Delhi (2013)

17. Februar (Sonntag)

Kalkutta! Bombay! Das ist Indien. Man fĂ€hrt zum Ganges oder in den Himalaya. Aber Delhi? Hört sich staubtrocken und mausgrau an. Trotzdem: Die erste Reise ins neue Land geht in die Hauptstadt. Damit habe ich gute Erfahrungen gemacht, ob in Malaysia, in Mexiko oder in Malta. Und der ReisefĂŒhrer gibt mir recht: Delhi ist tatsĂ€chlich Ă€lter als Kalkutta und Bombay, es hat außerdem Old Delhi und New Delhi, und Agra mit dem Taj Mahal ist nah genug fĂŒr eine Tagestour. Ich kann mich noch erinnern, wann ich den Namen Taj Mahal zum ersten Mal gehört habe: Als ich Kind war, machte unsere Zeitung eine Umfrage bei den Lesern, um herauszufinden, welches die sieben Weltwunder der Moderne waren. Das Taj Mahal war dabei.

Am interessantesten bei der LektĂŒre zur Vorbereitung sind die Religionen: die Vielfalt, die Unterschiede, die Versuche, eine Synthese aus zwei alten Religionen zu machen, die Reformbewegungen innerhalb der Religionen, die historischen WechselfĂ€lle. Zwei Beispiele: Der Buddhismus, der aus Indien kommt, hat hier nur noch einen kleinen Anteil an den Religionen. Und die beiden wichtigsten Religionen, der Hinduismus und der Islam, sind so verschieden, wie man es sich nur denken kann: Vielgötterei gegen Monotheismus, bunte Bilderwelt gegen Bildverbot.

Außerdem gibt es auch im Hinduismus eine Dreifaltigkeit. Sie heißt hier Trimurti, und besteht aus Brahma, dem Schöpfer, Vishnu, dem Erhalter, und Shiva, dem Zerstörer und Erneuerer. Nach der christlichen Dreieinigkeit, der kapitolinischen Trias (Jupiter, Juno, Minerva) und den Ă€gyptischen Isis, Osiris und Horus begegne ich schon zum vierten Mal einer Dreizahl an der Spitze der Götterhierarchie. Zufall? Die Besonderheit der hinduistischen Götter ist, dass sie, wie die Menschen, wiedergeboren werden und in immer neuen Inkarnationen auftreten. So sind Rama, Krishna und Buddha alle Inkarnationen ein und desselben Gottes, Vishnu.

Auf der ganz praktischen Seite gibt es die Besonderheit, dass der Zeitunterschied zu Deutschland nicht vier oder fĂŒnf Stunden, sondern viereinhalb Stunden betrĂ€gt! Zeitzonen innerhalb von Indien scheint es nicht zu geben. Das Land ist riesig, aber eher lang als breit.

Eher zufĂ€llig habe ich herausgefunden, dass man ein Visum braucht. Das kam ĂŒberraschend. Das indische Konsulat hat die Sache einer privaten Firma ĂŒbergeben, so dass außer den KonsulatsgebĂŒhren auch noch GebĂŒhren fĂŒr die Abwicklung anfallen. DafĂŒr geht es sehr effizient zu. Kaum ist der Antrag da, bekommt man schon die Nachricht, dass er angekommen ist und welche Daten noch fehlen. Auch als die vorliegen, bekommt man eine Nachricht darĂŒber, dann wird man informiert, dass die Sache in Bearbeitung ist und dann, dass sie abgeschlossen ist. Und am nĂ€chsten Tag ist der Pass mit dem Visum da. Am Anfang steht allerdings ein umfangreiches Formular im Internet. Das schrumpft langsam zusammen, wenn man bestimmte Felder, die nicht zutreffen, negativ beantwortet hat. Man muss aber Namen und Beruf von Vater und Mutter angeben. Schwer zu verstehen, was das mit einem Visum zu tun hat, wenn Vater und Mutter seit 50 bzw. 20 Jahren tot sind.

Am Flughafen in Frankfurt geht es bei India Air langsam zu. Eine Geduldsprobe. Vermutlich eine gute Vorbereitung auf das Land. Alle Daten werden auf vorsintflutlichen Computern per Hand eingegeben. Eine der Angestellten beklagt sich sogar laut darĂŒber. Überall stehen Ordner herum, die Unordnung in die herrschende Ordnung bringen. Es grenzt an ein Wunder, dass wir nur mit einer halben Stunde VerspĂ€tung abfliegen.

Das Flugzeug, bis auf den letzten Platz besetzt, hat auch ein paar AltersschwĂ€chen: die Leselampe geht die ganze Nacht ĂŒber immer wieder von selbst an und aus, der Bildschirm bleibt schwarz, der Lautsprecher krĂ€chzt und dringt nicht bis zu uns auf den letzten PlĂ€tzen vor, der Sitz hat eine Feder, die herausspringt und sich mir in den RĂŒcken drĂŒckt, der Teppichboden ist voller Flecken und Risse, die notdĂŒrftig geflickt sind. Die Plastikfassungen sind brĂŒchig und in den Ritzen stecken noch die Servietten und Zahnstocher der letzten Passagiere.

Über das Schwarze Meer und das Kaspische Meer geht es in einem sanften Bogen Richtung SĂŒdost. Delhi liegt ungefĂ€hr auf der Höhe von Kairo und von New Orleans, etwas nördlich von Schanghai.

Unter den Passagieren viele junge Rucksacktouristen, meistens Frauen, denen man ansieht, dass sie in Katmandu dem Sinn des Lebens auf den Grund gehen wollen, und Ă€ltere Frauen mit strengen Frisuren und Nickelbrillen, denen man ihre Überzeugung ansieht, dass sie die Welt verbessern könnten, wenn man sie nur ließe.

Die Passagiere sind zur HĂ€lfte Deutsche, zur HĂ€lfte Inder. Die gibt es in dunkelhĂ€utig und in hellhĂ€utig. Das sind die Arier, die in der Vorzeit in Indien, vermutlich von Mittelasien kommend, eindrangen und sich die Draviden untertan machten. So jedenfalls eine Konstanze der indischen Geschichtsschreibung. Die aber jetzt ins Wanken gerĂ€t. Es gibt Wissenschaftler, die behaupten, die Draviden seien damals noch gar nicht da gewesen. Dann muss die indische Geschichte umgeschrieben werden. Jedenfalls sind es die Arier, die ihre Sprache mitgebracht haben und die, wie das 19. Jahrhundert zu seinem Erstaunen entdeckte, mit unseren Sprachen verwandt ist. Eine Sensation, ausgerechnet von einem britischen Richter entdeckt, der hier nichts Besseres zu tun hatte als Sanskrit zu lernen, die alte Sprache der indischen Religion – so etwas wie das Latein Indiens – und auf einmal merkte, dass es da Ähnlichkeiten mit Latein und Griechisch, aber auch den „gotischen“ Sprachen gab, die es eigentlich gar nicht geben dĂŒrfte. Ich mache den Versuch mit Hindi, mit den paar Wörtern, die im ReisefĂŒhrer stehen. Kein Erfolg, bei keinem einzigen der Wörter kann ich irgendeine Verbindung mit unseren Sprachen herstellen – bis ich die Zahlen entdecke. Da geht es: ek, do, tin, char, panch. Die hĂ€tte man identifizieren können, auch sat fĂŒr sieben und nau fĂŒr neun.

Wieder mit den Gedanken im Flugzeug angelangt, sehe ich Saris, aber keine Turbane. Eine Frau trÀgt einen prachtvollen roten Sari, ihr Mann eine dicke, schwarze Lederjacke. Auch die Stewardessen tragen einen Sari, oder zumindest etwas in der Art.

Neben mir sitzt ein indisches Ehepaar aus New York, das dort einen Importhandel fĂŒr indische Waren betreibt. Offensichtlich ein lohnendes GeschĂ€ft. Sie reisen jedes Jahr in die alte Heimat und lassen sich Zeit dabei. Diesmal mit Zwischenaufenthalten in Singapur und Barcelona.

Sie fragt mich nach meinen PlĂ€nen und ist ĂŒberrascht, dass ich so lange in Delhi bleiben will. Das passiert in den nĂ€chsten Tagen immer wieder. Langsam kommen mir Zweifel. Sie ermahnt mich, vorsichtig zu sein. Wovor? Warum? Ich vermute, es sind die Schlepper, vor denen sie mich warnen will, aber sie kennt wohl kein richtiges englisches Wort dafĂŒr und beschrĂ€nkt sich aufs Gestikulieren. Statt mich artig zu bedanken, sage ich: Das kenne ich aus anderen LĂ€ndern. Aber das lĂ€sst sie nicht gelten: The Indians are smart. Smarter than others.

18. Februar (Montag)

Am GepĂ€cklaufband treffe ich eine junge Frau wieder, die mir schon in Mainz am Bahnhof mit den verspĂ€teten ZĂŒgen geholfen und die ich dann beim Einchecken und dann beim Einsteigen wieder getroffen habe. Sie reist weiter, bleibt aber erst mal einen Tag in Delhi. Sie sagt, sie freue sich jetzt aufs Bett. Ich sage, ich auch, aber tatsĂ€chlich habe ich eher vor, bis zum Abend auszuhalten, um mich an den Zeitunterschied zu gewöhnen.

Sie tauscht Geld um, ich versuche es an einem Geldautomaten. Nach mehrmaligen vergeblichen Versuchen geht mir auf, dass man erst die Geldkarte herauszieht, bevor man die Daten eingibt. Dann klappt es. Ich hebe 8.000 Rupien ab, ungefĂ€hr 100 €. Alles kommt in Tausendern. Das wird sich als Problem erweisen. Wechselgeld ist in Indien knapp.

Ich werde von einem Taxifahrer des Hotels abgeholt. Das hat den Vorteil, dass man dort wirklich ankommt und zu einem festen Preise fĂ€hrt, den man spĂ€ter im Hotel begleicht und nicht bei den schlitzohrigen Taxifahrern. Die Hotels lassen sich das gut bezahlen. Aber eigentlich geschieht es in ihrem eigenen Interesse. Die Taxifahrer bringen die Passagiere, mit der BegrĂŒndung, das Hotel sei geschlossen, ausgebucht oder abgebrannt, in ein teures Hotel in die Außenbezirke und kassieren dort eine Kommission.

Erst, als ich an der falschen Seite einsteigen will, merke ich: Linksverkehr! NatĂŒrlich, wir befinden uns im britischen Empire.

Der erste Eindruck von Delhi ist alles anderes als berauschend: diesig, wolkig, viel Asphalt und Zement, alles Grau in Grau. Und warm ist es auch nicht, gerade einmal 11°.

Nach einem kurzen StĂŒck Schnellstraße wird es bald indisch: dichtes Verkehrsgewimmel auf engen Straßen. Überholt wird stĂ€ndig und von allen Seiten, und gehupt auch, mit und ohne Grund. Es gibt drei Varianten: anhaltend, wiederholt und einfach. Das erste bedeutet so etwas wie „Vorsicht!“, das zweite  „Weg da!“, das dritte macht man nur so aus Gewohnheit.

An einer Straßenecke warten ganze Reihen von Kleinbussen und gelben, motorisierten Rikschas, dem indischen Äquivalent zu den cocotaxis in Havanna. Sie sind aber eckiger. Und entlang der Straße warten altersschwache Schulbusse auf das Ende des Unterrichts. Einer von ihnen heißt Krishna.

Die Pension, ein Familienbetrieb, liegt in einer etwas ruhigeren Straße, von außen praktisch nicht zu erkennen. Man wird sehr freundlich empfangen. Das Zimmer liegt oben am Rande einer Dachterrasse und ist winzig klein. Es hat nur ein niedriges Bett und eine niedrige Anrichte, die mit RĂ€ucherstĂ€bchen, AltĂ€ren und Heiligenbildern vollgestellt ist. Es gibt keinen Schrank, keinen Tisch, kein Waschbecken. Die Toilette ist draußen und die Dusche auch. Um warmes Wasser zu bekommen, muss man eine Viertelstunde vorher einen Schalter betĂ€tigen.

Bei dem Roman, den ich gerade begonnen habe, The God of Smaller Things – indische Autorin, indischer Schauplatz – bin ich anfangs verwirrt, bis sich herausstellt, dass Esta, eine der Hauptfiguren, ein Mann ist. Der Name klingt nach Frau. Ähnlich geht es mir bei den hinduistischen Göttern wie Shiva. Alles MĂ€nner. Jetzt kann ich aber feststellen, dass Ushi tatsĂ€chlich eine Frau ist, obwohl es sich nach Frau anhört. Das ist die EigentĂŒmerin der Pension. Avnish ist ihr Mann.

Ich bekomme gerade mit, wie sich eine der ĂŒberadaptierten  Amerikanerinnen ĂŒberschwĂ€nglich fĂŒr das Zimmer bedankt. Sie trĂ€gt Plunderhosen – ich erinnere mich, dass Pyjama auf dem Umweg ĂŒber Persien zu uns gekommen, aber eigentlich ein indisches Wort ist – und bedankt sich auf indische Art, mit gefalteten HĂ€nden vor dem Gesicht und einem Kopfnicken. Sie macht das mehrmals, damit auch jeder mitkriegt, wie gut sie das kann.

Dann kommt eine dĂ€nische Familie herein, die ich gleich als DĂ€nen identifiziere. Die kleine Tochter fragt mich, ohne Scheu, woher ich denn kĂ€me, natĂŒrlich in fließendem Englisch.

Mein Plan, mir als erstes den Lakshmi-Tempel anzusehen, einfach deshalb, weil er nicht weit weg ist, scheitert an der indischen RealitĂ€t: Es gibt ĂŒberhaupt keine Beschilderung, auch keine Straßennamen, und zu meiner Überraschung kaum jemanden, der Englisch spricht. Die wenigen, die Englisch sprechen, nutzen es dazu, einem etwas anzudrehen oder einen ĂŒbers Ohr zu hauen. Wenn man nach einem Ort fragt, wird man, statt eine Antwort zu bekommen, eingeladen, mitzukommen oder mitzufahren.

Der Verkehr tut sein ĂŒbriges. Die bunte Vielfalt ist zwar schön anzusehen – Handkarren, Kleintransporter, FahrrĂ€der, Rikschas, motorisierte und nicht motorisierte, und vor allem Hunderte von Rollern – macht aber das Überqueren der Straße zu einem Abenteuer. FußgĂ€ngerampeln gibt es nicht, und die paar Zebrastreifen, die ich spĂ€ter im Zentrum sehe, haben eher dekorative Zwecke. Als ich die erste Querstraße erreiche, stehe ich erst ratlos davor und atme dann tief durch, als ich sie ĂŒberquert habe.

Auf der anderen Straßenseite entdecke ich das erste Hakenkreuz, an einem Monument, das aus aufgeschichteten Steinquadern besteht und vermutlich religiöse Bedeutung hat. Das Hakenkreuz – auch das haben die Arier mitgebracht – bekrönt das Monument.

Dann kommt das nĂ€chste Problem: BĂŒrgersteige sind Mangelware, und da, wo es sie gibt, vollgeparkt oder aufgerissen oder ĂŒberflutet. Da muss man sich auf der Fahrbahn durchschlagen, und da ist man ganz klar der SchwĂ€chste, was die anderen einem auch zu verstehen geben. Might is right, lese ich spĂ€ter in einem alten ReisefĂŒhrer, der in der Pension herumliegt.

Ich komme an einem riesigen Krankenhaus vorbei. Von dem Tempel ist weit und breit keine Spur. Ziellos gehe ich weiter. Ich sehe einen Frisör, der seinen Betrieb im Freien hat. Der einzige Einrichtungsgegenstand ist ein Stuhl. Hier lassen sich Inder frisieren und vor allem rasieren.

Dann sehe ich einen Park, der seinen Namen nicht so richtig verdient. Auf dem Rasen, der seinen Namen ĂŒberhaupt nicht verdient, spielen junge Leute mit großer Leidenschaft das englischste aller Spiele: Cricket. An dem Zaun, den das Spielfeld von der Straße abtrennt, hĂ€ngen Bilder von hinduistischen Göttern. Indien im Kleinformat.

An einem verdorrten Baum am Straßenrand hĂ€ngen ein Rosenkranz und Devotionalien.

Endlich entdecke ich ein passabel aussehendes Café. Dort gibt es einen guten Kaffee und vor allem einen wunderbaren, warmen Kuchen, eine Art Kaffeekuchen, der etwas wie englische crumpies schmeckt.

Eine Touristin am Nebentisch, die ich nach dem Weg frage, ist eine Deutsche aus Stuttgart. Sie kenne zwar viele StĂ€tten in Delhi, aber nicht, wie man dahin kommt. Sie fahre immer mit dem Auto mit ihrem Freund. Sie weiß aber, dass in der Richtung, aus der ich komme, eine Metrostation ist. Die Untergrundbahn heißt hier wirklich, nicht sehr britisch, Metro. Aber bei der Ankunft an einer Station hört man Mind the gap. Sehr britisch.

Am Eingang der Metrostation, zu der man rauf, nicht runter geht – es ist meist eine Übergrundbahn – fĂ€llt mir als erstes ein Schild auf: Spitting is Prohibited.

Es gibt keinen Einheitspreis. GlĂŒcklicherweise gibt es richtige FahrkartenverkĂ€ufer, keine Automaten. FĂŒr die Fahrt zum Connaught Place, der jetzt nach dem ehemaligen Premierminister Rajiv Chowk heißt, bezahlt man 12 Rupien, knapp 20 Cent. Man bekommt einen elektronischen Chip, den man beim Verlassen der Metro wieder einwerfen muss.

Vor dem Betreten der Metro wird man durchleuchtet. Das muss fĂŒr die Pendler ziemlich lĂ€stig sein, die das jeden Tag ĂŒber sich ergehen lassen mĂŒssen.

Die Metro ist erst zehn Jahre alt. Sie aber Ă€lter aus. Die Wagen sind zwar einigermaßen modern, aber kein Vergleich mit Peking oder MedellĂ­n, die auch erst in den letzten Jahren eine U-Bahn bekommen haben.

Als ich auf dem Bahnsteig bin, muss ich feststellen, dass der Metro-Plan dort nur auf Hindi ist. Da ist man ziemlich aufgeschmissen. Die Schrift hat oben eine einheitliche Linie, nur nach unten variieren die Zeichen in der LĂ€nge. Über der Linie, die oft tatsĂ€chlich gezeichnet wird und an der die Zeichen herunterzuhĂ€ngen scheinen, gibt es nur hier und da einen Bogen oder einen Strich, vermutlich Akzente oder diakritische Zeichen. Verstehen tut man nichts, außer den Zahlen. Die haben wir schließlich aus Indien, auch wenn wir sie arabisch nennen.

Es gibt, wie in Kuala Lumpur, U-Bahn-Wagen fĂŒr Frauen. Sie sind auf dem Boden rosa markiert.

Ich fahre zum Connaught Place, dem Rajiv Chowk, dem Zentrum von Neu Delhi, dem britischen Delhi.

Rajiv Chowk ist die zentrale Station ĂŒberhaupt, angeordnet um eine runde Halle, in der die Ströme der Passagiere in die verschiedenen Richtungen laufen. Es ist so voll, dass man sogar Schwierigkeiten hat, den Ausgang zu finden.

In der Metro gibt es sogar Toiletten. Das gab es, wenn ich mich richtig erinnere, in London frĂŒher auch, aber man hat es dann aufgegeben. Kaum in Schuss zu halten. In anderen StĂ€dten hat man gleich darauf verzichtet. Ein Mann weist mir den Weg, fragt mich, vorher ich komme und bezahlt dann die eine Rupie an den Toilettenmann fĂŒr mich, da ich kein Kleingeld finde. Dann habe ich ihn am Hals. Ich versuche, ihn loszuwerden – vergeblich. Als wir zum Ausgang kommen, deute ich nach links und biege dann im letzten Moment nach rechts ab. Als ich die Treppe raufgehe, ĂŒberholt er mich auf der linken Spur, ohne mich zu erkennen. Ich drehe mich um und gehe doch links raus. Geschafft!

Der Connaught Place sieht mit seinen regelmĂ€ĂŸig um ein großes Oval angeordneten Straßen sehr ĂŒbersichtlich aus. Hier herrscht westeuropĂ€ische Ordnung. Jedenfalls auf dem Stadtplan. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Der Platz ist viel zu groß, um die Übersicht zu behalten, und außerdem wird an jeder Ecke gebaut.

Der Connaught Place ist das Zentrum der Schlepper. An jeder Ecke wird man angesprochen. You want guide, Sir? What you lookin, Sir? Ich will mich gerade auf die Suche nach der Touristeninformation machen, als mich einer anspricht: Tourist Information? Im letzten Moment besinne ich mich. Er weist auf ein GebĂ€ude gleich um die Ecke, die Touristeninformation ist aber auf der Janpath, einer Prachtstraße, die vom Connaught Place ausgeht. Die Masche mit der Touristeninformation besteht darin, dass es sich vertrauensvoll anhört. Es sind aber private Organisationen, die einem teure AusflĂŒge andrehen, statt zu informieren.

Ich gehe die ganze Janpath rauf und runter, ohne etwas zu finden. Hier sieht man ein paar moderne HochhĂ€uer mit ElefantenfĂŒĂŸen.

Ich sehe ein Verkehrsschild, auf dem es in drei verschiedenen Farben heißt: no halting, no parking, no stopping.

An einer Ecke sehe ich einen Buchladen, der nur aus Reihen von horizontal ĂŒbereinandergestapelten BĂŒchern besteht und ein ganzes Garagentor einnimmt. Was macht der bloß, wenn man ein Buch aus der Mitte will?

Wieder auf dem Connaught Place angelangt, setze ich mich erschöpft auf einen Stein. Neben mir macht sich ein Hund an einem Beutel mit Fleischresten zu schaffen. Den bekommt er aber nicht auf. Man wĂŒrde zu gerne helfen, aber Hunde sind gefĂ€hrlich. Wegen der Tollwut. Man hat mich in Trier beim Gesundheitsamt ausdrĂŒcklich gewarnt.

Ausgerechnet hier, in Neu-Delhi, der Vorhut der Zivilisation, sehe ich echte Misere. Eine Familie, die mitten in einem MĂŒllberg sitzt und wohl auch hier lebt. Sonst gibt es viel Armut tu sehen, viele Bettler, die vermutlich nichts haben als das, was sie am Körper tragen. Aber gewöhnlich sitzen sie an besseren PlĂ€tzen, zum Beispiel vor dem Gitter eines Parks.

Als ich wieder zurĂŒckfahre, will ich mich bei meiner Metrostation in einem GeschĂ€ft mit Keksen fĂŒr den Notfall versorgen. Aber ein bewaffneter Soldat wehrt mich energisch ab, obwohl Kunden in dem Laden sind: Closed. Paradox. Über dem Eingang steht: Open 24/7.

Irgendwie gelange ich dann wieder in die Pension zurĂŒck. Dort kann man jederzeit Snacks bestellen. Ich bekomme paratha, das, was man hier Brot nennt. Es entspricht aber eher unseren Pfannkuchen. Sie sind mit KĂ€se gefĂŒllt und werden mit Joghurt und mariniertem Mango serviert. Es gibt eine ganz ordentliche Auswahl einfacher Gerichte, und man kann ĂŒberall essen. Erst spĂ€ter merke ich, dass alle Gerichte vegetarisch sind.

Auch wenn das Brot kein Brot in unserem Sinne ist, bestĂ€tigt es etwas, was ich vorher gelesen habe: Nicht Reis ist das Grundnahrungsmittel in Nordindien, sondern eben Brot. Im SĂŒden ist das anders.

19. Februar (Dienstag)

Es gibt „indisches“ oder „kontinentales“ FrĂŒhstĂŒck. Ich nehme das indische. Das ist dasselbe wie das Abendessen. Der einzige Unterschied ist, dass die Pfannkuchen statt mit KĂ€se mit Kartoffeln gefĂŒllt sind.

Den Raum verschließt man mit einem riesigen VorhĂ€ngeschloss. Darauf steht: Lock with Freedom.

Den Weg zur Metro finde ich heute ohne Probleme. Die Wagen sind so voll, dass ich zwei vorbeifahren lasse, bevor ich einsteige. Sie kommen aber praktisch im Minutentakt. Am Tag davor habe ich einen Bus gesehen, der so voll war, dass er mit offener TĂŒr fuhr.

