Moment still, haben aber sicher ihre Daseinsberechtigung. Durch einen Durchbruch in der Wand sieht man auf das, was hier vermutlich die Entsprechung zu unserem Allerheiligsten ist.
Von Hof aus erreicht man noch eine zweite Halle. Ich bleibe auf der Schwelle stehen, weil ich nicht weiß, was das ist. Ein Mann deutet mit einer Geste an: Essen? Aber ich sage nein, weil ich nicht weiß, ob das eine sakrale Sache oder eine Armenspeisung ist.
Auf dem Hof auffällig viele Turbanträger, einige in weißen, weiten Hosen und einem langen, weißen Hemd darüber. Zur anderen Seite hat der Tempel noch einen Eingang, der von zwei Elefanten mit goldenem Kopfschmuck bewacht wird.
Dann fahre ich zum Khan Market. Wenn der einen besonderen Charme hat, verrät er das auf den ersten Blick jedenfalls nicht. Es ist auch eigentlich kein Markt, sondern eher ein Ensemble kleiner Läden in mehreren Gassen und Passagen. In einem Laden sehe ich ein T-Shirt mit der Aufschrift My dad is an ATM, in einem anderen eins mit der Aufschrift Keep calm and trust Ganesha.
Auf einem winzig kleinen Laden mit schmaler Eingangstür steht: Don’t blink. You‘ ll miss our Store.
Außen herum gruppieren sich die teuren Läden – Schmuck, Porzellan, Schuhe – anderswo ist es ein wildes Nebeneinander unterschiedlicher Dinge. Ich brauche ziemlich lange, um mich zu entscheiden, was ich hier tun und wie ich mich orientieren soll. Dann gehe ich in ein Café, dann in einen Ramschladen, dann in zwei Buchläden und dann in ein Restaurant.
Die Buchläden sind vom Boden bis zur Decke mit Büchern vollgestopft, auf Regalen, Tischchen, Anrichten. Das hat etwas. Die meisten Bücher sind englische Belletristik über Indien und englische Kinderbücher. Irgendwo entdecke ich ein Buch mit dem wunderbaren Titel: The Book of Lies. A Novel. Ich kaufe, wieder mit der Absicht, an Kleingeld zu kommen, einen dünnen Band über Darwin.
Eins der Buchläden war im Reiseführer empfohlen, The Circle Book Store. Als ich auf der Straße danach frage, sagt man, das kenne man nicht. Ich öffne den Reiseführer und zeige auf den Namen. Nein, das gebe es hier nicht. Diesmal lasse ich nicht locker, und die beiden Männer fragen einen anderen, und der zeigt auf ein Schild: Circle Book Store. Keine fünfzig Meter von uns entfernt.
Ich gehe nach den Buchläden noch ein bisschen durch die Gassen: An den Häuserwänden abbröckelnder Putz, Kühlaggregate von Klimaanlagen, Zisternen, Stromzähler, Leitern an der Regenrinne, mit einem Schloss daran befestigt, Plastikrollen, Pflasterscheine, Rohre, Säcke, und dazwischen ganz moderne Läden. Hin und wieder uniformierte Wachleute, gelangweilt auf einem Stein. Zwischendurch immer wieder mal eine Türgitter, das früher einmal schön gewesen sein muss. Hunde haben sich zum Schlafen in die Einkaufspassage zurückgezogen und liegen dort ordentlich aufgereiht hintereinander.
Etwas weiter wird die Straße gepflastert. Eine verschleierte Frau schleppt Pflastersteine heran, ein Junge Sand auf einer Hacke. Ein anderer Junge bringt den Arbeitern auf einem Tablett Kaffee in kleinen Gläsern.
Irgendwo sehe ich dann tatsächlich ein Straßenschild. Das ist so ungewöhnlich, dass es mir gleich auffällt. Aber dann merke ich, dass es gar keins ist: Urinal Block steht darauf.
Nachdem ich keins der im Reiseführer empfohlenen Restaurants finden konnte – sind alle woanders, bankrott, abgebrannt – lande ich in The Big Chill. Man muss draußen warten, bis man dran ist. Es ist aber schön warm und heute war kein anstrengender Tag. Also warte ich. Das Lokal ist einfach, mit wenigen kleinen Tischen, die Speisekarte umso größer, und zwar ganz wortwörtlich. Sie nimmt den halben Tisch ein.
An den Seitenwänden Filmplakate aus allen Epochen. Ich sitze zwischen Lord of the Rings und Pirates of the Caribbean. Auf der letzten Seite der Speisekarte ein küssendes Paar aus einem Hollywoodschinken und darunter: The End.
Die meisten bestellen Pasta, aber ich bestelle libanesische Vorspeisen, die hier, wie in Griechenland, mezedes heißen, und Hähnchen in einer Wodka- und Brandy-Soße und ein Bier und frage nach der Toilette. Bier gibt es nicht. Keinen Alkohol. Nur im Hähnchen. Wie wär‘s mit Mangosaft? Gibt es auch nicht. Not the season. Toiletten gibt es auch nicht.
Die Vorspeise ist gut, eigentlich nicht mehr als ein Salat aus ganz klein geschnittenen Bestandteilen mit zwei Soßen und gerösteten Brotstückchen. Das Hauptgericht ist sehr gut, mit einer leckeren Soße und gedünstetem Gemüse, von allem etwas, aber jeweils sehr wenig, und mit überbackenen Kartoffeln. Am besten schmecken die Tomaten.
Die Rechnung ist dann wieder ein ganzes Stück höher als erwartet, da Steuer und Bedienung drauf kommen. Insgesamt etwas zu teuer, aber die Bedienung ist freundlich und schnell. Das können keine Inder sein.
In der Metro hört liest man auf einem elektronischen Spruchband: Passengers are requested not to sit on the floor of the train.
Als ich in der Metro-Station ein Photo von den Passagieren machen will, die vor der Einfahrt des Zuges ordentlich in Reihe und Glied stehen – um dann nachher umso ungestümer und völlig ungeordnet auf die Türen zuzustürzen – kommt ein uniformierter Aufpasser auf mich zu und sagt mit Bestimmtheit: No. Hatte ich vergessen. Auch das Photographieren ist in der Metro verboten.
In der Metro steht mir dann ein richtiger Shik gegenüber, wie er im Buche steht. Er hat eine silberne Klammer, die seinen Turban zusammenhält und er heißt tatsächlich Singh, wie ein Namensschild an seiner Brust verrät: Poohman Singh.
Beim Tee auf der Terrasse der Pension hört man Hunde bellen, knurren, kläffen und heulen, alle um die Wette.
26. Februar (Dienstag)
Der Zug geht um 5 Uhr, im Hotel ist Abfahrt um 4 Uhr. Der Fahrer weigert sich, die Scheibenwischer zu betätigen, und dann, als er es doch tut, die Scheibenwischanlage zu betätigen. So lavieren wir uns zwischen schemenhaft erkennbaren Rikschas, Radfahrern, Hunden und Baggern ohne Licht durch die Gegend.
In der Vorhalle der New Delhi Railway Station liegen überall auf dem Boden in dicke Decken eingepackte Menschen, dazwischen Hunde.
Als ich durch die Sperre gehe, werde ich von einem Mann mit Kugelschreiber gestoppt. Er will meine Fahrkarte sehen. Das sei eine Touristenkarte. Die müsse erst im Touristenbüro abgestempelt werden. Ich solle ihm folgen. Das tue ich. Er geht eine Treppe rauf, und jetzt schwant mir etwas. Ich bleibe zurück, er ruft mir hinterher, ich wende mich ab und brumme zwischen den Zähnen irgendwas von I don’t trust you. Das hört ein amerikanisches Ehepaar. Sie fragen mich, worum es gehe. Als sie hören, dass es um den Zug nach Agra geht, sagen sie, der falle aus. Jetzt werde ich endgültig skeptisch. Ich gehe einfach durch die Sperre und komme ungehindert auf den Bahnsteig. Dort spreche ich eine kleine Gruppe von Touristen an. Sie kommen aus der italienischen Schweiz. Sie fahren auch nach Agra. Ja, sagen sie, der Zug fahre hier ab. Dann sehe ich mich ein bisschen um und entdecke an einem Schwarzen Brett sogar die komplette Passagierliste. Kurz darauf fährt der Zug ein.
Agra ist 200 Kilometer entfernt. Es liegt in der Provinz Uttar Pradesh, ‚Nordprovinz‘, wo auch vier der sieben heiligen Flüsse des Hinduismus liegen, darunter der Ganges, und Varanesi, das sakrale Zentrum des Hinduismus. Uttar Pradesh hat so viele Einwohner wie Brasilien! Das muss man erst mal sacken lassen. Und gleichzeitig ist Brasilien doppelt so groß wie ganz Indien!
Agra wurde zur Hauptstadt des Mogulreiches, nachdem Babur den letzten Herrscher der Lodi besiegt hatte. Später verlegte dann ausgerechnet Shah Jahan, der Erbauer des Taj Mahal, die Hauptstadt nach Delhi.
Die Fahrt dauert gut zwei Stunden. Der einzige Halt ist Mathura. Unterwegs werden ein Frühstück und ein Imbiss am Platz serviert. An Personal sollte es nicht mangeln: Indian Railway ist der größte Arbeitgeber der Welt!
Im Zug sitzen meist ausländische Touristen und indische Männer mit den typischen langen, engsitzenden Westen mit gerade nach oben zulaufender Knopfleiste.
Die Landschaft ist flach, das Wetter diesig. Als es auf Agra zugeht, kommen ärmliche Wohnviertel in Sicht, keine Slums. Die Häuser sind meistens aus Stein. In den Pfützen und auf den sandigen Wege Kleinkinder, Ziegen, Hunde. Viel Geröll, aber kein Müll.
Der entgegenkommende Zug hat keine Scheiben und Gitter statt Fenster. Nicht wie bei uns in der edlen ersten Klasse.
Als wir in Agra ankommen, um kurz nach sieben, ist es schon hell. Man wird sofort von Rikschafahrern in Beschlag genommen, die behaupten, zum Taj seien es neun Kilometer. Wieder glaube ich, dass man mich übers Ohr hauen will, aber es stimmt: Es sind wirklich neun Kilometer. Also nehme ich eine Rikscha. Und werde über die breite Straße von einem netten Fahrer zum Osttor gebracht. Ich habe gelesen, da müsse man nicht so lange Schlange stehen. Stimmt. Aber da gibt es keine Eintrittskarten. Die gibt es an einem anderen Ort, und um dahin zu kommen, muss ich noch eine Rikscha nehmen.
Hier wird ordentlich abkassiert. Und man muss alle Lebensmittel abgeben und bekommt Überzieher für die Schuhe. Zurück geht es mit demselben Rikschafahrer, der freundlicherweise gewartet hat. Vom Taj hat man bisher noch nichts gesehen.
Dann wird man gründlich kontrolliert und geht über einen breiten Weg Richtung Taj. Schon das Eingangstor, in bewährtem Rot-Weiß mit Kalligraphien am Torbogen, ein Gebäude für sich, hat etwas Majestätisches. Durch den Torbogen hat man einen ersten Blick auf das Taj. Mit jedem Schritt unter dem Torbogen sieht man etwas mehr, und wenn man genau am Ende des Torbogens steht, sieht man den ganzen Bau, ganz in Weiß, mit Kuppel und Minaretten und Moscheen. Trotz der vielen Touristen hat man einen völlig ungestörten Blick auf das in gerader Achse am Ende des Gartens etwas erhöht liegende Taj. Shah Jahan hat an alles gedacht.
Die meisten Besucher gehen gleich die Hauptachse hinunter, aber von den Nebenachsen her hat man auch einen schönen Blick durch die Bäume auf das Taj und ist außerdem ganz allein. Vor einem der bekanntesten Bauwerke der Welt! Unglaublich. Nur ein paar Gärtner arbeiten in den Gärten. Sie legen gestochen genaue kreisrunde Baumeinfassungen in dem Rasen an. Und rufen in mir, ohne es zu wissen, Kindheitserinnerungen wach.
Der Garten wird eingefasst von einer hohen, roten Begrenzungsmauer. Davor liegt auf der linken Seite das Museum. Darin befinden sich Miniaturen wie aus Tausendundeiner Nacht und Anordnungen Shah Jahans an Provinzfürsten zur Beschaffung und zur Lieferung von Marmor für das Taj. Und Übernahme der Kosten.