Heute geht es in die Altstadt. (Warum hört sich Alt-Delhi komisch nicht, nicht aber Neu-Delhi und weder Old Delhi noch New Delhi?). Hier ist der Verkehr noch dichter, das Bild noch bunter, aber die Straßen sind kleiner und irgendwie fĂŒhlt man sich besser.

Überall sieht man, wie geschnĂŒrte Ballen transportiert werden, auf Leiterwagen, auf FahrrĂ€dern, auf dem Kopf. Sie enthalten vermutlich Stoffe. Jedenfalls habe ich vor einem Stoffbasar besonders viele gesehen. Ein  Leiterwagen ist so schwer beladen, dass ein Mann zieht und zwei hinten schieben.

Hier sieht man auch DreirĂ€der, wie ich sie noch aus meiner Kindheit kenne, kleine, wendige Fahrzeuge mit einem Aufbau fĂŒr den Transport von Waren. Die sind hier alle grĂŒn, und irgendwie glaubt man unwillkĂŒrlich, dass sie Obst und GemĂŒse transportieren. Am Straßenrand ĂŒberall GemĂŒsekarren und Obstkarren und GarkĂŒchen. Über ihnen kreisen Scharen von Vögeln, die wie KrĂ€hen schreien und wie Adler aussehen.

FahrrĂ€der sind hier grundsĂ€tzlich Transportmittel. Man fĂ€hrt nicht mal nur so zum Spaß Rad. Meistens transportieren sie Gasflaschen oder Milchflaschen.

Ein Mann ĂŒberquert in aller Ruhe die Straße, trotz der vielen Fahrzeuge, und putzt sich dabei die ZĂ€hne.

Über einer Kreuzung hĂ€ngen ganze BĂŒndel von Stromkabeln herunter. Die Elektriker nennen so was Affenschaukel. Ich sehe rauf und da ist tatsĂ€chlich ein Affe, der sich da schaukelt.

Von der Metrostation kann ich mich auch ohne Straßennamen zur Moschee, der Jamia Masjid, durchfinden.

Die Jamia Masjid, die grĂ¶ĂŸte Moschee in ganz Indien, liegt erhöht. Eine breite, rote Freitreppe fĂŒhrt zu ihr hinauf. Man zieht seine Schuhe aus und steht dann auf einem großen, quadratischen Innenhof. Sehr schön. Rechts liegt die Moschee selbst. Nur kann ich den Eingang nicht finden. Erst gehe ich links herum, dann rechts, dann versuche ich es von vorne. Nichts. Kann doch nicht sein. Da höre ich einen FremdenfĂŒhrer Spanisch sprechen. Den frage ich. Die Antwort: Es gibt keinen Eingang. Das ist alles. Die Moschee hat kein Inneres. Deshalb sitzen auch Frauen und MĂ€nner draußen vor den Nischen und beten.

Die Moschee wurde erbaut von Shah Jahan, einem der letzten Mogulherrscher gebaut. Dem Namen werde ich in den nĂ€chsten Tagen immer wieder begegnen. Er war ein Architekturfanatiker und setzte sich mit monumentalen Werken ein Denkmal. Das berĂŒhmteste ist das Taj Mahal in Agra. Das nĂ€chstgelegene das Rote Fort von Delhi.

Dahin gelange ich zu Fuß, muss mich aber stĂ€ndig der Rikschafahrer erwehren, von denen man alle paar Meter angesprochen wird und die nicht einfach loslassen, nur weil man nein sagt.

Als ich dann am Fort ankomme, gebe ich nach. Das Fort ist so groß, dass es bis zum Eingang weiter ist als von der Moschee zum Fort. Also lasse ich mich zum ersten Mal von einer Fahrradrikscha kutschieren. Der Junge will am Ende wirklich nur 10 Rupien fĂŒr seine Leistung, kĂŒndigt aber an, auf mich zu warten, um mich danach durch die Altstadt zu fahren. Davon lĂ€sst er sich nicht abbringen, ganz egal, was ich sage.

Das Fort sieht von weitem wie der Moskauer Kreml aus und ist auch Ă€hnlich groß, wie eine Stadt fĂŒr sich, mehr als nur eine Festungsanlage.

Durch das mĂ€chtige Lahore-Tor geht man hinein, und dann durch Chatta Chowk, den ehemaligen Basar, in den Innenbereich. Da, wo sich frĂŒher der Basar befand, befinden sich heute SouvenirgeschĂ€fte, die Tradition fortfĂŒhrend, sozusagen. Damals wurden hier LuxusgĂŒter wie Seide, Brokat, Edelsteine und Samt angeboten, heute gibt es Krimskrams. Der Basar befindet sich in einer ĂŒberdachten Passage, mit GeschĂ€ften auf beiden Seiten. Damals war es ganz ungewöhnlich, im Fort einen Basar zu haben. Shah Jahan hatte das in Pakistan gesehen und die Idee mitgebracht.

Dann kommt man an ein freistehendes GebĂ€ude, Naubat Khana, das ‚Trommelhaus‘, so genannt, weil hier fĂŒnfmal am Tag zur BegrĂŒĂŸung der GĂ€ste aufgespielt wurde. Es ist das Eingangstor in den Innenbereich, und hier mussten die GĂ€ste ihre Elefanten abgeben. Das GebĂ€ude hat auf der RĂŒckseite, der Palastseite, schöne Blumenornamente.

Dann erst kommt man in das eigentliche Innere. Auf dem GelĂ€nde laufen ĂŒberall kleine gestreifte Nagetiere herum, die ich wegen ihres grĂŒn-weißen Fells erst nicht als das identifiziere, was sie sind: Eichhörnchen! Sie werde mich in den nĂ€chsten Tagen ĂŒberall verfolgen und viele Photos verursachen, auf denen man gar nichts sieht, weil die Biester im Moment der Aufnahme schon das Weite gesucht haben.

Außerdem stehen hier ĂŒberall WĂŒrgefeigen mit ihren Luftwurzeln. Sie sind wie das botanische Leitmotiv meiner Reisen. Wo ich hinkomme, sind sie schon. Zum ersten Mal habe ich sie in Tansania gesehen, wenn ich mich richtig erinnere.

Auf dem GelĂ€nde kommt man sich etwas verloren vor. Vielleicht hĂ€tte ich doch einen der vielen FĂŒhrer, die sich am Eingang angeboten haben – You want guide, Sir? – nehmen sollen. Es gibt eine ganze Reihe niedriger, weißer Marmorbauten mit unterschiedlichen Funktionen: Hammam, Empfangshalle, Moschee, Brunnenhaus und, am schönsten, der Privatpalast. Die Funktion sieht man den GebĂ€uden aber nicht an. Sie sehen alle Ă€hnlich aus. Ausstattungen gibt es gar keine mehr, und richtige TĂŒren und Fenster auch nicht. Ob nur noch der Rohbau vorhanden ist? Oder konnten sie bei dem milden Klima einfach offen sein?

Man erfÀhrt, dass vor dem Privatpalast, dem Khas Mahal, KÀmpfe zwischen Löwen und Elefanten stattfanden. Wie hat man die nur dazu bekommen, sich zu bekriegen? In der freien Wildbahn lassen die sich doch gegenseitig in Ruhe.

Hier stand frĂŒher tatsĂ€chlich der Pfauenthron, den man immer mit Persien in Verbindung bringt. Ich hĂ€tte nie gedacht, dass der ursprĂŒnglich aus Indien stammt. Kriegsbeute, vermutlich.

Verbindungen zu Persien findet man immer wieder. Auch in dem Museum, das in der NĂ€he, ebenfalls in einem alten PalastgebĂ€ude, untergebracht ist, sieht man Steintafeln mit persischen Inschriften. Die persische Verbindung hat zu tun mit Barbur, dem ersten Mogulherrscher Indiens. Der war von der persischen Kultur besonders angetan. Er eroberte diesen Teil Indiens eigentlich eher aus Verlegenheit, nachdem er in Samarkand eins auf die MĂŒtze gekriegt hatte. Da dachte er sich: Indien, auch nicht schlecht. Und besiegelte das Ende der Lodi-Dynastie. Der persische Einschlag ist sogar am Namen abzulesen, denn Mogul ist einfach persisch fĂŒr Mongole, und so nannte die Perser das Volk, das ursprĂŒnglich aus Zentralasien kam. Zu den Ahnen Barburs gehörten Timur und Dschingis Khan.

Neben den Marmortafeln mit den persischen Inschriften hĂ€ngt eine ganz Ă€hnliche Inschrift in arabischer Schrift. Es sind Anweisungen zum Bau einer BrĂŒcke in der Provinz.

Daneben gibt es im Museum GemĂ€lde, Kalligraphien, BĂŒcher, astronomische GerĂ€te, Koranschriften, Dolche und dekorative Fliesen, aber auch ein mit Perlmutt besetztes KĂ€stchen, das wie ein SchmuckkĂ€stchen aussieht, aber sinnigerweise fĂŒr Schießpulver verwendet wurde. Dann, umgeben von Sitzkissen aus Samt, ein Schachspiel.

Interessant die erste Seite einer Ausgabe der Delhi Gazette von 1848. Da verstand man unter Zeitung noch etwas ganz anderes als heute. Die ganze erste Seite ist voll von kleinen Anzeigen, in denen Hotels und HĂ€user angeboten werden, Wein, Soßen, Ketchup. Von Ereignissen oder gar Politik nicht die Rede.

Ich verlasse das Fort und mache mich, nachdem ich den wartenden Rikschafahrer mit einem Trinkgeld abgewimmelt habe – er will mich jetzt fĂŒr 250 Rupien durch die Altstadt fahren und mich zu verschiedenen Basaren bringen – daran, die Straße zu ĂŒberqueren, die das Fort von der Altstadt abtrennt. Erst im Laufe der Zeit lerne ich, dass man schon deshalb immer eine Rikscha nehmen muss, um ĂŒber die Straße zu kommen. Jetzt muss ich erst mal viel Zeit investieren und meine Gesundheit riskieren, um auf die andere Seite zu kommen.

Gleich links befindet sich ein Jain-Tempel. Mit der typischen Unsicherheit des Fremden sehe ich ganz vorsichtig hinein, aber niemand hĂ€lt mich davon ab, reinzugehen. Man muss nur sofort am Eingang die Schuhe ausziehen. Als es dann in den Tempel selbst geht, muss ich auch die Socken ausziehen, aber auch damit ist man noch nicht zufrieden. Noch irgendetwas stört, und erst nach mehrfachen Versuchen bekomme ich heraus, was es ist: der GĂŒrtel! Darauf soll sich jemand einen Reim machen. Ich mache ihn mir: Die Jains empfinden ein besonderes MitgefĂŒhl fĂŒr alle Kreatur und legen grĂ¶ĂŸten Wert auf den Schutz alles Lebenden, einschließlich der Insekten und Kriechtiere. Jetzt kommt mir das Bild der besonders konsequenten Jains in Erinnerung, die einen Mundschutz tragen und mit einem Stab den Weg vor ihnen freimachen, damit ihnen nicht versehentlich eine MĂŒcke in den Mund fliegt oder eine Spinne unter die FĂŒĂŸen kommt. Das könnte der Grund fĂŒr den Ausschluss des GĂŒrtels sein: Leder = aus TierhĂ€uten gemacht = verboten.

Dazu passt auch, dass sich auf dem GelĂ€nde ein Hospital fĂŒr Vögel befindet. Zu spĂ€t stelle ich fest, dass man das auch hĂ€tte besichtigen können.

Den Tempel selbst kann man als Laie nicht von einem Hindu-Tempel unterscheiden. Unter einer Muschelkuppel befinden sich mehrere, auf einer LĂ€ngsachse angebrachte AltĂ€re, alle mit bunten Götterfiguren. Man geht von einem zum anderen und verneigt sich. Beim Betreten lĂ€utet man eine Glocke, die ĂŒber einem hĂ€ngt.

Der Jain-Tempel befindet sich am Anfang der Chandni Chowk, einer schnurgeraden Straße, die vom Fort wegfĂŒhrt und auf eine weitere Moschee, die Fatehpuri Masjid, zufĂŒhrt. Links befindet sich ein Hindu-Tempel. Der Tempel ist geschlossen, wohl wegen der Tageszeit.

Bis zu dem Tempel kĂ€mpfe ich mich noch zu Fuß vor. Dann gebe ich auf und nehme wieder eine Fahrradrikscha. Und es lohnt sich. Zum ersten Mal fĂŒhle ich mich wohl in Delhi und sehe mir das bewegte, ohrenbetĂ€ubende, verwirrende Treiben von der sicheren Sitzbank der Rikscha an.

Der Fahrer bringt mich ohne Tricks und ohne Probleme zu der Moschee, und ich bin so erleichtert, dass er mir auch keine weiteren Dienstleistungen aufschwÀtzen will, dass ich ihm ein Trinkgeld gebe, das völlig den Rahmen sprengt und ihn eher verwirrt als befriedigt.

Kaum abgestiegen, gibt es aber neue VerstÀndigungsprobleme. Mehrmals mache ich vorsichtige Versuche, die Moschee zu betreten, aber ich verstehe bis zum Schluss nicht, was Sache ist: Ist die Moschee geschlossen? Soll ich warten, die Schuhe ausziehen, Eintritt zahlen, die Kamera wegstecken? Es geht nicht. Am Ende gebe ich auf.

In der NĂ€he befindet sich, dem Stadtplan nach, der Mahatma Gandhi Park. Das hört sich doch gut an. Ich mache den verrĂŒckten Versuch, dahin zu finden. Dabei lande ich unter anderem in der Old Delhi Railway Station auf der anderen Straßenseite. Wieder auf meiner Straßenseite, werde ich angelockt von rhythmischem Klatschen, Trommeln und GesĂ€ngen, so laut, dass es sogar den StraßenlĂ€rm ĂŒbertönt. FĂŒr ein besseres Indien wird hier getrommelt und gesungen. Das kann man einem Plakat entnehmen. Aber man kann die GesĂ€nge nur aus der Ferne verfolgen. Ein Gitter schließt den Ort ab, wo gesungen wird. Der Mahatma Gandhi Park ist auch hier nicht. Am Ende, mit trockener Kehle, Blasen an den FĂŒĂŸen, entnervt und frustriert, komme ich zu der Vermutung, dass mit Mahatma Gandhi Park wohl einen dicht vollgestellter Motorradparkplatz gemeint sein muss, an dem ich immer wieder vorbeikomme. Wenn Gandhi das wĂŒsste.

Auf der unendlichen Suche nach der Metrostation sehe ich eine Art BĂ€ckerei mit angeschlossener Snackbar. Da bestelle ich zwei Pasteten, eine runde und eine dreieckige, pyaj kachori und samosa, eine, laut Auskunft des VerkĂ€ufers, des einzigen, der Englisch spricht, mit Zwiebeln, eine mit Kartoffeln. Man muss erst zur Kasse gehen und bezahlen und dann mit dem Beleg zurĂŒck zur Theke. Die Pasteten werden aufgewĂ€rmt und schmecken ganz gut. Der Inhalt ist aber bei beiden eine Paste, die sich hauptsĂ€chlich dadurch unterscheidet, dass die eine teuflisch scharf ist.

Nach der RĂŒckkehr setze ich mich mit einem Tee in den Gemeinschaftsraum. Dann hört man plötzlich ein GerĂ€usch, als wenn ein Vogel da wĂ€re. Man sieht aber nichts. Und es gibt auch kein offenes Fenster, durch das er gekommen sein könnte. Immer wieder dasselbe GerĂ€usch. SpĂ€ter kommt einer der Jungen herein und klĂ€rt mich auf: kein Vogel, sondern ein Eichhörnchen. Und es ist nicht sichtbar, weil es gar nicht im Raum ist, sondern ĂŒber die Decke lĂ€uft.

SpĂ€ter habe ich eine Unterredung mit Avnish, dem EigentĂŒmer. Oder, besser gesagt, er mit mir. Wortreich erklĂ€rt er mir, was ich zu tun und lassen hĂ€tte und berichtet ohne jede Spur von falscher Bescheidenheit von seinem bunten Leben, seinen Errungenschaften und seinen Kenntnissen. Alles, was es zu sehen gibt, solle ich mir besser auf seinen FĂŒhrungen ansehen. Das Problem ist nur, dass keine davon terminiert ist und dass mindestens vier Teilnehmer benötigt werden. Die Teilnahme an den von karitativen Organisationen offerierten FĂŒhrungen durch versteckte Viertel Delhis lehnt er ab. Man könne nicht beides miteinander vereinbaren: Caritas und Kenntnisse.

Andererseits organisiert er sofort die Zugfahrkarte nach Agra fĂŒr mich. Oder, besser gesagt, lĂ€sst sie organisieren. Einer der vielen Angestellten, die die Pension hat, und der besseres Englisch als die anderen spricht, Sanjiv, ist fĂŒr solche Dinge zustĂ€ndig.

Als ich danach frage, wie ich zu Fuß zu dem Hindu-Tempel kommen kann, den ich gestern verfehlt habe, sagt er mir: Gar nicht. Ich solle nirgendwohin zu Fuß zu gehen. Das erweist sich als guter Tipp.

Seine Lebensgeschichte ist wirklich interessant. Er hat an einem britischen Kolleg noch nach britischen LehrplĂ€nen studiert und dann einen Abschluss in Wirtschaft gemacht und fĂŒr verschiedene Konzerne gearbeitet. Er hat auch ein Radioprogramm zur Wirtschaft, in dem er zweimal wöchentlich auftritt. Er hat in Bombay, in Kalkutta und in Delhi gelebt. Seine Eltern sind noch in Rawalpindi geboren, heute Pakistan, und sind als FlĂŒchtlinge nach Indien gekommen. Sein Vater war bei einer Fluggesellschaft beschĂ€ftigt und wechselte alle drei Monate den Standort. So hatte er mit 17 schon fast alle Teile der Welt gesehen.

Im Gegensatz zu seiner schmĂ€chtigen Frau ist Avnish ein rundlicher Mann, einer der wenigen in Indien. Übergewicht ist nicht gerade das dringendste Problem des Landes.

SpÀter kommt die dÀnische Familie herein. Die beiden hellblonden Töchter sind der Renner in Indien. Man macht Photos von ihnen, so wie wir Photos von TurbantrÀgern machen. 19 Photos, sagt die Àltere Tochter ganz stolz, habe man im Laufe des Tages von ihr gemacht. Sie haben die Affen im Zentrum nicht gesehen, wohl aber eine Schlange, eine Kobra, zwischen zwei Autos im Zentrum.

Der grĂ¶ĂŸte Keulenschlag kommt am Abend, als ich schon im Bett liege. Irgendein Hotelangestellter fragt den dĂ€nischen Mann nach irgendetwas, vielleicht nach der Zugfahrt nach Agra. Nein, nein, sagt der, nicht er sei das, sondern der Mann mit dem Laptop und dem weißen Haar. Gut zu wissen, wie andere einen sehen.

20. Februar (Mittwoch)

In der U-Bahn, wie ĂŒberhaupt im öffentlichen Leben, sieht man fast nur MĂ€nner. Das kann nicht alles mit dem Frauen-Wagen in der U-Bahn erklĂ€rt werden. Die Frauen sind einfach weniger prĂ€sent. Ich habe noch keine  VerkĂ€uferin gesehen, geschweige denn, eine Fahrerin.

Die TurbantrÀger sind meistens auch BarttrÀger, aber nicht alle BarttrÀger sind auch TurbantrÀger. Die meisten, die keinen Turban tragen, haben einen SchnÀuzer. Die Farbe der Turbane variiert, aber am hÀufigsten ist schwarz vertreten. Der Turban ist auch kompatibel mit Jeans und Sportschuhen.

Ein weißer TurbantrĂ€ger hat mich schon in der U-Bahn auffĂ€llig gemustert. Jetzt erscheint er plötzlich neben mir und fragt mich, wohin ich will. Blöderweise gebe ich Auskunft: Jantar Mantar. Er zeigt mir den Ausgang, und dann schĂŒttele ich ihn auf bewĂ€hrte Weise ab. Diesmal kommt mir der Connaught Place nicht ganz so chaotisch vor, aber die Orientierung dauert doch etwas. Es sind nur zehn Minuten von hier. Als ich dann die richtige Straße gefunden habe, taucht an der Ecke tatsĂ€chlich wieder der Turban auf. Jantar Mantar sei heute geschlossen: Strike. NatĂŒrlich lasse ich mich nicht darauf ein. Und natĂŒrlich gibt es keinen Streik.

Jantar Mantar ist eine astronomische Anlage, in einem Park gelegen. Sie besteht aus großen Konstruktionen aus rotem Sandstein, die teils an römische Thermen, teils an die Stufenpyramiden der Maya erinnern.

Die genaue Funktionsweise ist kaum zu verstehen, aber der Wille um genaue Erfassung astronomischer Daten ist den Bauten anzusehen. Der an die Thermen erinnernde Rundbau ist durch QuerstĂ€be in 30 Sektoren unterteilt, die jeweils fĂŒr 6° stehen, also insgesamt 360°. Die WĂ€nde sind ebenfalls in 30 Sektoren eingeteilt, so dass man einen horizontalen und eine vertikalen Wert fĂŒr den Stand der Sonne hat.

Das HerzstĂŒck der Anlage, und das meist photographierte Objekt, besteht aus schrĂ€g auf einem Wall angebrachten doppelten Halbkreisen, die wirklich wie ein Herz aussehen.

Die ganze Anlage ist wie eine Enklave mitten in der Stadt, aber nicht davon unberĂŒhrt. Der nicht abbrechende LĂ€rm kommt von allen Seiten herein, und die Anlage ist auf allen Seiten umstanden von HochhĂ€usern.

Als ich wieder auf den Connaught Place komme, suche ich nach einer Motorrikscha. Keine zu sehen weit und breit. Sie treten sonst immer im Dutzend auf. Es gibt zum nĂ€chsten Ziel keine vernĂŒnftige Metrostation, glaube ich wenigstens. So mache ich mich auf die Suche. Die Dinger sind einfach verschwunden. Ob es an der Gegend liegt? Ich weiß, dass der Connaught Place fĂŒr Fahrradrikschas verboten ist, nicht aber fĂŒr die motorisierten.

Bei der Suche sehe ich einen Mann irgendwo in die Ecke pinkeln, kein seltener Anblick. Er steht gleich neben einem Schild. Auf dem steht No litter please.

Nach langer Suche sehe ich in der Ferne eine Rikscha, aber ohne Fahrer. Dann entdecke ich ihm auf dem Boden liegend, auf der anderen Seite. Er repariert die Rikscha. Dann kommt eine, die nicht frei ist und dann eine, die 350 Rupien verlangt. Dazu bin ich zu stolz. Der nĂ€chste, an der nĂ€chsten Straßenecke, geht auf 200 runter. Und dann komme ich zu zwei Ă€lteren Fahrern, die gerade Kaffee trinken. Sie beratschlagen miteinander und sagen dann: 120. Angenommen. TatsĂ€chlich ist es eine ganze Strecke, die wir zurĂŒcklegen. Sieht auf der Karte kĂŒrzer aus.

Der Fahrer bringt mich nach Raj Ghat, am Rande der Altstadt. Hier geht es zum ersten Mal um das Thema Gandhi. Dem haben wir die Vorstellung zu verdanken, bei Indien handele es sich um eine friedliche Kultur. Das Gegenteil ist der Fall. Schließlich starb er selbst bei einem Attentat. Auch Indira Gandhi starb bei einem Attentat, auch Rajiv Gandhi. Ihr Ă€lterer Sohn, der eigentlich ihr Nachfolger werden sollte, kam bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Die spĂ€ten Mogulherrscher, Jahandar Schah und Farruk Siyar (XVIII), wurden im Roten Fort ermordet. Von den Massakern nach der Teilung, nach der ErstĂŒrmung des Goldenen Tempels und nach der Ermordung Indira Gandhis ganz zu schweigen. Gewalt hat also Tradition.

Raj Ghat ist eine GedenkstĂ€tte, die in einem weitlĂ€ufigen Park liegt. Und dessen Ausdehnung ich erst am Schluss erkenne. Vom Eingang fĂŒhrt ein schnurgerader Weg zu einem durch einen Steinwall abgetrennten Quadrat, bei dessen Betreten man die Schuhe ausziehen muss. Im Zentrum dieses Quadrats liegt ein ebenfalls quadratischer Stein aus schwarzem Marmor. Hier wurde Gandhi bestattet. Auf dem Stein eine Kerze und BlumenblĂ€tter. Sonst gibt es nichts. Die Einfachheit passt zu Gandhi. Vorne an dem Stein sind ein paar Zeichen auf Hindi angebracht, die Oh, mein Gott bedeuten, Gandhis letzte Worte. Die Farben der AbsperrbĂ€nder sind passenderweise die Farben der indischen Flagge. Wenn man den Blick etwas umherschweifen lĂ€sst, sieht man zur einen Seite den Schornstein eines Kernkraftwerks, zur anderen die Scheinwerfer des Indira-Gandhi-Stadions.

Von hier aus geht es zu dem Ort, an dem Rajiv Gandhis Leiche verbrannt wurde. Das Monument besteht aus mehreren Teilen. An einer runden Mauer ist eine Inschrift angebracht. Sie betont Rajiv Gandhis Verdienste, seine fortschrittliche Einstellung. Er setzte auf Förderung von Technik und Wissenschaft, auf die BekĂ€mpfung der Armut, auf die Verteilung der Macht von der Zentrale an die Regionen. Außenpolitisch setzte er besonders auf die NeutralitĂ€t Indiens, was ihn von einigen seiner VorgĂ€nger unterschied. Er trat das Amt nach dem Tod seiner Mutter 1984 an und wurde wenige Monate danach mit der grĂ¶ĂŸten Mehrheit in seinem Amt bestĂ€tigt, die je ein indischer Premierminister erhielt.

Die GedenkstĂ€tte fĂŒr Rajiv Gandhi war schwer zu finden. Die von Indira Gandhi ist fast unauffindbar. Es gibt kaum Hinweiszeichen, und wenn ĂŒberhaupt, dann nur auf Hindi. Oder mit Bezeichnungen, mit denen man nichts anfangen kann. Immer wieder kommen mir gute gekleidete Teenager in Schuluniformen entgegen. Nur wenige von ihnen können ein paar Worte Englisch. Die Frage nach der GedenkstĂ€tte kann keiner beantworten, manchmal verstehen sie noch nicht einmal. Im besten Falle bekomme ich eine weit ausholende Handbewegung, die mich in irgendeine Richtung schickt, meist in die entgegengesetzte von der, aus der ich gerade komme. Nur einmal winkt mich ein Ehepaar, mitten auf dem Gras sitzend, zu sich heran und bietet seine Hilfe und sogar einen Bissen von ihrem Picknick an, aber richtig weiter komme ich mit dessen Angaben auch nicht.

Ohne zu wissen, wie, finde ich die Stelle dann doch. Die Suche hat sich kaum gelohnt. Indira Gandhis GedenkstĂ€tte besteht nur aus einer einfachen Mauer mit einem großen, bunten Photo von ihr mit dem berĂŒhmten bunten Kopftuch und einem am Ende eines Weges befindlichen Monolithen. Es gibt keinerlei Inschrift. WĂ€re interessant gewesen, zu sehen, wie sie dargestellt wird.

Die Suche nach der GedenkstĂ€tte Nehrus lasse ich dann bleiben und gehe gleich ins National Gandhi Museum. Das liegt gleich gegenĂŒber. Um dahin zu kommen, bedarf es nur einer waghalsigen Überquerung der riesigen Straße.

Das Museum ist eine sehr altertĂŒmliche Angelegenheit in einem alten GebĂ€ude. Es gibt WĂ€nde ĂŒber und ĂŒber mit Photos aus Gandhis Leben, und im Zentrum alle Art von persönlichen GegenstĂ€nden: Federhalter, Taschenuhren, Sandalen, BuchstĂŒtzen, ein Spucknapf, die berĂŒhmte runde Brille, zwei ZĂ€hne und das Gebiss, das er von 1947 bis zu seinem Tod trug.

Bei den Photos sind die Ă€lteren interessanter: Gandhi als Teenager zusammen mit seinem Bruder, gestriegelt und herausgeputzt, mit sĂ€uberlich getrimmtem Bart, Gandhi als Dandy in England, mit Stehkragen, Fliege und kerzengeradem Scheitel, Gandhi als Mitglied einer Fußballmannschaft, Gandhi vor seinem RechtsanwaltsbĂŒro in SĂŒdafrika, Gandhi auf dem Fahrrad auf dem Weg zu einer GebetsstĂ€tte. Dann gibt es Photos von Gandhi in Uniform bei dem Zulu-Aufstand in SĂŒdafrika und von der Tolstoy-Farm in SĂŒdafrika, die ein Modell fĂŒr das zukĂŒnftige Zusammenleben der Menschen sein sollte. Das war, nachdem Gandhi sein Erweckungserlebnis gehabt hatte und in SĂŒdafrika aus einem Zug verwiesen worden war, weil ein Weißer seinen Wagen in der 1. Klasse nicht mit ihm teilen wollte. Alle spĂ€teren Entwicklungen lassen sich auf diese Erfahrung zurĂŒckfĂŒhren. Teil dieses Prozesses ist auch die Änderung des Namens von Mohandas in Mahatma. Und der Wechsel der Kleidung.

Dann gibt es die bekannteren Photos von dem Salzmarsch und die Photos von Gandhi bei der Konferenz in London, mit seinem einfachen weißen Umhang inmitten von adrett gekleideten Politikern. Besonders schön Gandhi mit den Mountbattens, er im Zweireiher, sie in einem Seidenkleid, Gandhi wie ein Bettler dazwischen. Und ein Photo von Gandhi auf seinem Bett, mit strahlendem LĂ€cheln, nach einem 21-tĂ€gigen Hungerstreik. SpĂ€ter sollte eine indische Politikerin sagen: Gandhis Armut kommt uns teuer zu stehen. Aber das wird in diesem Museum natĂŒrlich nicht thematisiert.

Hier gibt es auch den Stock zu sehen, den Gandhi bei dem berĂŒhmten Salzmarsch trug. Das Motto war passiver Widerstand, und das Ziel des Widerstands waren das britische Salzmonopol und die als ungerecht angesehene Salzsteuer. Gandhi wurde in diesem Jahr, 1930, von Time Magazine zum Man of the Year gewĂ€hlt. Die Konkurrenten waren Hitler und Stalin.

Außerdem gibt es einige Dokumente. Die Notizen sind teils auf Englisch. Seine Muttersprache war aber wohl Gujarati. Jedenfalls ist das die Sprache, in die er Ruskins Unto this Last ĂŒbersetzte oder besser paraphrasierte, ein Buch, das fĂŒr ihn nach eigenem Bekunden eine Offenbarung war, im Kern eine Kritik an Nutzenmaximierung und Utilitarismus, eine Kritik an Adam Smith und John Stuart Mill.

Am Ende des Raumes gibt es eine Nachbildung von Gandhis Arbeitszimmer. Alles sehr einfach, vor allem nur niedrige Möbel. Nur ein kleines Regal mit wenigen, ausgesuchten BĂŒchern, auf dem Boden stehend. Eine Matratze mit einer RĂŒckenstĂŒtze und davor ein kleines Schreibpult. Gandhi arbeitete im Liegen, sozusagen. Sieht bequem aus.

Am Ende der Ausstellung gibt es dann noch Briefmarken mit Gandhis Konterfei aus allen Teilen der Welt: Uruguay, Madagaskar, beide Jemen, Kirgisistan, Obervolta, Panama, Mauritius und so weiter und so fort.

Auch in Indien sollte es schon 1948 Gedenkmarken mit Gandhi geben. Hier sind einige Muster ausgestellt. Es gab aber Konflikte, erstens, weil die Briefmarken in einer auslÀndischen Druckerei hergestellt werden sollten, zweitens, weil es einen Wert von 10 Rupien gab. Das, so wurde argumentiert, entsprach nicht Gandhis einfacher Lebensweise und seiner Bevorzugung der einfachsten Kommunikationsform, der Postkarte.

Als ich aus dem Museum komme, gibt es kein Transportmittel weit und breit. Ich kann mich aber anhand des Stadtplans einigermaßen orientieren und gehe Richtung Zentrum.

Am Ende finde ich drei Jungen, versteckt in einer Ecke, mit ihren Rikschas. Sie wollen mich tatsÀchlich zur Metro bringen. Zur Sicherheit will ich den Namen der Station wissen, aber es stellt sich heraus, dass sie den gar nicht kennen. Als ich den Preis und das Wort Metro zur Sicherheit auf ein Blatt Papier schreibe, stellt sich heraus, dass der eine das gar nicht lesen kann. Er muss seinen Kameraden fragen.

Ich werde aber tatsĂ€chlich zur Metro gebracht. Es ist die New Delhi Railway Station. Auf dem Platz davor herrscht Hochbetrieb. Und unten auch. Die Schlangen der FahrkartenkĂ€ufer ziehen sich durch die ganze Halle. Alles ist so eng, dass man kaum ans Ende der Schlange kommt. Ich beschließe, es mit einer Motorrikscha zu versuchen. Aber oben gibt es keine, nur Hunderte von Fahrradrikschas, und fĂŒr die ist der Weg zu weit.

Also gehe ich doch wieder runter und stelle mich in die Schlange. Die bewegt sich kaum. Das ist kein Wunder, denn immer wieder drĂ€ngen sich ganze Gruppen nach vorn, fĂŒr die ein KĂ€ufer alle Karten kauft. So sieht es jedenfalls aus. Auch alte Frauen stellen sich nicht an. Das wird wohl geduldet. Dann kommen auch zwei MĂ€dchen, die so tun, als wenn sie es eilig hĂ€tten oder ein Spezialfall wĂ€ren, und dann kommen auch noch KĂ€ufer zurĂŒck mit irgendwelchen Beschwerden. Die Briten waren doch wohl nicht lange genug in Indien, um den Indern Mores beizubringen.

Dann geht es in die Metro. Hier wird geschubst, geschoben, gestoßen, gedrĂ€ngelt. Ich habe wohl eine Hauptverkehrszeit erwischt. Als ich dann endlich wieder bei meiner Metrostation ankomme, kann ich richtig durchatmen.

Beim Ausgang sehe ich, wie ein Ă€lterer Mann zwei jĂŒngere MĂ€nner schlĂ€gt. Er versetzt ihnen eine schallende Ohrfeige nach der anderen. So etwa habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen. Um die drei hat sich eine Traube Menschen gebildet. Die beiden Jungen wehren sich nicht und laufen auch nicht weg und lassen die Beschimpfungen des Mannes ĂŒber sich ergehen. Ob er sie bei dem Versuch, zu klauen, erwischt hat? Beim Weitergehen macht eine junge Frau, zu mir gewandt, lĂ€chelnd ein paar Bemerkungen auf Englisch, aber ich werde nicht schlau aus dem, was sie sagt.

Als ich mich nach einer Rikscha umsehe, macht ein Schuhputzer gleich zu meinen FĂŒĂŸen auf sich aufmerksam. Ich habe ihn ĂŒberhaupt nicht wahrgenommen, genauso wenig wie die anderen Schuhputzer, die hier in Reihe und Glied vor dem Bordstein hocken und auf Kundschaft warten. Er will mir fĂŒr 10 Rupien die Schuhe putzen. Das nehme ich an. Er macht das ganz ordentlich und begleitet die rhythmischen Bewegungen der Arme durch entsprechend rhythmische Bewegungen des Kopfes. Ehe ich es mich versehe, nimmt sich ein anderer Schuhputzer meines zweiten Schuhs an. Er entdeckt eine lose Schuhsohle und macht sich daran, sie zu nĂ€hen. Auf einmal nĂ€ht auch der andere. Dann kommen noch verschiedene Ausbesserungsarbeiten an der Einlage dran. Am Ende betrĂ€gt die Rechnung 350 Rupien. Ich zahle aber nur 50.

Als ich wieder in der Pension bin, bin ich dankbar fĂŒr den wunderbaren Tee, der mir serviert wird.

Auch in der Nacht wird es nicht ganz ruhig. Dann ĂŒbernehmen heulende Hunde und krĂ€chzende KrĂ€hen die Versorgung mit LĂ€rm.

21. Februar (Donnerstag)

Am Morgen beantwortet Ushi anderen GĂ€sten, einem jungen Ehepaar aus London, eine Frage, die ich mir auch gestellt habe: Was fĂŒr eine Wirkung hat eigentlich der Bau der Metro gehabt? Der Verkehr, sagt sie, sei nicht weniger, aber schneller geworden. Man kann sich kaum vorstellen, angesichts der Massen in der Metro, wie das frĂŒher gegangen ist. Andererseits hat die Metro selbst vermutlich auch mehr Menschen mobil gemacht und das Verkehrsaufkommen erhöht. Die Londoner, die schon seit vier Wochen unterwegs sind, erzĂ€hlen, in Bombay habe man mit Neid von dem schnellen Bau der Metro in Delhi gesprochen. Die da oben bekommen alles, bei uns wird alles verzögert. Typische Perspektive aus der Provinz auf die Hauptstadt.

Anschließend macht Ushi fĂŒr mich ein paar TelefongesprĂ€che zu den Organisationen, die in Stadtteilen gefĂŒhrte Touren anbieten, mit bescheidenem Erfolg. Man muss abwarten.

Heute habe ich einen Wagen fĂŒr mich alleine, der mich zu den SehenswĂŒrdigkeiten bringt, die sonst schlecht zu erreichen sind. Alles von den Gastgebern organisiert. Der Preis ist bescheiden, und man quittiert dem Fahrer nur den Beleg und zahlt spĂ€ter in der Pension. Die Fahrziele werden vorher genau abgesprochen. Ich frage Ushi, ob der Fahrer Englisch spreche. They all say they do, sagt sie. Es reicht dann aber fĂŒr die wichtigste VerstĂ€ndigung.

Als ich auf dem Weg nach draußen bin, ruft Avnish mich mit strenger Stimme zu sich: I want to talk to you. Hört sich ominös an. Er kĂŒndigt aber nur an, dass er am nĂ€chsten Tag einen seiner berĂŒhmten RundgĂ€nge anbietet. Ein Ehepaar und ich stehen auf der Liste, vielleicht kommen noch andere dazu. Von den Lodi-GĂ€rten und von der Altstadt ist die Rede. Hört sich gut an.

Der Wagen ist ein Toyota mit minimalistischem Armaturenbrett: keine Tankanzeige, kein Drehzahlmesser, keine Temperaturanzeige, keine Uhr, ein Tacho.

Davor steckt ein Andachtsbild. Ich frage, wer das sei: Bolunat. Und der andere? Bolunat. Es ist ein und derselbe Gott in unterschiedlichen Manifestationen.

Der Bahai-Tempel, zu dem es zuerst geht, liegt im SĂŒden Delhis. Die Entfernung ist wieder viel grĂ¶ĂŸer als es auf dem Stadtplan aussieht. Immer wieder geht es an den mĂ€chtigen Pfeilern der U-Bahn entlang.

Der Bahai-Tempel ist ein beeindruckender Bau, vielleicht der beeindruckendste von ganz Delhi. Er erinnert mich an das Opernhaus in Sydney: beide sind weiß, beide sehen organisch aus, wie eine Pflanze. Der Bahai-Tempel, so heißt es, stellt eine Lotusblume dar. Die BlĂ€tter, nach oben und nach innen zeigend, ĂŒberlappen sich.

Die Bahai-Religion sieht sich als eine „fortschrittliche Religion“ an. Sie betont die Gleichheit aller Menschen, strebt nach Harmonie und Einigkeit, bekĂ€mpft Aberglaube und Vorurteile. Sie tritt auch fĂŒr verpflichtenden Schulbesuch ein, ein Prinzip, dem sich westliche Staaten schon seit dem 19. Jahrhundert verschrieben haben. Man ist auch fĂŒr die EinfĂŒhrung einer weltweiten Hilfssprache.

Der Tempel liegt in einer gepflegten Parklandschaft, mit kugelrund zugeschnittenen StrĂ€uchern und schnurgeraden Pfaden. Außen ist der Tempel von Wasser umgeben, einer Art modernem Wassergraben.

Das Innere ist enttĂ€uschend und erinnert ein bisschen an eine Halle. Es gibt nur Stuhlreihen, Blumen und ein Pult. Statt glĂ€nzend weiß ist es hier matt grau. Der Bau formt ein Zehneck, und eine flache Kuppel öffnet sich in Form eines Sterns nach oben.

Die einfache Ausstattung hat etwas mit dem Konzept der Religion zu tun. Sie kennt keine Rituale, keine Gebete, nur Lesungen.

Diese Einfachheit fĂŒhrt bei mir zu einer großen Sprachverwirrung, die sich erst zuhause am PC auflöst: Warum sagt man wohl Mach nicht so einen Baha, wenn die Bahai doch gerade keinen Bahai machen? Des RĂ€tsels Lösung: Man macht keinen Bahai, sondern Bohei. Da ist bei mir im Kopf etwas durcheinandergekommen. Jedenfalls schafft der Duden AufklĂ€rung. Er kennt beide Wörter, und bei Bohei vermeldet er mit Stolz:  Dieses Wort stand 2004 erstmals im Rechtschreibduden. Woher das Wort kommt, darĂŒber gibt es aber nur Spekulationen.

Als ich aus dem Tempel durch eine offene TĂŒre ins Freie trete und mich entschließe, noch mal reinzugehen, werde ich von den sonst sehr freundlichen MĂ€dchen, die einen hier empfangen, sehr bestimmt zurĂŒckgepfiffen: Anders herum! Es gibt keinen vernĂŒnftigen sachlichen Grund dafĂŒr. Die TĂŒr steht offen, und es gibt kein GedrĂ€nge. Hier scheint eine unter der vernĂŒnftigen OberflĂ€che der Religion sich verbergenden Schicht von Magie zum Vorschein zu kommen: Man darf immer nur in einer bestimmten Richtung durch den Tempel gehen. Oder ist es ĂŒbertriebene Ordnungsliebe?

UnvernĂŒnftig ist jedenfalls auch die besondere Stellung der Zahl neun. Deshalb ist der Innenraum ein Zehneck – da hat man dann neun Wasserbecken, die den Tempel von der Außenwelt abtrennen. Gleichzeitig sind die Wasserbecken aber auch vernĂŒnftig: Sie dienen zur KĂŒhlung, sicher ein wichtiger Gesichtspunkt im Sommer. Auch jetzt, als ich wieder nach draußen komme, scheint mir zum ersten Mal in diesen Tagen die Sonne auf den Pelz.

Vor dem Bahai-Tempel steht auf einem abgetrennten StĂŒck Sandboden ohne jeden Grashalm das Schild: Please do not walk on the grass. In der NĂ€he stehen buddhistische Mönche, barfuß und mit nichts als ihren einfachen GewĂ€ndern ausgestattet – und mit hochmodernen Filmkameras.

In einem Museum lernt man etwas ĂŒber die Bahai-Religion kennen. Sie vertritt die Ansicht, dass alle Religionen der Welt göttlichen Ursprungs sind und Facetten derselben Wahrheit lehren. Dementsprechend gibt es hier auf großen, farbigen Tafeln Zitate, meist Harmonie und Einheit betonend, aus den heiligen BĂŒchern verschiedener Religionen: Judentum, Hinduismus, Buddhismus, Christentum, Shik-Religion, Jain-Religion, Islam.

Auch zum Ursprung der Bahai-Religion gibt es AufklĂ€rung. Aber da komme ich mit den Namen durcheinander. Neben dem eigentlichen Religionsstifter, Bab, gab es zwei weitere, die sein Werk fortsetzten und die fast den gleichen Rang haben. Der eigentliche Religionsstifter gab sich den Namen Bab, ‚Eingangstor‘, und wollte alle Religionen der Welt miteinander vereinen. Er wurde in seiner Heimat, Persien, wegen seiner Lehre verfolgt, eingekerkert und schließlich hingerichtet.

Draußen erwartet mich der Fahrer. Es geht weiter nach Qutb Minar. Als wir im Stau stehen, klappt ein vorbeifahrender Radfahrer einfach unseren Außenspiegel um, um vorbeizukommen.

Auf einem Auto vor uns lese ich: If you drive, do not drink. If you drink, do not drive. Keine moralische Belehrung, sondern Werbung. Es handelt sich um ein Taxi. Die Rufnummer steht gleich daneben: 41414141.

Es dauert eine Zeitlang, bis ich herausfinde, was dieses Qutb Minar eigentlich ist. Jedenfalls wird es im ReisefĂŒhrer als Geheimtipp genannt. Das scheint sich herumgesprochen zu haben. Es ist ganz schön voll.

Kurz gesagt: Qutb Minar ist das erste Delhi. Im Laufe seiner Geschichte wurde Delhi mehrmals gegrĂŒndet. Und zwischendurch verlor es immer wieder seinen Status als Hauptstadt und gewann ihn dann wieder, zuletzt unter den Briten, bei denen bis 1931 Kalkutta die Hauptstadt war. Die Verlegung der Hauptstadt hing meistens mit dem Versuch zusammen, Kontrolle ĂŒber das Riesenreich zu erlangen und das politische Zentrum Richtung geographisches Zentrum zu verlegen. Das scheiterte immer wieder. Das Reich löste sich in Teilreiche auf oder wurde kleiner, und wieder wurde Delhi zur Hauptstadt. Und musste eben manchmal regelrecht neu gegrĂŒndet werden. Insgesamt, so sagt man, siebenmal.

Qutb Minar wurde errichtet von der sog. „Sklavendynastie“, Untergebenen, die sich nach dem Tod des Herrschers selbstĂ€ndig machten und das Sultanat Delhi begrĂŒndeten. Diese Dynastie kam ursprĂŒnglich aus Afghanistan. Wir befinden uns historisch in der Zeit vor den Mogulen, etwa im europĂ€ischen Hochmittelalter.

Der Namensteil Minar bezieht sich auf den Turm, der alle Aufmerksamkeit auf sich lenkt, wobei Minar vermutlich mit Minarett zusammenhĂ€ngt. Er wurde errichtet als Symbol des Sieges ĂŒber die Rajputen, die hier ansĂ€ssig waren. Dieser Sieg markierte den Beginn der Herrschaft der „Sklaven“.

Der runde, sich nach oben verjĂŒngende Turm aus rotem und beigem Sandstein, mit mehreren „Ringen“ aus Friesen und Balkonen zwischen den Stockwerken, ist ein beliebtes Photomotiv, zu Recht. Er ist ausgesprochen schön. Unten ist er gut 14 Meter breit und oben nur noch knapp 3.

Sehenswert, obwohl alles andere als schön, ist auch ein Eisenpfeiler. Er wiegt unwahrscheinliche 6000 Kilo, obwohl er gar nicht so groß ist. Er trĂ€gt eine Inschrift, die man allerdings ĂŒbersehen wĂŒrde, wenn man es nicht wĂŒsste. Sie ist in Sanskrit, in der Brahmin-Schrift und ist an den Gott Vishnu gerichtet. BerĂŒhmt ist der Pfeiler aber, weil er rostfrei ist. Das wird natĂŒrlich göttlichem Wirken zugeschrieben. Wissenschaftler erklĂ€ren es mit dem hohen Phosphorgehalt, der perfekter Rostschutz sein soll.

Da, wo der Pfeiler in der Mitte steht, stehen am Rande die betrÀchtlichen Reste eines GebÀudes. Wenn man zwischen den SÀulenreihen steht, hat man den Eindruck, in einem christlichen Kloster zu stehen. TatsÀchlich ist es eine Moschee, aber die Skulpturen sind aus den eroberten hinduistischen Tempeln! Die hat man als Spolien einfach hier eingebaut, dem islamischen Bilderverbot zum Trotz. Der Blick durch die SÀulenreihen mit den einfallenden Sonnenstrahlen gehört zu den bleibenden Erinnerungen der Reise.

Es gibt noch eine ganze Reihe anderer GebĂ€ude, vor allem die BegrĂ€bnisstĂ€tte des Sohns und Nachfolgers des BegrĂŒnders der Dynastie, des ersten muslimischen Herrschers, der sich in Indien beisetzen ließ. Das Mausoleum hat keine Kuppel, man sieht aber an den AnsĂ€tzen, dass es ursprĂŒnglich eine hatte. Sie soll eingestĂŒrzt und wieder errichtet und wieder eingestĂŒrzt sein. Zu Schadenfreude gibt es aber keinen Anlass: In Europa war die Kenntnis des Kuppelbaus zu der Zeit völlig verloren gegangen.