Ich setze mich unter Bäume auf eine Parkbank und lasse das Spiel von Licht und Schatten und die Vogelstimmen auf mich wirken und sehe den gestreiften Eichhörnchen und den grünen Sittichen zu. Dann bewegt sich ein Schatten über dem Schatten der Begrenzungsmauer. Sieht wie eine Katze aus. Ich drehe mich um. Es ist ein Affe.
Kurz darauf bietet sich ein weiteres Photomotiv mit besonderem Clou: Taj mit Schuh. Der hängt in den Zweigen eines Baums, durch die man auf das Taj blickt.
Das Mausoleum selbst liegt auf einer etwas erhöhten Plattform. Die misst 100 x 100 Meter. Auf Symmetrie wird geachtet. Das kann man am besten an den zwei Moscheen sehen, die zu beiden Seiten der Plattform stehen. Nur eine fungiert als Moschee, bei der anderen geht das gar nicht, weil sie die falsche Ausrichtung hat. Sie wurde nur der Symmetrie halber dazugestellt.
An allen vier Seiten der Plattform stehen Minarette, die deutlichste Hervorhebung der Bedeutung der Zahl vier. Die Minarette sind eigentlich gar nicht nötig. Es handelt sich ja nicht um ein Mausoleum, nicht um eine Moschee.
Erst aus der Nähe sieht man, dass das Taj Mahal Verzierungen hat: schwarze Kalligraphie mit einzelnen roten Pünktchen und verschiedene Schmuckfriese. Auch die Minarette haben diese Friese, und zwar auf der gleichen Höhe wie das Mausoleum. Einen der Friese, der in drei Reihen um das ganze Gebäude herumläuft, bemerke ich erst, als ich schon einmal um das ganze Mausoleum herumgegangen bin.
Hinter dem Mausoleum fließt der Yamuna. Es bietet sich allerdings keine sonderlich schöne Aussicht auf das Ufer und die andere Seite. Dort sollte ursprünglich, so heißt es, das schwarze Gegenstück zum Taj Mahal entstehen. Dort sollte Shah Jahan selbst begraben werden. Hört sich gut an, ist aber eine Legende. Dass sich die Legende hartnäckig hält, kann man verstehen: Es wäre die Krönung gewesen.
Das Taj hieß ursprünglich Rauza-i-Munanvara, ‚Beleuchtetes Grab‘. Die Bezeichnung Taj Mahal bekam es von den Europäern, und der neue Begriff wurde mit so viel Erfolg eingeführt, dass er jetzt auch von den Einheimischen benutzt wird.
Der Bau des Mausoleums dauerte fünf Jahre, der Bau der Moscheen und die Anlage des Gartens dauerte weitere fünfzehn Jahre. Der Rohbau ist aus Ziegeln, der Marmor wurde aus 300 Kilometern Entfernung herangekarrt. Esel, Kamele, Ochsen und Elefanten kamen beim Bau zum Einsatz. Was für ein Aufwand! Die mussten ja auch alle versorgt werden, und ihr Einsatz musste koordiniert werden. An Festtagen gab es kostenloses Essen für das Volk. Hört sich nett an, aber tatsächlich gab Shah Jahan damit nur einen kleinen Teil der Sondersteuer zurück, die er für den Bau eintreiben ließ.
Innen sieht man klar das Vorbild von Humayans Grab. Die ganze Aufteilung ist gleich. Auch das bescheidene, schmale Kenotaph könnte genauso gut bei Humayan stehen. Hier – genauer gesagt: hier unten – liegt Muntaz Mahal begraben, die ‚Erwählte des Palastes‘. Eigentlich hieß sie Arjumand Bano. Sie starb bei der Geburt ihres 14. Kindes! Sie war eine von vielen Frauen Shah Jahans – man spricht von 72 – aber nicht alle bekamen ein Taj.
Das Kenotaph Mahals steht genau im Zentrum. Daneben steht ein zweites Kenotaph. Es ist das Kenotaph Shah Jahans. Und es stört die Symmetrie! Ausgerechnet das Kenotaph des Auftraggebers ist es, was die sonst perfekte, von ihm selbst geplante Symmetrie stört!
Dann gehe ich über die Mittelachse zurück. Es ist inzwischen voller und wärmer geworden. Die Mittelachse ist bezeichnet durch einen Kanal, der genau auf das Taj zuläuft. Genau auf halber Distanz wird er unterbrochen von einer quadratischen Plattform aus Marmor, um das sich vier Becken gruppieren. Das Wasser fließt durch sie und dann als Kanal weiter auf das Taj zu.
Hinaus geht es durch das Südtor. Dahinter kommt gleich eine schmale Gasse, die die Mittelachse des Gartens fortführt. Hier gibt es auf beiden Seiten nur Souvenirgeschäfte. Und es gibt keine Fahrzeuge. Meine erste indische Fußgängerzone!
Das ändert sich aber bald, und auf der Querstraße ist wieder ordentlich was los. Hier sind, zum Teil sehr versteckt, ein paar Cafés für Rucksacktouristen. Dazu gehört, trotz seins klingenden Namens, das Sanya Palace Hotel. Es ist eine einfache Absteige, in einem Privathaus untergebracht, über dessen Flure und Treppen man zu einer kleinen Dachterrasse kommt, mit perfektem Blick auf das Taj Mahal! Unglaublich. Es ist ganz ruhig, die Preise sind für den Geldbeutel von Rucksacktouristen. Man sieht nicht nur das Taj, sondern auch auf die Dächer der davor liegenden Privathäuser. Ich sehe eine Frau, die einen großen Teppich über das Geländer hängt. Eine Alltagsszene, die sich vor einem Weltkulturerbe abspielt.
Dann fährt mich ein sehr netter Rikschafahrer zum Roten Fort. Er macht für sich selbst Werbung, indem er die Fahrgäste bittet, einen Eintrag in eine Kladde zu machen. Die ist voller netter Kommentare anderer Kunden in verschiedenen Sprachen. Da trage ich gerne meinen Teil dazu bei.
Plötzlich stehen wir vor den gewaltigen Außenmauern des Roten Forts. Die sind noch höher als die des Roten Forts in Delhi.