Statt Mittagessen gibt es dann auf dem Parkplatz eine TĂŒte Chips und eine Dose Cola pro Person. Dann geht es weiter zum nĂ€chsten Ziel, dem Grabmal Humayuns. Auf dem Weg dahin sehe ich, dass auf unserem Außenspiegel: Objects in the mirror are closer than they appear.

Das Mausoleum Humayuns ist das GegenstĂŒck und der VorlĂ€ufer des Taj Mahal. Es wurde von der Frau Humayuns in Auftrag gegeben und von persischen Baumeistern errichtet, die eigens hierher gebracht und auf dem GelĂ€nde untergebracht wurden.

Humayun war der zweite Mogulherrscher, der Sohn Baburs und Vater Akbars. Er konnte seine Herrschaft in Indien nicht konsolidieren und musste zwischenzeitlich nach Persien flĂŒchten. Das erklĂ€rt wohl zum Teil den großen persischen Einfluss, dem man hier immer wieder begegnet.

Auch hier gibt es ein Tor, das in das Innere der Anlage fĂŒhrt. Es hat Balkone auf beiden Seiten und wird von sechseckigen Sternen flankiert, die den Mogulen als kosmisches Symbol galten.

Außen ist der Bau aus rotem Sandstein mit Einlegearbeiten aus weißem Marmor fĂŒr die dekorativen Teile. Das ist das Schnittmuster Nummer Eins fĂŒr die Bauten hier in Delhi. Eine hohe Kuppel im Zentrum wird flankiert von zwei kleineren Kuppeln.

Innen ist alles sehr schlicht, auch der schmale Kenotaph Humayuns, der im Zentrum steht und nur die Silhouette eines Bogens und einen Fries hat. Die eigentliche GrabstÀtte ist, wie ich das in den nÀchsten Tagen immer wieder sehe, unsichtbar unter der Erde. Das Kenotaph bezeichnet nur die Stelle, an der sich die eigentliche GrabstÀtte befindet.

Alles ist auf perfekte Symmetrie ausgerichtet. Von den acht Armen des Zentralraums haben vier vergitterte Fenster, durch die diffuses Licht hineinkommt. Von denen haben wiederum zwei dasselbe, von den beiden anderen abweichende Muster. Und die ĂŒbrigen vier Arme sind wiederum paarweise angeordnet: zwei sind geschlossen, zwei fĂŒhren in weitere Kammern, die wiederum achteckig angeordnet sind und viele weitere Sarkophage enthalten. Es scheint, dass im Islam die Zahl vier von besonderer Bedeutung ist. Auch der Garten ist durch zwei zentrale Pfade in vier Teile geteilt, und die wiederum durch KanĂ€le gittermĂ€ĂŸig in exakte Quadrate. Diese Art von Garten nennt man Chahr Bagh.

Hinter dem Mausoleum fließt der Yamuna, wenn man hier ĂŒberhaupt von „fließen“ reden kann. Zur Zeit der Erbauung war er noch ein wilder Strom, der zur Monsunzeit geradezu zum Meer anschwoll und den Garten mit Wasser versorgte. Auf Farsi ist das Wort fĂŒr einen eingezĂ€unten Garten pairi daeza, und daher kommt unser Paradies! Denn das waren die GĂ€rten fĂŒr die Muslime, vor allem fĂŒr die arabischen Muslime, die aus der WĂŒste kamen.

Zum Abschluss geht es ins Gandhi-Smriti-Museum. Das ist der Ort, an dem Gandhi ermordet wurde: friedlich, schön, harmonisch, still, ein kleiner Garten, um den sich niedrige Pavillons gruppieren. Sieht nicht gerade nach der Szene fĂŒr ein Gewaltverbrechen aus.

Im Zentrum ein kleiner, einfacher Gedenkstein, wieder mit den letzten Worten, die Gandhi gesprochen hat. Die Stelle, an der er 1948 umgebracht wurde, heißt hier „Ort des Martyriums“. Auf einem kleinen Pfad, der auf die Stelle zufĂŒhrt, sind Gandhis letzte Schritte im Boden als Fußspuren nachgebildet. Er war gerade von dem Raum, in dem er hier untergebracht war, auf dem Weg zum Gebet.

Er kam gerade aus Kalkutta und wollte nach Bombay reisen, entschied sich dann aber aufgrund der immer schwieriger werdenden Situation dazu, in Delhi zu bleiben.

Dass er in Gefahr war, wusste er, lehnte aber besonderen Schutz ab. Er vertraute auf Gott. Gleichzeitig ist ein Ausspruch ĂŒberliefert, der auf unheimliche Weise zeigt, dass er sein Schicksal erahnte: Even if I am killed, I will not give up repeating the names of Rama and Rahin, which mean to me the same God, with these names on my lip I will die cheerfully.

Gandhi war stolz darauf, Hindu zu sein. Der Hinduismus sei eine tolerante Religion und hÀtte verfolgten Christen und Juden und Parsis Schutz geboten. Sein Mörder, ein Hindu, wollte davon allerdings nichts wissen.

In einem der Pavillons sieht man Photos von Gandhi: Gandhi beim Geigen, Gandhi schert sich die Haare, Gandhi auf einem Elefanten, Gandhi bindet sich eine Krawatte um, Gandhi wird verprĂŒgelt. Dort befindet sich auch der Raum, in der er die letzte Unterredung hatte, bevor er zum Gebet ging, eine Unterredung mit Patel. Der Raum ist so belassen, wie er damals war.

Im Garten ist in einem Laubengang die Geschichte des indischen „Freiheitsmarsches“ dokumentiert. Der Ausdruck ist genauso Programm wie die Jahreszahlen: 1857-1947. Da reibt man sich die Augen: Was, so lange? Hier sieht die indische Geschichtsschreibung eine KontinuitĂ€t, die die europĂ€ische nicht sieht. In England spricht man von 1857 als dem Sepoy-Aufstand. Keine große Sache, bald vergessen. FĂŒr die Inder ist es der Anfang einer langen Entwicklung, die in die UnabhĂ€ngigkeit mĂŒndet.

Es heißt, der Aufstand habe eine solche Wirkung auf die Inder gehabt, weil er Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft und Stellung zusammenbrachte. Es begann mit einer Meuterei der Sepoy, indischer Infanterie, ausgelöst durch ein neues Gewehr, dessen Patronen mit Rinderschmalz behandelt werden und von den Soldaten aufgebissen werden mussten, was gegen hinduistische Regeln verstieß. Aus der Meuterei wurde ein Aufstand, aus dem Aufstand ein Krieg, mit Massakern und Belagerungen. Am Ende siegten die Briten.

Vor dem Museum esse ich ein Eis. Es ist zum ersten Mal so warm, dass ich das GefĂŒhl habe, im Sommer unterwegs zu sein.

Langsam werde ich zum Vegetarier. Nicht aus Überzeugung, sondern aus Mangel an Gelegenheit. Bisher hat es noch kein StĂŒck Fleisch gegeben.

Auf allen Geldscheinen ist auf der Vorderseite Gandhi. Auf der RĂŒckseite Motive aus Indien, auf den niederen Werten Tiger und Ähren, auf den höheren Werten Computer und BohrtĂŒrme.

Am Abend in der Pension hat Sanjiv die Zugfahrtkarten nach Agra fĂŒr mich parat. Es sind zwei komplett bedruckte DIN-A-4-Seiten. Man muss den Pass dabei haben, sonst wird man so behandelt, als existiere das Ticket nicht und wird so zum Schwarzfahrer. Der Zug geht um 6 Uhr, und als ich frage, wie ich am besten zum Bahnhof komme, sagt er, dafĂŒr habe er natĂŒrlich einen Fahrer organisiert. Der holt mich auch am Abend wieder ab. FĂŒr alles gesorgt.

Sanjiv spricht sehr gutes Englisch und hat in der Pension eine ganz andere Funktion als die anderen Jungen: eher Manager als Laufbursche. Er hat einen College-Abschluss und arbeitet schon seit zehn Jahren hier. Sein Englisch habe er vor allem durch die Kommunikation mit den GĂ€sten gelernt. Die anderen Jungen kommen vom Lande und haben nie Englisch in der Schule gehabt und ĂŒberhaupt kaum eine Schulausbildung. DafĂŒr kommen sie hier gut zurecht. Sie verstehen, was sie verstehen mĂŒssen. FĂŒr sie muss die Stellung hier zwar vielleicht nicht die ErfĂŒllung aller WĂŒnsche, aber doch ein sozialer Aufstieg sein, der vor allem Sicherheit bietet.

22. Februar (Freitag)

In der Nacht beginnt es zu donnern, und dann kommt ein ordentlicher Regenguss herunter.

Am frĂŒhen Morgen hört man in der Ferne die Rufe des Muezzins. WĂ€hrend des Tages werden seine Rufe von Delhi verschluckt.

GemĂŒtliches FrĂŒhstĂŒck mit dem Londoner und einem australischen Ehepaar. Die Australier sind pensionierte Lehrer, die EnglĂ€nder Journalisten, er bei Reuter, sie bei der BBC. Alle finden, dass es in Delhi nicht besonders hektisch zugeht, z.B. im Vergleich zu Bombay oder zu Bali. In Bombay, sagen die EnglĂ€nder, gebe es kaum mal irgendwo einen Meter Raum, der ganz und gar frei ist, und der Verkehr fließe viel langsamer. Delhi habe dagegen breite Straßen und freie PlĂ€tze und sei sogar erstaunlich grĂŒn. Keine typisch indische Stadt. Erstaunlich!

Die EnglĂ€nder kennen sich besser mit indischer KĂŒche aus und bestellen zum FrĂŒhstĂŒck puris, die edlere Version des indischen „Brots“, das in Öl gebacken wird und dabei aufblĂ€ht und sich zu Körbchen verformt, in die man dann praktischer weise die Marinade reintun kann. Am Abend esse ich im Hotel chappatis. Das ist die einfachste Version, dĂŒnne, auf heißer Herdplatte gebackene Fladen aus Mehl und Wasser. Dazwischen liegen die paratha, die Pfannkuchen, die ich dieser Tage gegessen habe.

Von den Australiern erfahre ich zufĂ€llig, dass der Rundgang mit Avnish auf den Nachmittag verschoben worden ist. Also mache ich mich auf den Weg zum Lakshmi-Narayan Tempel, dem Hindu–Tempel, zu dem ich schon am ersten Tag wollte. Auch diesmal keine leichte Aufgabe. Ein Rikscha-Fahrer tut so, als wisse er Bescheid. Er kontaktiert dann aber einen anderen, der als Begleitschutz neben uns herfĂ€hrt und mehrmals meine Nachfrage bestĂ€tigt, dass es zum Tempel gehe. Als wir an dem Krankenhaus links abbiegen, schwant mir Böses. Wir kommen zur Metrostation, und dort werde ich mit unschuldiger Miene abgesetzt. Auf meinen Protest hin – die Metro ist weiter vom Tempel entfernt als das Hotel – kommt eine ganze Traube von Rikschafahrern zusammen und ich werde am Ende belehrt: Not allowed. Ich solle die Metro nehmen. Das hĂ€tte ich natĂŒrlich ohnehin getan, wenn da eine Metrostation wĂ€re.

Eigentlich will ich zurĂŒck zum Hotel gebracht werden, aber ich gebe den Versuch bald, auf, das deutlich zu machen und gehe zu Fuß zurĂŒck. Da ich gerade an einer Bank vorbeikomme, nutze ich die Gelegenheit, Geld abzuheben. Eigentlich noch nicht nötig. Man hat hier seine liebe MĂŒh und Not, sein Geld auszugeben. Aber es mangelt immer an Kleingeld. Auf diese Art und Weise kommt vielleicht was rein. Denkste! Der Automat sagt mir, meine Karte sei ungĂŒltig.

Also weiter zum Hotel. Und wieder ist Sanjiv meine Rettung. Er schreibt mir den Namen des Tempels auf Hindi auf, sagt mir, wie ich am besten dorthin komme und gibt mir Instruktionen zum Geldtausch.

In der Bank ist man sehr freundlich. Ein Angestellter geht mit mir raus zum Geldautomaten, und diesmal, wie durch Magie, klappt es. Ich habe vermutlich beim ersten Mal die Karte falsch reingeschoben. Das hat der Automat nicht gerne.

Am Krankenhaus stehen Motorrikschas. Aber der erste Fahrer kann selbst auf Hindi mit dem Namen des Tempels nicht anfangen. Auch eine Karte und ein Photo nutzen nichts. Ich suche einen anderen. Der weiß sofort, was Sache ist und bringt mich in zehn Minuten an den gewĂŒnschten Ort.

Der Tempel, aus rotem Sandstein mit Inkrustationen in weißem Marmor, ist ein imposantes GebĂ€ude, vor dem sich Touristen und GlĂ€ubige drĂ€ngen. Ein hoher zentraler, oben konisch zulaufender Turm wird geflankt von zwei kleineren TĂŒrmen und die wiederum von zwei kleineren. Die Grundform ist, wie bei Hindu-HeiligtĂŒmern ĂŒblich, das Quadrat. Das gilt als perfekt, nicht, wie uns, der Kreis. Der kann nicht perfekt sein, weil er Bewegung suggeriert!

Der Tempel wurde 1939 nach sechs Jahren Bauzeit von Gandhi eingeweiht und von der Finanziersfamilie Birla finanziert. Die stehen besonders auf Lakshmi, der Göttin der Schönheit und Gattin Vishnus. Narayan ist eine der Verkörperungen Vishnus.

Handy und Kamera muss man abgeben, und natĂŒrlich die Schuhe ausziehen. FĂŒr Touristen gibt es mal wieder eine gesonderte Aufbewahrungsstelle fĂŒr die Schuhe.

Über eine breite Freitreppe kommt man auf eine Plattform. Die Fratzen, die sich hier unter der Decke an dem Portikus am Eingang befinden und die das Böse abwehren sollen, erinnern an christliche Kirchen. Auch der breite Narthex, den man zuerst betritt, ist eine Parallele im Kirchenbau. Aber dann kommt kein Innenraum. Es gibt einfach verschiedene Nischen, in denen AltĂ€re stehen.

Die GlÀubigen falten die HÀnde und verneigen sich, ganz wie bei uns. Nur bleibt man nicht an einem Altar stehen, sondern wandert von einem zum anderen, von einem Gott zum anderen. Vor den AltÀren verstreut man BlumenblÀtter, die meisten orangefarben.

Hinter den AltĂ€ren ist ein Rundgang, wie der Chorumgang in unseren Domen. Da stehen unter anderem eine große Bronzeglocke und ein großer Globus. An den WĂ€nden weitere Götterbilder.

Auf der Plattform vor dem Tempel sind zu beiden Seiten weitere Tempel angebracht. Auch die sucht man alle auf. Überall ĂŒppig verzierte, mit viel Schmuck und kostbaren GewĂ€ndern angetane, bunte Götterstatuen. Sie erinnern ein bisschen an kitschige Marienstatuen in unseren Kirchen. Auf den Bildern und Reliefs kommen die Götter schlichter daher. Einige erinnern, mit langen weißen GewĂ€ndern und Sandalen angetan, an griechische Göttinnen. Es gibt auch gleichnishafte Bilder wie das ĂŒber ein tosendes Meer voller Krokodile gleitende Boot. Die Krokodile sind Lust, Gier, Zorn. Das Boot, mit Weisheit und mit guten Rudern durch die Meeresgewalten gebracht, ist auf dem Weg in das Land der Freiheit – dem Nirwana.

In einer Darstellung heißt es, diejenigen, die die Leidenschaften unterdrĂŒckten, könnten ebenso gut zu Hause bleiben (Karma-Yoga) wie in den Dschungel gehen (Jnana-Yoga). Beides ist gleichwertig. Mit dem Dschungel ist vermutlich die UniversitĂ€t gemeint. Oder Delhi. Yoga ist neben Santi einer der beiden Regeln, die vom großen Vater fĂŒr den Weg des Menschen festgelegt wurden. Sie stehen fĂŒr Frieden und Einheit. Von seinem Namen soll das Wort manava, ‚Mensch‘, abgeleitet sein.

Den Glauben an das Nirwana teilt der Hinduismus mit dem Buddhismus. Auch den Glauben an die Wiedergeburt haben sie gemeinsam. Nur kennt der Buddhismus keine Kasten.

Überall prĂ€sent ist das Hakenkreuz, die Swastika. Nach einer Inschrift hier steht es symbolisch fĂŒr das Gebet um Erfolg, Vollendung, Perfektion. Es soll schon in den Veden vorkommen, und auf die Swastika sollen alle indischen, aber auch andere asiatischen Schriftsysteme letztlich zurĂŒckgehen.

Hinter dem Tempel liegt noch ein großer Garten, der wiederum mehrere Tempel hat. Von hier aus hat man einen guten Blick auf den Tempelkomplex mit allen seinen TĂŒrmen, Pyramiden, Fialen und anderen Aufbauten. Am Eingang zum Garten findet man auch einfache, im Schneidersitz dargestellte, fast unbekleidete Figuren mit dickem Bauch, die man sonst eher im Buddhismus erwarten wĂŒrde.

Beim Verlassen des Tempels lasse ich mir eine Elefantenfigur aufschwatzen, aber nicht ohne vorher gefragt zu haben, ob der HĂ€ndler wechseln kann. Auch die Postkarten bezahle ich mit 1000 Rupien, und wieder gibt es Wechselgeld.

Auf dem Boden hockt ein Junge mit einem merkwĂŒrdigen Objekt vor sich. Es ist eine Waage. FĂŒr zwei Rupien kann man sich wiegen lassen. Als ich mich auf die Waage stelle, kommen sofort mehrere der Umstehenden auf mich zu, sehen auf die Anzeige und teilen mir mit, wie viel ich wiege. FĂŒr meinen Kommentar – too much – hat man wenig VerstĂ€ndnis.

Der Schuhaufpasser drĂŒckt mir beim Verlassen des Tempels noch eine BroschĂŒre in die Hand, und ich will ihm den kleinen Nebenverdienst nicht verweigern. Der BroschĂŒre zufolge kennt der Hinduismus keinen Propheten, und auch sein Ursprung ist nicht bekannt. In den Veden soll es sogar heißen, dass der Mensch den Ursprung des Glaubens nicht kenne.

Die BroschĂŒre preist den Hinduismus fĂŒr seine Toleranz, weil er alle anderen Religionen akzeptiere. Man kann Hindu und gleichzeitig Christ sein. Alle Religionen sind wahr! Allerdings sind alle anderen, nach dem VerstĂ€ndnis des Hinduismus, aus dem Hinduismus erwachsen.

Es heißt sogar, man vertrete den Monotheismus. Das wĂ€re so ziemlich das Letzte, woran man beim Hinduismus mit seiner bunten Götterwelt denkt. Aber alle Götter sind eben nur Manifestationen des einen Schöpfergottes. Das wiederum unterscheidet den Hinduismus vom Buddhismus, der eine gottlose Religion ist.

Etwas verschĂ€mt nimmt die BroschĂŒre auch zum Kastenwesen Stellung. Das sei menschengemacht, nicht göttlich, heißt es, und es bedĂŒrfe der Reform. UrsprĂŒnglich habe es der Disziplinierung gedient, aber es sei im Laufe der Jahrhunderte sehr entstellt worden. Auch wenn man sich vor schnellen Urteilen hĂŒten sollte – Kasten gewĂ€hren auch eine gewisse Sicherheit, einen gewissen Schutz – ist das Kastenwesen das hĂ€ssliche Antlitz des Hinduismus, vor allem, was die Ärmsten der Armen, die UnberĂŒhrbaren angeht. Der Glaube an die Kasten ist aber wohl so tief verwurzelt, dass man ihn nicht durch ein paar Verordnungen verbannen kann. Aberglaube ist stĂ€rker als Gesetze. Vor allem sollte man sich vor Überheblichkeit hĂŒten. Richtig durchlĂ€ssig ist unsere Gesellschaft auch nicht, „Kasten“ haben wir auch, wenn wir sie auch nicht so nennen und wenn auch das System durchlĂ€ssiger ist.

Auf dem RĂŒckweg setzt mich der Fahrer wegen einer Baustelle hinter der Pension ab und ich muss ein paar Schritte gehen. Ich habe tatsĂ€chlich Schwierigkeiten, die Pension zu finden. Der Eingang befindet sich in einer schmalen Passage zwischen zwei HĂ€usern, und es gibt kein Hinweisschild und keine Hausnummer.

In der Pension bitte ich die Jungen, insgesamt fĂŒnf, mir ihren Namen aufzuschreiben. Einige tun es in unserem Alphabet, andere im Schriftsystem des Hindi. Dabei ziehen sie erst eine kerzengerade Linie, an die sie die Zeichen – Silbenzeichen, vermute ich – dranhĂ€ngen. Sieht sehr ordentlich aus. Sie sind alle sehr gut, immer freundlich und immer sofort zur Stelle. An verschiedenen Stellen des verwinkelten Baus gibt eine Schelle, und es dauert nur Sekunden, bis sie da sind, um einen hinauszulassen oder eine Bestellung entgegenzunehmen.

Dann geht es mit Avnish und drei anderen GĂ€sten in seinem Auto zu den Lodi Gardens. Das ist alles, was von seiner großartig angekĂŒndigten StadtfĂŒhrung ĂŒbrig geblieben ist. Zu den GebĂ€uden kann er wenig sagen – lĂ€sst sich dadurch aber nicht vom Reden abhalten – und die angekĂŒndigten Schmetterlinge und Vögel sehen wir nur auf Bildtafeln, außer zwei grĂŒnen Sittichen in den Ästen eines hohen Baums.

Am meisten lohnt sich die Fahrt zu den GĂ€rten, die außerdem sehr bequem ist. Es geht ĂŒber breite, nicht sehr befahrene Straßen. Delhi ist nicht wiederzuerkennen. Dies ist das europĂ€ische Delhi. Und man kommt sich wie in Europa vor: keine Rikschas, keine Handkarren, meist PKW und Busse. Der Connaught Place mit seinem Chaos gehört zwar auch zu New Delhi, aber er liegt am Ă€ußersten Rand und zĂ€hlt irgendwie nicht.

Zuerst fahren wir an einer langen Steinmauer entlang, die fĂŒr die Commonwealth Spiele erbaut wurde. Warum, bekomme ich nicht mit. Noch in der NĂ€he der Pension sieht man einen Shik-Tempel mit einer goldenen Kuppel. Die ist bei den Shik-Tempeln die Regel, nicht die Ausnahme. Avnish erwĂ€hnt den Goldenen Tempel von Amritsar. Den wertet er noch einen Tick höher als das Taj Mahal.

Dann ist von importierten, schnell wachsenden BĂ€umen die Rede, die ihren Zweck erfĂŒllen, gleichzeitig aber die einheimischen BĂ€ume verdrĂ€ngen, ein Problem, wie man es auch aus anderen LĂ€ndern kennt.

Wir fahren an dem unendlich langen PrĂ€sidentenpalast entlang, genauer gesagt an dessen niedriger, roter Mauer. Hier residierte frĂŒher der britische Vizekönig. Der PrĂ€sident lebt also wirklich königlich.

Den riesigen Palast mit seinen 340 RĂ€umen in Schuss zu halten, war schon zu Lord Mountbattens Zeiten keine leichte Aufgabe. Der Palast beschĂ€ftigte alleine 419 GĂ€rtner, darunter 50 Jungen, die nur dafĂŒr zustĂ€ndig waren, Vögel zu verscheuchen.

Der PrÀsident ist in Indien ein nicht politisches Amt und wurde auch zunÀchst nicht politisch besetzt. Das hat sich in den letzten Jahren geÀndert. Jetzt ist der ehemalige Finanzminister PrÀsident. Das findet Avnish nicht gut, und das kann man verstehen.

Dann sieht man Ministerien, alle in schönen, weißen Bungalows untergebracht. Dann eine Skulptur, die an den Salzmarsch erinnert, mehrere Figuren hintereinander, angefĂŒhrt von Gandhi, in der typischen, gebeugten Körperhaltung, auf seinen Stock gestĂŒtzt.

Dann geht es an dem riesigen, runden Hotel vorbei (wo Avnishs bemerkenswerte Karriere begann) und an einem staatlichen Radiosender (wo Avnish zweimal wöchentlich sein Radioprogramm zur modernen Wirtschaft hat) und an dem Finanzministerium (dessen Amtsinhaber Avnish persönlich kennt).

Dann ist die Rede von Wellington und Lady Wellington und einem deutschen Landschaftsarchitekten, Joseph Stein, der in ihrem Auftrag die Lodi Garten angelegt hat, indem er die Reste der teils verfallenen Mausoleen in den neu anzulegenden Park integrierte.

Es handelt sich um die Mausoleen der Herrscher der Dynastien der Lodi und der Sayyid, den VorgÀngern der ebenfalls islamischen Mogulherrscher.

Die Bauten in den GĂ€rten sind das GegenstĂŒck zu Qutb Minar. Das jĂŒngste Mausoleum ist oktogonal, im Gegensatz zu den anderen, die rechteckig sind. Die Moschee, die einem der Mausoleen angeschlossen ist, ist gewestet. Mekka liegt westlich von Delhi.

Interessant die unterschiedlichen Materialien, der Kontrast zwischen dem hellen, nicht dekorierten, weil zu hartem und dem rötlichen, reich verzierten Stein und dem reichlich verwendeten Stuck mit vielen dekorativen Inschriften aus dem Koran.

Am Schluss mĂŒssen wir noch ein bisschen Yoga machen, was mir einerseits peinlich ist, mich andererseits schmunzeln lĂ€sst, denn wir machen nichts anderes als bei den AufwĂ€rmĂŒbungen beim Lauftreff, nur dass die Sache spirituell aufgeblasen wird: Energie ablassen, Vibrationen spĂŒren. Dann mĂŒssen wir noch schweigend  – nicht „wertend“, nur „aufnehmend“ – an einer Reihe von Palmen entlang laufen. Ganz wertfrei ĂŒberlege ich mir, dass die Palmen hier Royal Palm, in Kuba, wegen ihrer in der Mitte aufgeblĂ€hten Stammes, Schwangere Palmen heißen. Die StĂ€mme haben Ringe, an denen man ihr Alter ablesen kann.

Auf dem RĂŒckweg, als es wieder am Gandhi-Denkmal vorbeigeht, gibt es noch ein interessantes GesprĂ€ch. Jemand fragt nach dem Mörder Gandhis. Avnish erklĂ€rt, es habe sich um einen Hindu gehandelt, fĂŒr den Gandhi ein VerrĂ€ter war. Es gebe ein Buch mit dem Titel Why I Killed Mahatma Gandhi, beruhend auf den Prozessakten. Komisch, darĂŒber hat man sich nie Gedanken gemacht. Auch der Mörder Gandhis muss seine Motive gehabt haben. Und seine Tat als gerecht empfunden haben. Avnish zufolge ist die Tat deshalb erfolgt, weil sich Gandhi ĂŒber einen klaren Mehrheitsbeschluss hinweggesetzt und Nehru statt Patel als Premierminister durchgesetzt habe.  FĂŒr den hatten tatsĂ€chlich 13 von 16 Staaten gestimmt. Deshalb bringt man jemanden nicht gleich um, aber man kann sich vorstellen, dass auch ein friedfertiger Mann wie Gandhi Aggressionen hervorruft, vielleicht gerade durch seine friedfertige Art. Besonders dann, wenn er seinen Einfluss ausnutzt, um eigene Vorlieben durchzusetzen, die andere nur mit Gewalt durchsetzen könnten.

Der Mörder wurde zum Tode verurteilt. Und das Todesurteil wurde auch vollstreckt, obwohl Gandhis Söhne und Nehru dagegen waren. Es ist merkwĂŒrdig, dass ein Friedensapostel gewaltsam umkommt und sein gewaltsamer Tod einen weiteren gewaltsamen Tod verursacht.

23. Februar (Samstag)

Indien hat drei Jahreszeiten: heiß, nass, kĂŒhl. Wir sind jetzt am Ende der kĂŒhlen Jahreszeit und kurz vor dem Beginn der heißen. Hier in der Ebene wird es schon bald unertrĂ€glich heiß, und dann kommt der Monsun und bringt Regen aus KĂŒbeln. Ein Segen fĂŒr die Landwirtschaft, ein Fluch fĂŒr den Verkehr und eine große Gefahr fĂŒr viele Menschen. Einen Vorgeschmack darauf gab es heute Nacht, mit heftigem Regen, der auf das flache Dach des Zimmers prasselte und das GefĂŒhl vermittelte, es regne hinein.

Beim FrĂŒhstĂŒck lese ich in einem ReisefĂŒhrer von den Irula, einem Volk im SĂŒden Indiens. Die haben sich, nachdem das Fangen von Schlangen verboten worden ist, auf Ratten spezialisiert und eine Kooperative gebildet, die systematisch auf Rattenfang geht (und rats heißt). UnterstĂŒtzt werden sie von einem Regierungsprogramm, das der Rattenplage auf den Leib rĂŒcken will, ohne Pestizide einzusetzen. Die Irula bekommen 2 Rupien pro Ratte, bei 100.000 Ratten pro Jahr ein lukratives GeschĂ€ft. Das Rattenfleisch wird dann außerdem an Krokodilfarmen verkauft. Die Ratten haben es inzwischen aber auch auf den Speiseplan der Irula gebracht. Sie beteuern, das Rattenfleisch, mit Reis serviert, sei eine Delikatesse.

Ich bekomme mit, wie Avnish einem Gast erzÀhlt, dass er seinen Sohn morgens mit dem Auto zur Schule bringt: 30 Minuten Fahrzeit. Unterrichtsbeginn: 7.30. Um 7.20 muss man da sein, sonst kommt man in die Late Lane, was immer das sein mag. Da um diese Zeit dichter Verkehr ist, verlÀngert sich die Fahrtzeit sogar. Das ist die indische Mittelschicht. Die bekommt man als Tourist kaum zu sehen. Da, wo man ist, sind sie nicht. Sie wohnen in ihren eigenen Vierteln und fahren mit dem eigenen PKW.

Wieder gibt es den ganzen Tag Ärger mit Rikscha-Fahrern, so sehr, dass ich am Ende richtig Ă€rgerlich werde. Ich fĂŒhle mich wie ein alter Kolonialherr, der kein VerstĂ€ndnis fĂŒr diese blöden Inder hat. Den ganzen Tag ĂŒber habe ich nur einen gehabt, der mir einen ĂŒberhöhten, aber reellen Preis genannt und mich wirklich dahin gebracht hat, wo ich hinwollte: zum National Museum.

Vor dem Museum steht, vermutlich als Nachbildung, ein Felsblock, unscheinbar, aber von allergrĂ¶ĂŸter Bedeutung fĂŒr die indische Geschichte. Der nach hinten sich erhöhende, aber abgeflachte Felsbrocken ist ĂŒber und ĂŒber mit Schriftzeichen versehen. Und um die geht es. Es sind Anweisungen des Kaisers Ashoka an sein Volk, Regeln fĂŒr das Zusammenleben, eine Art Moralkodex. Es wird unter anderem dekretiert, dass keine Menschenopfer gebracht werden dĂŒrfen. Es heißt auch, dass der Kaiser alle fĂŒnf Jahre Kundschafter durch sein Land schicken will, die ĂŒberprĂŒfen sollen, ob die Regeln eingehalten werden. Und dass sich die Untertanen an den Kaiser wenden können, wenn die Regeln verletzt werden. Wie das praktisch funktionieren soll, ist dabei vermutlich egal. Immerhin ist es eine Geste des Kaisers, die zum Ausdruck bringt, dass er sich um sein Volk kĂŒmmert.

Die Maßnahmen und die systematische Verbreitung der Regeln erinnern mich an den ersten chinesischen Kaiser, und man könnte Ashoka als den ersten indischen Kaiser bezeichnen, der erste jedenfalls, der das ganze Riesenreich beherrschte.

Ashoka bekehrte sich zum Buddhismus und leitete die Hochzeit des Buddhismus in Indien ein. VerblĂŒffender als der Erfolg des Buddhismus ist sein Niedergang, ausgerechnet hier, in seinem Stammland, im Gegensatz zu den anderen LĂ€ndern SĂŒdostasiens und im Gegensatz zu Japan, wohin er exportiert wurde und wo er weiterhin von grĂ¶ĂŸter Bedeutung ist. Von den Indern sind weniger als ein Prozent Buddhisten.

Am Eingang des etwas verstaubt wirkenden Museums hĂ€ngt eine große Schautafel, die in verschiedenen Farben die Entwicklung der verschiedenen Hochkulturen schematisch darstellt: Ägypten, Mesopotamien, Indien, China.  Auch Indien hatte also eine frĂŒhe Hochkultur, aber die ist weniger bekannt als die anderen. Erstaunlich die großen Parallelen. Das Aufkommen der Schrift und das Aufkommen der Bronze sind, ganz grob gesprochen, gleichzeitig! Und keine davon ist in Europa oder in Amerika!

Im ersten Saal gibt Exponate ĂŒber die erste indische Hochkultur, paradoxerweise heute in Pakistan gelegen, im Industal! WofĂŒr es keine ErklĂ€rung gibt, ist der Untergang dieser ersten indischen Hochkultur. Sie ist einfach verschwunden und wurde von bĂ€uerlichen Gemeinschaften abgelöst.

Dies, so heißt es, sei eine stĂ€dtische Kultur gewesen – was man sich vorstellen kann. Aber im Gegensatz zu den Ägyptern und den anderen seien hier die Errungenschaften, wie die Steinarchitektur, allen zugutegekommen, nicht nur der Oberschicht – was man sich nicht so gut vorstellen kann.

Einige der Exponate erinnern an die anderen Hochkulturen, und man ist verblĂŒfft, dass es das damals (ca. 2700-2500 v. Chr.) schon gab: ein zweirĂ€driges Fahrzeug, die Bronzefigur eines Wagenlenkers. Daneben gibt es Spindeln, modern wirkende HalsbĂ€nder aus Lapislazuli und Agathe und eine große Anzahl von Siegelringen, die hier, im Gegensatz zu Mesopotamien, nicht rund oder zylindrisch, sondern rechteckig sind. Sie enthalten Schriftzeichen, aber ĂŒber die Schrift ist nichts zu erfahren. Ob sie entziffert worden ist? Sieht nicht so aus.

In einer Vitrine ein sehr gut erhaltenes Skelett. Ein Armreif am linken Handgelenk bedeutet, dass die Frau verheiratet war. Grabbeigaben zeigen, dass man an ein Leben nach dem Tod glaubte.

Es gibt auch alle möglichen Tierfiguren aus Terrakotta, die fast alle zwei Köpfe haben. Was das wohl zu bedeuten hat? Man ist versucht, einen Bezug herzustellen zu den hinduistischen Göttern, die auch oft mehr Köpfe oder Arme als nötig haben. Ebenso hĂ€lt man die Figuren im Schneidersitz unwillkĂŒrlich fĂŒr VorlĂ€ufer der Buddha-Figuren in Meditationshaltung.

Zum nÀchsten Saal gibt es einen Sprung von 2000 Jahren. In dieser Zeit sind die Arier nach Indien eingedrungen.

Hier kommen die Maurya und der wichtigste Vertreter der Dynastie, Ashoka, ins Spiel. Unter ihm erreichte das Reich eine solch große Ausdehnung wie erst wieder unter den Mogulen und unter den Briten.

Hier gibt es SteinsĂ€ulen mit den Inschriften Ashokas und große Steinplatten mit Reliefs, die ein bisschen an die römischen GrabmĂ€ler in Trier erinnern. Bei dieser und der folgenden Dynastie sind die Skulpturen meistens fĂŒr die buddhistischen Stupas bestimmt und enthalten Legenden aus dem Leben des Buddhas. Dabei geht es sehr phantasievoll zu, und wenn es offensichtlich nichts mit dem ĂŒberlieferten Lebensgeschichte Buddhas zu tun hat: Macht nichts! Ist aus einem frĂŒheren Leben! Daneben gibt es rĂ€tselhafte Steinplatten, bei denen sich das Volk dicht um eine Figur im Zentrum drĂ€ngt.

Dann kommt der Sprung in die Zeit, als der Buddhismus wieder von Hinduismus verdrĂ€ngt worden war. Vishnu und Ganesha erscheinen hĂ€ufig, und Paruati, eine Göttin mit strammen BrĂŒsten, die lasziv ein Bein hebt und den Körper im Tanz windet, mit einem ganz dĂŒnnen Höschen angetan und Schmuck an Ohren, Beinen und Armen und mit kunstvoll gebundenem Haar. Da denkt man nicht so unbedingt an Religion.

Neben ihr befindet sich dann tatsÀchlich eine Göttin mit 3 Köpfen und 4 Armen, Marichi, mit einem Schmuckreifen an jedem Oberarm. Viele Arme erhöhen das Schmuckbudget.

Alle diese Figuren haben keine Farbe, und es sind auch keine Farbreste zu erkennen. Ob sie frĂŒher farbig waren?

Dann hört man plötzlich laute Stimmen. Ganze Schulklassen werden durch das Museum geschleust. Das geht so: Man geht schnellen Schritts, ohne stehenzubleiben, im GĂ€nsemarsch, die beiden benachbarten SchĂŒler an der Hand haltend, durch das Museum.

Die beiden wichtigsten Abteilungen, die fĂŒr Manuskripte und die Cafeteria, sind geschlossen. Also sehe ich mir oben, in der Folklore-Abteilung, noch die Musikinstrumente an. Als Laie denkt man bei indischer Musik an die Sitar, und die Instrumente, die hier ausgestellt sind, sehen auch so aus, heißen aber anders, meistens Sarod. Diese Saiteninstrumente gibt es in einer Unzahl von Variationen, mit breiten und schmalen und langen und kurzen Stegen und mit vier Saiten und Dutzenden von Saiten. Meistens haben sie sehr bauchige Resonanzkörper. Einige sind so groß, dass man sie gar nicht halten kann, sondern wie eine Zither spielt.

Die Sarangi, ein Saiteninstrument mit breitem Steg und einem Hals ohne Stege, wurde von Yehudi Menuhin als Seele der indischen Musik bezeichnet. Sie soll das Musikinstrument sein, das der menschlichen Stimme am nĂ€chsten kommt. Sie wird senkrecht gespielt, im Sitzen. Sieht unbequem aus. Paradoxerweise ist gerade sie jetzt auf der Verliererstraße, weil sie immer mehr von dem Harmonium verdrĂ€ngt wird.

Alle Instrumente gruppieren sich um eine große Statue. Das ist Saraswati, die Göttin der Weisheit, des Wissens und der Musik, die Gattin Brahmas. Sie hĂ€lt in der Hand eine Rolle aus PalmenblĂ€ttern, dem Zeichen des Wissens. Sie heißt auch Vak Deu und ist als solche die Göttin der Sprache.

Es regnet, als ich aus dem Museum komme, und ich bin unschlĂŒssig, was zu tun ist. Nachdem mich ein Rikscha-Fahrer zu einer Metrostation gebracht hat, zu der ich nicht wollte  – er hat ĂŒberdies einen Aufpreis fĂŒr Regen verlangt – fahre ich einfach in die Altstadt. Von dem Platz, an dem die Metrostation ist, fĂŒhren mehrere Straßen weg, und ich gehe aufs Geratewohl drei von ihnen rauf.

Die erste ist die beste. Es ist die Straße der GemĂŒsehĂ€ndler. In kleinen LĂ€den, auf Karren und auf dem Boden sitzend, bieten sie ihre Ware an. Es ist kaum etwas „Exotisches“ dabei, und ich kann fast alles identifizieren, außer kleinen gelblichen BĂ€llchen. Könnten Mirabellen sein oder auch Limetten.

Ansonsten gibt es Kartoffeln, Zwiebeln, Ingwer, Knoblauch, und vor allem Bohnen, Bohnen, Bohnen. Am besten sehen die Tomaten aus. Es gibt bei jedem GemĂŒse, und auch beim Obst, keine große Variation, ein Zeichen dafĂŒr, dass alles aus der Gegend stammt. Beim Obst gibt es Äpfel, Bananen, Apfelsinen, Papaya, GranatĂ€pfel, Ananas, Melonen. Alles gibt es natĂŒrlich lose, nur Erdbeeren werden, wie bei uns, in PlastikschĂ€lchen verkauft.

An einem GetrĂ€nkestand bestelle ich eine hervorragende Bananenmilch. Die Kommunikation geschieht ausschließlich ĂŒber Gesten. Ich bin hier weit und breit der einzige EuropĂ€er. Wie auch fast immer in der Metro. Oft wird man argwöhnisch, manchmal fast feindselig angesehen. An dem Stand wird auch GemĂŒsesaft zubereitet, aus Möhren  – wenn es denn welche sind –  und einer Art Rote Beete. Bei den GemĂŒsesĂ€ften wird erst ein Kraut in den Mixer gestopft, mit langen BlĂ€ttern. FĂŒr die GemĂŒsesĂ€fte ist der Sohn zustĂ€ndig. Er sieht mich aus Augen an, die traurig sind, auch wenn er lĂ€chelt. Der Vater wischt stĂ€ndig die Theke ab. Seine FingernĂ€gel sind schwarz. Meine auch. Jeden Abend. Ganz GeschĂ€ftsmann, fĂŒllt er mir mit einer höflichen Geste noch einmal nach und bedankt sich fĂŒr mein Lob.

An einem anderen Stand bekomme ich wieder eine der ausgezeichneten Pasteten. Der VerkĂ€ufer kann zwei entscheidende Wörter: sweet und spicy. Ich nehme spicy. Die sehen nach einem Snack aus, fĂŒllen aber den Magen ordentlich. Oder mein Magen ist inzwischen geschrumpft. Dann deute ich noch auf rötliche BĂ€llchen, die in einer Soße schwimmen: sweet oder spicy? Die sind sweet. Ich nehme zwei. Sie heißen Gulab Jamun, kleine BĂ€llchen aus Dickmilch, Zucker und Mehl, gewĂŒrzt mit Kardamom und Rosenwasser. Eine Delikatesse.

Irgendwo sitzt am Boden ein Mann, der BlĂ€tter zu runden Einheiten formt und ĂŒbereinanderschichtet, bis eine ganze Rolle fertig ist. Die Rollen warten neben ihm auf den Abtransport. Ich versuche, mit Gesten herauszubekommen, ob es ich um Tabak handelt: Nein. Erst spĂ€ter fĂ€llt mir die Lösung ein: Betel! DarĂŒber habe ich doch im ReisefĂŒhrer gelesen. Das erklĂ€rt auch die stĂ€ndige Spuckerei und die Verbotsschilder.

Dann gehe ich noch eine Straße runter, die der EisenwarenhĂ€ndler. Die meisten winzigen LĂ€den scheinen nur ein einziges Ersatzteil zu haben, und das in allen GrĂ¶ĂŸen und Formen. In dieser Straße ist ĂŒberhaupt kein Durchkommen, und ich wende mich wieder um.

Dann kommt die dritte, und die wird am Ende, da, wo der Asphalt aufhört, noch Ă€rmlicher. Von dieser Straße gehen wiederum kleine, oft ĂŒberdachte dĂŒstere Passagen weg, in die man sich noch nicht einmal bei Tag hinein trauen wĂŒrde. Vielleicht zu Unrecht.

Die Straße zieht sich unendlich hin. Immer wieder fahren MotorrĂ€der mit ganz verschleierten Frauen hinten drauf an mir vorbei. Man muss aufpassen, dass einem niemand ĂŒber die FĂŒĂŸe fĂ€hrt, dass man niemanden umrennt, dass man nicht in ein Loch im BĂŒrgersteig fĂ€llt, dass man nicht in einer der großen Lachen baden geht, dass man nicht in Hundekot tritt, dass man nicht umknickt, dass man nicht beklaut wird. Und man muss die Schlepper abwimmeln. Wenn man sich dann noch umsehen und photographieren will, ohne allzu sehr aufzufallen, ist man rundherum beschĂ€ftigt.

Ganz am Ende komme ich dann auf einen Platz, auf dem ObstverkĂ€ufer  stehen. Schließlich nehme ich dann eine Motorrikscha nach Hause. Keine gute Idee. Jetzt erlebe ich, was in Delhi Stau heißt. Und dann kommt natĂŒrlich das unweigerliche Problem mit dem Fahrer, der mich, statt zum Hotel, zur Metrostation bringt.

Beim Tee am spĂ€ten Nachmittag in der Pension frage ich den Jungen, der mich bedient, ob er auch samstags arbeite. Ja. Jeden Samstag? Ja. Und sonntags auch? Ja. Jeden Sonntag? Ja. Da bekommt der Name Master Guesthouse einen ganz neuen Klang. Sie wohnen, finde ich weiter heraus, alle zusammen in der NĂ€he der Pension, in Fußentfernung. Er kommt aus den Bergen, und da ist auch seine ganze Familie: drei Stunden mit dem Zug, vier Stunden mit dem Bus.

24. Februar (Sonntag)

Bei blauem Himmel und strahlendem Sonnenschein FrĂŒhstĂŒck auf der Terrasse der Pension. Ich nehme die puris, die die EnglĂ€nder vorgestern hatten. Keine Offenbarung, im Laufe der Zeit wird das ewige indische Curry doch etwas langweilig. Curry ist hier natĂŒrlich kein GewĂŒrz, sondern einfach das Wort fĂŒr ‚Soße‘, und davon gibt es unendlich viele Variationen.

Man isst die puris mit der Hand, wobei ich immer wieder vergesse, dass man mit der rechten Hand isst. Mit der linken geht es bei mir einfach besser. Ein echter Fauxpas in Indien. Dazu gibt es ausgezeichnete Papaya.

Die ganze Pension ist vollgestellt mit Statuen, Spiegeln, Schnitzarbeiten, Bildern, Glocken und Lampions, die Avnish von seinen Reisen mitgebracht hat. Durchaus geschmackvoll, aber zu viel. Auf der Terrasse steht eine Statue von Ganesha, dem bekannten Gott mit dem Elefantengesicht. Über den Ursprung des Gesichts gibt es mehrere Legenden. Eine besagt, er sei von seinem Vater, Shiva, nach langer Abwesenheit fĂŒr einen Liebhaber seiner Gattin, Parvatis, gehalten worden. Der habe ihm daraufhin den Kopf abgeschlagen. Als er seinen Fehler bemerkte, habe er geschworen, den Kopf zu ersetzen durch den Kopf des ersten Lebewesens, das ihm ĂŒber den Weg laufen wĂŒrde. Das war ein Elefant. Mit dem armen Elefanten hat kein Mensch Mitleid. Ganesha ist einer der populĂ€rsten Götter. Er hat einen abgebrochenen Zahn. Mit dem hat er, der Patron der Schreiber, die Mahabharata geschrieben, einen der heiligen Texte des Hinduismus.

Von der Straße her kommen die Stimmen der ambulanten VerkĂ€ufer herauf, eines der allgegenwĂ€rtigen GerĂ€usche dieses Landes.

Die Straßen sind leer, aber die Metro ist voll wie eh und je. Die Wagen haben keine Sitze, sondern BĂ€nke, auf denen man mit dem RĂŒcken zum Fenster sitzt, eine Variante, die sich jetzt in vielen modernen U-Bahnen durchgesetzt hat und die sich sehr vom alten System unterscheidet, bei dem man wohl annahm, dass man normalerweise sitzend reist und nur in AusnahmefĂ€llen stehend. Heute ist es umgekehrt. In Delhi gibt es nicht nur den Waggon fĂŒr Frauen, sondern auch Frauensitze in den anderen Waggons, und man wird aufgefordert, seinen Platz fĂŒr Alte, Behinderte und Frauen frei zu machen. Dazu habe ich in der ganzen Zeit noch keine Gelegenheit gehabt. Ich habe bisher in all den Tagen ĂŒberhaupt nur eine Station lang einen Sitzplatz gehabt. Als ob er meine Gedanken lesen könnte,  bietet mir in diesem Moment ein junger Mann, der sich so gerade mit seinem Sohn auf dem Schoß ein kleines StĂŒckchen Bank erobert hat, seinen Platz an. Um Gottes willen. So war es ja nun auch nicht gemeint. Das alles wĂ€re ohnehin nicht so wichtig, wenn man sich draußen mal irgendwo hinsetzen könnte. Aber selbst in Parks gibt es kaum einmal eine Bank, und es gibt auch kaum ein Lokal mit SitzplĂ€tzen.