Das Fort war eine eigene, in sich abgeschlossene königliche Stadt, mit mehr als 500 Gebäuden! Je weiter man in die Anlage hineinkommt, umso mehr hat man den Eindruck, in einem Palast zu sein. Das hat seinen Grund: Das Fort wurde angelegt unter Akhbar, als die Herrschaft der Mogule noch auf wackligen Beinen stand. Der blieb fünfzig Jahre auf dem Thron, und in dieser Zeit stiegen die Staatseinnahmen, und die Herrschaft wurde ausgedehnt und gesichert. Seine Nachfolger konnten sich also mehr Luxus leisten. Darunter natürlich wieder Shah Jahan, Akhbars Enkel, der dessen Gebäude durch Marmorpaläste ersetzen ließ.
Seine Erfahrungen mit dem Fort waren allerdings gemischter Natur. Hier wurde er nämlich eingesperrt, von seinem eigenen Sohn, der gegen seinen Vater rebellierte, und die Rebellion so begründete: Vergeudung von Staatsfinanzen. Da war was dran. Shah Jahan wurde hier, auf einer vorspringenden achteckigen Bastion eingesperrt, mit Blick über den Fluss auf das auf der anderen Seite liegende Taj Mahal, dem Grabmal seiner Lieblingsfrau. Als er starb, wurde seine Leiche über den Fluss von hier aus auf die andere Seite geschafft.
Von allen Gebäuden, die es hier zu sehen gibt, gefällt mir eine versteckt liegende, kleine Moschee am besten, auch sie ganz und gar aus weißem Marmor, mit drei Kuppeln. Wie in Delhi gibt es auch hier keinen Innenraum, sondern einen überdachten Bereich vor den Nischen an der Hinterwand, vor dem man betete. Das Dach stützt sich auf schönen arabischen Hufeisenbögen.
Hier, im Roten Fort, wurde der berühmte Koh-i-Noor aufbewahrt, der größte Diamant der Welt. Was ist nur aus ihm geworden? Ist er in Persien, in Indien, in Arabien gelandet? Denkste! Er ist in London, im Tower. Teil der britischen Kronjuwelen.
Dann geht es wieder mit einer Motorrikscha weiter. Der Preis: 100 Rupien. Die Begründung: Local price. Da ist was dran. Man scheint das hier vereinheitlicht zu haben. Gar nicht so schlecht. Überhaupt sind die Verkäufer, Schlepper und Fahrer hier nicht so schlecht wie ihr Ruf und nicht so schlecht wie ihre Kollegen in Delhi.
Die Fahrt ist wieder ein echtes Erlebnis: überfüllte Rikschas, mit Ziegelsteinen beladene Esel, Frau mit Schador auf dem Rücksitz eines Motorrads, Fahrrad mit Stapel aus zwanzig Paketen, Ziegen an einer Wasserpumpe. Und hier, in Agra, gibt es auch die berühmten Kühe auf der Straße. In Delhi scheint man die aus dem Weg geräumt zu haben. Hier wandern sie in aller Ruhe über die Straße, unbeeindruckt von dem Verkehr. Uns erscheint die Verehrung der Kuh etwas fremd, aber historisch gesehen ist sie völlig einleuchtend: Der traditionelle Bauer konnte nur überleben, wenn er seine Kuh behielt statt sie zu schlachten. Aus der sozialen Notwendigkeit wurde ein religiöses Gebot.
Der Fahrer bringt mich zu Itimad-ud-Davla, noch einem Mausoleum. Es ist das kleinere Gegenstück und gleichzeitig der Probelauf für das Taj, übertrifft dieses aber noch in seiner künstlerischen Ausgestaltung. Und ist im Ausland so gut wie unbekannt. Es ist auch insofern das Gegenstück zum Taj, als es von einer Frau für einen Mann geplant wurde, nämlich der Frau des Mogulherrschers Jehangir, die es für ihren Vater errichten ließ, der am Hof ihres Mannes Karriere gemacht hatte.
Auch hier ist der Grundplan quadratisch, und auch hier gibt es vier Türme, unten polygonal, oben rund. Die stehen aber nicht isoliert, sondern sind Teil des Gebäudes und markieren die vier Ecken des Quadrats. Statt einer Kuppel hat das Mausoleum ein Bengal-Dach. Auch hier ist der Garten quadratisch, mit vier identischen Toren in der Mitte der vier Seiten.
Das ganze Gebäude ist ausgestattet mit filigranen Marmorintarsien, und die konstituieren den wichtigsten Unterschied zum Taj. Die Schmuckelemente sind klein und scheinbar einfach, aber wenn man genau hinsieht, merkt man eine unglaubliche Vielfalt. Alles ist farbig, aber die Farben sind so dezent, dass der Bau in der hellen Sonne fast einfarbig aussieht. Dabei ist kein Quadratmeter von der Dekoration ausgespart.
Innen gibt es nur sehr dezentes Licht, das durch die durchbrochenen Fenster fällt. Erst sieht man gar nichts, und auch, wenn man sich an das Licht gewöhnt hat, sieht man nicht den ganzen Reichtum der Verzierungen. Da hilft die Kamera. Das Blitzlicht zeigt, wie die Steine in den Zwickeln alle bunt bemalt sind.
Das Kenotaph sieht aus, als wenn es aus Holz wäre. Ist es aber nicht, wie einer der Führer einem Besucher gerade mit einer Münze demonstriert. Es ist Metall. Untertreibung.
Ich gehe noch ein bisschen herum und versuche, auf der anderen Seite des Flusses, der auch hier wieder hinter dem Gebäude verläuft, das Taj zu entdecken, sehe aber nur Fabrikschornsteine.
Ich setze mich auf eine Parkbank, da die Sonne jetzt so stark ist, dass man Sonnencreme auftragen muss. Als ich da voll konzentriert sitze und mich der Arbeit widme, sehe ich, als ich aufblicke, auf einmal zwei Jungen vor mir stehen, die mich wortlos und unverwandt anstarren. Was macht der Mann da wohl? Vielleicht haben sie das noch nie gesehen, und in dem Moment bin ich vermutlich wirklich ein Weißer. Die starren Blicke sind mir etwas unangenehm, aber Kommunikation ist unmöglich und mitten in der Operation weggehen, wäre wie ein Affront. In dem Moment erscheinen aber die beiden Väter. Die werden sicher die Jungen zu sich rufen. Denkste! Sie postieren sich neben sie und gucken genauso interessiert dem Schauspiel zu.
Ich denke an die Briten und daran, dass sie uns dafür tadeln, dass wir die Leute anstarren. Wie muss es den Briten erst in Indien ergangen sein! Später lese ich in einem Buch den Bericht einer Inderin, deren Eltern nach Australien auswanderten, als sie noch ein Baby war, und die als junge Frau nach Indien reiste, zu ihren Wurzeln, sozusagen. Das, woran sie sich nie gewöhnen konnte, sagt sie, sei das ständige Anstarren gewesen. Sie erklärt das mit ihrer rätselhaften Identität, Inderin und doch nicht Inderin, Ausländerin und doch nicht Ausländerin. Sie wusste vermutlich nicht, dass auch einfache Sonnencreme genügt.
Mein Rikschafahrer wartet draußen und fährt mich wieder zurück. Es steht nur noch Essen und Trinken und Sonne genießen auf dem Programm. Erst esse ich in einer etwas verstaubt aussehenden Gaststätte, dem Yash Café, in der ich der einzige Gast bin, Reis mit Curry.
Der Kellner sagt mir, ich müsse irgendetwas auf den Boden stellen, aber ich verstehe nicht, was. Meine Tasche? Meine Kamera? Meine Mütze? Meine Schuhe? Irgendwie schaffen wir es nicht, uns zu verständigen. Als dann die Bestellung kommt, zeigt er auf das, was auf den Boden muss: das Bier! Hier wird nur heimlich Bier ausgeschenkt, vermutlich ohne Lizenz. Das Bier, King Fisher, gibt es in Halbliterflaschen, und da mir die Sache mit dem Boden so gut gefällt, bestelle ich gleich noch eine.
Damit hat sich endgültig jeder Gedanke an weitere Besichtigungen erübrigt. Also gehe ich in noch ein Rucksacktouristenhotel mit Dachterrasse, die Shanti Lodge. Wieder so ein guter Blick aufs Taj. Und das sieht nach dem nächsten Bier noch besser aus. Ich sehe die Photos durch und frage mich, was ein Schild bedeutet, das ich am Morgen photographiert habe: No vendering.
Als es dämmert, gehe ich noch ein bisschen durch die Gassen. Auf der Straße, wo die Cafés sind, zielt alles auf Rucksacktouristen ab. Die Schilder sprechen Bände: Internet Café, Train Tickets, Camera Batteries, USB Pen Drives, Memory Cards, Taxi on Hire.
In den Gassen sieht es ganz anders aus: Geschäfte in winzigen garagenähnlichen Räumen, alle ohne Fenster. Am Abend wird einfach das Gitter heruntergelassen. Es gibt Schneiderwerkstätten, Friseure, Schreibwarenläden, an den Ecken Obststände und Essstände, an denen es mächtig qualmt.
Dann ist es Zeit für den Rückweg zum Bahnhof. Ich spreche zwei miteinander plaudernde Rikschafahrer an. Da weiß man nie, mit wem man es eigentlich zu tun hat. Und über Preis und Ziel verhandelt. Das wird jetzt noch dadurch erschwert, dass es zwei Bahnhöfe gibt. Als wir uns einig sind und ich eingestiegen bin, steigen sie beide vorne ein. Und es geht los. Durch die Dunkelheit. Das ist das einzige Mal, dass es mir in Indien etwas mulmig wird. Abenteuerliche Gedanken gehen mir durch den Kopf: Ich bin alleine, sie sind zu zweit. Sie kennen die Stadt, ich kenne sie nicht. Wohin bringen sie mich wohl? Was tun, wenn sie auf krumme Gedanken kommen und einen Touristen mal so richtig ausnehmen oder ihm an den Kragen wollen? Immer wieder versuche ich, etwas zu erkennen und zu erraten, ob wir tatsächlich auf dem Weg zum Bahnhof sind, aber ich erkenne nichts. Alle Sorge ist aber unberechtigt: Sie bringen mich auf direktem Weg zum Bahnhof – dem richtigen.
Da gibt es erst mal keine Auskunft. Unter den Zügen auf den elektronischen Tafeln ist meiner nicht. Und normale Fahrpläne gibt es nicht. Ein Schlepper kommt auf mich zu und will mich mit dem Auto nach Delhi bringen. Ich suche weiter und finde einen Fahrkartenschalter: Der Zug hat zwei Stunden Verspätung. Mindestens. Am Ende sind es drei. Es macht mir aber nichts. Die Zeit wird mir nicht lang. Und bei den lauen Temperaturen kann man es auf dem Bahnsteig gut aushalten.
Es gibt auch einiges zu sehen: Auf dem Boden sitzen oder liegen Reisende, meist in Gruppen, mit Kisten und Kartons statt Koffern. Die meisten Männer tragen europäische Kleidung, aber viele tragen dazu einen Turban oder ein in Piratenmanier um den Kopf geschlungenes Tuch. Die meisten Frauen tragen traditionelle Kleidung, lange, bunte Kleider, mit und ohne Kopftuch.
Es gibt zwei Wartesäle, erster und zweiter Klasse, und als ich das gerade merkwürdig finden will, fällt mir ein, dass das bei uns auf den Flughäfen auch so ist.
Eine alte Bahnsteigglocke, das Pfeifen der Lokomotiven, ein Schreibwarengeschäft mit einem Schriftzug aus der Kolonialzeit und der Zug nach Bombay mit Wappen und goldenen Zierleisten versetzen einen ins 19. Jahrhundert, die Werbung und die elektronischen Zuganzeigen ins 21. Jahrhundert, die Besen und Mülleimer in die Dritte Welt, und die computergesteuerte Durchsage mit künstlicher Stimme und Durchsagen in Endlosschleife in einen Science-Fiction-Film. Bei jeder Durchsage heißt es: May I have your attention, please? Einmal zähle ich es viermal pro Minute. Wo immer man sich hin flüchtet, verfolgt einen die Durchsage.
Manchmal kommt Bewegung in das Volk, wenn ein Zug einfährt. Dabei wird manchmal in letzter Minute ein Gleiswechsel angesagt. Einmal glaube ich schon, meinen eigenen Zug verpasst zu haben, aber der lässt auf sich warten.
Ich sehe, wie eine junge Mutter ihrer kleinen Tochter eindrücklich einredet, sie möge da stehenbleiben, wo sie ist. Dann verdrückt sich die Mutter, klettert auf die Gleise und kommt nach kurzer Zeit wieder zurück. Da war das Not-WC.