Auf einer Ansichtskarte habe ich einen sehr schönen Tempel gesehen, besser gesagt einen Tempelkomplex, der wie aus dem Bilderbuch aussieht, von dem aber in keinem ReisefĂŒhrer was steht: Akshardam. Er ist in Delhi. Da will ich hin.

Wieder einmal werde ich das Opfer der Entfernungen oder, besser gesagt, meiner falschen EinschĂ€tzung der Entfernungen. Der Tempel hat eine eigene Metrostation, und die liegt gleich hinter dem Yamuna, dem Fluss Delhis. Da kann ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und den Tempel und gleich den Fluss sehen, der zu Indiens sieben heiligen FlĂŒssen zĂ€hlt, zusammen mit Sarasvati, Narmada, Godavari, Cauvery, Indus und Ganges. Ich stelle mir vor, dass der Tempel schön am Ufer des Flusses steht. Weit gefehlt. Es sind nach lĂ€ngerer Fahrt, noch mehrere Kilometer bis zu der Metrostation, nachdem wir den Yamuna, einen breiten, trĂ€gen, fast still stehenden Fluss mit sandigem, flachem Ufer ĂŒberquert haben.

Als ich mich dann zum Tempel fahren lasse, ist der gar nicht zu sehen. Es sieht so aus, als wĂ€re man auf dem Parkplatz eines großen Fußballstadions gelandet. Auch wenn man sich Richtung Eingang vorarbeitet, bleibt der Tempel teils hinter Mauern, teils hinter Absperrungen verborgen. Vor der Kasse drĂ€ngeln sich die Leute. Hier gibt es einen Park, und es werden Ruderfahrten und Elefantenritte angeboten. Jetzt schwant mir was. Dies ist kein Tempel an sich, sondern eine Art hinduistisches Disneyland. Das wird auch der Grund sein, warum in keinem ReisefĂŒhrer davon die Rede ist. Der Tempel ist, einer Inschrift am Eingang zufolge, noch ganz neu, und von einem Industriellen finanziert und initiiert worden. Ich mache unter vielen Verrenkungen ein paar Photos und ziehe dann wieder ab.

Als ich wieder in der Metro bin und mich fĂŒr meine Karte anstelle, weist eine ganz junge Frau hinter dem Schalter freundlich, aber bestimmt, zwei Jungen zurĂŒck, die sich vorgedrĂ€ngt haben und bittet einen anderen, der ganz gemĂŒtlich vor dem Schalter stehen geblieben ist, Platz zu machen, damit ich auch meine Fahrkarte kaufen kann.

Mit der Metro geht es ein paar Stationen zurĂŒck. Die Stationen haben teils englische Namen, teils Namen auf Hindi. Diese schwierigen Namen entschlĂŒsseln sich manchmal, wenn man bestimmte Wortteile kennt: bagh wie in Karol Bagh, meiner Metrostation, heißt ‚Markt‘; marg wie in Rama Krishna Ashram Marg, der nĂ€chsten Metrostation, heißt ‚Straße‘; chowk, wie in Rajiv Chowk, dem Connaught Place, heißt ‚Platz‘. Das hilft auch außerhalb der Metro: desh, wie in Bangladesch, heißt ‚Land‘; pur wie in Jaipur (und in Singapur?) heißt ‚Stadt‘.

WÀhrend der Fahrt sehe ich einen altmodisch gekleideten, unscheinbaren Mann, der in einer deutschen Beamtenstube aus den 50er Jahren sitzen könnte, nur, dass er rötlich gefÀrbtes Haar hat. Mode oder Religion? SpÀter sehe ich das noch ein paar Mal.

Von der Metro geht es mit der Motorrikscha zum India Gate. Das ist ein Tor, das sein Vorbild nicht verleugnen kann: den Arc de Triomphe in Paris.

Das India Gate ist dicht von Polizisten abgesperrt, und man kann es nur aus der Ferne sehen und photographieren. Das hat seinen Grund. In den letzten Tagen ist in Hyderabad eine Bombe explodiert, die mehrere Menschen das Leben gekostet hat, vermutlich ein Vergeltungsanschlag. Vor ein paar Jahren ist auf das Parlament in Delhi ein Bombenanschlag verĂŒbt worden, und der wichtigste TĂ€ter ist vor ein paar Monaten hingerichtet worden. Ein perfektes Beispiel dafĂŒr, wie eine Gewaltspirale funktioniert.

Wahrscheinlich verpasst man nicht schrecklich viel, wenn man das India Gate nicht aus nÀchster NÀhe sieht, aber es wÀre interessant gewesen, die vielen Inschriften zu sehen. Das India Gate ist nÀmlich kein Triumphbogen, sondern ein Kriegsdenkmal und enthÀlt die Namen von 85.000 indischen Soldaten, die im 1. Weltkrieg gefallen sind. Wer hÀtte das gedacht! Wer denkt schon an Indien beim 1. Weltkrieg?

Als ich weiter gehen will, werde ich geradezu gewaltsam von drei MĂ€dchen festgehalten und muss mir mit einer Art Schokoladensoße ein Muster auf die Hand malen lassen, das sich nach einer Stunde rötlich verfĂ€rben soll. Die MĂ€dchen haben ungeahnte KrĂ€fte. Jetzt habe ich zwei Probleme am Hals: die MĂ€dchen loszuwerden und die Bemalung. Aus der Umklammerung kaufe ich mich frei, und dann muss ein Reinigungstuch aus dem Flugzeug die gröbsten Spuren an der Hand beseitigen.

Dann geht es, wieder mit einer Motorrikscha, zum Indira Gandhi Memorial. Es geht ĂŒber breite, fast menschenleere Straßen, die zweimal von einem Kreisverkehr unterbrochen werden, und an gepflegten Parks vorbei. Delhi ist nicht wiederzuerkennen. Und wieder habe ich die Entfernung unterschĂ€tzt. Ich wollte eigentlich zu Fuß hierhin kommen.

Die Ampeln springen direkt von Rot auf GrĂŒn um, und es gibt Ampeln, an denen die Sekunden gezĂ€hlt werden, die noch verbleiben, bis es wieder Rot oder bis es wieder GrĂŒn wird. Das kenne ich sonst nur von FußgĂ€ngerampeln.

Leider ist der Eintritt kostenlos. Der Mangel an Kleingeld wird allmÀhlich zu einem Problem.

Die GedĂ€chtnisstĂ€tte ist in dem Haus untergebracht, in dem Indira Gandhi lebte und vor dem sie getötet wurde. Es ist ein in einem schönen Garten gelegener weißer, weitverzweigter Bungalow. Hier ist man nicht bei armen Leuten zu Besuch.

Do you smoke? Mit der Frage werde ich bei der Eingangskontrolle ĂŒberrascht. No. Should I? Daraufhin der Mann. No, never. Was der Sinn der Frage ist, weiß ich immer noch nicht. Rauchen, fĂ€llt mir bei der Gelegenheit auf, ist aus dem gesamten öffentlichen Leben verschwunden. Es wurde schon vor Jahrzehnten untersagt. Und zwar zu einer Zeit, als das Einatmen der Abgase einem tĂ€glichen Konsum von 20 Zigaretten (im dichten Verkehr 40 Zigaretten) entsprach! Das wird sich wohl verbessert haben. Jedenfalls habe ich nicht den Eindruck, in einer der verpestetsten StĂ€dte der Welt zu sein. Komischerweise sehe ich gerade heute beim Essen am Nachbartisch zwei junge EuropĂ€er, die beide rauchen, inzwischen auch bei uns ein seltener Anblick.

Durch die GedenkstĂ€tte wird man, wie das in Indien wohl Sitte ist, in einer endlosen, sich stĂ€ndig  bewegenden Schlange geschleust, durch die einzelnen RĂ€ume und von Raum zu Raum. Es geht entlang an einer ganzen Galerie von Tageszeitungen und Photos, alles in Schwarz-Weiß, was gut zu dem weißen Bau passt und ganz nebenbei auch gut zu Indira Gandhis Haarschopf, der  im mittleren Alter halb schwarz, halb weiß war.

Dazwischen gibt es SchaukĂ€sten mit persönlichen GegenstĂ€nden, Gastgeschenken von Politikern und Auszeichnungen. Es ist kaum Zeit, sich etwas nĂ€her anzusehen, denn von hinten wird gedrĂ€ngt. Ich kann aber schnell einen Blick auf eine Tafel werfen, auf der unter ihren Verdiensten u.a. die UnterstĂŒtzung Bangladeschs, das Abkommen mit der Sowjetunion (und damit die Aufgabe der NeutralitĂ€t Indiens nach dem amerikanischen LiebesaffĂ€re mit Pakistan) und die Ausrufung des Notzustandes aufgefĂŒhrt werden. Na ja, das kann man wohl auch alles anders sehen.

Auf einer Karikatur sieht man einen niedergeschlagenen Politiker neben dem Siegerpodest sehen und zu einem anderen sagen: Ich dacht, ich wĂŒrde erster, du zweiter und sie dritter. Auf dem Podest steht Indira Gandhi. Auf Platz 1, auf Platz 2 und auf Platz 3.

Bei den privaten Bildern sieht man sie mit Nehru, ihrem Vater (mit der charakteristischen weißen Kappe) und mit ihren Söhnen, Sanjay und Rajiv.  Nirgendwo taucht aber ein Ehemann auf. Wo war der?

Dann kommen noch ihr Ankleidezimmer mit ihrem Spinnrad und ihrem Strickbeutel, mit den handgewebten Saris und den Holzschuhen, die sie trug, und mit Bildern, gemalt von einfachen Frauen, die sie protegierte. Dann kommt ihr großzĂŒgiges Arbeitszimmer mit ganzen WĂ€nden voller BĂŒcher, aber auch genĂŒgend Ruhemöglichkeiten und dem Telefon, an dem sie die Nachricht von der UnabhĂ€ngigkeit Bangladeschs erhielt.

Dann kommt, etwas makaber, der Sari, den sie am Tag ihrer Ermordung trug, mit verblassten Blutspuren.

Dann kommen die RĂ€ume von Rajiv Gandhi. Man sieht ihn bei der Beerdigung seines Bruders zusammen mit seiner Mutter und mit Sonia und ihren Kindern.  Er stand immer im Schatten Sanjays und hatte sich, zum Pilot ausgebildet, sicher ein anderes Leben vorgestellt. Dann ließ er sich aber vor den politischen Karren spannen und ĂŒbernahm das Parlamentsmandat seines Bruders. Kann man das so einfach? Wie einen Betrieb ĂŒbernehmen?

Auch seine RĂ€ume sind zu besichtigen, sehr großzĂŒgig und sehr geschmackvoll eingerichtet, und dann auch bei ihm die Montur, die er trug, als er getötet wurde, ein Anzug, der hier als Pyjama bezeichnet wird, und ziemlich alte Socken und Turnschuhe.

Ich hatte zuerst verstanden, dass er auch nach dem Tod der Mutter noch hier gelebt hat und mir vorgestellt, wie es ist, in einem Haus zu leben, in dem die eigenen Mutter ermordet worden ist, aber dann heißt es doch, dass er, sobald er Premierminister wurde, in das Haus umgezogen ist, in dem seitdem alle indischen Premierminister leben.

Dann geht es in den Garten und zu der Stelle, an der Indira Gandhi getötet wurde. Wie bei Mahatma, sind die letzten Schritte gekennzeichnet, aber, um den Unterschied zu respektieren, anders. Sie ging diese Strecke jeden Morgen zu Fuß, um am Ausgang mit Menschen aus aller Herren LĂ€nder zu sprechen. An dem Tag war ein Interview mit der BBC vorgesehen. Als sie fast an der Straße angekommen war, wurde sie von einem ihrer LeibwĂ€chter erschossen. Wenn man den Kopf verreckt, kann man unter der Glasplatte noch die Blutstropfen sehen.

Obwohl Indira Gandhi noch heute sehr verehrt wird und hier, wie bei Mahatma Gandhi, von ihrem „Martyrium“ die Rede ist, hatte sie auch alles dafĂŒr getan, sich Feinde zu schaffen. Kompromisslose HĂ€rte, Skandale, umstrittene Programme wie das der Zwangssterilisation forderten Widerstand hervor, die ErstĂŒrmung des Goldenen Tempels in Amritsa, dem spirituellen Zentrum der Shiks, war eine Provokation, jedenfalls fĂŒr die Shiks. Fast alle 3.000 Besetzer kamen ums Leben. Und da traf es sich gut, dass die meisten ihrer LeibwĂ€chter Shiks waren.

Die Shiks sind die großen Verlierer der Teilung Indiens. Irgendwann wurde es klar, dass die Teilung nicht mehr zu vermeiden war. Und da musste man eben eine Linie ziehen. Und die ging mitten durch den Punjab, dem „Vaterland“ der Shiks. Die sich im Goldenen Tempel versteckt hatten, waren Nationalisten, und die forderten ihren eigenen Staat, Khalistan.

Die Religion der Shiks ist der verrĂŒckte Versuch, eine Synthese aus Hinduismus und Islam zu schaffen: Seelenwanderung, Brahman und Karma, aber keine Vielgötterei und keine Kasten. Die Gleichheit aller wurde besonders betont. Daher tragen alle Shik einen Turban – vorher Zeichen einer Elite – und tragen allen den Nachnamen Singh. Letztlich ist der Shikismus eine Gegenbewegung zum Hinduismus, genauso wie der Buddhismus und der Jainismus, nur jĂŒnger. Er geht auf den Hinduprediger Guru Nanak (XVI) zurĂŒck.

Die Shiks, besonders streng mit sich selbst und stets auf ein mustergĂŒltiges Äußeres bedacht – gepflegter Bart, frisch gebĂŒgeltes weißes Hemd, silberner Armreif, kunstvoll gebundener Turban – prĂ€gen wie kein anderer unser Bild vom Inder. Dabei wollen sie sich selbst gerade von den anderen Indern unterscheiden.

Dann finde ich, ist es mal Zeit fĂŒr ein ordentliches Essen, mit Fleisch und Wein, im Lodi Garden Restaurant. Über einen mit BlĂŒten bestreuten Fußweg wird man in einen halboffenen, von GĂ€rten umgebenen Holzpavillon gefĂŒhrt. Erst erschrecke ich ĂŒber die Preise, aber dann merke ich, dass es ganz normale europĂ€ische Preise sind. Zu Kebab mit Knoblauchdip und leckerem gerösteten Brot, gefĂŒllter HĂ€hnchenbrust und Mousse au Chocolat gibt es erstaunlich guten indischen Wein. Das Wasser kommt aus dem Himalaya.

Das war heute eine ausgesprochen erholsame Angelegenheit. Wurde auch Zeit. Die Orientierungslosigkeit, die Sprachlosigkeit, die Ohnmacht, die Hektik, die Enge, der Schmutz, der Gestank, der stĂ€ndige Mangel an Bequemlichkeit und die Jagd nach Kleingeld fordern ihren Tribut. Im ReisefĂŒhrer steht, dass Indien viele Menschen gefangen nimmt, andere nach ein paar Tagen am liebsten wieder abreisen wĂŒrden. Es ist ihnen einfach zu anstrengend.

25. Februar (Montag)

Der Sprachenvielfalt bin ich bis jetzt noch ĂŒberhaupt nicht begegnet. Hier sprechen alle Hindi. Jedenfalls sind alle Beschriftungen in Hindi, und ich habe es noch nicht erlebt, dass ein Inder mit einem anderen Inder Englisch spricht, mit einer Ausnahme: Im Lodi Garden Restaurant sprachen die Kellner mit einer indischen Familie, angefĂŒhrt von einem Mann mit mĂ€chtigem blauen Turban, Englisch. Die Sprachen verteilen sich wohl eher geographisch.

Auf den Geldscheinen bekommt man aber eine Ahnung von der Sprachenvielfalt: Auf der RĂŒckseite sind in einem Kasten in vertikaler Anordnung 15 Sprachen zu erkennen, in sehr unterschiedlichen Schriften. 18 Sprachen sind von der Verfassung offiziell anerkannt, darunter Hindi, Urdu, Kannada, Kaschmir, Bengalisch, Tamil, Telugu, Punjabi, Marathi, Malayalam und auch Sanskrit (was so ist, als stĂ€nde es bei uns auf Latein). Sie zerfallen im Groben in zwei Gruppen: den dravidischen Sprachen des SĂŒdens und den indischen, also indoeuropĂ€ischen Sprachen des Nordens, die auf die alten arischen Einwanderer zurĂŒckgehen. Die einen haben mit den anderen nichts zu tun: Hindi dudh gegen Tamil paal fĂŒr ‚Milch‘, Hindi aanda und Tamil muttai fĂŒr ‚Ei‘, Hindi din und Tamil pagal fĂŒr ‚Tag‘, Hindi bherra und Tamil periyadhu fĂŒr ‚groß‘.

In The God of Small Things spricht man Malayalam, aber die Kinder der großbĂŒrgerlichen Familie werden angehalten, Englisch zu sprechen, was wiederum die Köchin kaum versteht. Die verdĂ€chtigt die Kinder, schlecht ĂŒber sie zu reden oder unflĂ€tige AusdrĂŒcke zu verwenden, wenn sie Englisch sprechen oder sogar, wenn sie was Lateinisches zitieren. (Gibt es eigentlich auch flĂ€tige AusdrĂŒcke?)

Montags haben die Museen geschlossen. Zeit fĂŒr einen Marktbesuch und dafĂŒr, eine ruhige Kugel zu schieben. Sofern man das in Delhi kann.

Vorher gehe ich aber noch in den Shik-Tempel ganz in der NĂ€he der Pension. Auf dem Weg dahin kommt mir ein ambulanter KĂ€ufer auf dem Rad entgegen, und es kommt mir so vor, als wenn ich in Kuba wĂ€re: quĂ©pan. Das ist weder Hindi noch Spanisch, aber das ist es, was ich in beiden LĂ€ndern verstehe. Überhaupt habe ich manchmal den Eindruck, Spanisch zu hören, und dann drehe mich um und es ist Hindi.

Der Tempel ist so nah, dass es mir gegenĂŒber dem Rikscha-Fahrer fast peinlich ist, ihn gefragt zu haben. Vor dem Tempel fragt mich ein alter Mann mit Bart und Turban, ob  ich eine Zigarette fĂŒr ihn habe. Das hat mich hier noch niemand gefragt.

Der Tempel ist ausgesprochen schön, mit weißen Mauern und einem blauen, verzierten Fries aus glasierten Kacheln oben und an den vereinzelten TĂŒrmchen. DarĂŒber thront die goldene Kuppel. Das Ensemble ist einfacher und ĂŒbersichtlicher als bei dem Hindu-Tempel dieser Tage.

Man betritt den Ort durch ein ornamentiertes Gitter. Man muss die Schuhe ausziehen und, anders als bei den Hindu-Tempeln, den Kopf bedecken. Bei den buddhistischen Stupas muss man die Kopfbedeckung sogar abnehmen.

Der Gebetsraum, eine einfache, einschiffige, fast schmucklose Halle, erinnert an eine Moschee. FĂŒr einen Moment frage ich mich, ob das wirklich ein Shik-Tempel ist. Allerdings gibt es keine der ĂŒblichen Ausstattungen einer Moschee.

An der Decke hÀngen in mehreren Doppelreihen Ventilatoren, mehr als sechzig. Die stehen zwar im Moment still, haben aber sicher ihre Daseinsberechtigung. Durch einen Durchbruch in der Wand sieht man auf das, was hier vermutlich die Entsprechung zu unserem Allerheiligsten ist.

Von Hof aus erreicht man noch eine zweite Halle. Ich bleibe auf der Schwelle stehen, weil ich nicht weiß, was das ist. Ein Mann deutet mit einer Geste an: Essen? Aber ich sage nein, weil ich nicht weiß, ob das eine sakrale Sache oder eine Armenspeisung ist.

Auf dem Hof auffĂ€llig viele TurbantrĂ€ger, einige in weißen, weiten Hosen und einem langen, weißen Hemd darĂŒber. Zur anderen Seite hat der Tempel noch einen Eingang, der von zwei Elefanten mit goldenem Kopfschmuck bewacht wird.

Dann fahre ich zum Khan Market. Wenn der einen besonderen Charme hat, verrÀt er das auf den ersten Blick jedenfalls nicht. Es ist auch eigentlich kein Markt, sondern eher ein Ensemble kleiner LÀden in mehreren Gassen und Passagen. In einem Laden sehe ich ein T-Shirt mit der Aufschrift My dad is an ATM, in einem anderen eins mit der Aufschrift Keep calm and trust Ganesha.

Auf einem winzig kleinen Laden mit schmaler EingangstĂŒr steht: Don’t blink. You‘ ll miss our Store.

Außen herum gruppieren sich die teuren LĂ€den – Schmuck, Porzellan, Schuhe – anderswo ist es ein wildes Nebeneinander unterschiedlicher Dinge. Ich brauche ziemlich lange, um mich zu entscheiden, was ich hier tun und wie ich mich orientieren soll. Dann gehe ich in ein CafĂ©, dann in einen Ramschladen, dann in zwei BuchlĂ€den und dann in ein Restaurant.

Die BuchlĂ€den sind vom Boden bis zur Decke mit BĂŒchern vollgestopft, auf Regalen, Tischchen, Anrichten. Das hat etwas. Die meisten BĂŒcher sind englische Belletristik ĂŒber Indien und englische KinderbĂŒcher. Irgendwo entdecke ich ein Buch mit dem wunderbaren Titel: The Book of Lies. A Novel. Ich kaufe, wieder mit der Absicht, an Kleingeld zu kommen, einen dĂŒnnen Band ĂŒber Darwin.

Eins der BuchlĂ€den war im ReisefĂŒhrer empfohlen, The Circle Book Store. Als ich auf der Straße danach frage, sagt man, das kenne man nicht. Ich öffne den ReisefĂŒhrer und zeige auf den Namen. Nein, das gebe es hier nicht. Diesmal lasse ich nicht locker, und die beiden MĂ€nner fragen einen anderen, und der zeigt auf ein Schild: Circle Book Store. Keine fĂŒnfzig Meter von uns entfernt.

Ich gehe nach den BuchlĂ€den noch ein bisschen durch die Gassen: An den HĂ€userwĂ€nden abbröckelnder Putz, KĂŒhlaggregate von Klimaanlagen, Zisternen, StromzĂ€hler, Leitern an der Regenrinne, mit einem Schloss daran befestigt, Plastikrollen, Pflasterscheine, Rohre, SĂ€cke, und dazwischen ganz moderne LĂ€den. Hin und wieder uniformierte Wachleute, gelangweilt auf einem Stein. Zwischendurch immer wieder mal eine TĂŒrgitter, das frĂŒher einmal schön gewesen sein muss. Hunde haben sich zum Schlafen in die Einkaufspassage zurĂŒckgezogen und liegen dort ordentlich aufgereiht hintereinander.

Etwas weiter wird die Straße gepflastert. Eine verschleierte Frau schleppt Pflastersteine heran, ein Junge Sand auf einer Hacke. Ein anderer Junge bringt den Arbeitern auf einem Tablett Kaffee in kleinen GlĂ€sern.

Irgendwo sehe ich dann tatsĂ€chlich ein Straßenschild. Das ist so ungewöhnlich, dass es mir gleich auffĂ€llt. Aber dann merke ich, dass es gar keins ist: Urinal Block steht darauf.

Nachdem ich keins der im ReisefĂŒhrer empfohlenen Restaurants finden konnte  – sind alle woanders, bankrott, abgebrannt – lande ich in The Big Chill. Man muss draußen warten, bis man dran ist. Es ist aber schön warm und heute war kein anstrengender Tag. Also warte ich. Das Lokal ist einfach, mit wenigen kleinen Tischen, die Speisekarte umso grĂ¶ĂŸer, und zwar ganz wortwörtlich. Sie nimmt den halben Tisch ein.

An den SeitenwĂ€nden Filmplakate aus allen Epochen. Ich sitze zwischen Lord of the Rings und Pirates of the Caribbean. Auf der letzten Seite der Speisekarte ein kĂŒssendes Paar aus einem Hollywoodschinken und darunter: The End.

Die meisten bestellen Pasta, aber ich bestelle libanesische Vorspeisen, die hier, wie in Griechenland, mezedes heißen, und HĂ€hnchen in einer Wodka- und Brandy-Soße und ein Bier und frage nach der Toilette. Bier gibt es nicht. Keinen Alkohol. Nur im HĂ€hnchen. Wie wĂ€r‘s mit Mangosaft? Gibt es auch nicht. Not the season. Toiletten gibt es auch nicht.

Die Vorspeise ist gut, eigentlich nicht mehr als ein Salat aus ganz klein geschnittenen Bestandteilen mit zwei Soßen und gerösteten BrotstĂŒckchen. Das Hauptgericht ist sehr gut, mit einer leckeren Soße und gedĂŒnstetem GemĂŒse, von allem etwas, aber jeweils sehr wenig, und mit ĂŒberbackenen Kartoffeln. Am besten schmecken die Tomaten.

Die Rechnung ist dann wieder ein ganzes StĂŒck höher als erwartet, da Steuer und Bedienung drauf kommen. Insgesamt etwas zu teuer, aber die Bedienung ist freundlich und schnell. Das können keine Inder sein.

In der Metro hört liest man auf einem elektronischen Spruchband: Passengers are requested not to sit on the floor of the train.

Als ich in der Metro-Station ein Photo von den Passagieren machen will, die vor der Einfahrt des Zuges ordentlich in Reihe und Glied stehen – um dann nachher umso ungestĂŒmer und völlig ungeordnet auf die TĂŒren zuzustĂŒrzen – kommt ein uniformierter Aufpasser auf mich zu und sagt mit Bestimmtheit: No. Hatte ich vergessen. Auch das Photographieren ist in der Metro verboten.

In der Metro steht mir dann ein richtiger Shik gegenĂŒber, wie er im Buche steht. Er hat eine silberne Klammer, die seinen Turban zusammenhĂ€lt und er heißt tatsĂ€chlich Singh, wie ein Namensschild an seiner Brust verrĂ€t: Poohman Singh.

Beim Tee auf der Terrasse der Pension hört man Hunde bellen, knurren, klÀffen und heulen, alle um die Wette.

26. Februar (Dienstag)

Der Zug geht um 5 Uhr, im Hotel ist Abfahrt um 4 Uhr. Der Fahrer weigert sich, die Scheibenwischer zu betÀtigen, und dann, als er es doch tut, die Scheibenwischanlage zu betÀtigen. So lavieren wir uns zwischen schemenhaft erkennbaren Rikschas, Radfahrern, Hunden und Baggern ohne Licht durch die Gegend.

In der Vorhalle der New Delhi Railway Station liegen ĂŒberall auf dem Boden in dicke Decken eingepackte Menschen, dazwischen Hunde.

Als ich durch die Sperre gehe, werde ich von einem Mann mit Kugelschreiber gestoppt. Er will meine Fahrkarte sehen. Das sei eine Touristenkarte. Die mĂŒsse erst im TouristenbĂŒro abgestempelt werden. Ich solle ihm folgen. Das tue ich. Er geht eine Treppe rauf, und jetzt schwant mir etwas. Ich bleibe zurĂŒck, er ruft mir hinterher, ich wende mich ab und brumme zwischen den ZĂ€hnen irgendwas von I don’t trust you. Das hört ein amerikanisches Ehepaar. Sie fragen mich, worum es gehe. Als sie hören, dass es um den Zug nach Agra geht, sagen sie, der falle aus. Jetzt werde ich endgĂŒltig skeptisch. Ich gehe einfach durch die Sperre und komme ungehindert auf den Bahnsteig. Dort spreche ich eine kleine Gruppe von Touristen an. Sie kommen aus der italienischen Schweiz. Sie fahren auch nach Agra. Ja, sagen sie, der Zug fahre hier ab. Dann sehe ich mich ein bisschen um und entdecke an einem Schwarzen Brett sogar die komplette Passagierliste. Kurz darauf fĂ€hrt der Zug ein.

Agra ist 200 Kilometer entfernt. Es liegt in der Provinz Uttar Pradesh, ‚Nordprovinz‘, wo auch vier der sieben heiligen FlĂŒsse des Hinduismus liegen, darunter der Ganges, und Varanesi, das sakrale Zentrum des Hinduismus. Uttar Pradesh hat so viele Einwohner wie Brasilien! Das muss man erst mal sacken lassen. Und gleichzeitig ist Brasilien doppelt so groß wie ganz Indien!

Agra wurde zur Hauptstadt des Mogulreiches, nachdem Babur den letzten Herrscher der Lodi besiegt hatte. SpÀter verlegte dann ausgerechnet Shah Jahan, der Erbauer des Taj Mahal, die Hauptstadt nach Delhi.

Die Fahrt dauert gut zwei Stunden. Der einzige Halt ist Mathura. Unterwegs werden ein FrĂŒhstĂŒck und ein Imbiss am Platz serviert. An Personal sollte es nicht mangeln: Indian Railway ist der grĂ¶ĂŸte Arbeitgeber der Welt!

Im Zug sitzen meist auslÀndische Touristen und indische MÀnner mit den typischen langen, engsitzenden Westen mit gerade nach oben zulaufender Knopfleiste.

Die Landschaft ist flach, das Wetter diesig. Als es auf Agra zugeht, kommen Ă€rmliche Wohnviertel in Sicht, keine Slums. Die HĂ€user sind meistens aus Stein. In den PfĂŒtzen und auf den sandigen Wege Kleinkinder, Ziegen, Hunde. Viel Geröll, aber kein MĂŒll.

Der entgegenkommende Zug hat keine Scheiben und Gitter statt Fenster. Nicht wie bei uns in der edlen ersten Klasse.

Als wir in Agra ankommen, um kurz nach sieben, ist es schon hell. Man wird sofort von Rikschafahrern in Beschlag genommen, die behaupten, zum Taj seien es neun Kilometer. Wieder glaube ich, dass man mich ĂŒbers Ohr hauen will, aber es stimmt: Es sind wirklich neun Kilometer. Also nehme ich eine Rikscha. Und werde ĂŒber die breite Straße von einem netten Fahrer zum Osttor gebracht. Ich habe gelesen, da mĂŒsse man nicht so lange Schlange stehen. Stimmt. Aber da gibt es keine Eintrittskarten. Die gibt es an einem anderen Ort, und um dahin zu kommen, muss ich noch eine Rikscha nehmen.

Hier wird ordentlich abkassiert. Und man muss alle Lebensmittel abgeben und bekommt Überzieher fĂŒr die Schuhe. ZurĂŒck geht es mit demselben Rikschafahrer, der freundlicherweise gewartet hat. Vom Taj hat man bisher noch nichts gesehen.

Dann wird man grĂŒndlich kontrolliert und geht ĂŒber einen breiten Weg Richtung Taj. Schon das Eingangstor, in bewĂ€hrtem Rot-Weiß mit Kalligraphien am Torbogen, ein GebĂ€ude fĂŒr sich, hat etwas MajestĂ€tisches. Durch den Torbogen hat man einen ersten Blick auf das Taj. Mit jedem Schritt unter dem Torbogen sieht man etwas mehr, und wenn man genau am Ende des Torbogens steht, sieht man den ganzen Bau, ganz in Weiß, mit Kuppel und Minaretten und Moscheen. Trotz der vielen Touristen hat man einen völlig ungestörten Blick auf das in gerader Achse am Ende des Gartens etwas erhöht liegende Taj. Shah Jahan hat an alles gedacht.

Die meisten Besucher gehen gleich die Hauptachse hinunter, aber von den Nebenachsen her hat man auch einen schönen Blick durch die BĂ€ume auf das Taj und ist außerdem ganz allein. Vor einem der bekanntesten Bauwerke der Welt! Unglaublich. Nur ein paar GĂ€rtner arbeiten in den GĂ€rten. Sie legen gestochen genaue kreisrunde Baumeinfassungen in dem Rasen an. Und rufen in mir, ohne es zu wissen, Kindheitserinnerungen wach.

Der Garten wird eingefasst von einer hohen, roten Begrenzungsmauer. Davor liegt auf der linken Seite das Museum. Darin befinden sich Miniaturen wie aus Tausendundeiner Nacht und Anordnungen Shah Jahans an ProvinzfĂŒrsten zur Beschaffung und zur Lieferung von Marmor fĂŒr das Taj. Und Übernahme der Kosten.

Ich setze mich unter BĂ€ume auf eine Parkbank und lasse das Spiel von Licht und Schatten und die Vogelstimmen auf mich wirken und sehe den gestreiften Eichhörnchen und den grĂŒnen Sittichen zu. Dann bewegt sich ein Schatten ĂŒber dem Schatten der Begrenzungsmauer. Sieht wie eine Katze aus. Ich drehe mich um. Es ist ein Affe.

Kurz darauf bietet sich ein weiteres Photomotiv mit besonderem Clou: Taj mit Schuh. Der hÀngt in den Zweigen eines Baums, durch die man auf das Taj blickt.

Das Mausoleum selbst liegt auf einer etwas erhöhten Plattform. Die misst 100 x 100 Meter. Auf Symmetrie wird geachtet. Das kann man am besten an den zwei Moscheen sehen, die zu beiden Seiten der Plattform stehen. Nur eine fungiert als Moschee, bei der anderen geht das gar nicht, weil sie die falsche Ausrichtung hat. Sie wurde nur der Symmetrie halber dazugestellt.

An allen vier Seiten der Plattform stehen Minarette, die deutlichste Hervorhebung der Bedeutung der Zahl vier. Die Minarette sind eigentlich gar nicht nötig. Es handelt sich ja nicht um ein Mausoleum, nicht um eine Moschee.

Erst aus der NĂ€he sieht man, dass das Taj Mahal Verzierungen hat: schwarze Kalligraphie mit einzelnen roten PĂŒnktchen und verschiedene Schmuckfriese. Auch die Minarette haben diese Friese, und zwar auf der gleichen Höhe wie das Mausoleum. Einen der Friese, der in drei Reihen um das ganze GebĂ€ude herumlĂ€uft, bemerke ich erst, als ich schon einmal um das ganze Mausoleum herumgegangen bin.

Hinter dem Mausoleum fließt der Yamuna. Es bietet sich allerdings keine sonderlich schöne Aussicht auf das Ufer und die andere Seite. Dort sollte ursprĂŒnglich, so heißt es, das schwarze GegenstĂŒck zum Taj Mahal entstehen. Dort sollte Shah Jahan selbst begraben werden. Hört sich gut an, ist aber eine Legende. Dass sich die Legende hartnĂ€ckig hĂ€lt, kann man verstehen: Es wĂ€re die Krönung gewesen.

Das Taj hieß ursprĂŒnglich Rauza-i-Munanvara, ‚Beleuchtetes Grab‘. Die Bezeichnung Taj Mahal bekam es von den EuropĂ€ern, und der neue Begriff wurde mit so viel Erfolg eingefĂŒhrt, dass er jetzt auch von den Einheimischen benutzt wird.

Der Bau des Mausoleums dauerte fĂŒnf Jahre, der Bau der Moscheen und die Anlage des Gartens dauerte weitere fĂŒnfzehn Jahre. Der Rohbau ist aus Ziegeln, der Marmor wurde aus 300 Kilometern Entfernung herangekarrt.  Esel, Kamele, Ochsen und Elefanten kamen beim Bau zum Einsatz. Was fĂŒr ein Aufwand! Die mussten ja auch alle versorgt werden, und ihr Einsatz musste koordiniert werden. An Festtagen gab es kostenloses Essen fĂŒr das Volk. Hört sich nett an, aber tatsĂ€chlich gab Shah Jahan damit nur einen kleinen Teil der Sondersteuer zurĂŒck, die er fĂŒr den Bau eintreiben ließ.

Innen sieht man klar das Vorbild von Humayans Grab. Die ganze Aufteilung ist gleich. Auch das bescheidene, schmale Kenotaph könnte genauso gut bei Humayan stehen. Hier – genauer gesagt: hier unten – liegt Muntaz Mahal begraben, die ‚ErwĂ€hlte des Palastes‘. Eigentlich hieß sie Arjumand Bano. Sie starb bei der Geburt ihres 14. Kindes! Sie war eine von vielen Frauen Shah Jahans – man spricht von 72 – aber nicht alle bekamen ein Taj.

Das Kenotaph Mahals steht genau im Zentrum. Daneben steht ein zweites Kenotaph. Es ist das Kenotaph Shah Jahans. Und es stört die Symmetrie!  Ausgerechnet das Kenotaph des Auftraggebers ist es, was die sonst perfekte, von ihm selbst geplante Symmetrie stört!

Dann gehe ich ĂŒber die Mittelachse zurĂŒck. Es ist inzwischen voller und wĂ€rmer geworden. Die Mittelachse ist bezeichnet durch einen Kanal, der genau auf das Taj zulĂ€uft. Genau auf halber Distanz wird er unterbrochen von einer quadratischen Plattform aus Marmor, um das sich vier Becken gruppieren. Das Wasser fließt durch sie und dann als Kanal weiter auf das Taj zu.

Hinaus geht es durch das SĂŒdtor. Dahinter kommt gleich eine schmale Gasse, die die Mittelachse des Gartens fortfĂŒhrt. Hier gibt es auf beiden Seiten nur SouvenirgeschĂ€fte. Und es gibt keine Fahrzeuge. Meine erste indische FußgĂ€ngerzone!

Das Ă€ndert sich aber bald, und auf der Querstraße ist wieder ordentlich was los. Hier sind, zum Teil sehr versteckt, ein paar CafĂ©s fĂŒr Rucksacktouristen. Dazu gehört, trotz seins klingenden Namens, das Sanya Palace Hotel. Es ist eine einfache Absteige, in einem Privathaus untergebracht, ĂŒber dessen Flure und Treppen man zu einer kleinen Dachterrasse kommt, mit perfektem Blick auf das Taj Mahal! Unglaublich. Es ist ganz ruhig, die Preise sind fĂŒr den Geldbeutel von Rucksacktouristen. Man sieht nicht nur das Taj, sondern auch auf die DĂ€cher der davor liegenden PrivathĂ€user. Ich sehe eine Frau, die einen großen Teppich ĂŒber das GelĂ€nder hĂ€ngt. Eine Alltagsszene, die sich vor einem Weltkulturerbe abspielt.

Dann fĂ€hrt mich ein sehr netter Rikschafahrer zum Roten Fort. Er macht fĂŒr sich selbst Werbung, indem er die FahrgĂ€ste bittet, einen Eintrag in eine Kladde zu machen. Die ist voller netter Kommentare anderer Kunden in verschiedenen Sprachen. Da trage ich gerne meinen Teil dazu bei.

Plötzlich stehen wir vor den gewaltigen Außenmauern des Roten Forts. Die sind noch höher als die des Roten Forts in Delhi.

Das Fort war eine eigene, in sich abgeschlossene königliche Stadt, mit mehr als 500 GebĂ€uden! Je weiter man in die Anlage hineinkommt, umso mehr hat man den Eindruck, in einem Palast zu sein. Das hat seinen Grund: Das Fort wurde angelegt unter Akhbar, als die Herrschaft der Mogule noch auf wackligen Beinen stand. Der blieb fĂŒnfzig Jahre auf dem Thron, und in dieser Zeit stiegen die Staatseinnahmen, und die Herrschaft wurde ausgedehnt und gesichert. Seine Nachfolger konnten sich also mehr Luxus leisten. Darunter natĂŒrlich wieder Shah Jahan, Akhbars Enkel, der dessen GebĂ€ude durch MarmorpalĂ€ste ersetzen ließ.

Seine Erfahrungen mit dem Fort waren allerdings gemischter Natur. Hier wurde er nĂ€mlich eingesperrt, von seinem eigenen Sohn, der gegen seinen Vater rebellierte, und die Rebellion so begrĂŒndete: Vergeudung von Staatsfinanzen. Da war was dran. Shah Jahan wurde hier, auf einer vorspringenden achteckigen Bastion eingesperrt, mit Blick ĂŒber den Fluss auf das auf der anderen Seite liegende Taj Mahal, dem Grabmal seiner Lieblingsfrau. Als er starb, wurde seine Leiche ĂŒber den Fluss von hier aus auf die andere Seite geschafft.

Von allen GebĂ€uden, die es hier zu sehen gibt, gefĂ€llt mir eine versteckt liegende, kleine Moschee am besten, auch sie ganz und gar aus weißem Marmor, mit drei Kuppeln. Wie in Delhi gibt es auch hier keinen Innenraum, sondern einen ĂŒberdachten Bereich vor den Nischen an der Hinterwand, vor dem man betete. Das Dach stĂŒtzt sich auf schönen arabischen Hufeisenbögen.

Hier, im Roten Fort, wurde der berĂŒhmte Koh-i-Noor aufbewahrt, der grĂ¶ĂŸte Diamant der Welt. Was ist nur aus ihm geworden? Ist er in Persien, in Indien, in Arabien gelandet? Denkste! Er ist in London, im Tower. Teil der britischen Kronjuwelen.

Dann geht es wieder mit einer Motorrikscha weiter. Der Preis: 100 Rupien. Die BegrĂŒndung: Local price. Da ist was dran. Man scheint das hier vereinheitlicht zu haben. Gar nicht so schlecht. Überhaupt sind die VerkĂ€ufer, Schlepper und Fahrer hier nicht so schlecht wie ihr Ruf und nicht so schlecht wie ihre Kollegen in Delhi.

Die Fahrt ist wieder ein echtes Erlebnis: ĂŒberfĂŒllte Rikschas, mit Ziegelsteinen beladene Esel, Frau mit Schador auf dem RĂŒcksitz eines Motorrads, Fahrrad mit Stapel aus zwanzig Paketen, Ziegen an einer Wasserpumpe. Und hier, in Agra, gibt es auch die berĂŒhmten KĂŒhe auf der Straße. In Delhi scheint man die aus dem Weg gerĂ€umt zu haben. Hier wandern sie in aller Ruhe ĂŒber die Straße, unbeeindruckt von dem Verkehr.  Uns erscheint die Verehrung der Kuh etwas fremd, aber historisch gesehen ist sie völlig einleuchtend: Der traditionelle Bauer konnte nur ĂŒberleben, wenn er seine Kuh behielt statt sie zu schlachten. Aus der sozialen Notwendigkeit wurde ein religiöses Gebot.

Der Fahrer bringt mich zu Itimad-ud-Davla, noch einem Mausoleum. Es ist das kleinere GegenstĂŒck und gleichzeitig der Probelauf fĂŒr das Taj, ĂŒbertrifft dieses aber noch in seiner kĂŒnstlerischen Ausgestaltung. Und ist im Ausland so gut wie unbekannt. Es ist auch insofern das GegenstĂŒck zum Taj, als es von einer Frau fĂŒr einen Mann geplant wurde, nĂ€mlich der Frau des Mogulherrschers Jehangir, die es fĂŒr ihren Vater errichten ließ, der am Hof ihres Mannes Karriere gemacht hatte.

Auch hier ist der Grundplan quadratisch, und auch hier gibt es vier TĂŒrme, unten polygonal, oben rund. Die stehen aber nicht isoliert, sondern sind Teil des GebĂ€udes und markieren die vier Ecken des Quadrats. Statt einer Kuppel hat das Mausoleum ein Bengal-Dach. Auch hier ist der Garten quadratisch, mit vier identischen Toren in der Mitte der vier Seiten.

Das ganze GebÀude ist ausgestattet mit filigranen Marmorintarsien, und die konstituieren den wichtigsten Unterschied zum Taj. Die Schmuckelemente sind klein und scheinbar einfach, aber wenn man genau hinsieht, merkt man eine unglaubliche Vielfalt. Alles ist farbig, aber die Farben sind so dezent, dass der Bau in der hellen Sonne fast einfarbig aussieht. Dabei ist kein Quadratmeter von der Dekoration ausgespart.

Innen gibt es nur sehr dezentes Licht, das durch die durchbrochenen Fenster fÀllt. Erst sieht man gar nichts, und auch, wenn man sich an das Licht gewöhnt hat, sieht man nicht den ganzen Reichtum der Verzierungen. Da hilft die Kamera. Das Blitzlicht zeigt, wie die Steine in den Zwickeln alle bunt bemalt sind.

Das Kenotaph sieht aus, als wenn es aus Holz wĂ€re. Ist es aber nicht, wie einer der FĂŒhrer einem Besucher gerade mit einer MĂŒnze demonstriert. Es ist Metall. Untertreibung.

Ich gehe noch ein bisschen herum und versuche, auf der anderen Seite des Flusses, der auch hier wieder hinter dem GebÀude verlÀuft, das Taj zu entdecken, sehe aber nur Fabrikschornsteine.

Ich setze mich auf eine Parkbank, da die Sonne jetzt so stark ist, dass man Sonnencreme auftragen muss. Als ich da voll konzentriert sitze und mich der Arbeit widme, sehe ich, als ich aufblicke, auf einmal zwei Jungen vor mir stehen, die mich wortlos und unverwandt anstarren. Was macht der Mann da wohl? Vielleicht haben sie das noch nie gesehen, und in dem Moment bin ich vermutlich wirklich ein Weißer. Die starren Blicke sind mir etwas unangenehm, aber Kommunikation ist unmöglich und mitten in der Operation weggehen, wĂ€re wie ein Affront. In dem Moment erscheinen aber die beiden VĂ€ter. Die werden sicher die Jungen zu sich rufen. Denkste! Sie postieren sich neben sie und gucken genauso interessiert dem Schauspiel zu.

Ich denke an die Briten und daran, dass sie uns dafĂŒr tadeln, dass wir die Leute anstarren. Wie muss es den Briten erst in Indien ergangen sein! SpĂ€ter lese ich in einem Buch den Bericht einer Inderin, deren Eltern nach Australien auswanderten, als sie noch ein Baby war, und die als junge Frau nach Indien reiste, zu ihren Wurzeln, sozusagen. Das, woran sie sich nie gewöhnen konnte, sagt sie, sei das stĂ€ndige Anstarren gewesen. Sie erklĂ€rt das mit ihrer rĂ€tselhaften IdentitĂ€t, Inderin und doch nicht Inderin, AuslĂ€nderin und doch nicht AuslĂ€nderin. Sie wusste vermutlich nicht, dass auch einfache Sonnencreme genĂŒgt.

Mein Rikschafahrer wartet draußen und fĂ€hrt mich wieder zurĂŒck. Es steht nur noch Essen und Trinken und Sonne genießen auf dem Programm. Erst esse ich in einer etwas verstaubt aussehenden GaststĂ€tte, dem Yash CafĂ©, in der ich der einzige Gast bin, Reis mit Curry.

Der Kellner sagt mir, ich mĂŒsse irgendetwas auf den Boden stellen, aber ich verstehe nicht, was. Meine Tasche? Meine Kamera? Meine MĂŒtze? Meine Schuhe? Irgendwie schaffen wir es nicht, uns zu verstĂ€ndigen. Als dann die Bestellung kommt, zeigt er auf das, was auf den Boden muss: das Bier! Hier wird nur heimlich Bier ausgeschenkt, vermutlich ohne Lizenz. Das Bier, King Fisher, gibt es in Halbliterflaschen, und da mir die Sache mit dem Boden so gut gefĂ€llt, bestelle ich gleich noch eine.

Damit hat sich endgĂŒltig jeder Gedanke an weitere Besichtigungen erĂŒbrigt. Also gehe ich in noch ein Rucksacktouristenhotel mit Dachterrasse, die Shanti Lodge. Wieder so ein guter Blick aufs Taj. Und das sieht nach dem nĂ€chsten Bier noch besser aus. Ich sehe die Photos durch und frage mich, was ein Schild bedeutet, das ich am Morgen photographiert habe: No vendering.

Als es dĂ€mmert, gehe ich noch ein bisschen durch die Gassen. Auf der Straße, wo die CafĂ©s sind, zielt alles auf Rucksacktouristen ab. Die Schilder sprechen BĂ€nde: Internet CafĂ©, Train Tickets, Camera Batteries, USB Pen Drives, Memory Cards, Taxi on Hire.