Auch hier gibt es natürlich Bettler. Wie geht man damit um? Schwierige Frage. Wie die meisten, entscheide ich mich für einen Mittelweg: hin und wieder etwas geben. Aber wem? Der Ratschlag, den ich im Reiseführer lese: denen etwas geben, die keine Chance haben, Alten und Kranken. Aggressiv Bettelnden, denen, die dich anstoßen und pausenlos auf dich einreden, gebe ich dagegen meistens nichts. Sie lassen, wenn man ihnen etwas gibt, ohnehin immer noch nicht los und wollen mehr und ziehen auch noch andere an. Hier gebe ich einem Mann etwas, der sich ohne Beine über den Boden des Bahnsteigs schiebt. Und einem Jungen, der mich freundlich auf Hindi anspricht und immer wieder gari gari sagt und mir anschließend lächelnd die Hand gibt, obwohl ich ihm nichts gegeben habe. Anderen, die mit einer Geste „Essen“ andeuten, kaufe ich etwas an einem der vielen Stände. Da kommt man sogar ins „Gespräch“. Man deutet ihnen an, mitzukommen, deutet auf die Auslagen und sie können selbst entscheiden, was sie wollen. Das ist alles so spottbillig, dass man sich fast schämt. Und morgen haben sie wieder Hunger. Dennoch leuchtet mir die politische Devise Nichts geben, weil sich so nichts ändert nicht ein. Das macht nicht satt.
Dann habe ich noch eine etwas unheimliche Begegnung: Auf dem Bahnsteig kommt mir ein Bettler mit langem Umhang entgegen. Er bettelt nicht, aber sieht mich mit einem stechenden Blick an. So, als wollte er mir etwas mitteilen. Als er vorbei gegangen ist, tritt es mir plötzlich vor Augen, was sein Blick bedeutet: Im nächsten Leben tauschen wir die Rolle. Du wirst auf der Suche nach einem Bissen durch Indien streifen, ich werde als reicher Westler durch Indien reisen. Ich drehe mich um, um ihn etwas zu geben, aber er ist verschwunden. Und lässt mich in Erinnerung an seinen durchdringenden Blick zurück. Ohne mir die Chance zu geben, mein Kharma zu verbessern.
27. Februar (Mittwoch)
Im Hotel muss bar bezahlt werden. Das hat zur Folge, dass ich zur Bank muss und den ganzen Tag über mit zwei prall mit Geldscheinen gefüllten Taschen durch die Gegend laufe. Es geht aber gut, und ich habe, wie überhaupt in all diesen Tagen, kein einziges Mal auch nur das Gefühl, dass man mir an die Taschen will. Später, als ich an einem Stand etwas zu essen kaufe, gibt man mit sogar Geld zurück, als ich zu viel bezahlt habe – was mir gar nicht aufgefallen wäre. Das kontrastiert völlig mit den sonst allgegenwärtigen Versuchen, einen übers Ohr zu hauen.
Die Rechnung beläuft sich auf 23.300 Rupien – ca. 320 €. Darin sind Übernachtung, Frühstück, Transport vom Flughafen und zum Flughafen, Zugfahrkarte erster Klasse nach Agra, Transport zum Bahnhof und Abholen vom Bahnhof (mit drei Stunden Verspätung) und fast täglich auf der Terrasse servierter Tee mit Keksen oder Kuchen und ein paar kleinere Mahlzeiten enthalten!
Heute soll es zum National Railway Museum gehen. Passt gut zu der Zugfahrt von gestern. Aber erst mal muss man dahin kommen.
An der Metrostation Racecourse mit langen Hallen und steilen Rolltreppen steigt nur ein Mann mit Aktentasche aus. Hier herrscht vornehme Ruhe.
Für die Rikscha habe ich mir, durch Erfahrung klug, den Namen des Museums auf Hindi aufschreiben lassen. Den Zettel zeige ich dem Fahrer, nachdem ich National Railway Museum gesagt, Zuggeräusche imitiert und auf dem Stadtplan die Lage des Museums und unseren Standort gezeigt habe. Alles klar. In kurzer Zeit sind wir da. Er setzt mich auf der anderen Straßenseite ab und fährt weg. Ich überquere die Straße – und stehe vor dem falschen Museum!
Ein anderer Rikscha-Fahrer erbarmt sich meiner. Er spricht Englisch und weiß auf Anhieb Beschied und bringt mich zu dem richtigen Museum.
Es geht über eine lange, vierspurige, kaum befahrene Straße, an der sich die Botschaften aufreihen: Norwegen, Serbien, Sudan, Deutschland, Japan, Portugal. Und der Sitz des High Commissioner von Australien, und später der von Neuseeland. Die scheinen hier die Botschafter zu ersetzten, wohl ein Merkmal des Commonwealth.
Der Rikscha-Fahrer ist Shik und will vor dem Museum auf mich warten und mich weiter durch die Gegend fahren und mich zu einem Shik-Tempel bringen. Ich lasse mich nicht darauf ein, was mir später leid tut.
Am National Railway Museum ist es laut. Das liegt an den Zügen, sondern an den Kindergartenkindern, die hier vor allem mit lautem Gekreische die Fahrt mit einer Miniatureisenbahn genießen.
Für Erwachsene stehen auf dem offenen Gelände Lokomotiven und Waggons herum und ein paar Exponate nebst Erklärungen in einer kleinen, verstaubten Halle.
Vor dem Eingang steht eine kleine, schwarze Dampflokomotive mit übergroßem Schornstein. Sieht wie die von Jim Knopf aus, ganz unwirklich.
Auf den Gleisen stehen dann Exponate aus verschiedenen Zeiten, Dampf- und Diesellokomotiven und einfache und vornehme Waggons. Man kann allerdings nicht rein und meistens auch nicht reinsehen. Höchstens auf die Rampe steigen. Es geht ganz schön hoch. Die Räder sind riesig, und man fragt sich, wie die Passagiere früher überhaupt einsteigen konnten. Vielleicht über kleine Treppen, die auch hier hilfsweise bereitgestellt werden.
Man sieht große, schwere Lokomotiven, aber auch kleine, die wie aus Pappmaché aussehen. Eine erreichte nur eine Höchstgeschwindigkeit von 21 km/h und wurde erst 1986 in Rente geschickt.
Es gibt auch Lokomotiven für die Gleisinspekteure. Eine davon wurde noch 1941 aus Großbritannien importiert.
Man sieht aber auch die erste Lokomotive, die überhaupt in Indien hergestellt wurde, noch während der britischen Kolonialherrschaft. Bis dahin wurden die Einzelteile aus dem Mutterland importiert und in Indien zusammengesetzt.
Die Diesellokomotiven wurden zunächst in wüstenähnlichen Zonen eingesetzt, wo das Wasser knapp war, das man für die Dampflokomotiven brauchte
Es gibt verschiedene Spurbreiten. Ich hatte gestern schon das Gefühl, dass die Spuren breiter als bei uns sind – im Waggon war auch ein Platz mehr pro Reihe. Das scheint eine Zeitlang der Standard gewesen zu sein. Dann kamen britische Kolonialbeamte auf die Idee, dass für bestimmte Strecken eine schmalere Spur geeigneter war.
Man sieht einen Waggon, der, bei einem Wechsel der Spurbreite, vom Gestell abgenommen und auf ein anderes gesetzt werden konnte, ohne dass die Passagiere aussteigen mussten, und zwar schon 1899! Der Waggon ist allerdings sehr edel, und solche Sonderbehandlung erfuhren vornehmlich hochgestellte Kolonialbeamte und britische Adelige.
Für den Kronprinzen, den späteren Edward VII., wurde sogar ein eigener Waggon mit Emblem und Sonnenblenden und Platz für Leibwächter gebaut!
Im Museum selbst sieht man eine Nachbildung von Stephensons Lokomotive mit einem Anhänger mit großem Fass. Was da wohl transportiert wurde? Bei der berühmten Probefahrt waren jedenfalls schon Passagiere an Bord.
Auch zum Bestand des Museums gehört ein Elefantenschädel. Der gehörte einem Elefanten, der in der Dunkelheit gegen einen Zug lief und sieben Waggons zum Entgleisen brachte. Er selbst musste allerdings dran glauben. Als Erinnerung an das Ereignis bewahrt das Museum den Schädel auf, bis auf die beiden Zähne. Einer ist in einem Londoner Museum, den anderen bekam der Lokomotivführer. Als Jagdtrophäe.
Zum Abschluss geht es noch nach Nizamuddin, dem Viertel, durch das mich eigentlich die Straßenjungen führen sollten. Leider haben sich beide Organisationen nicht mehr gemeldet, weder auf Anruf noch auf Mail. Also muss ich mich alleine durchschlagen.
Das Viertel ist ein islamisches Viertel mit engen Gassen, in dem ich der einzige Ausländer bin. An einem Stand probiere ich eine der lecker aussehenden arabischen Süßigkeiten.
Bettler kommen von allen Seiten. Einem alten Mann biete ich wieder an einem Stand etwas zu essen an, eine junge Frau lehnt das ab. Sie will Geld. Später taucht sie dann doch an dem Stand auf, nachdem sie gemerkt hat, dass der alte Mann ganz zufrieden ist. Alles geht mit Hand und Fuß. Hier spricht kein Mensch auch nur ein paar Brocken Englisch.
Ich sehe meine erste Metzgerei überhaupt in Indien, und dann auch gleich die zweite. Muslime sind keine Kostverächter, und auch keine Vegetarier. Ansonsten wird in Indien mit dem Etikett „vegetarisch“ geworben.
Ich sehe einen Jungen mit einem T-Shirt mit dem Aufdruck Pakistan, einen Stand, an dem Chips und Pampers nebeneinander hängen – ob da ein Zusammenhang suggeriert wird? – Stände mit sehr schönen Kopftüchern mit muslimischen Motiven, meist den Silhouetten von Moscheen, ein Fahrrad mit Anhänger, das Bauschutt transportiert, eine Ziege, die sich geräuschvoll den Kopf an einem Rollladen reibt, einen steinernen Bogen über einem Eingang zu einer obskuren Passage, auf dem Beauty Parlour. Only for Ladies steht und aus der nur Männer kommen, einen Jungen, der mit kräftigen Schlägen in die Seite eine Ziege verscheucht, der ich eher aus dem Weg gehen würde, eine Mauer mit bunten Plakaten in arabischer Schrift, geräuschvoll auf den Boden spuckende Männer.
Die Stände mit den Kopftüchern gruppieren sich um das Heiligtum des Viertels herum, das Grab des muslimischen Heiligen Shaik Nizam-ud-din-Chisti, der hier 1365 verstarb. Ich wusste gar nicht, dass Muslime Heilige haben.
Ich traue mich kaum hinein, aber gebe mir dann einen Ruck. Man drückt mir eine Kappe auf den Kopf und zwei Blumenkränze in die Hand – für beides wird auf dem Rückweg kassiert – und lässt mich die Schuhe ausziehen. Dann geht es in einen Eingang und über ganz schmale Gänge, auf deren Boden Frauen und Männer zu beiden Seiten sitzen, meist bettelnd die Hand aufhaltend. Es wird mir etwas mulmig, und ein australisches Ehepaar, mit dem ich am Nachmittag in der Pension spreche, sagt mir, sie hätten regelrecht Angst gehabt.
Die stellt sich aber als unberechtigt heraus. Plötzlich gelangt man auf einen ummauerten Platz, in dessen Zentrum das Heiligtum steht. Drumherum dichtes Gewimmel an Körpern und Stimmen. Ich stehe immer noch etwas hilflos mit meinen Blumenblättern und der Kappe in der Gegend herum, folge dann aber einfach denen, die in das Heiligtum gehen.
Man geht einmal um das Grabmal herum, über einen engen Gang, in dem kaum zwei nebeneinander passen.
Von dem Grab selbst ist nichts zu sehen. Es ist ganz bedeckt mit einer bunt bestickten Seidendecke und den Blumen, die man darauf deponiert. Dem Beispiel folge ich. Die Männer küssen die Pfeiler, das Messinggeländer und die Decke und berühren sie dann mit Hand und Stirn, um sich dann selbst mit der so geweihten Hand an Mund und Herz zu berühren. An den Seiten stehen einzelne Männer mit den typischen weißen Gewändern und Kappen still im Gebet. Man muss sich an ihnen vorbeizwängen, was etwas unangenehm ist. Aber sonst kommt man nicht wieder raus.
Draußen, vor allem hinter dem Heiligtum, sitzen Frauen in großen Gruppen. Sie dürfen selbstredend nicht rein. Einige stehen auf und berühren die vergoldete Wand des Heiligtums oder die schönen, niedrigen Marmorsäulen mit goldenen Kapitellen, die das Grabmal stützen.