In den Gassen sieht es ganz anders aus: GeschÀfte in winzigen garagenÀhnlichen RÀumen, alle ohne Fenster. Am Abend wird einfach das Gitter heruntergelassen. Es gibt SchneiderwerkstÀtten, Friseure, SchreibwarenlÀden, an den Ecken ObststÀnde und EssstÀnde, an denen es mÀchtig qualmt.

Dann ist es Zeit fĂŒr den RĂŒckweg zum Bahnhof. Ich spreche zwei miteinander plaudernde Rikschafahrer an. Da weiß man nie, mit wem man es eigentlich zu tun hat. Und ĂŒber Preis und Ziel verhandelt. Das wird jetzt noch dadurch erschwert, dass es zwei Bahnhöfe gibt. Als wir uns einig sind und ich eingestiegen bin, steigen sie beide vorne ein. Und es geht los. Durch die Dunkelheit. Das ist das einzige Mal, dass es mir in Indien etwas mulmig wird. Abenteuerliche Gedanken gehen mir durch den Kopf: Ich bin alleine, sie sind zu zweit. Sie kennen die Stadt, ich kenne sie nicht. Wohin bringen sie mich wohl? Was tun, wenn sie auf krumme Gedanken kommen und einen Touristen mal so richtig ausnehmen oder ihm an den Kragen wollen? Immer wieder versuche ich, etwas zu erkennen und zu erraten, ob wir tatsĂ€chlich auf dem Weg zum Bahnhof sind, aber ich erkenne nichts. Alle Sorge ist aber unberechtigt: Sie bringen mich auf direktem Weg zum Bahnhof – dem richtigen.

Da gibt es erst mal keine Auskunft. Unter den ZĂŒgen auf den elektronischen Tafeln ist meiner nicht. Und normale FahrplĂ€ne gibt es nicht. Ein Schlepper kommt auf mich zu und will mich mit dem Auto nach Delhi bringen. Ich suche weiter und finde einen Fahrkartenschalter: Der Zug hat zwei Stunden VerspĂ€tung. Mindestens. Am Ende sind es drei. Es macht mir aber nichts. Die Zeit wird mir nicht lang. Und bei den lauen Temperaturen kann man es auf dem Bahnsteig gut aushalten.

Es gibt auch einiges zu sehen: Auf dem Boden sitzen oder liegen Reisende, meist in Gruppen, mit Kisten und Kartons statt Koffern. Die meisten MÀnner tragen europÀische Kleidung, aber viele tragen dazu einen Turban oder ein in Piratenmanier um den Kopf geschlungenes Tuch. Die meisten Frauen tragen traditionelle Kleidung, lange, bunte Kleider, mit und ohne Kopftuch.

Es gibt zwei WartesĂ€le, erster und zweiter Klasse, und als ich das gerade merkwĂŒrdig finden will, fĂ€llt mir ein, dass das bei uns auf den FlughĂ€fen auch so ist.

Eine alte Bahnsteigglocke, das Pfeifen der Lokomotiven, ein SchreibwarengeschĂ€ft mit einem Schriftzug aus der Kolonialzeit und der Zug nach Bombay mit Wappen und goldenen Zierleisten versetzen einen ins 19. Jahrhundert, die Werbung und die elektronischen Zuganzeigen ins 21. Jahrhundert, die Besen und MĂŒlleimer in die Dritte Welt, und die computergesteuerte Durchsage mit kĂŒnstlicher Stimme und Durchsagen in Endlosschleife in einen Science-Fiction-Film. Bei jeder Durchsage heißt es: May I have your attention, please? Einmal zĂ€hle ich es viermal pro Minute. Wo immer man sich hin flĂŒchtet, verfolgt einen die Durchsage.

Manchmal kommt Bewegung in das Volk, wenn ein Zug einfÀhrt. Dabei wird manchmal in letzter Minute ein Gleiswechsel angesagt. Einmal glaube ich schon, meinen eigenen Zug verpasst zu haben, aber der lÀsst auf sich warten.

Ich sehe, wie eine junge Mutter ihrer kleinen Tochter eindrĂŒcklich einredet, sie möge da stehenbleiben, wo sie ist. Dann verdrĂŒckt sich die Mutter, klettert auf die Gleise und kommt nach kurzer Zeit wieder zurĂŒck. Da war das Not-WC.

Auch hier gibt es natĂŒrlich Bettler. Wie geht man damit um? Schwierige Frage. Wie die meisten, entscheide ich mich fĂŒr einen Mittelweg: hin und wieder etwas geben. Aber wem? Der Ratschlag, den ich im ReisefĂŒhrer lese:  denen etwas geben, die keine Chance haben, Alten und Kranken. Aggressiv Bettelnden, denen, die dich anstoßen und pausenlos auf dich einreden, gebe ich dagegen meistens nichts. Sie lassen, wenn man ihnen etwas gibt, ohnehin immer noch nicht los und wollen mehr und ziehen auch noch andere an. Hier gebe ich einem Mann etwas, der sich ohne Beine ĂŒber den Boden des Bahnsteigs schiebt. Und einem Jungen, der mich freundlich auf Hindi anspricht und immer wieder gari gari sagt und mir anschließend lĂ€chelnd die Hand gibt, obwohl ich ihm nichts gegeben habe. Anderen, die mit einer Geste „Essen“ andeuten, kaufe ich etwas an einem der vielen StĂ€nde. Da kommt man sogar ins „GesprĂ€ch“. Man deutet ihnen an, mitzukommen, deutet auf die Auslagen und sie können selbst entscheiden, was sie wollen. Das ist alles so spottbillig, dass man sich fast schĂ€mt. Und morgen haben sie wieder Hunger. Dennoch leuchtet mir die politische Devise Nichts geben, weil sich so nichts Ă€ndert nicht ein. Das macht nicht satt.

Dann habe ich noch eine etwas unheimliche Begegnung: Auf dem Bahnsteig kommt mir ein Bettler mit langem Umhang entgegen. Er bettelt nicht, aber sieht mich mit einem stechenden Blick an. So, als wollte er mir etwas mitteilen. Als er vorbei gegangen ist, tritt es mir plötzlich vor Augen, was sein Blick bedeutet: Im nĂ€chsten Leben tauschen wir die Rolle. Du wirst auf der Suche nach einem Bissen durch Indien streifen, ich werde als reicher Westler durch Indien reisen. Ich drehe mich um, um ihn etwas zu geben, aber er ist verschwunden. Und lĂ€sst mich in Erinnerung an seinen durchdringenden Blick zurĂŒck. Ohne mir die Chance zu geben, mein Kharma zu verbessern.

27. Februar (Mittwoch)

Im Hotel muss bar bezahlt werden. Das hat zur Folge, dass ich zur Bank muss und den ganzen Tag ĂŒber mit zwei prall mit Geldscheinen gefĂŒllten Taschen durch die Gegend laufe. Es geht aber gut, und ich habe, wie ĂŒberhaupt in all diesen Tagen, kein einziges Mal auch nur das GefĂŒhl, dass man mir an die Taschen will. SpĂ€ter, als ich an einem Stand etwas zu essen kaufe, gibt man mit sogar Geld zurĂŒck, als ich zu viel bezahlt habe – was mir gar nicht aufgefallen wĂ€re. Das kontrastiert völlig mit den sonst allgegenwĂ€rtigen Versuchen, einen ĂŒbers Ohr zu hauen.

Die Rechnung belĂ€uft sich auf 23.300 Rupien – ca. 320 €. Darin sind Übernachtung, FrĂŒhstĂŒck, Transport vom Flughafen und zum Flughafen, Zugfahrkarte erster Klasse nach Agra, Transport zum Bahnhof und Abholen vom Bahnhof (mit drei Stunden VerspĂ€tung) und fast tĂ€glich auf der Terrasse servierter Tee mit Keksen oder Kuchen und ein paar kleinere Mahlzeiten enthalten!

Heute soll es zum National Railway Museum gehen. Passt gut zu der Zugfahrt von gestern. Aber erst mal muss man dahin kommen.

An der Metrostation Racecourse mit langen Hallen und steilen Rolltreppen steigt nur ein Mann mit Aktentasche aus. Hier herrscht vornehme Ruhe.

FĂŒr die Rikscha habe ich mir, durch Erfahrung klug, den Namen des Museums auf Hindi aufschreiben lassen. Den Zettel zeige ich dem Fahrer, nachdem ich National Railway Museum gesagt, ZuggerĂ€usche imitiert und auf dem Stadtplan die Lage des Museums und unseren Standort gezeigt habe. Alles klar. In kurzer Zeit sind wir da. Er setzt mich auf der anderen Straßenseite ab und fĂ€hrt weg. Ich ĂŒberquere die Straße – und stehe vor dem falschen Museum!

Ein anderer Rikscha-Fahrer erbarmt sich meiner. Er spricht Englisch und weiß auf Anhieb Beschied und bringt mich zu dem richtigen Museum.

Es geht ĂŒber eine lange, vierspurige, kaum befahrene Straße, an der sich die Botschaften aufreihen: Norwegen, Serbien, Sudan, Deutschland, Japan, Portugal. Und der Sitz des High Commissioner von Australien, und spĂ€ter der von Neuseeland. Die scheinen hier die Botschafter zu ersetzten, wohl ein Merkmal des Commonwealth.

Der Rikscha-Fahrer ist Shik und will vor dem Museum auf mich warten und mich weiter durch die Gegend fahren und mich zu einem Shik-Tempel bringen. Ich lasse mich nicht darauf ein, was mir spÀter leid tut.

Am National Railway Museum ist es laut. Das liegt an den ZĂŒgen, sondern an den Kindergartenkindern, die hier vor allem mit lautem Gekreische die Fahrt mit einer Miniatureisenbahn genießen.

FĂŒr Erwachsene stehen auf dem offenen GelĂ€nde Lokomotiven und Waggons herum und ein paar Exponate nebst ErklĂ€rungen in einer kleinen, verstaubten Halle.

Vor dem Eingang steht eine kleine, schwarze Dampflokomotive mit ĂŒbergroßem Schornstein. Sieht wie die von Jim Knopf aus, ganz unwirklich.

Auf den Gleisen stehen dann Exponate aus verschiedenen Zeiten, Dampf- und Diesellokomotiven und einfache und vornehme Waggons. Man kann allerdings nicht rein und meistens auch nicht reinsehen. Höchstens auf die Rampe steigen. Es geht ganz schön hoch. Die RĂ€der sind riesig, und man fragt sich, wie die Passagiere frĂŒher ĂŒberhaupt einsteigen konnten. Vielleicht ĂŒber kleine Treppen, die auch hier hilfsweise bereitgestellt werden.

Man sieht große, schwere Lokomotiven, aber auch kleine, die wie aus PappmachĂ© aussehen. Eine erreichte nur eine Höchstgeschwindigkeit von 21 km/h und wurde erst 1986 in Rente geschickt.

Es gibt auch Lokomotiven fĂŒr die Gleisinspekteure. Eine davon wurde noch 1941 aus Großbritannien importiert.

Man sieht aber auch die erste Lokomotive, die ĂŒberhaupt in Indien hergestellt wurde, noch wĂ€hrend der britischen Kolonialherrschaft. Bis dahin wurden die Einzelteile aus dem Mutterland importiert und in Indien zusammengesetzt.

Die Diesellokomotiven wurden zunĂ€chst in wĂŒstenĂ€hnlichen Zonen eingesetzt, wo das Wasser knapp war, das man fĂŒr die Dampflokomotiven brauchte

Es gibt verschiedene Spurbreiten. Ich hatte gestern schon das GefĂŒhl, dass die Spuren breiter als bei uns sind – im Waggon war auch ein Platz mehr pro Reihe. Das scheint eine Zeitlang der Standard gewesen zu sein. Dann kamen britische Kolonialbeamte auf die Idee, dass fĂŒr bestimmte Strecken eine schmalere Spur geeigneter war.

Man sieht einen Waggon, der, bei einem Wechsel der Spurbreite, vom Gestell abgenommen und auf ein anderes gesetzt werden konnte, ohne dass die Passagiere aussteigen mussten, und zwar schon 1899! Der Waggon ist allerdings sehr edel, und solche Sonderbehandlung erfuhren vornehmlich hochgestellte Kolonialbeamte und britische Adelige.

FĂŒr den Kronprinzen, den spĂ€teren Edward VII., wurde sogar ein eigener Waggon mit Emblem und Sonnenblenden und Platz fĂŒr LeibwĂ€chter gebaut!

Im Museum selbst sieht man eine Nachbildung von Stephensons Lokomotive mit einem AnhĂ€nger mit großem Fass. Was da wohl transportiert wurde? Bei der berĂŒhmten Probefahrt waren jedenfalls schon Passagiere an Bord.

Auch zum Bestand des Museums gehört ein ElefantenschĂ€del. Der gehörte einem Elefanten, der in der Dunkelheit gegen einen Zug lief und sieben Waggons zum Entgleisen brachte. Er selbst musste allerdings dran glauben. Als Erinnerung an das Ereignis bewahrt das Museum den SchĂ€del auf, bis auf die beiden ZĂ€hne. Einer ist in einem Londoner Museum, den anderen bekam der LokomotivfĂŒhrer. Als JagdtrophĂ€e.

Zum Abschluss geht es noch nach Nizamuddin, dem Viertel, durch das mich eigentlich die Straßenjungen fĂŒhren sollten. Leider haben sich beide Organisationen nicht mehr gemeldet, weder auf Anruf noch auf Mail. Also muss ich mich alleine durchschlagen.

Das Viertel ist ein islamisches Viertel mit engen Gassen, in dem ich der einzige AuslĂ€nder bin. An einem Stand probiere ich eine der lecker aussehenden arabischen SĂŒĂŸigkeiten.

Bettler kommen von allen Seiten. Einem alten Mann biete ich wieder an einem Stand etwas zu essen an, eine junge Frau lehnt das ab. Sie will Geld. SpĂ€ter taucht sie dann doch an dem Stand auf, nachdem sie gemerkt hat, dass der alte Mann ganz zufrieden ist. Alles geht mit Hand und Fuß. Hier spricht kein Mensch auch nur ein paar Brocken Englisch.

Ich sehe meine erste Metzgerei ĂŒberhaupt in Indien, und dann auch gleich die zweite. Muslime sind keine KostverĂ€chter, und auch keine Vegetarier. Ansonsten wird in Indien mit dem Etikett „vegetarisch“ geworben.

Ich sehe einen Jungen mit einem T-Shirt mit dem Aufdruck Pakistan, einen Stand, an dem Chips und Pampers nebeneinander hĂ€ngen – ob da ein Zusammenhang suggeriert wird? – StĂ€nde mit sehr schönen KopftĂŒchern mit muslimischen Motiven, meist den Silhouetten von Moscheen, ein Fahrrad mit AnhĂ€nger, das Bauschutt transportiert, eine Ziege, die sich gerĂ€uschvoll den Kopf an einem Rollladen reibt, einen steinernen Bogen ĂŒber einem Eingang zu einer obskuren Passage, auf dem Beauty Parlour. Only for Ladies steht und aus der nur MĂ€nner kommen, einen Jungen, der mit krĂ€ftigen SchlĂ€gen in die Seite eine Ziege verscheucht, der ich eher aus dem Weg gehen wĂŒrde, eine Mauer mit bunten Plakaten in arabischer Schrift, gerĂ€uschvoll auf den Boden spuckende MĂ€nner.

Die StĂ€nde mit den KopftĂŒchern gruppieren sich um das Heiligtum des Viertels herum, das Grab des muslimischen Heiligen Shaik Nizam-ud-din-Chisti, der hier 1365 verstarb. Ich wusste gar nicht, dass Muslime Heilige haben.

Ich traue mich kaum hinein, aber gebe mir dann einen Ruck. Man drĂŒckt mir eine Kappe auf den Kopf und zwei BlumenkrĂ€nze in die Hand – fĂŒr beides wird auf dem RĂŒckweg kassiert – und lĂ€sst mich die Schuhe ausziehen. Dann geht es in einen Eingang und ĂŒber ganz schmale GĂ€nge, auf deren Boden Frauen und MĂ€nner zu beiden Seiten sitzen, meist bettelnd die Hand aufhaltend. Es wird mir etwas mulmig, und ein australisches Ehepaar, mit dem ich am Nachmittag in der Pension spreche, sagt mir, sie hĂ€tten regelrecht Angst gehabt.

Die stellt sich aber als unberechtigt heraus. Plötzlich gelangt man auf einen ummauerten Platz, in dessen Zentrum das Heiligtum steht. Drumherum dichtes Gewimmel an Körpern und Stimmen. Ich stehe immer noch etwas hilflos mit meinen BlumenblÀttern und der Kappe in der Gegend herum, folge dann aber einfach denen, die in das Heiligtum gehen.

Man geht einmal um das Grabmal herum, ĂŒber einen engen Gang, in dem kaum zwei nebeneinander passen.

Von dem Grab selbst ist nichts zu sehen. Es ist ganz bedeckt mit einer bunt bestickten Seidendecke und den Blumen, die man darauf deponiert. Dem Beispiel folge ich. Die MĂ€nner kĂŒssen die Pfeiler, das MessinggelĂ€nder und die Decke und berĂŒhren sie dann mit Hand und Stirn, um sich dann selbst mit der so geweihten Hand an Mund und Herz zu berĂŒhren. An den Seiten stehen einzelne MĂ€nner mit den typischen weißen GewĂ€ndern und Kappen still im Gebet. Man muss sich an ihnen vorbeizwĂ€ngen, was etwas unangenehm ist. Aber sonst kommt man nicht wieder raus.

Draußen, vor allem hinter dem Heiligtum, sitzen Frauen in großen Gruppen. Sie dĂŒrfen selbstredend nicht rein. Einige stehen auf und berĂŒhren die vergoldete Wand des Heiligtums oder die schönen, niedrigen MarmorsĂ€ulen mit goldenen Kapitellen, die das Grabmal stĂŒtzen.

Vor dem Eingang, auf roten Teppichen und unter bunten BÀndern, sitzen junge MÀnner und singen leiernde GesÀnge, von einer einzigen Trommel begleitet.

Ich lasse das noch eine Zeitlang auf mich wirken und frage mich, was man davon halten soll: Aberglauben, religiöse Inbrunst, Jahrmarkt? Wohl von allem etwas.

In der Pension komme ich mit einem australischen Ehepaar aus Tasmanien ins GesprĂ€ch, meinen Nachbarn, Indienkennern. Ich mĂŒsse unbedingt wiederkommen und vor allem aufs Land gehen. Als ich erwĂ€hne, dass man mit Englisch nicht so gut zurechtkomme, sagen sie, in Delhi sei das doch ganz gut. Auf dem Land spiele sich da gar nichts ab. Aber dann werde es erst interessant. Die Leute seien sehr kommunikativ und meist freundlich. Das mit den Schleppern sei woanders auch nicht so schlimm, sagt die Frau. Aber da hakt er ein und sagt: Na ja, Kalkutta, Jaipur, Agra …

Ich werde nach Deutschland und dem Problem der EU mit den Griechen gefragt. Da ist alles, was man sagt, sowieso falsch, also versuche ich, das GesprĂ€ch auf Australien zu bringen. Der Mann klagt ĂŒber die kĂŒrzlich eingefĂŒhrte Kohlensteuer. Kohlensteuer? Steuer auf Kohlen? Nein, Steuer auf alles, auf ein Hemd genauso wie auf ein Pfund Butter. Das sei eine widersinnige Erfindung der australischen GrĂŒnen. Das Geld lande aber dann auf Umwegen in EntwicklungslĂ€ndern, die damit dann ihre eigenen Dreckschleudern subventionierten statt, wie vorgesehen, fĂŒr die Bewahrung der Natur einzusetzen.

Das GesprÀch kommt auf Zuwanderung. Ich sage, ich glaubte sowieso nicht an die Idee vom Schmelztiegel. Doch, meint er, in Australien sei das wirklich ein Schmelztiegel. In der dritten Generation sei nicht mehr viel von der Herkunft der Einwanderer zu merken. Ja, ja, aber so ist es ja nicht gemeint. Assimilation. Das ist etwas ganz anderes. Aber ich bestehe nicht darauf.

Dann kommen wir auf indische Geschichte und Religion zu sprechen. Ich bin in der Erwartung nach Indien gekommen, immer und ĂŒberall auf den Hinduismus zu stoßen. TatsĂ€chlich bin ich immer und ĂŒberall auf den Islam gestoßen. Ja, ja, sagen sie, hier im Norden sei das so, im SĂŒden sei das ganz anders. Leuchtet ein. Und noch etwas MerkwĂŒrdiges: Der Islam hat trotz 800-jĂ€hriger Herrschaft nur 20% der Inder zu Muslimen gemacht. Das ist wenig, auch wenn es in absoluten Zahlen immer noch viel ist. Die Australier sagen sogar, dass Indien auch heute noch, nach der Spaltung, das grĂ¶ĂŸte islamische Land der Welt sei. Das habe ich anders in Erinnerung. War das nicht Indonesien? Oder Pakistan? Aber vielleicht haben sie sogar recht. Bei der riesigen Bevölkerungszahl Indiens ist alles drin.

 

28. Februar (Donnerstag)

Am Flughafen wird bei der Passkontrolle ein Brite, der nicht rechts, sondern links vom Beamten durchgegangen ist, zurĂŒckgerufen. Andere Seite. Der Mann daraufhin: I always follow my wife. After 41 years of marriage 


Auf dem Weg zum Abfluggate kommt mir auf dem entgegengesetzten Laufband ein Guru entgegen oder jedenfalls einer, der so gekleidet ist. Er steht nicht auf dem Laufband, sondern sitzt darauf. Kurz danach erscheint hinter ihm ein Flughafenangestellter mit einem Rollstuhl, und ich vermute einen Zusammenhang. Am Ende des Laufbands steht der Mann aber in aller Seelenruhe auf und geht weiter.

Im Flugzeug sitzt neben mir eine Frau mit einer Uhr mit zwei ZifferblÀttern. Ich vermute, sie ist Russin, aber sie telefoniert noch kurz vor dem Abflug in einer Sprache, die ich nicht erkennen kann. Es ist Farsi. Sie ist Iranerin.

Sie ist zum zweiten Mal in Indien gewesen, beide Male in Delhi, beim ersten Mal, vor drei Jahren, drei Monate lang wegen einer Augenoperation ihrer Mutter. Diesmal hat sie Delhi erheblich verbessert vorgefunden: Es seien keine KĂŒhe mehr auf der Straße, es lĂ€ge weniger Kot herum und es werde nicht mehr so viel gespuckt.

Welches das beste Land der Welt sei, fragt sie mich. Ich weiß es nicht, werde aber von ihr gerne belehrt: Iran. Nur das mit der jetzigen politischen FĂŒhrung sei es nicht so das Gelbe vom Ei. Sie selbst hat aber dem besten Land der Welt den RĂŒcken gekehrt und lebt in Kanada.

Sie bestellt Fleisch und Rotwein, sagt aber, das sei eine Ausnahme. Normalerweise sei sie Vegetarierin und vermeide Alkohol. Nur ab und zu mal ein Glas Rotwein. Als ich danach frage, welchen Rotwein man denn im Iran trinke, sagt sie, als wĂ€re das eine blöde Frage: Shiraz. Und dann verstehe ich, was sie meint: Shiraz heißt Shiraz, weil er aus Shiraz kommt? Eine persische Traube? Kann das sein? In der Vergangenheit wurde im Mittleren Osten tatsĂ€chlich krĂ€ftig Wein getrunken, aber die Verbindung kommt mir doch etwas abenteuerlich vor.

Irgendwie kommen wir auf 9/11 zu sprechen. Sie nimmt eine vorsichtige Bemerkung von mir auf und sagt ungeschminkt: Alles halb so wild, kaum was passiert.

Ihre Mutter hat afghanische Wurzeln, und ihr Sohn lebt in Kabul. Er ist Manager eines Krankenhauses. Sie ist selbst auch schon da gewesen und zeigt stolz Photos von einer Feier, bei der der Sohn im Zentrum steht. In Kabul sei es gar nicht so schlimm, wie es immer in den Nachrichten hieße.

So endet die Indienreise sozusagen in Afghanistan, der Gegend, aus der die Arier vor ein paar tausend Jahren nach Indien kamen.

 

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