Vor dem Eingang, auf roten Teppichen und unter bunten Bändern, sitzen junge Männer und singen leiernde Gesänge, von einer einzigen Trommel begleitet.
Ich lasse das noch eine Zeitlang auf mich wirken und frage mich, was man davon halten soll: Aberglauben, religiöse Inbrunst, Jahrmarkt? Wohl von allem etwas.
In der Pension komme ich mit einem australischen Ehepaar aus Tasmanien ins Gespräch, meinen Nachbarn, Indienkennern. Ich müsse unbedingt wiederkommen und vor allem aufs Land gehen. Als ich erwähne, dass man mit Englisch nicht so gut zurechtkomme, sagen sie, in Delhi sei das doch ganz gut. Auf dem Land spiele sich da gar nichts ab. Aber dann werde es erst interessant. Die Leute seien sehr kommunikativ und meist freundlich. Das mit den Schleppern sei woanders auch nicht so schlimm, sagt die Frau. Aber da hakt er ein und sagt: Na ja, Kalkutta, Jaipur, Agra …
Ich werde nach Deutschland und dem Problem der EU mit den Griechen gefragt. Da ist alles, was man sagt, sowieso falsch, also versuche ich, das Gespräch auf Australien zu bringen. Der Mann klagt über die kürzlich eingeführte Kohlensteuer. Kohlensteuer? Steuer auf Kohlen? Nein, Steuer auf alles, auf ein Hemd genauso wie auf ein Pfund Butter. Das sei eine widersinnige Erfindung der australischen Grünen. Das Geld lande aber dann auf Umwegen in Entwicklungsländern, die damit dann ihre eigenen Dreckschleudern subventionierten statt, wie vorgesehen, für die Bewahrung der Natur einzusetzen.
Das Gespräch kommt auf Zuwanderung. Ich sage, ich glaubte sowieso nicht an die Idee vom Schmelztiegel. Doch, meint er, in Australien sei das wirklich ein Schmelztiegel. In der dritten Generation sei nicht mehr viel von der Herkunft der Einwanderer zu merken. Ja, ja, aber so ist es ja nicht gemeint. Assimilation. Das ist etwas ganz anderes. Aber ich bestehe nicht darauf.
Dann kommen wir auf indische Geschichte und Religion zu sprechen. Ich bin in der Erwartung nach Indien gekommen, immer und überall auf den Hinduismus zu stoßen. Tatsächlich bin ich immer und überall auf den Islam gestoßen. Ja, ja, sagen sie, hier im Norden sei das so, im Süden sei das ganz anders. Leuchtet ein. Und noch etwas Merkwürdiges: Der Islam hat trotz 800-jähriger Herrschaft nur 20% der Inder zu Muslimen gemacht. Das ist wenig, auch wenn es in absoluten Zahlen immer noch viel ist. Die Australier sagen sogar, dass Indien auch heute noch, nach der Spaltung, das größte islamische Land der Welt sei. Das habe ich anders in Erinnerung. War das nicht Indonesien? Oder Pakistan? Aber vielleicht haben sie sogar recht. Bei der riesigen Bevölkerungszahl Indiens ist alles drin.
28. Februar (Donnerstag)
Am Flughafen wird bei der Passkontrolle ein Brite, der nicht rechts, sondern links vom Beamten durchgegangen ist, zurückgerufen. Andere Seite. Der Mann daraufhin: I always follow my wife. After 41 years of marriage …
Auf dem Weg zum Abfluggate kommt mir auf dem entgegengesetzten Laufband ein Guru entgegen oder jedenfalls einer, der so gekleidet ist. Er steht nicht auf dem Laufband, sondern sitzt darauf. Kurz danach erscheint hinter ihm ein Flughafenangestellter mit einem Rollstuhl, und ich vermute einen Zusammenhang. Am Ende des Laufbands steht der Mann aber in aller Seelenruhe auf und geht weiter.
Im Flugzeug sitzt neben mir eine Frau mit einer Uhr mit zwei Zifferblättern. Ich vermute, sie ist Russin, aber sie telefoniert noch kurz vor dem Abflug in einer Sprache, die ich nicht erkennen kann. Es ist Farsi. Sie ist Iranerin.
Sie ist zum zweiten Mal in Indien gewesen, beide Male in Delhi, beim ersten Mal, vor drei Jahren, drei Monate lang wegen einer Augenoperation ihrer Mutter. Diesmal hat sie Delhi erheblich verbessert vorgefunden: Es seien keine Kühe mehr auf der Straße, es läge weniger Kot herum und es werde nicht mehr so viel gespuckt.
Welches das beste Land der Welt sei, fragt sie mich. Ich weiß es nicht, werde aber von ihr gerne belehrt: Iran. Nur das mit der jetzigen politischen Führung sei es nicht so das Gelbe vom Ei. Sie selbst hat aber dem besten Land der Welt den Rücken gekehrt und lebt in Kanada.
Sie bestellt Fleisch und Rotwein, sagt aber, das sei eine Ausnahme. Normalerweise sei sie Vegetarierin und vermeide Alkohol. Nur ab und zu mal ein Glas Rotwein. Als ich danach frage, welchen Rotwein man denn im Iran trinke, sagt sie, als wäre das eine blöde Frage: Shiraz. Und dann verstehe ich, was sie meint: Shiraz heißt Shiraz, weil er aus Shiraz kommt? Eine persische Traube? Kann das sein? In der Vergangenheit wurde im Mittleren Osten tatsächlich kräftig Wein getrunken, aber die Verbindung kommt mir doch etwas abenteuerlich vor.
Irgendwie kommen wir auf 9/11 zu sprechen. Sie nimmt eine vorsichtige Bemerkung von mir auf und sagt ungeschminkt: Alles halb so wild, kaum was passiert.
Ihre Mutter hat afghanische Wurzeln, und ihr Sohn lebt in Kabul. Er ist Manager eines Krankenhauses. Sie ist selbst auch schon da gewesen und zeigt stolz Photos von einer Feier, bei der der Sohn im Zentrum steht. In Kabul sei es gar nicht so schlimm, wie es immer in den Nachrichten hieße.
So endet die Indienreise sozusagen in Afghanistan, der Gegend, aus der die Arier vor ein paar tausend Jahren nach Indien kamen.